eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 17/33

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2014
1733 Dronsch Strecker Vogel

RedenMit

2014
Kathrin Oxen
Karl Friedrich Ulrichs
Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 51 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 51 1. Die Hand in der Bibel Die Predella des Cranach-Altars in der Wittenberger Stadtkirche zeigt, wie es geht. So programmatisch wie auf den Tafeln des Altars die Grundlagen der neuen Lehre in Taufe, Abendmahl und Beichte zu sehen sind, wird hier die Predigt dargestellt. Mit Martin Luther als gestenreichem Prediger ist gleichzeitig auch ein prinzipielles Verständnis des Verhältnisses von biblischem Text und gesprochenem Wort in der Predigt zu sehen. Luthers rechte Hand weist auf den gekreuzigten Christus und auf die Gemeinde. Die andere Hand liegt auf einem Buch, auf der Bibel-- oder liegt sie darin? Er hat sie nicht weggenommen, obwohl er ja gerade nicht ins Buch sieht, sondern zu den Menschen blickt. Sucht ein Finger eine Zeile, ein Wort und bewahrt so den Kontakt zu den Worten, von denen die Gedanken sich lösen im Sprechen? Eine Geste, die Sicherheit gibt, Vergewisserung, einen Halt. Die gesprochenen Worte wehen durch den Raum, so geistgetrieben-dynamisch, dass selbst das Lendentuch des Gekreuzigten in wilde Bewegung gerät. Sie sind so beweglich. Das kann beängstigend sein. Das geschriebene Wort ist da anders. Es ist fixiert auf den Seiten. Daran kann man sich halten, auch festhalten. Liegt deswegen die Hand im Buch? Es ist eine geläufige Predigterfahrung: Wer sich festhält am geschriebenen biblischen Wort, kann Sicherheit gewinnen. Die bibelwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Predigttext nimmt auch im Ergebnis der Predigtarbeit, im Manuskript, erheblichen Raum ein. In Studium und Vikariat ist dies eine häufige Beobachtung. Das Übergewicht der Exegese in Examensarbeiten oder auch der mangelnde Zusammenhang von sorgfältig erarbeiteter Exegese und der daraus entstandenen Predigt sind oft augenfällig. Vielfach funktionieren exegetische Aussagen innerhalb der Predigt wie Rettungsanker. Bevor man die allzu beweglichen (oder auch viel zu schwerfälligen) eigenen Worte wagt, hält man sich lieber an die zwar meist strittigen, aber immerhin gut belegbaren exegetischen Einsichten zum biblischen Text. Auch erfahrene Predigerinnen und Prediger spüren häufig, dass ihre Predigt dezidiert exegetische Teile enthält. In der Predigtanalyse werden sie gelegentlich als ein Predigtbestandteil sui generis benannt: »Jetzt kommt das Exegetische.« In der Dynamik des Predigtgeschehens sind diese Abschnitte, positioniert oft nach einem motivierenden, eher lebensweltlich geprägten Einstieg oder dem Predigttext, häufig von geringer Dynamik. Im schlimmsten Fall wirken sie wie Fremdkörper und erzeugen eine spürbare Distanz zum Erleben der Hörerinnen und Hörer, die dann im weiteren Verlauf der Predigt nur sehr mühsam wieder eingeholt werden kann. Was vor vielen tausend Jahren unter irgendwelchen Flüchtlingen im Nahen Osten relevant gewesen sein mag, hat doch mit mir nichts zu tun. Auch eine von beiden Seiten wahrgenommene Distanz zwischen dem Wissensvorsprung der Theologin und des Theologen und der ahnungslosen Gemeinde tut sich auf: Dass ich als Predigthörerin des klassischen Griechisch eben nicht mächtig bin, wissen wir doch auch beide. Nachfolgend möchten wir darstellen, dass und wie es gelingen kann, exegetische Einsichten auf die Kanzel zu bringen. Dazu formulieren wir nach einem kurzen Überblick über neuere Entwicklungen in Exegese und Homiletik (2.) unsere These (3.). Anschließend geben wir, statt ein Regelwerk aufzustellen, einige kommentierte Beispiele für eine Predigtpraxis, die »das Exegetische« im Modus des RedenMit in konkrete Predigtsprache überführt (4.). Ein vertiefender Aspekt dieser Predigtpraxis wird unter der Überschrift »Anreden und Berühren« anhand eines Klassikers aus der Kinderliteratur vorgestellt (5.), bevor mit qualitätssichernden Fragen ein Fazit gezogen wird (6.). 2. Neuere Entwicklungen in Exegese und Homiletik 2.1. Die »Wut des Verstehens« Die fleißige und kundige Exegese während der Predigtarbeit (und in Maßen auch noch in der Predigt selbst) gilt weithin als Ausweis dafür, dass die protestantische Devise des sola scriptura glücklich in die Tat umgesetzt wurde. Im Kollegenkreis wird sie mit Respekt vermerkt und von anspruchsvollen Gemeindegliedern durchaus mit Wohlwollen registriert. Das ist offensichtlich insofern naiv, als damit Bibeltext und Bibelwissenschaft unter der Hand in eins gesetzt werden. Differenzierter wird dieser exegetische Anspruch so vorgebracht, dass die Exegese (vor allem in ihrer Kathrin Oxen, Karl Friedrich Ulrichs RedenMit Exegese auf der Kanzel Hermeneutik und Vermittlung Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 52 - 3. Korrektur 52 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Hermeneutik und Vermittlung Der Gemeinde soll das Ergebnis solch sorgfältiger Arbeit vorgetragen werden.« 5 2.2. Konvergenzen in Exegese und Homiletik Für unsere Frage nach dem Zusammenhang von Exegese und Homiletik wird es nützlich sein, sich die paradigmatischen Entwicklungen in Exegese und Homiletik der vergangenen Jahrzehnte klar zu machen. Die Konvergenz dieser Entwicklungen wird bisher in ihrer Bedeutung für die Predigtarbeit kaum wahrgenommen. In der Exegese hat sich eine unübersehbare Verlagerung des Schwerpunktes weg von den diachronen Methoden hin zur synchronen Analyse vollzogen. Dabei ist auch die Wahrnehmung unterschiedlicher Forschungskontexte hilfreich. Unsere historisch-kritisch geprägte Tradition mit ihrem Schwerpunkt auf den diachronen Methoden hat, so scheint es, zu einem eher akademischerklärenden Modus auch in der Predigtsprache und zur oben beschriebenen Isolierung des »Exegetischen« innerhalb der Predigt geführt. Im angelsächsischen Kontext oder auch in den Niederlanden (Amsterdamse school: Breukelman, Deurloo, Zuurmond u. a.), wird seit längerem exegetisch stärker synchron gearbeitet. Die Predigt selbst kann dadurch möglicherweise leichter zu narrativen, paraphrasierenden und emotional wirkenden Sprachmodi kommen und eine neue Art von Unmittelbarkeit erzeugen. »Es kann ja sein, dass wir nicht die ersten Adressaten des Evangeliums sind. Dann sind wir eben die zweiten Adressaten. Auch wir haben unsere Schmerzen, auch uns sterben Menschen, auch wir geraten in Schuld und brauchen Freispruch. Und so schleichen wir uns ein in die alte Nachricht.« 6 Auch die Formen engagierter Lektüre im 20. Jahrhundert, wie die feministische, die befreiungstheologisch-materialistische und die dem christlich-jüdischen Dialog verpflichtete Bibellektüre, können diese Art von Unmittelbarkeit erzeugen, indem sie versuchen, »biblische Texte für das gegenwärtige soziale und individuelle Leben fruchtbar zu machen und christliche Identität zu ermöglichen«. 7 Sie geben Anstöße, die Bibel so zu lesen, »als sei sie für uns geschrieben, für uns zum Trost, für uns zur Mahnung, für uns zum Gericht und für uns zur Hoffnung.« 8 Was exegetisch mit der Schwerpunktverlagerung von diachroner hin zu synchroner exegetischer Methoetablierten historisch-kritischen Gestalt) eine Anwältin des Textes gegenüber allzu forschen und raschen Vereinnahmungen durch Prediger und Gemeinde sei. Das ist zweifellos ein wichtiger Hinweis für die Predigtarbeit: Der Text ist zunächst als »Text für sich« wahrzunehmen. 1 In seinen Überlegungen zur »Biblizität der Predigt« macht Karl Barth als eine maßgebliche homiletische Grundhaltung den Respekt vor dem biblischen Text aus. 2 Das bedeutet immer auch, eine Domestizierung des Bibeltextes nach traditionellen, konventionellen Vorgaben, auch etablierten Methoden und eigenen Vorlieben zu vermeiden und seine prinzipielle Fremdheit zu respektieren. Der Literaturwissenschaftler Jochen Hörisch warnt mit Schleiermachers berühmtem Diktum aus der dritten Rede über die Religion vor einer »Wut des Verstehens«. 3 Dieses wütende Verstehen kann sich auch das gelehrte Gewand der Exegese überwerfen. Es bleibt dennoch eine offene Frage, wie denn genau der Schritt von der historisch-kritischen Konzentration auf den Text als solchen zur Arbeit an der Predigt getan werden kann. Dass er getan werden muss und nicht etwa exegetische Aufgaben aus der Predigtvorbereitung in die Predigt aufgenommen werden können, ist dabei unumstritten. 4 »Auf der Kanzel soll kein Exeget stehen, der erwägt, ob ein Wort so oder so zu verstehen sei. Das ist notwendige Vorarbeit, die in die Studierstube gehört. Kathrin Oxen leitet seit 2012 das Zentrum für evangelische Predigtkultur, eine Einrichtung der EKD in Wittenberg. Sie ist Pfarrerin und Absolventin der Meisterklasse Predigt des Atelier Sprache e.V. in Braunschweig und Autorin homiletischer Zeitschriften. Die Predigtbeispiele in Abschnitt 4 stammen von ihr. Dr. Karl Friedrich Ulrichs arbeitet als Dozent am Evangelischen Predigerseminar in Wittenberg; an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig versieht er einen Lehrauftrag für Neues Testament. Kathrin Oxen Karl Friedrich Ulrichs »Die fleißige und kundige Exegese während der Predigtarbeit (und in Maßen auch noch in der Predigt selbst) gilt weithin als Ausweis dafür, dass die protestantische Devise des sola scriptura glücklich in die Tat umgesetzt wurde. […] Das ist offensichtlich insofern naiv, als damit Bibeltext und Bibelwissenschaft unter der Hand in eins gesetzt werden.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 53 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 53 Kathrin Oxen, Karl Friedrich Ulrichs RedenMit dik beschrieben ist, findet einen vergleichbaren homiletischen Ausdruck in den Kategorien des »RedenÜber« und »RedenIn«, die Martin Nicol seinem homiletischen Ansatz von 2002 zugrunde legt. Ein solches »RedenIn« »entfernt sich kategorial von allem ›Reden über‹: über das Bibelwort, über Gott und die Welt, über die Gemeinde. ›Preaching from within‹ ist ›Reden in‹: Reden im Bibelwort, im Handeln Gottes, im Beziehungsgeschehen von Predigerin und Gemeinde, im Hier und Jetzt der Situation-- und mit alledem hoffentlich auch im Ereignis. Eine solche Predigt versucht-- sie versucht es zumindest, nicht über das Trösten zu reden, sondern zu trösten.« 9 Im Anschluss an die »ästhetische Wende« in der Praktischen Theologie wurde die Predigt mit der berühmten Formulierung von Gerhard Marcel Martin im Anschluss an Umberto Eco als »offenes Kunstwerk« bestimmt. Nachdem zunächst lediglich diese prinzipielle Bestimmung stattgefunden hatte, blieben Prediger mit der Aufgabe der Gestaltung solcher offenen Predigtkunstwerke zunächst auf sich gestellt. Erst die Arbeiten von Martin Nicol und Alexander Deeg gaben auch formal-homiletische Anregungen zur Predigtarbeit. Dieses ausgeprägte formal-homiletische Interesse mag ein Grund für den Erfolg des Ansatzes der Dramaturgischen Homiletik sein. Auch hier ist ein kontexttypisches Phänomen zu beachten. Im deutschen Sprachraum lag die Leidenschaft von jeher mehr bei prinzipielldenn bei formalhomiletischen Fragestellungen, während andernorts Predigten sehr selbstverständlich mit den Mitteln der Poetik und Rhetorik und anderen exegetischen Zugängen als den historisch-kritischen Methoden erarbeitet wurden. Einen beachteten ersten Versuch einer engeren Verknüpfung von Exegese und Homiletik unternahm vor zwanzig Jahren Gerd Theißen mit seinem Entwurf einer »Zeichensprache des Glaubens«. Er beschreibt seine deduktiv angelegte homiletische Methode als den Versuch, sich »die implizite Homiletik meiner eigenen Predigten bewusst zu machen« 10 und gab mit dem Konzept einer biblischen Axiomatik vielfältige Anregungen zur Variation dieser Grundmotive und zur Entfaltung des »offenen Textes« der Bibel in der Predigt. 11 »Text und Auslegung machen Vorgaben, die nicht beliebig sind, sondern einen Spielraum von Möglichkeiten für aktives Hören und Lesen eröffnen.« 12 Viele Anregungen Theißens wurden im Entwurf Martin Nicols aufgenommen 13 , dort aber stärker, als es bei Theißen der Fall ist, formal-homiletisch akzentuiert. Auch erscheint die von Theißen vorgeschlagene Axiomatik gelegentlich dem Anliegen der Entfaltung eines »offenen Textes« zu widersprechen, in dem ja immer ganz unterschiedliche Motive vorhanden sind bzw. akzentuiert werden können. So wird die Reduktion auf bestimmte Grundmotive gelegentlich doch wieder zu einem Versuch, den Text in einer bestimmten Weise zu verstehen und objektivierbar in einem Grundmotiv zu »fassen«. 3. RedenMit-- »Das Exegetische« in der Predigt Exegetisches findet in der Predigt seinen legitimen Ort, weil es der biblischen Textwelt zuzurechnen ist. 14 Zwischen protestantischem Ethos biblisch fundierter Predigt und homiletischer Kritik an blanker Exegese auf der (mit einem kleinen Katheder verwechselten) Kanzel plädieren wir für einen homiletisch reflektierten Umgang mit exegetischen Fragen in der Predigt: Exegetisches, aber nicht exegetisch, sondern homiletisch verarbeitet. Die in der exegetischen wie in der homiletischen Diskussion der vergangenen Jahrzehnte gewonnenen Einsichten können für die Predigtarbeit fruchtbar gemacht werden, wenn der biblische Text stärker als Subjekt wahrgenommen wird, als dies bislang vielfach der Fall war. Predigttexte sind keine Texte, über die gepredigt werden kann. Auch wenn der konventionelle Aufbau der Predigt diese Haltung nahelegt, indem zunächst der Text verlesen wird, um anschließend darüber zu predigen, haben die exegetischen und homiletischen Erkenntnisse der vergangenen Jahrzehnte erheblich dazu beigetragen, mit dem biblischen Text als einem wirklichen Gegenüber ins Gespräch zu kommen. Die Wahrnehmung des Textes geschieht sowohl exegetisch als auch homiletisch ausdrücklich nicht mit dem Ziel, ihn abschließend zu verstehen oder unter eine Aussage subsumieren zu können. »Nicht faktenartige Ergebnisse, sondern Spannungen sind es, die eine Inszenierung lohnen« 15 , befindet Martin Nicol und nennt ausdrücklich klassisch exegetische Zugänge als Voraussetzung der Entdeckung des Spannungspotenzials biblischer Texte, wie Literarkritik, Redaktions-, Traditions- und Formgeschichte oder auch sozialgeschichtliche Zugänge. 16 Den biblischen Text als Gesprächspartner ernst zu nehmen, heißt zunächst einmal, ihn ausreden zu lassen, bevor man ihm sozusagen mit eigenen Deutungen ins Wort fällt. Das RedenMit dem biblischen Text hat formal-homiletische Konsequenzen. Nach dem Modell von Nicol »Predigttexte sind keine Texte, über die gepredigt werden kann. Auch wenn der konventionelle Aufbau der Predigt diese Haltung nahe legt« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 54 - 3. Korrektur 54 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Hermeneutik und Vermittlung und Deeg gearbeitete Predigten verlassen auch formal entschlossen das Schema von explicatio und applicatio, indem sie ausdrücklich dazu ermuntern, den Text nicht nur vor der Predigt zu verlesen, sondern ihn selbst in unterschiedlicher Weise zum Gestaltungselement der Predigt werden zu lassen. 17 Sie suchen ausgehend von Struktur und Motivik biblischer Texte nach Formen für die Predigtsprache. Auch wenn der biblische Text zunächst wie ein »fremder Gast« 18 erscheinen mag, handelt es sich bei ihm keineswegs um einen passiv verharrenden, stummen, sondern um einen in vielfältiger Weise beredten Gast. Sich anzuhören, was er zu sagen hat, und dieses dann in eigener, biblisch inspirierter Sprache weiterzusagen, wäre eine Art zu predigen, die in Analogie zu Ingo Baldermanns Entwurf einer »Biblischen Didaktik« 19 -- Biblische Didaktik fragt nicht nach einer Didaktik, mit der biblische Texte vermittelt werden können, sondern nach der den biblischen Texten selbst inhärenten Didaktik-- als »Biblische Homiletik« bezeichnet werden kann. Es geht auf der Suche nach homiletischen Impulsen in biblischen Texten um ein zweifaches RedenMit: Der erste Gesprächsgang wird durch das Methodenreservoir der Exegese unterstützt und gehört zur Vorbereitung der Predigt, der zweite führt in die sprachliche Gestaltung der Predigt hinein. 4. Kommentierte Predigtbeispiele Im Folgenden werden einige Predigtbeispiele wiedergegeben, in denen »das Exegetische« im Sinne eines RedenMit in Predigtsprache überführt wird. Dabei werden verschiedene Methoden der diachronen Analyse ebenso fruchtbar gemacht wie mehr von synchronen Zugängen her angelegte Exegeseformen. Der jeweiligen Predigtpassage schließt sich eine kurze Einordnung und eine Identifikation des jeweiligen exegetischen Zugangs an. 4.1. Kleines Groß machen - Textkritik und Predigt Aus einer Predigt zu Mk 14,66-72: »Ich sehe Petrus in Nahaufnahme, seine Tränen, seine Verzweiflung über sein eigenes Unvermögen und ich will nicht so schnell wissen, dass ja alles so kommen musste und Jesus ihm schon lange verziehen hat, ganz zu schweigen von all dem, was hinterher noch aus ihm geworden sein soll. Wenn ich seine Geschichte höre mit ihrem dunklen, vorerst letzten Kapitel, dann frage ich mich: Kann mir das auch passieren? Kann mein Scheitern, meine Schwäche eine Geschichte werden-- oder sogar Geschichte werden? Den ersten Hahnenschrei überhört man so leicht. »Juden dürfen keine Haustiere mehr halten.« Heute weiß ich, heute wissen wir, dass das ein erster Schritt war, der zu dem Tag führte, als die Synagogen brannten und zu dem Tag im Januar, als sie fortmussten und nie mehr schrieben und nicht zurückkamen. Auf den Kirchen ringsum im Viertel saß der Hahn, das Tier der Wachsamkeit und des Verrats.« Die Passage aus einer Predigt zum Gedenken an die Reichspogromnacht 1938 nimmt auf ein textkritisches Detail des Predigttextes Bezug. In Mk 14,68 findet sich eine im ursprünglichen Text nicht vorhandene Erwähnung eines ersten Hahnenschreis, die auf der Textoberfläche als logische Ergänzung zur Erwähnung des zweiten Hahnenschreis in V. 72 fungiert. Die Predigtpassage arbeitet die uneinheitliche Überlieferung eines Textteils, des ersten Hahnenschreis, in der Motivik der Predigt zu einem Überhören eines Warnsignals um. Damit werden die Predigthörer zu einem genauen Hinhören auf Signale animiert, die den Beginn eines mit der Verleugnung des Petrus vergleichbaren Verhaltens von Verleugnung und Verrat markieren. Die Übertragbarkeit dieses Vorgangs von dem im Predigttext beschriebenen Verhalten des Petrus über das Verhalten gegenüber Jüdinnen und Juden im Dritten Reich bis zur heutigen Situation von Predigthörern verleiht der Predigt eine bis in die Gegenwart reichende Dynamik. Im Sinne eines RedenMit wird nicht das textkritische Problem zunächst erläutert, um dann ausgelegt zu werden, wodurch der Predigteinfall seiner Spannung beraubt werden würde, sondern exegetische Beobachtung wird symbolisch-metaphorisch gedeutet und direkt in Predigtsprache überführt. Es wäre zu überlegen, inwieweit beim Lesen des Predigttextes der entsprechende Versteil ausgelassen werden sollte bzw. eine Übersetzung ausgewählt werden kann, in der diese textkritische Unsicherheit berücksichtigt wird (in der Lutherübersetzung ist das nicht der Fall). Diese Auslassung sollte dann nicht wieder thematisiert werden. Auch die sich einem mehr literaturwissenschaftlichen Zugang verdankende Beobachtung, dass dies im Markusevangelium die letzte Stelle ist, in der von Petrus die Rede ist, wird zu Beginn der Passage in eine für die Hörer unmittelbar anschlussfähige Weise in der Predigt verarbeitet. Dabei wird auf eine explizite Benennung des Sachverhalts zugunsten einer die Predigt emotional verdichtenden Andeutung (das »dunkle, vorerst letzte Kapitel«) verzichtet. Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 55 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 55 Kathrin Oxen, Karl Friedrich Ulrichs RedenMit 4.2. Ins Heute holen-- Biblische Realien und Predigt 4.2.1. Aus einer Predigt zu Mt 25,1-13: »Was unterscheidet die klugen Mädchen von den anderen? Diese zehn Mädchen tragen keine kleinen Öllämpchen mit sich, wie man sich es vielleicht vorstellt und wie es manchmal dargestellt wird. Sie haben Fackeln dabei, Gefäße auf Stäben, in denen man Stoffreste verbrennen kann. In diesen Fackeln ist bei allen Mädchen das Gleiche: Alte Lumpen. Graues, zerrissenes Zeug. Es taugt nur noch zum Verbrennen. Das ist der Alltag, der nicht nur im November ziemlich grau sein kann. Und das ist alles, was man sonst noch ausgemustert hat in seinem Leben, weil es grau und löchrig geworden ist mit der Zeit. Große Wünsche, zurechtgestutzt auf ein sogenanntes normales Maß. Träume. Die haben irgendwann die Motten gekriegt und wurden dann gleich ganz eingemottet. Die Fackeln sind jedenfalls gut gefüllt. Und an Nachschub herrscht kein Mangel.« In diesem Predigtbeispiel geht es um die durchaus strittige exegetische Frage, um welche Art von Leuchtmitteln es sich bei den Lampen der zehn Jungfrauen wohl gehandelt haben mag. »Die Parabel verrät jedoch nicht, wie die Mädchen die Fackeln mit Öl zum Brennen bringen. Wickeln sie ölgetränkte Lappen um den Fackelhals (so häufig seit Jeremias 1965, 198, aber ohne Hinweis auf antike Quellen)? Oder gebrauchen sie »Gefäßfackeln« mit einem aufgesteckten Feuergefäß (Luz 1997, 471)? Der Gebrauch von Stoff als Brennmaterial ist für die Antike nicht belegt und scheint zudem weder besonders praktisch (abfallende brennende Stoffstücke, Rußentwicklung) noch ökonomisch allzu vernünftig (Stoff war schwer und teuer herzustellen) zu sein.« 20 Die Predigerin entscheidet sich für eine der vorgeschlagenen Alternativen, ohne jedoch diese Entscheidung in der Predigt eigens zu thematisieren. Ihr ist bewusst, dass die Beschreibung biblischer Realien häufig eine Art »Museumseffekt« erzeugen kann und die Distanz zwischen Hörern und biblischem Text eher vergrößert als verkleinert. Daher führt sie den exegetischen Befund weiter und entwickelt daraus ein Motiv für ihre Predigt, das die Hörer animiert, eigene Übertragungsvorgänge zu vollziehen. Die beschriebene biblische Realie verwandelt sich dadurch von einem bloß betrachteten Objekt zu einem Gegenstand im Erleben der Hörer. 4.2.2. Aus einer Predigt zu Mt 9,9-13: »Es ist Teil der Strategie der Mächtigen, dass der Hass auf das System in den Dienststellen bleibt. Das soll so sein und funktioniert gerade dort, wo es nur einen Tisch, einen Stuhl, einen Menschen gibt. Beim Zöllner in Kapernaum, beim Blockwart, beim Hausvertrauensmann. Dort beginnt der Hass auf das System-- und da ist man auch schon wieder ruhiger, wenn man endlich draußen ist. Und dort, auf der anderen Seite des Tisches, unter dem Bild an der Wand beginnt es auch, dass ein Mensch sein Herz nicht mehr spürt, Glied einer Kette wird, Rädchen im Getriebe. Matthäus ist so ein Mensch. Schon hat es begonnen, dass er sich hart macht gegen das Unverständnis der anderen. Wie kannst du nur, fragen die Augen derer, die vor seinem Tisch warten. Du bist doch einer von uns. Aber er macht sein Herz hart, bis er die Blicke nicht mehr spürt.« Die biblische Realie, die den Hintergrund dieser Predigtpassage bildet, ist nicht dinglicher, sondern sozialgeschichtlicher Natur. Die Tatsache, dass Zolleinnehmer zur Zeit Jesu im Römischen Reich als Systemkollaborateure nicht gerade wohlgelitten waren, ist eine (beispielsweise im Online-Lexikon zur Neuen Genfer Übersetzung) leicht zugängliche exegetische Information: »Jeder Zolleinnehmer musste also einen gewissen Betrag abliefern, doch was er darüber hinaus eintrieb, konnte er behalten. Dieses System leistete dem Betrug und der Ausbeutung Vorschub und führte dazu, dass der Zolleinnehmer im Urteil des jüdischen Volkes einem Räuber und Betrüger gleichgestellt war. Außerdem war er als Kollaborateur verhasst, weil er im Dienst des heidnischen Römerreiches stand, und wurde wegen seines Umgangs mit Nichtjuden als unrein und als ›Sünder‹ verachtet.« 21 In der Predigtpassage wird diese Information ebenfalls gegeben. Auch hier wird versucht, einen »Museumseffekt« zu vermeiden. Die Situation des Matthäus wird übertragen auf andere Formen der Anpassung an ein herrschendes System. Mit den Stichworten »Blockwart« und »Hausvertrauensmann« werden analoge Verhaltensweisen aus den Diktaturen der jüngeren Vergangenheit aufgerufen. Die Predigt setzt zudem auf eine emotionale Beteiligung der Hörer, indem sie ermöglicht, sich in die Situation in der »Dienststelle« des Matthäus hineinzuversetzen. Sprachlich wird das durch die Anredeform noch verstärkt. 4.3. Weiter sehen-- Kontext des Textes und Predigt Aus einer Predigt zu Mt 9,9-13: »Jesus sieht Matthäus da sitzen, am Zoll. Gerade hat er einen gesund gemacht, der auf seinem Bett lag und seine Beine nicht mehr spürte. Steh auf, hebe dein Bett auf und geh heim! Das hat der getan. Und jetzt sitzt da Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 56 - 3. Korrektur 56 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Hermeneutik und Vermittlung einer auf einem Stuhl hinter seinem Tisch, in seiner Dienststelle. Der spürt sein Herz nicht mehr. Der ist ein schwererer Fall. Den kann Jesus nicht nach Hause schicken, der muss bei ihm bleiben. Folge mir! Die schweren Fälle kommen mit Jesus. All die, die gehen und sprechen und hören und sehen können. All die, die herzgelähmt sind.« Die Predigtpassage erzeugt aus der Wahrnehmung des unmittelbar vorangehenden Kontextes des Predigttextes in Mt 9,6 ff. mit der Geschichte der Heilung des Gelähmten eine überraschende Konsequenz. Der Ruf zur Nachfolge und die ja durchaus überraschend konsequente Reaktion des Angesprochenen wird im Sinne eines reframing als Beleg für die besondere Bedürftigkeit des Matthäus nach einer Beziehung zu Jesus, zu Umkehr und Nachfolge interpretiert. Gleichzeitig wird auch die in den Evangelien selbst immer wieder aufscheinende Frage nach der Beurteilung der Wunder Jesu angesprochen. Die Predigtpassage markiert deutlich, dass für die Außenstehenden nicht immer unmittelbar einsichtig ist, wo das größere Wunder geschieht. Sie deutet damit auch grundsätzlichere Fragen nach der Hermeneutik von Wundererzählungen an. 4.4. Zusammenführen-- Intertextualität und Predigt Aus einer Predigt zu 1Kor 12,21-27: »Ich dreh den Kopf und seh mich um. Da kommen die beiden mir entgegen. Die alte Frau und die junge, Naomi und Ruth. Die beiden verbindet nichts mehr, sie sind leiblich nicht verwandt, formal könnte ihre Beziehung zu Ende sein. Die junge Frau hätte umkehren können an der Grenze. Es wäre bei einigem Nachdenken sicher viel klüger gewesen. Warum hängst du dich mit deinem ganzen Leben und mit all deinen Möglichkeiten bloß an diese alte, verbrauchte und unansehnliche Frau? Du musst ja jetzt schon langsam gehen, damit sie überhaupt mitkommen kann. Und so wird es weitergehen. Wenn du mit ihr gehst, wirst du Ausländerin und gehörst ewig zu den Benachteiligten. Was hast du davon? Ruth hat nur eine Antwort auf all diese berechtigten Fragen: Dein Gott ist mein Gott. Dass wir beide an ihn glauben, das verbindet uns. Und dieser Gott sagt: Das Schwache ist wichtig. Das Unansehnliche genießt großes Ansehen. Dem Benachteiligten kommt besondere Ehre zu.« Intertextualität, hier zunächst verstanden als die innerbiblische Beziehung zwischen Texten, wird schon immer in vielfältiger Weise für die Predigt fruchtbar gemacht. Aber auch in diesem Bereich gibt es höchst konventionelle Wege, die stereotyp werden können, etwa dann, wenn die Beziehungen zwischen alt- und neutestamentlichen Texten ausschließlich im Schema von Verheißung und Erfüllung gedeutet werden. In dieser Predigtpassage wird ein paulinischer Text mit einer alttestamentlichen Erzählung verbunden. Eine Paraphrase paulinischer Aussagen wird in die Geschichte von Ruth und Naomi eingefügt und der hohe Abstraktionsgrad der paulinischen Textwelt damit narrativ gebrochen. Zudem wird die Auslegung des paulinischen Sprachbildes vom Leib und seinen Gliedern, die ein erster Zugang für die Predigtarbeit sein könnte, einmal verlassen und damit ein unkonventionellerer Weg der Auslegung ermöglicht. Die Verknüpfung mit der Ruthgeschichte verdankt sich dem Textraum des Sonntags, der Ruth 4,9-17 als Marginaltext vorschlägt. Auch diese von der Perikopenordnung inspirierte Spielart der Intertextualität ist für die Predigtgestaltung reizvoll und ertragreich. 4.5. Bilder malen-- biblische Motive und Predigt 4.5.1. Aus einer Predigt zu Gen 28,10-19a: »Ein Kissen wie ein Stein. Nicht weit weg von dem Ort, wo Jakob lag, liegen in diesen Tagen Menschen, in Syrien und den Nachbarländern. Sie sind auf der Flucht, wie Jakob es war. Kein weiches Polster, kein Zuhause mehr und vorm Einschlafen noch einmal die Hand der Mutter auf der Stirn. Das ist vorbei. Was im Traum alles zu ihnen kommt, wissen wir nicht.« Aus der biblischen Realie einer Mazzebe 22 , auf die Jakob auf der Flucht seinen Kopf bettet, wird ein Predigtmotiv entwickelt. Dieses Motiv beschreibt zunächst Jakobs Erfahrung bei seiner Übernachtung auf der Flucht und kann dann auf die Situation von Flüchtlingen in unserer Zeit übertragen werden. Die haptisch erfahrbare Sinnlichkeit des Motivs ermöglicht den Hörern zudem einen empathischen Zugang zur Situation von Flüchtlingen auf einer ganz anderen als der kognitiven Ebene. »Intertextualität […] wird schon immer in vielfältiger Weise für die Predigt fruchtbar gemacht. Aber auch in diesem Bereich gibt es höchst konventionelle Wege, die stereotyp werden können« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 57 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 57 Kathrin Oxen, Karl Friedrich Ulrichs RedenMit 4.5.2. Aus einer Predigt zu Mt 22,1-14: »Einer, zwei, so betreten sie zögernd den Saal. Treten sich wieder und wieder die Füße ab, streichen ihre zerknitterten Kleider glatt, so gut es geht und fahren sich durchs Haar. Unsicher suchen sie sich einen Platz. Die Tischordnung gilt ja wohl nicht mehr. Vor ihnen noch die Karte mit einem Namen. Die nehmen sie vorsichtig und legen sie umgedreht auf den Tisch, bevor sie sich setzen. Wie gut, dass Musik gespielt wird. Sie wüssten ja gar nicht, was sie reden sollten an diesen Tischen voller fremder Gesichter. Als das Essen kommt und der Wein, greifen sie zu. Fleisch und Brot und Wein, reichlich und köstlich, beruhigend konkrete Zeichen für ein Fest. Und nun auch der Blick des Sitznachbarn, des Gegenübers. Ein vorsichtiges Lächeln beim Anheben des Glases. Die ersten Worte werden gewechselt, über das Essen, über den Saal und von welchem Ende welcher Straße man hier hinein gefunden hat. Aber die Gespräche verstummen wieder, als der König den Saal betritt. Er hat Ruß an den Kleidern und Blut an den Händen.« In dieser Predigtpassage wird zunächst die im Gleichnis erwähnte Situation nach der Einladung der Gäste von den Straßen (Mt 22,8-10) imaginiert. In diese Situation hinein tritt, wie im Gleichnis auch, der König. Aus der Erwähnung des Mordens und Niederbrennens in V. 7 wird das Bild des Königs mit Ruß an den Kleidern und Blut an den Händen entwickelt, das wiederum das Potential besitzt, die Hörer emotional anzusprechen. Dass es sich dabei um ambivalente Emotionen handelt, entspricht durchaus dem Charakter matthäischer Endzeitgleichnisse. 4.6. Ansprechen-- Emotion und Predigt Aus einer Predigt zu Ex 15,21f: »Du kennst das doch auch, du warst doch auch schon in Ägypten und dein Leben nichts als ein Frondienst. Du kennst das zaghafte Ziehen an den Ketten und den Ruck zurück in die Realität, die halbherzigen Versuche, wegzukommen und die Angst im Nacken, dass dich doch noch einholt, was du hinter dir lassen wolltest. Vielleicht bist du noch auf der Flucht und noch lange nicht am Ziel und es fehlt dir einfach die Luft. Hör einfach zu, wie sie singen, dort am Ufer. Davon, dass eigentlich nichts mehr zu machen war und dass doch alles anders wurde. Die Bedrückung wird einmal zu Ende sein. Du wirst nicht dein Leben lang keuchend auf der Flucht sein. Mit einem Mal bleibt die Vergangenheit zurück und vor dir öffnet sich ein neues Land. Und wenn du durch bist, wirst du singen.« Dieser Predigtschluss verdichtet noch einmal Motive des Predigttextes, die während der Predigt entfaltet wurden. Sie werden stichwortartig aufgerufen (Ägypten, Frondienst, Ketten, Bedrückung, Flucht) und den Hörern zur Übertragung angeboten. Durch die Anredeform gelingt eine Überbrückung der Distanz zwischen der existenziellen Dimension im Damals und im Heute. Eine Wendung wie Du warst doch auch schon in Ägypten ist deutungsoffen, kann als metaphorische Redeweise verstanden und auf eigene Lebenserfahrungen übertragen werden. Sinnlich erfahrbare Sprachbilder wie das Ziehen an der Kette, der Ruck zurück in die Realität, die Angst im Nacken, die fehlende Luft helfen zu einem intensiven und auch emotionalem Zugang zu dem, was in der Predigt gesagt wird. 4.7. Verzicht, Verarbeitung, Verdichtung-- Ein Fazit aus den Predigtbeispielen Das Kleine groß machen, ins Heute holen, weiter sehen, zusammenführen, Bilder malen und anreden-- es sind sich ergänzende Aspekte genauer Wahrnehmung, die den biblischen Text nicht länger als Objekt exegetischer Betrachtungsweisen behandeln, sondern ihn Subjekt und Gegenüber in einer dialogischen Situation sein lassen. Für das Gelingen dieser Weise des RedenMit dem biblischen Text in der Predigt sind drei Aspekte maßgeblich. Das RedenMit erfordert zunächst vom Prediger/ von der Predigerin einen Verzicht auf eine (Selbst)darstellung als exegetisch kundige Theologin. Dass ich weiß, was ich weiß, darf in der Predigt nicht zur Sprache gebracht werden, sondern hat ausschließlich eine dem Gelingen der Predigtkommunikation dienende Funktion. Ich darf als Predigerin also niemals die Situation des ersten RedenMit dem Predigttext auf die Kanzel holen und muss in der zweiten Phase jenes Gesprächs all das unkenntlich machen, was auf mich als predigende Person hinweisen könnte. Neben diesen Verzicht tritt als zweite Grundanforderung die Verarbeitung exegetischer Einsichten in der Predigt. Sie können niemals als reine Information in der Predigt laut werden, sondern sollen im Sinne eines Verständnisses der Predigt als offenem Kunstwerk Rezeptionsprozesse bei den Hörern anregen und befördern. Daher müssen sie überführt sein in einen Predigtgedanken, eine paraphrasierende Passage, ein sprachliches Bild oder ein Motiv in der Predigt. Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 58 - 3. Korrektur 58 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Hermeneutik und Vermittlung Schließlich sollte die Verarbeitung exegetischer Einsichten in verdichteter Form geschehen. Aus dem Umgang mit biblischer Sprache und ihrer Verarbeitung in der Lyrik lässt sich lernen, dass Sprache von biblischer Sprache gleichsam infiziert sein kann, auch ohne dass die Herkunft jeder Wendung explizit deutlich gemacht wird. Gerade der Verzicht auf explizite Erklärung trägt so zum Anliegen der Verdichtung entscheidend bei und erzeugt eine Wirksamkeit von Sprache, die in die Nähe der Wirksamkeit biblischer Texte geraten kann. Die Emotionen der Hörer können dabei im zweifachen Sinne des Wortes angesprochen werden. 5. Ansprechen und Berühren-- Kommunikation und Emotion in der Predigt Zur Frage nach der Darbietung exegetischer Informationen in der Predigt kann ein vergleichender Blick in die Belletristik weiterhelfen. Denn dort gibt es eine vergleichbare Nötigung, Information geben, um Verständnis zu ermöglichen oder zu erleichtern. Wie wird der Kommunikationsprozess zwischen Autor oder implizitem Erzähler und den Lesern gestaltet-- in welcher Form, in welcher Sprache, in welchem Gestus? Wie können literarisch Begriffe erläutert, Informationen zum historischen und sozialen Hintergrund gegeben werden-- so, dass es der literarischen Intention zugutekommt? Als instruktives Exempel dafür kann Astrid Lindgrens Trilogie »Michel aus Lönneberga« dienen. 23 Die imaginierte Erzählerin wendet sich wiederholt an die Leser, um im fiktiven Dialog mit ihnen Wissen zu vermitteln, Wissensstände abzugleichen, die für das Verständnis der Erzählung wichtig sind. 24 In direkter Anrede und in unterhaltsamem Ton werden Begriffe (»der Militärpflicht genügen«) erklärt oder historische, soziale, kulturelle Umstände (ein Kometeneinschlag, ein Armenhaus, die småländischen Blutklöße) erläutert-- beides findet sich in Predigten auch. Solche gelungene literarische Information wird also beschränkt auf das, was zum Verständnis der weiteren Erzählung zu wissen nötig ist. In einer direkten sprachlichen Beziehung zwischen dem Erzähler (nicht der Autorin) und den Lesenden begegnet ein starkes, wenn auch imaginiertes Ich, das das Du ernst nimmt als Partner im Erzählen und Lesen, das Du anspricht auf sein Mitdenken und Nachempfinden, seine Imaginationskraft (»Wenn du einmal an einem Jahrmarktstag in Vimmerby gewesen bist…«). Die ihre jungen Leser informierende Literatin vermeidet die Falle einer kognitiven Engführung, indem sie Emotionales aufruft. Und das mit literarisch kalkulierter Freundlichkeit, in leichtem, gelegentlich launigem Gestus. Ihre Informationen sind nicht Belehrung, sondern augenzwinkernde Verständigung. Das Einbringen der Information wirkt sich nicht distanzierend auf das Hören der Predigt aus. Und der Leser gerät nicht aus dem Duktus der Erzählung. Eine Distanzierung im homiletischen Dreieck zwischen Predigt-Prediger-Gemeinde ist damit vermeidbar. Die Weitergabe von exegetischen Informationen in der Predigt kann dem RedenMit dienen, mehr noch: kann als solches gestaltet sein, indem emotional formuliert, nicht referiert, sondern erzählt wird mit direkter Anrede und Humor. 6. Zusammenfassung und Ausblick Aus unseren Überlegungen zu Exegese und Homiletik können Fragen zur qualitätssichernden Selbstkontrolle abgeleitet werden, mit denen Predigende ihre eigene Predigtpraxis befragen können: Wird immer dieselbe exegetische Methode angesprochen, etwa Textkritik, Einleitungsfragen (z. B. Pseudepigraphie), Übersetzungsprobleme (hier ist besonders die Semantik des Hebräischen beliebt), biblische Realienkunde und Zeitgeschichte? Erweist sich meine exegetische Arbeit auf der Kanzel durch ihre Einförmigkeit als eine bloße Marotte? An welcher Stelle der Predigt wird Exegetisches genannt, welche Funktion hat es? Wird aus dem exegetischen Detail ein Funke geschlagen, der in der Predigt weiter glimmt, oder nur eine für das Ganze nicht nötige Pointe? Ist das exegetische Detail für die Predigt, genauer: für ihr von der Gemeinde zu leistendes Verständnis nötig-- oder für den Prediger und sein Selbstverständnis? Was fehlt der Predigt und der Gemeinde, wenn das exegetische Detail nicht genannt wird? Ein Blick zurück auf die Predella des Wittenberger Cranachaltars zeigt: Es ist die Hand des exegetisch bewanderten Predigers, die im Buch sein muss. Sie tastet »Aus dem Umgang mit biblischen Sprache und ihrer Verarbeitung in der Lyrik lässt sich lernen, dass Sprache von biblischer Sprache gleichsam infiziert sein kann, auch ohne das die Herkunft jeder Wendung explizit deutlich gemacht wird.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 59 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 59 Kathrin Oxen, Karl Friedrich Ulrichs RedenMit nach dem Leben, das darin verborgen ist, das aufwecken und lebendig machen wird, was erstarrt und fast schon tot war. Die Hand im Buch spürt Leben, fremdes, pulsierendes, eigenwilliges Leben. Ein Puls, der sich überträgt, eine Entdeckung, die das Herz schneller schlagen lässt und den Mund öffnet. Anmerkungen 1 Vgl. P. Bukowski, Predigt wahrnehmen. Homiletische Perspektiven, Neukirchen-Vluyn 1990, 50. 2 Vgl. K. Barth, Homiletik. Wesen und Vorbereitung der Predigt, Zürich 3 1986, 58-64. 3 Vgl. J. Hörisch, Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik, Frankfurt/ M 1988; s. auch M. Josuttis, Über die »Wut des Verstehens« als homiletisches Problem: W. Engemann (Hg.), Theologie der Predigt. Grundlagen-- Modelle-- Konsequenzen, APTh 21, Leipzig 2001, 35-50. 4 Vgl. W. Engemann, Einführung in die Homiletik, Tübingen/ Basel 2002, 22 f. 5 Barth, Homiletik, 107. 6 F. Steffensky, Der Schatz im Acker. Gespräche mit der Bibel, Stuttgart ²2011, 23. 7 G. Theißen, Zeichensprache des Glaubens. Chancen der Predigt heute, Gütersloh 1994, 65. 8 Steffensky, Schatz, 22. 9 M. Nicol, Einander ins Bild setzen, Dramaturgische Homiletik, Göttingen 2 2005, 55; M. Nicol/ A. Deeg, Im Wechselschritt zur Kanzel. Praxisbuch Dramaturgische Homiletik, Göttingen 2 2013, 15 f. (hier die Schreibweise der Begriffe mit der Binnenkapitale). 10 Theißen, Zeichensprache, 9. 11 Vgl. a. a. O., besonders das Kapitel »Predigt als Chance zur Entfaltung des offenen Textes«, 45-79. 12 A. a. O., 74. 13 Vgl. Nicol, Bild, 60 f. 14 Vgl. A. Grözinger, Homiletik, Lehrbuch Praktische Theologie 2, Gütersloh 2008, 139. 15 Nicol, Bild, 86. 16 Vgl. a. a. O. 17 Vgl. Nicol/ Deeg, Wechselschritt, bes. das Kapitel »Bibelwort und Kanzelsprache«, 109 ff. 18 H. Weder, Neutestamentliche Hermeneutik, Zürcher Grundrisse zur Bibel, Zürich 2 1989, 428-435. 19 S. nur I. Baldermann, Einführung in die Biblische Didaktik, Darmstadt 1996. 20 M. Mayordomo, Kluge Mädchen kommen überall hin … (Von den zehn Jungfrauen). Mt 25,1-13, in: R. Zimmermann (Hg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 488-503: 493. 21 http: / / www.die-bibel.de/ online-bibeln/ neue-genferuebersetzung-ngue/ lexikon/ sachwort/ anzeigen/ details/ zolleinnehmer-1 (abgerufen am 12. 1. 2014). 22 Vgl. http: / / www.bibelwissenschaft.de/ wibilex/ das-bibellexikon/ lexikon/ sachwort/ anzeigen/ details/ mazzebe-3/ ch/ 9c0 077 855bc79b756d4884b0dd0c5e5f/ (abgerufen am 10. 01. 2014). 23 Astrid Lindgren, Michel in der Suppenschüssel, orig. schwed. 1963, dt. 1964; Michel muss mehr Männchen machen, orig. schwed. 1966, dt. 1966; Michel bringt die Welt in Ordnung, orig. schwed. 1970, dt. 1970. Ähnliches ließe sich, um aktuelle Kinderliteratur zu nennen, für Kirsten Boie (z. B. Der kleine Ritter Trenk und der Turmbau zu Babel, Hamburg 2013) zeigen. 24 Dazu Vivi Edström, Astrid Lindgren. Im Land der Märchen und Abenteuer, Hamburg 1997 (orig. schwed, Stockholm 1992), 178 f. »Informationen werden nach strikten rhetorischen Regeln wiedergegeben, wenngleich auch hier der Tonfall vertraulich ist. Vor allem wird die Belehrung nicht von oben nach unten erteilt.« Vorschau auf Heft 34 »Lebenskunst« Mit Beiträgen von: Christian Strecker, Samuel Vollenweider, Judith Perkins, Thomas Popp, Klaus Berger, Theo Kobusch, Kristina Dronsch