eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 16/32

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2013
1632 Dronsch Strecker Vogel

Krankheit und Sünde

2013
Françoise Vouga
Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 11 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 11 1. Einleitung Die menschliche Intelligenz sucht nach Rationalität. In das Chaos der Existenz muss Ordnung gebracht werden, damit die Erfahrung der alltäglichen Wirklichkeit eine verständliche Form annimmt und einen Sinn bekommen kann. So steht die Fantasie der Fiktion vor der Aufgabe, für die Zufälle von Krankheit und den offensichtlichen Mangel an Gerechtigkeit, mit welcher Gesundheit, Unglück und Leiden verteilt werden, berechenbare Erklärungen zu erfinden. Erfreulicherweise braucht keiner zu wissen oder zu verstehen, um zu erklären. Nichts muss bewiesen werden, nur geglaubt und gesellschaftlich angenommen. Mit vielfältigen Variationen scheint sich die logische Verbindung zwischen Krankheit und Schuld-- oder, religiös konnotiert: Sünde-- als evident darzustellen. Zwischen beiden herrscht entweder eine unmittelbare Kontinuität, weil Fehlverhalten als Ursache von Pathologien gedeutet wird, oder eine Solidarität, weil man letztere als symptomatische Erscheinungsbilder von moralischer Schwachheit oder Fehlverhalten sieht, oder die ausgleichende Herstellung einer übergeordneten Gerechtigkeit, weil Götter oder höhere Mächte beauftragt sind, Sünder und Böse zu strafen. Zur Diskussion um den Zusammenhang von Krankheit und Schuld oder Sünde liefert das Neue Testament einige originelle Beiträge. 1 Der erste Beitrag besteht in der ausdrücklichen, theologisch und anthropologisch begründeten Ablehnung jedes Ursache-Wirkung-Zusammenhanges zwischen der Sünde einer einzelnen Person und der Krankheit oder der Behinderung, unter welcher sie leidet (Joh 9,1-12). Der zweite Beitrag verweist auf eine nicht pathologische Form der Krankheit, die Søren Kierkegaard die »Krankheit zum Tode« oder die »Verzweiflung« genannt hat, die das Markusevangelium als Flucht in die Besessenheit (Mk 5,1-20; 7,24-30; 9,14-29) und Paulus als Existenz unter der Macht der Sünde (Röm 6,1-23; 7,7-25) beschrieben und analysiert haben. Es handelt sich nicht um eine Pathologie, die medizinisch therapiert werden könnte, sondern einen Irrweg auf der geistigen Suche nach einer personalen Identität, der sich als unglückliche, aber auch universale Möglichkeit anbietet. Der dritte Beitrag lenkt die Aufmerksamkeit auf Systeme, zum Beispiel die Einbindung in »Häuser« oder Gemeinschaften, die einzelne Menschen krank machen. Der Patient erscheint als Symptomträger einer kranken Gesellschaft, in welcher die zwischen-personellen Beziehungen durch Anerkennung und Gegenseitigkeit wiederhergestellt werden müssen (1Kor 11,17-34). Der vierte Beitrag baut eine Solidarität zwischen Sündenvergebung und Heilung auf: Heilung geschieht im Zusammenhang mit Vergebung (Mk 2,1- 12; Jak 5,13-16). Der Sinn dieser Verbindung muss reflektiert werden. Klar ist aber, dass die Zusammengehörigkeit von Vergebung und Heilung kein Verhältnis von Schuld oder Sünde und Krankheit-- in Mk 2,1-12 und in den synoptischen Parallelen: Lähmung-- voraussetzt: Die Aussage, nach welcher die Sündenvergebung dem Gelähmten die Möglichkeit geben soll, sein Bett zu nehmen und zu gehen, schließt in keiner Weise ein, dass die Lähmung irgendwie durch eine Schuld oder eine Sünde ausgelöst wurde. Und die Wirksamkeit einer therapeutischen Handlung impliziert selbstverständlich auch nicht, dass der Therapeut oder die Behandlung für die Krankheit mit-verantwortlich waren. 2. Die Aporie des Ursache-Wirkung- Zusammenhangs zwischen Sünde und Krankheit Ausdrücklich wird die Frage des Ursache-Wirkung- Zusammenhangs zwischen Sünde und Krankheit im johanneischen Zeichen des Blindgeborenen gestellt (Joh 9,1-41). Die Jünger, die von Jesus wissen möchten, ob der Blindgeborene selbst oder seine Eltern gesündigt haben, setzen diese kausale Verbindung als doppelt evident voraus. Das bloße Faktum der Behinderung ließe sich zunächst automatisch auf die Anwesenheit von Sünde zurückführen: Wenn es einen Blinden gibt, dann hat notwendigerweise jemand gesündigt. Fraglich bleibt folglich nicht ob, sondern nur noch wer gesündigt hat. Dieser ersten Evidenz liegt eine zweite zugrunde: Das Leiden, das auch als Bestandteil der Endlichkeit des Lebens und als gegebene Dimension der Zerbrechlichkeit der Existenz verstanden werden könnte, erhält eine eindeutige Bedeutung in einem berechenbaren System von Belohnung und Strafe. Die Krankheit bekommt einen klaren Sinn, und die erste sinnvolle Reaktion gegenüber François Vouga Krankheit und Sünde Zum Thema Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 12 - 2. Korrektur 12 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema der Behinderung ist die Suche nach der Schuld, die sie notwendigerweise und ausreichend erklärt. Es mag dann naheliegend sein, dass sich die Schuld unter denen findet, die an der Geburt des Blindgeborenen unmittelbar beteiligt waren. Indem sie die Frage nach der kausalen Verbindung zwischen Krankheit und Sünde anhand der Geschichte eines Blindgeborenen stellt, liefert aber die johanneische Komposition die Falsifizierung der Theorie eines Ursache-Wirkung-Zusammenhangs zusammen mit ihrer impliziten, nicht-gesagten Formulierung-- implizit und nicht gesagt, weil die Frage der Jünger sie logisch voraussetzt, ohne sie ausdrücklich zu formulieren: Die von den Jüngern formulierte Alternative führt nämlich die explikative Theorie ad absurdum, indem sie die Form einer illusorischen Alternative 2 annimmt, denn weder eine Sünde des Mannes noch eine Sünde der Eltern können die Blindheit befriedigend erklären: Entweder haben die Eltern des Blindgeborenen gesündigt, so dass die Blindheit die falsche Person betrifft, oder er selbst hat sündigen müssen. Er selbst kann aber nicht gesündigt haben, bevor er geboren worden ist. Die theologische Erklärung der Pharisäer, nach welcher er »in den Sünden geboren ist« (Joh 9,34), führt also unvermeidlich in eine logische Aporie. Mit der Frage der Jünger-- die sich als ihre Problematisierung vorstellt- - bereitet also der johanneische Dialog die eindeutige Antwort Jesu vor. Diese kurze Offenbarungsrede besteht aus zwei Thesen: Es gibt einfach keinen Zusammenhang zwischen der Behinderung des Blindgeborenen und einer vermeintlichen Sünde dieses Menschen oder seiner Eltern (Joh 9,3a), und die Haltung, die die Behinderung herausfordert, soll sie nicht erklären, sondern vielmehr die Situation des Behinderten verändern (Joh 9,3b, in Joh 9,4-5 kommentiert). Johannes 9,1-12 ( P 66 )-: (1) »Und als er [sc. Jesus] vorüberging, sah er einen Menschen, der von Geburt an blind war, (2) und seine Jünger fragten ihn sagend ›Rabbi: Wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, so dass er blind geworden ist? ‹ (3) Jesus antwortete: ›Weder dieser hat gesündigt noch seine Eltern. Aber auf dass die Werke Gottes an ihm geoffenbart werden! (4) Wir müssen wirken die Werke dessen, der uns gesandt hat, solange es Tag ist; die Nacht kommt, wenn niemand wirken kann; (5) solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.‹« Die Zeichensetzung einer der ältesten Handschriften des Johannesevangeliums, P 66 , überrascht: Um zu vermeiden, dass die Leser die zweite These an die erste unmittelbar anschließen, hat der Kopist einen deutlichen Punkt zwischen den beiden Aussagen gesetzt 3 : - Erste Aussage: »Weder dieser hat gesündigt noch seine Eltern«. - Zweite Aussage: »Auf dass die Werke Gottes geoffenbart werden! « Werden beide Aussagen miteinander verbunden, wird vorausgesetzt, dass die Konstruktion elliptisch ist und Prof. Dr. theol. Dr. theol. h. c. François Vouga, Jahrgang 1948, ist Professor an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/ Bethel. 1973-1974 war er Assistent von Christophe Senft in Lausanne; 1975-1982 Gemeindepastor in Avully und Chancy (Genf ); 1982-1985 Maître assistant in Montpellier; 1985 Thèse de doctorat und venia legendi im Fach Neues Testament in Genf; 1984-1985 Gastprofessor in Neuchâtel; 1985-1986 Professor in Montpellier, 1986-2009 an der Kirchlichen Hochschule Bethel, seit 2008 in Wuppertal. Seit 1988 regelmäßige Gastprofessuren an der Facoltà Valdese di Teologia in Rom; 1998 Ehrendoktor der Universität Neuchâtel; 1999 und 2001 Gastprofessur, 2008-2010 Honorarprofessur an der Faculté de théologie et de sciences religieuses de Université Laval, Québec. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der frühchristlichen Literatur, Einheit und Vielfalt der neutestamentlichen Theologie, Paulus und die paulinische Theologie, die Petrusbriefe, Theologie und Ästhetik (Kunst und Musik), Theologie und Naturwissenschaften. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: Politique du Nouveau Testament, Genf 2008; Pâques ou rien. La Résurrection au coeur du Nouveau Testament, Genf 2010; und: La religion crucifiée. Essai sur la mort de Jésus, Genf 2013. Für weitere Informationen siehe: www.kiho.thzw.de . François Vouga Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 13 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 13 François Vouga Krankheit und Sünde dass die beiden Sätze als die Nebensätze eines impliziten Hauptsatzes zu lesen sind: - Der Blindgeborene ist blind - nicht, weil er oder seine Eltern gesündigt haben, - sondern damit die Werke Gottes an ihm offenbar werden. »Damit« führt eine Umstandsbestimmung des Zieles an, so dass die Antwort Jesu auf die Frage der Jünger den Ursache-Wirkung-Zusammenhang durch den Gedanken eines Zieles ersetzt: Der Mensch ist nicht krank, weil er oder seine Eltern gesündigt haben, sondern damit er Jesus die Möglichkeit bietet, die Werke des Vaters zu offenbaren. 4 Die kausale Erklärung der Behinderung durch die Sünde wird zugunsten der religiösen Wahrheit, auf welche die Geschichte seiner Krankheit und seiner Heilung hinweisen wird, aufgegeben. Er leidet nicht wegen einer vergangenen Schuld, sondern um einer neuen Zukunft willen, die ihm angeboten wird. An die Stelle einer moralischen Erklärung tritt in dieser Lesart eine Sinngebung der Krankheit, die ihr ebenfalls fremd bleibt und die den kranken Menschen ebenso instrumentalisiert. Die Behinderung findet darin ihren Grund, dass sie eine allgemeine Theorie beweisen soll.Die Fassung des Textes, die P 66 überliefert, unterscheidet sich aber deutlich von dieser Auslegung. Mit dem Punkt, den er zwischen den beiden Aussagen setzt, bringt der Kopist drei grundlegende Veränderungen. Erstens: Er hebt die Bedeutung der ersten Aussage hervor, indem er sie als einen unabhängigen Satz formuliert. Die Erklärung, dass weder der Blindgeborene noch seine Eltern gesündigt haben, bereitet keine andere Theorie vor, sondern sie wird als erste selbständige und an und für sich gültige These formuliert. Zweitens: Er korrigiert die Bedeutung des »Damit«, das einen Finalsatz einleitete, in eine Konjunktion des Willens: »Auf dass« mit der Bedeutung: »Ich befehle dass... «. 5 Drittens: Er verändert dadurch die Bedeutung der zweiten Aussage, die ebenfalls als ein unabhängiger Satz gelesen werden muss und den Wert eines Imperativs annimmt: »Auf dass wir an ihm die Werke Gottes offenbaren! « Daraus ergibt sich ein klarer Sinn-- ein dezidierter Widerstand gegen die Versuchung, die Krankheit innerhalb einer religiösen oder moralischen Weltanschauung verobjektivierend zu erklären-- und eine systemische Umrahmung-- im Sinne der paradoxen Pragmatik der Kommunikation 6 -- sowohl des Verständnisses der Krankheit als auch des Verhältnisses zum kranken Menschen: - Es gibt keinen relevanten Grund, von Schuld oder Sünde im Zusammenhang von Krankheit oder Behinderung zu reden, da die Behinderung oder die Krankheit keine Erklärung in einer Sünde des Betroffenen oder seiner Eltern findet (Joh 9,3a). - Es geht vielmehr darum, weil der Mensch mit seinem Leiden vorhanden ist, etwas für ihn zu unternehmen (Joh 9,3b). Sobald die Konstruktion von Ursache-Wirkung-Zusammenhängen oder finale Begründungen aufgegeben sind, wird der Blindgeborene von jeder Funktion in allgemeinen Erklärungssystemen befreit, um als Person in einer Ich-Du-Beziehung präsent zu sein. Behindert oder krank ist er weder aus schlechten vergangenen noch aus guten zukünftigen Gründen, sondern er ist da, im gegenwärtigen Augenblick, als eine Person mit ihren Erwartungen und ihren Verheißungen. 2. Die Sünde als Krankheit zum Tode Die Krankheit hat mit der Sünde nichts zu tun. Zerbrechlichkeit und Fehlbarkeit gehören nämlich zum normalen Alltag, zu der Vollkommenheit der von Gott geschaffenen Endlichkeit der Existenz, auch wenn Jesus viele Kranke pflegt. Auch für Paulus bietet die Krankheit, die er »Schwachheit« nennt, eher eine Chance als ein Hindernis für die apostolische Verkündigung und für das Verständnis der befreienden Kraft des Evangeliums (2Kor 12,1-10; Gal 4,12-20). Der Apostel wird nicht durch die Gesundheit, sondern umgekehrt in seiner Schwachheit durch die Gnade seines Herrn qualifiziert. Paradox berichtet er, den Herrn mehrfach gebeten zu haben, ihn von seiner Schwachheit zu heilen (2Kor 12,8). Auffällig erscheint aber, dass Paulus die Erhörung nicht in der Erlösung von der Schwachheit-- vom »Dorn im Fleisch«- - sieht, sondern vielmehr in der Offenbarung und entsprechend in der Entdeckung der Möglichkeiten, die diese Schwachheit gerade bietet (2Kor 12,9-10 7 ): (8) »Um dessentwillen habe ich dreimal den Herrn angerufen, dass er von mir ablassen möge. »Sobald die Konstruktion von Ursache- Wirkung-Zusammenhängen oder finale Begründungen aufgegeben sind, wird der Blindgeborene von jeder Funktion in allgemeinen Erklärungssystemen befreit, um als Person in einer Ich-Du- Beziehung präsent zu sein.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 14 - 2. Korrektur 14 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema (9) Und er hat zu mir gesagt: ›Meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft kommt in Schwachheit zum Ziel.‹ Sehr gerne will ich mich nun vielmehr der Schwachheiten rühmen, damit die Kraft Christi bei mir wohne. (10) Deshalb kann ich gut umgehen mit Schwachheiten, Misshandlungen, Nöten, Verfolgungen, Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.« Die universale Abkoppelung jeder logischen Kontinuität und die ausdrückliche Aufhebung jedes Ursache-Wirkung-Zusammenhangs zwischen Schuld oder Sünde einerseits und Behinderung, Schwachheit oder Krankheit andererseits gehen einher mit einem wertfreien Verständnis von Krankheit und Behinderung. Der christliche Glaube als Vertrauen in die bedingungslose Anerkennung Gottes setzt ein befreites Verhältnis zur Gesundheit voraus. Auf ein ganz anderes Problem verweist das Markusevangelium durch seine Darstellung der Figuren der Besessenen (Mk 1,23-28; 5,1-20; 7,24-30; 9,14-29). Die Erzählungen des Markusevangeliums unterscheiden einerseits ganz genau Heilungen von Dämonenaustreibungen, und sie verwandeln andererseits die Figuren der Besessenheit in eine anthropologische Analyse der Verzweiflung. Erstens drehen die markinischen Erzählungen die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Dämonen und den Besessenen um: Nicht der unreine Geist ergreift die Macht in einem Menschen, sondern ein Mensch findet umgekehrt seine Nische in einem Dämon: »Und sofort befand sich in der Synagoge ein Mensch in einem unreinen Geist« (Mk 1,23), »sofort kam ihm [sc. Jesus] entgegen aus den Gräbern ein Mensch in einem unreinen Geist« (Mk 5,2). Zweitens führt Jesus den Dialog nicht mit dem Dämon, sondern entweder mit den Eltern, die ihn wegen ihrer Kinder ansprechen (Mk 7,24-30; 9,14-29), oder mit dem Besessenen selbst (Mk 5,9): (9) »Und er [sc. Jesus] fragte ihn [Maskulinum]: ›Was ist dein Name? ‹ Und er sagt ihm: ›Legion ist mein Name, weil wir viele [Maskulinum Plural] sind.‹« Die Dialoge der markinischen Dämonenaustreibungen erzählen keine Machtkämpfe zwischen einem Exorzisten und bösen Geistern, wie es die Gattung des Exorzismus verlangt, sondern therapeutische Gespräche mit Menschen, die ein Abhängigkeitsverhältnis als Ersatz für ihre eigene Identität gefunden haben oder deren Kinder ihr Unvertrauen bösen Geistern ausgeliefert hat. Drittens lassen sich die jeweiligen Beschreibungen der Besessenheit mit keinen identifizierbaren Krankheitsbildern deuten. Bestimmte Momente sind zwar wiedererkennbar und erinnern an Symptome bekannter Leiden. Die Auswirkungen des stummen und tauben Geistes nehmen z. B. gewisse Züge epileptischer Anfälle an (Mk 9,14-29). Der Ablauf der Krise wählt aber andere Wege, so dass evident wird, dass der Erzähler vertraute Krankheitsbilder übernommen hat, um einen Konflikt anderer Ordnung darzustellen. Viertens fällt in diesem Zusammenhang die plötzliche Erscheinung der Besessenheit (»sofort«, Mk 1,23; 5,2! ) in der Gegenwart Jesu auf, als ob seine Präsenz die Wirklichkeit der Abhängigkeitsverhältnisse offenbaren würde, und die enge Verbindung, die das Markusevangelium zwischen der Befreiung von den Dämonen und dem Gebet als Bekenntnis des Vertrauens herstellt (Mk 7,29; 9,24.28-29): (7,29): »Und er sagte zu ihr: ›Durch dieses Wort, gehe hin, hinausgegangen ist aus deiner Tochter der Dämon.‹« (9,28) »Und als er zu Hause hereinkam, fragten ihn privat seine Jünger: ›Warum konnten wir ihn nicht austreiben? ‹ (29) Er sagte zu ihnen: ›Diese Art kann durch nichts ausfahren, es sei denn durch Gebet.‹« Worin das Gebet besteht, erklärt das Bekenntnis des Vaters, denn er ist der einzige, der in der Erzählung »betet« und daher der einzige, auf den Jesus sich beziehen kann (Mk 9,24): (24) »Sofort schreiend, der Vater des Kindes sagte: ›Ich vertraue, hilf meinem Unvertrauen! ‹« Fünftens besteht die Befreiung nicht in der Beseitigung einer Krankheit, einer Behinderung oder eines pathologischen Zustands, sondern in der Entstehung eines selbständigen Subjektes, das sinnvoll reden und handeln kann, das Integration in sein Haus findet und seines Selbst bewusst wird (Mk 5,15-20). »Der christliche Glaube als Vertrauen in die bedingungslose Anerkennung Gottes setzt ein befreites Verhältnis zur Gesundheit voraus.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 15 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 15 François Vouga Krankheit und Sünde Die Dämonenaustreibungen des Markusevangeliums inszenieren keine Heilungen von psycho-somatischen, psychischen oder neurologischen Krankheiten, sondern die Befreiung von einer Krankheit des Selbst, die Kierkegaard die »Verzweiflung« oder die »Krankheit zum Tode« nennt und die er mit der Sünde selbst identifiziert, sobald sie die Dimension der Transzendenz Gottes einbezieht: 8 I. Die Krankheit zum Tode ist Verzweiflung. Verzweiflung ist eine Krankheit im Geist, im Selbst, und kann somit ein Dreifaches sein: verzweifelt sich nicht bewusst sein, ein Selbst zu haben (uneigentliche Verzweiflung); verzweifelt nicht man selbst sein wollen; verzweifelt man selbst sein wollen. II. Verzweiflung ist die Sünde. Die Sünde ist: vor Gott oder mit dem Gedanken an Gott verzweifelt nicht man selbst sein wollen oder verzweifelt man selbst sein wollen. Die Dämonenaustreibungen des Markusevangeliums konstruieren keine kausalen Zusammenhänge zwischen Krankheit und Sünde. Sie erzählen vielmehr die im Vertrauen möglich gewordene Befreiungsgeschichte von der selbstgewählten und zur Abhängigkeit gewordenen Gefangenschaft der Seele unter einer universalen Krankheit, die Matthäus als »Heuchelei« versteht und die Paulusbriefe als »Sünde« personifizieren (Röm 7,7-23). Die markinische Besessenheit schildert keine Konsequenz der Sünde, sie erzählt die Sünde selbst. Die Exorzismen bilden insofern die narrative Rückseite der zentralen Einladung des Evangeliums: »Habt vertrauen in Gott« (Mk 11,22). 9 3. Die Krankheit des Einzelnen als Symptom systemischer Störung Die enge Verbindung zwischen dem Vertrauen der syrophönizischen Mutter und der Subjektwerdung ihrer Tochter (Mk 7,24-30) und zwischen dem Vertrauen des Vaters und der Befreiung seines Sohnes (Mk 9,14-29) setzt ein systemisches Denken voraus, nach welchem die Person, die Symptome trägt, mit dem Sitz der Störung nicht unbedingt identisch ist. Familien, »Häuser« oder Gesellschaften bilden Organismen, und jedes beliebige anfällige Glied kann leiden, weil das gesamte System krank ist. Krankheit kann dann ihre Ursache in einer Dysfunktion haben, aber der Kranke ist nicht mit den Schuldigen identisch. Dieser Gedanke fällt in der paulinischen Diskussion über den pathologischen Charakter, den die Feier des Herrenmahls in Korinth angenommen hat (1Kor 11,17-34), auf. Aus dem Zitat der Einsetzungsworte folgen zum einen praktische Konsequenzen und zum anderen Betrachtungen über die pathogene Auswirkung des Gemeindelebens auf die einzelnen Mitglieder der lokalen Kirche (1Kor 11,27-32): »Folglich: Wer auf unwürdige Weise das Brot isst oder den Kelch des Herrn trinkt, wird schuldig sein am Leib und am Blut des Herrn. (28) Der Mensch prüfe sich selbst; und so esse er aus dem Brot und trinke er aus dem Kelch. (29) Denn der Essende und Trinkende isst und trinkt sich Gericht, wenn er den Leib nicht in kritischer Distanz richtig erfasst [unterscheidet]. (30) Darum sind bei euch viele schwach und krank, und etliche entschlafen. (31) Wenn wir aber mit uns selbst ins Gericht gingen, würden wir nicht gerichtet; (32) vom Herrn gerichtet, werden wir aber gezüchtigt, damit wir nicht zusammen mit der Welt verurteilt werden.« Im Gegensatz zum johanneischen Zeichen (Joh 9,1-12) konstruiert die paulinische Seelsorge einen direkten Ursache-Wirkung-Zusammenhang zwischen einem Fehlverhalten der gesamten Kirche und der »Schwachheit«, der »Krankheit« und sogar dem Tod ziemlich »vieler« einzelner Mitglieder (1Kor 11,30): »Darum«, »aus diesem Grund« baut ausdrücklich eine logische Verbindung auf. Beachtet werden muss dabei, dass diese Verbindung die Gemeinde in ihrer Gesamtheit im Blick hat und dass sie in keiner Weise theologisch begründet wird. Erstens wird kein Bezug auf das Verhalten einzelner Mitglieder genommen. Die Argumentation lautet nicht: Etliche bei euch sind schwach, krank oder bereits gestorben, weil sie auf unwürdige Art und Weise das Brot gegessen oder den Kelch des Herrn getrunken »Die Dämonenaustreibungen des Markusevangeliums inszenieren keine Heilungen von psycho-somatischen, psychischen oder neurologischen Krankheiten, sondern die Befreiung von einer Krankheit des Selbst« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 16 - 2. Korrektur 16 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema haben. Paulus denkt nicht an einen direkten Zusammenhang zwischen dem Verhalten des Einzelnen und seinem eigenen Gesundheitszustand. Die Ursache liegt nicht beim Einzelnen, sondern beim System, das die gesamte Gemeinde bildet: Alle sind dafür verantwortlich, dass einzelne-- wenn auch viele-- unter Schwachheit, Krankheit oder frühem Tod leiden. Diese Vision von einer unglücklichen Form der Solidarität kann als ein Korollarium der Metapher des Leibes für das christliche Haus betrachtet werden (1Kor 12,1-31). Der Solidaritätsgedanke lautet hier allerdings nicht: »Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit« (1Kor 12,26), sondern: »Das Glied, das leidet, nimmt auf sich oder trägt das Symptom der universalen Krankheit des ganzen Körpers«. Eine ähnliche systemische Vision entwickelt der Römerbrief, wenn Verhaltensweisen, die als unsittlich angesehen sind, als Belege für die Universalität der Ungerechtigkeit der Menschen gedeutet werden (Röm 1,17-31). Zweitens wird in den Ursache-Wirkung-Zusammenhang keine Dimension eines göttlichen Gerichts oder einer religiösen Strafe eingeschaltet. Verwiesen wird weder auf ein Gericht Gottes über das Verhalten der Korinther, das sich in der hohen Zahl der Krankheitsfälle zeigen würde, noch auf eine magische, krankheitserregende Wirkung des Brotes oder des Kelchs, die nicht beachtet worden wäre. Die Argumentation setzt keine Kette, sondern eine direkte Kontinuität zwischen der kollektiven Schuld und den Folgen, die sie für beliebige Einzelne bringt, voraus. Die paulinische Argumentation konstruiert also keine indirekte Kausalität zwischen Sünde und Krankheit, sondern gibt eine ganz andere, rein immanente Erklärung der Krankheitsfälle in Korinth. Die vielen Mitglieder der Gemeinde leiden weder, weil sie sich falsch verhalten hätten, noch, weil Gott sein Gericht auf sie oder auf die Gemeinde-- also stellvertretend auf sie-- üben würde, sie tragen vielmehr die Konsequenzen der mangelnden Anerkennung und der Missachtung, die im alltäglichen Leben der Ortskirche herrschen. Das Denkmodell verleiht der Krankheit keinen religiösen Charakter und sucht für sie keine theologische Erklärung. Im Gegenteil: Die statistisch hohe Zahl der Gesundheitsstörungen hat nach Paulus einen rein immanenten Grund, 10 und seine Deutung weist eine enge Verwandtschaft mit Vorstellungen der modernen systemischen Therapien auf. 11 4. Die Verwandtschaft zwischen Vergebung und Heilung In den Evangelien und den Briefen schließt die Ablehnung einer religiösen kausalen Verbindung zwischen Krankheit und Sünde nicht die Herstellung einer anderen, therapeutischen Verbindung zwischen Vergebung und Heilung aus. Es wird jedoch keine direkte logische Kontinuität hergestellt, sondern eine Parallelität, eine Analogie oder eine Solidarität. Die Gesamtarchitektur der markinischen Erzählung von der Heilung des Gelähmten (Mk 2,3-12), die den programmatischen Bericht der Predigt Jesu kommentiert (Mk 2,1-2), ist dazu angelegt, Sündenvergebung und Heilung zusammenzudenken. Die performative Aussage Jesu (»Kind, deine Sünden werden vergeben«, Mk 2,5), die dem Vertrauen der vier Träger entgegenkommt, bereitet den Dialog vor, der in der paradoxen Frage mündet: »Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: ›Deine Sünden sind vergeben‹ oder zu sagen: ›Stehe auf, und nimm deine Trage, und geh! ‹? « (Mk 2,3-12): (3) »Und sie kommen zu ihm einen Gelähmten bringend, von vier getragen. (4) Und weil sie ihn wegen der Menge nicht zu ihm bringen konnten, deckten sie das Dach ab dort, wo er war, gruben es auf und lassen die Trage, auf der der Gelähmte lag, herab. (5) Und als Jesus ihr Vertrauen sieht, sagt er zu dem Gelähmten: ›Kind, deine Sünden werden vergeben! ‹ (6) Es gab da einige der Schriftgelehrten, die da saßen und dachten in ihren Herzen: (7) ›Warum redet dieser so? Er lästert! Wer kann Sünden vergeben außer Gott allein? ‹ (8) Und sofort als Jesus in seinem Geist erkannte, dass sie so dachten, sagte er zu ihnen: ›Warum denkt ihr dies in euren Herzen? (9) Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: ›Deine Sünden werden vergeben‹ oder zu sagen: ›Stehe auf, und nimm deine Trage, und geh! ‹? (10) Damit ihr wisst, dass der Menschensohn Autorität hat, »Alle sind dafür verantwortlich, dass einzelne - wenn auch viele - unter Schwachheit, Krankheit oder frühem Tod leiden. Diese Vision von einer unglücklichen Form der Solidarität kann als ein Korollarium der Metapher des Leibes für das christliche Haus betrachtet werden (1Kor 12,1-31).« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 17 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 17 François Vouga Krankheit und Sünde die Sünden auf Erden zu vergeben, sagt er zum Gelähmten: (11) ›Ich sage dir: Steh auf, heb deine Trage auf, und geh nach Hause! ‹ (12) Und er stand auf und sofort hob er seine Trage auf und ging weg vor allen Augen, so dass alle außer sich gerieten und Gott priesen, indem sie erklärten: ›So etwas haben wir noch nie gesehen.‹« Die Frage Jesu ist doppelt paradox. Zunächst wird nicht gefragt, was schwieriger, sondern was leichter sei. Durch den darauf folgenden Satz (»damit ihr wisst...«, Mk 2,10-11) bekommt diese Frage, wie die Frage der Jünger im Zeichen des Blindgeborenen (Joh 9,2), die Form einer illusorischen Alternative. Eine illusorische Alternative stellt als Alternative, die vor eine freie Entscheidung stellen sollte, zwei Möglichkeiten, die sich jedoch nicht gegenseitig ausschließen, wie es die logische Form der Alternative impliziert, sondern die miteinander so verbunden sind, dass keine echte Entscheidung übrig bleibt. Die Frage, ob Sündenvergebung oder Heilung leichter ist, stellt vor kein Entweder-Oder. Sie setzt vielmehr voraus, dass der Menschensohn, der die Autorität hat, performativ zu sagen, »Stehe auf, nimm deine Trage und geh! «, ebenfalls die Autorität hat, die Sünden zu vergeben, und umgekehrt: Wer performativ sagen darf, »Deine Sünden werden vergeben«, kann auch dem Gelähmten die Möglichkeit geben, aufzustehen und zu laufen. In dieser nicht-gesagten Voraussetzung besteht die wesentliche Aussage der dramatischen Komposition: Sündenvergebung und Heilung gehören in der markinischen, und dann auch in der matthäischen und in der lukanischen, Vorstellung der therapeutischen Handlung zusammen, ohne dass diese Zusammengehörigkeit jedoch durch die Formulierung der Frage präziser definiert oder gedeutet würde. Erstens erlaubt die illusorische Alternative keinen logischen Rückschluss auf die Ursache der Sünde oder der Lähmung. Die Zusammengehörigkeit von Vergebung und Heilung setzt in keiner Weise voraus, dass die Krankheit ihre Ursache in der Sünde hat oder die Sünde ihre Ursache in der Krankheit finden sollte. Die Tatsache, dass die beiden Momente der Vergebung und der Heilung im Prozess der therapeutischen Handlung assoziiert werden, impliziert keine Erklärung der Behinderung durch die Sünde, und sie nimmt keine Stellung zu den religiösen oder gesundheitswissenschaftlichen Versuchen, das Auftreten von Leiden durch eine berechenbare Rationalität-- man denke an Hjobs Freunde: »wenn er leidet, muss er gesündigt haben«-- oder durch eine nachvollziehbare Gerechtigkeit zu begründen. 12 Zweitens erlaubt die illusorische Alternative auch keine systematische Formulierung des Zusammenhangs von Vergebung und Heilung. Die Heilung bedingt nicht die Vergebung und die Vergebung gilt auch nicht als Bedingung für die Heilung. Die Präzisierung scheint trotz ihres evidenten Charakters relevant, weil sonst eine Nicht-Heilung-- eine bestehende Krankheit oder Behinderung-- auf eine Nicht-Vergebung zurückgeführt werden könnte, was einen Ursache-Wirkung-Zusammenhang indirekt wiederherstellen würde. Oder eine Nicht-Vergebung- - eine Unmöglichkeit der Vergebung-- würde aus der Nicht-Heilung folgen, was zu einer religiösen Disqualifizierung des behinderten oder kranken Menschen und zu einer Infragestellung seiner Identität als von und vor Gott bedingungslos anerkannte Person führen müsste. Die freie Konstellation der drei Begriffe des Vertrauens, der Vergebung und der Heilung, die durch die Erzählung nahe zueinander gerückt, ohne logisch untereinander verbunden zu werden, setzt allein eine Verwandtschaft voraus, die die Bedeutung des jeweils anderen erweitert: - Die Heilung des kranken Körpers beinhaltet Dimensionen, die sich nicht auf physische, chemische oder mechanische Reparaturen beschränken lassen, sondern Veränderungen des Verhältnisses des Subjektes zu sich selbst und zur Geschichte seines geistigen Lebens einschließen. - Die Vergebung ereignet sich als performative Handlung, wenn sie jeden religiösen Rahmen sprengt, um die Wirklichkeit des alltäglichen Lebens neu zu gestalten, wenn sie eine bedingungslose Anerkennung der Person zum Ausdruck bringt, eine Befreiung ihres Verhältnisses zu sich selbst-- und dann auch zu ihrem Körper-- und befreite Lebensmöglichkeiten vermittelt. - Das Vertrauen fordert die Reaktion Jesu bestehend in Adoption (»Kind! «, Mk 2,5), Vergebung (Mk »Die Tatsache, dass die beiden Momente der Vergebung und der Heilung im Prozess der therapeutischen Handlung assoziiert werden, impliziert keine Erklärung der Behinderung durch die Sünde, und sie nimmt keine Stellung zu den religiösen oder gesundheitswissenschaftlichen Versuchen, das Auftreten von Leiden durch eine berechenbare Rationalität [...] oder durch eine nachvollziehbare Gerechtigkeit zu begründen.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 18 - 2. Korrektur 18 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema 2,5 und 2,9-10) und Heilung (Mk 2,9-11) heraus. Auch hier wird aber jede allzu einengende logische Verbindung vermieden: Das Vertrauen wird nicht als Bedingung für die Vergebung oder die Heilung dargestellt. Eine feine Diskontinuität ist in die Erzählung eingebaut: Den Beginn des therapeutischen Ereignisses leitet nicht der Glaube des Behinderten oder Kranken selbst ein, sondern die Hoffnung und Zuversicht der Menschen, die ihn umgeben und ihn tragen. Auch hier bleibt Markus offen: Sind alle Zuhörer gemeint, die den Gelähmten zu Jesus bringen, oder nur die vier, die ihn tragen? Entscheidend ist die Gegenwart des Vertrauens, die durch das von Jesus gepredigte »Wort« ermöglicht wird und den Weg für Vergebung und Heilung eröffnet. Der Offenheit am Anfang der Geschichte entspricht die Freiheit, zu welcher sie hinführt: Erzählt wird nicht, wie Jesus eine Krankheit beseitigte, sondern wie ein Mensch geheilt wurde. Was im Evangelium (wieder)hergestellt wird, beschränkt sich nicht auf die Gehfähigkeit, sondern lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf die befreite Beweglichkeit und Handlungsfähigkeit einer Person, auf seine Möglichkeit, als freies, selbständiges und verantwortliches Subjekt zu leben. Nicht nur Vergebung und Gesundheit hängen zusammen, 13 sondern das geistige Leben einer anerkannten Person in Vergebung und Heilsein. Insofern nimmt auch der ehemalige Gelähmte seine Trage mit nach Hause, und setzt seine persönliche Geschichte mit der geschenkten und wahrgenommenen Offenheit neu fort. 14 Das Thema der therapeutischen Kraft des Vertrauens wird im Jakobusbrief ausgeführt (Jak 5,13-16): (13) »Geht es jemandem unter euch schlecht, so bete er; hat jemand Grund zur Freude, so singe er ein Loblied! (14) Ist jemand unter euch krank, so rufe er die Ältesten der Gemeinde zu sich. Die sollen über ihm beten, ihn im Namen des Herrn mit Öl salbend. (15) Und das Gebet des Vertrauens wird den Ermatteten retten, und der Herr wird ihn erwecken. Und wenn er Sünden begangen hat, wird es ihm vergeben werden. (16) Bekennt einander also die Sünden und betet füreinander, damit ihr geheilt werdet! « Frei assoziiert werden wiederum in einer unsystematischen Konstellation »Vertrauen der Gemeinde«, »Vergebung« der »Sünden«, »Krankheit«, »Heilung« und-- verglichen mit der markinischen Komposition (Mk 2,1-12) neu-- »Rettung« und »Auferweckung«. Als These wird an die therapeutische Kraft (Jak 5,16) des vertrauensvollen Gebets der Gemeinde-- und nicht mehr an die Autorität des Menschensohns (Mk 2,10)-- erinnert: »Das Gebet des Vertrauens wird den liegenden Menschen retten« (Jak 5,15). Die Erwähnung der Situation von Krankheit zieht aber unmittelbar den Gedanken nach sich, dass der kranke Mensch Sünden begangen haben könnte (Jak 5,15). Der Brief betont demgegenüber ohne zu zögern zunächst seine Gewissheit, dass ihm vergeben werden wird, um dann auf eine Therapie zu verweisen: Die Behandlung der Sünden besteht gegebenenfalls im gegenseitigen Bekenntnis und im gegenseitigen Fürbittengebet, mit dem Ziel, dass alle »geheilt werden« (Jak 5,16). Die Gemeindedisziplin des Fürbittengebets für die Kranken, zu welcher der Jakobusbrief einlädt, gibt der therapeutischen Praxis des Vertrauens, der Vergebung und der Heilung eine ritualisierte, fast liturgische Form. Die symbolischen Handlungen und ihre Begründungen werden präzise definiert, so dass wesentliche Unterscheidungen fein respektiert werden. Erstens werden Krankheit und eventuelle Sünden ebensowenig logisch verbunden wie in den Erzählungen der Evangelien: Der Kranke kann nämlich Sünden begangen haben oder nicht, 15 und die mögliche Rettung von der Krankheit geschieht ohne jede Bezugnahme auf-- gegebenenfalls-- vorhandene Sünden oder auf ihre Vergebung: Der Verfasser des Briefes setzt ausdrücklich keinen kausalen Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünden voraus. Er denkt aber durchaus daran, dass der Kranke Sünden begangen haben könnte oder auch nicht. Seine Deutung akzentuiert die Situation der Krankheit und die Suche nach Sündenvergebung hingegen anders: Mit der kritischen Bedrohung der Gesundheit rückt die Perspektive des Todes näher, und mit dem möglichen baldigen Lebensende die Notwendigkeit einer Lebensbilanz. Zweitens wird die Bedeutung der beiden Verben »heilen« und »retten« genau unterschieden. »Heilen« ist ein medizinischer Begriff, der die therapeutische Handlung eines Arztes, der seine Patienten pflegt und manchmal heilt, bezeichnet. »Retten« deckt ein breiteres semantisches Feld ab, aber wird im Jakobusbrief immer mit der Bedeutung Gottes endgültiger und endzeitlicher Erlösung verwendet (Jak 1,21; 2,14; 4,12; 5,20). 16 Der Leser könnte also erwarten, dass das Gebet des Vertrauens den Kranken heile-- ihn in einen gesunden Zustand zurückbringe (vgl. Jak 5,15)-- und dass das Sündenbekenntnis und das Fürbittengebet ihn von einer Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 19 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 19 François Vouga Krankheit und Sünde endzeitlichen Verurteilung und Zerstörung erlöse (vgl. Jak 5,16). Der Verfasser des Briefes tauscht hier aber beide Begriffe aus: - Therapeutischen Charakter haben das Sündenbekenntnis und das Fürbittengebet in der Gemeinde (Jak 5,16): Die Verheißung der pragmatischen Befreiung von den Lasten der Vergangenheit als performative Handlung gehört nach dem Jakobusbrief zur Pflegekunst der Kirchen. - Das Ziel und der Grund des Gebetes des Vertrauens für die kranken Geschwistern besteht nicht in einer medizinischen Genesung-- in einem »Heilen«, sondern in ihrer Rettung und in der Gewissheit, dass der Herr sie erwecken wird (Jak 5,15). Zu dieser doppelten Formulierung gehört eine große Offenheit: unentscheidbar ist, und wahrscheinlich soll unentschieden bleiben, ob die Zuversicht der Rettung eine Wiederherstellung der Gesundheit oder einen neuen möglichen Umgang mit der Krankheit bedeutet, ob die Verheißung der Erweckung durch den Herrn eine Erneuerung der Hoffnung in der Gegenwart oder eine endzeitliche Auferstehung meint. Krankheit, Sünde, Vertrauen, Rettung, Vergebung und Heilung werden in einer Konstellation assoziiert, die den therapeutischen Auftrag einer Gemeindedisziplin definiert, die eine aktive Begleitung der Kranken durch Hausbesuche, Fürbittengebet und gegenseitige Bekenntnisse beinhaltet. Zusammenfassung Die menschliche Intelligenz versucht, Rationalität und Ordnung in das Chaos der Existenz zu bringen. Sie steht immer wieder in der Versuchung, die Zufälligkeit von Krankheit und die offensichtliche Ungerechtigkeit, mit welcher Gesundheit, Unglück und Leiden verteilt werden, durch religiöse, kulturelle Wertsysteme und durch wissenschaftliche Weltanschauungen zu erklären. Die angenommene Evidenz einer kausalen Verbindung von Schuld oder Sünde und Krankheiten liegt sowohl an vermeintlichen-- statistisch dokumentierten-- Zusammenhängen von Fehlverhalten und Erkrankungen, an den Bemühungen einer Gesellschaft der Gesunden, sich durch eine tadellose Disziplin-- Einhaltung von Reinheitsgeboten in allen Bereichen des Lebens, Essen, Sexualität, Sport-- zu immunisieren; als auch an der Bereitschaft kranker Menschen, aufgrund von Schuldgefühlen Werturteile zu übernehmen und zu verinnerlichen. Den Hiob-Freunden aller Zeiten ist die Illusion gemeinsam, dass das Wissen um die Ursachen einer Krankheit dem Leiden einen Sinn verleihen kann. Die Evangelien und die Briefe des Neuen Testaments äußern sich demgegenüber weder über die Ursachen noch über den eventuellen Sinn einer Krankheit. Sie verzichten auf spekulative Erklärungen, explikative Systeme werden abgelehnt: Weder der Blindgeborene noch seine Eltern haben gesündigt (Joh 9,1-12). An die Stelle der Ursachenspekulation tritt der Versuch, die Krankheit subjektiv zu verstehen und sie in den Alltag der Ich-Du-Beziehungen des Gemeindelebens zu integrieren: Die Situation des kranken Menschen wird als Herausforderung wahrgenommen, für ihn selbst wie für den Körper der Gemeinschaft, zu der er als Glied gehört (1Kor 11,17-34, vgl. 1Kor 12,1-31; Jak 5,13-16): - Paulus entdeckt seine »Schwachheit« als Chance. Die Selbstbetrachtung des Apostels bietet keine Erklärung über die Ursache oder über den Sinn des sog. »Dornes im Fleisch«. Er erkennt ihn insofern als eine Gabe, die er bekommen hat (2Kor 12,7, passivum divinum), als eine Gnade Gottes, die gerade in dieser Situation mit ihrer vollen schöpferischen und befreienden Kraft für die Korinther und für ihn wirken kann (2Kor 12,1-10). - Auch das Zeichen des Johannesevangeliums gibt keine alternative Erklärung für die Behinderung des Blindgeborenen (Joh 9,1-12). Die Frage nach den Ursachen wird durch eine andere ersetzt: Die Frage der Verantwortung Jesu und-- mit ihm-- der Mitglieder seiner Gemeinde (1.Pers.Pl., Joh 9,4-; wie auch Joh 1,14.16; 3,11; 4,22; 21,24) gegenüber dem leidenden Menschen. Genauer: durch die Aufforderung oder den Befehl, die therapeutische Dimension der »Werke Gottes« an ihm wirksam werden zu lassen. - Die Verantwortung der Gemeinde gegenüber ihren kranken Mitgliedern kommt unter drei Aspekten zur Sprache. Negativ wird auf die mögliche systemische Mitverantwortung der gesamten Versammlung für die Krankheiten und Schwachheiten innerhalb der christlichen Häuser verwiesen (1Kor 11,27-32). Positiv wird sie dann an ihre liturgische Aufgabe der therapeutischen Begleitung der kranken Brüder und Schwestern erinnert. Der Jakobusbrief definiert eine Gemeindedisziplin der Hausbesuche, des Fürbittengebets und der Salbung der Kranken, die von den Ältesten als Vertreter der ganzen Gemeinde übernommen werden (Jak 5,14-15). Mit diesem Auftrag der seelischen und medizinischen Pflege verbindet die Gemeindedisziplin eine Einladung zum gegenseitigen Bekenntnis und zur Vergebung der Sünden Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 20 - 2. Korrektur 20 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema (Jak 5,15-16). Die Verbindung zwischen Vertrauen, Heilung und Vergebung nimmt eine Konstellation wieder auf, die in den Erzählungen der Evangelien bereits aufgebaut worden war (Mk 2,1-12) und die das Matthäusevangelium als Programm formuliert (Mt 9,8): »Als sie es sahen, wurden die Leute von Furcht ergriffen, und sie priesen Gott, der den Menschen solche Autorität gegeben hat.« Anmerkungen 1 Dr. med. Astrid Hehmeyer danke ich für viele Anregungen. 2 P. Watzlawick, The Language of Change, New York 1978. 3 V. Martin (Hg.), Papyrus Bodmer II. Evangile de Jean chap 1-14, Bibliotheca Bodmeriana V, Cologny-Genève 1956, 92. 4 H. Thyen, Das Johannesevangelium. HNT 6, Tübingen 2005, 457, verweist auf Joh 11,4 und spricht von der »Ersetzung der kausalen Frage nach Ursachen und deren Wirkungen durch den teleologischen Blick auf das göttliche Ziel«. 5 H.G. Liddell/ R. Scott, A Greek-English Lexicon I, Oxford 9 1940, 830. 6 P. Watzlawick/ J.H. Weakland/ R. Fisch, Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels, Bern 1974. 7 F. Vouga, »Gott existiert nicht, aber er lebt ...«-- Wäre Gott tot, könnte man dann noch mit und aus Freude lachen? , in: C.-F. Geyer/ D. Schneider-Stengel (Hgg.), Denken im offenen Raum. Prolegomena zu einer künftigen postmetaphysischen Theologie, Darmstadt 2008, 132-146. 8 J. Conrady/ F. Vouga, Zur Interpretation der Erzählungen von Exorzismen im Markusevangelium. Ein Werkstattbericht aus einem interdisziplinären Dialog zwischen einem Arzt und einem Theologen, in: R. Brucker/ S. Alkier (Hgg.), Exegese und Methodendiskussion, TANZ 23, Tübingen 1998, 257-270. 9 E. Cuvillier, L’évangile de Marc, Bible en face, Paris/ Genève 2002, 103-105: »Diableries et naissance du sujet«. 10 A. Lindemann, Der erste Korintherbrief, HNT 9/ I, Tübingen 2000, 259-260: »Die unangemessene Praxis hat bereits zu Krankheit und sogar Tod geführt [...]. ›Unter euch viele usw.‹ meint nicht, daß die ›unwürdig‹ Handelnden selbst die Opfer sind, sondern daß durch solches Handeln die Gemeinde als ganze bereits geschädigt wurde. Paulus sagt insbesondere nicht, Gott (oder Christus) habe die Betreffenden zur Strafe krank gemacht oder gar getötet [...]. Wohl aber behauptet Paulus, es bestehe ein Zusammenhang zwischen der korinthischen Art der Mahlfeier und den Krankheiten [...] bzw. den Todesfällen, die in Korinth selber offenbar keine Beunruhigung ausgelöst hatten«. 11 G. Bateson, Steps to an Ecology of Mind. Collected Essays in Anthropology, Psychiatry, Evolution, and Anthropology, Chicago 1972; Mara Selvini-Palazzoli, Luigi Boscolo, Giancarlo Cecchin, Giuliana Prata, Paradosso e Controparadosso. Un nuovo modello nella terapia della famiglia e transazione schizofrenica, Milano 1975. 12 L. Hartman, Mark for the Nations. A Textand Reader- Oriented Commentary, Eugene 2010, 113: In der nichtjüdischen religiösen Welt, in der das Markusevangelium gelesen wurde, war das Schuldgefühl, gegen Gott Sünden begangen zu haben, kein ernstes Problem. Man wollte aber mit den geheimnisvollen Mächten, die das Leben regieren, versöhnt sein. 13 E. Cuvillier, L’évangile de Marc, 58: «Le pardon, c’est la guérison véritable. L’un ne va pas sans l’autre». 14 Die Erinnerung an diese Dimension der Erzählung verdanke ich Christina Schäfer. 15 Chr. Burchard, Der Jakobusbrief, HNT 15/ I, Tübingen 2000, 211: »Für den Fall [...], daß der Kranke Sünden auf dem Gewissen hat [...], d.h. wohl schwere [...]: Er gesundet auch moralisch«. 16 F. Vouga, L’épître de saint Jacques, CNT XIIIa, Genève 1984, 140-144: »L’accompagnement des malades et la guérison des pécheurs«.