eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 17/33

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2014
1733 Dronsch Strecker Vogel

Allegorisch lesen!

2014
Marius Reiser
Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 46 - 3. Korrektur 46 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Schlägt man unser Thema in den heute üblichen Handbüchern zur Exegese nach, findet man gewöhnlich Klischees und Halbwahrheiten. Was man über die Hermeneutik des Origenes liest, sind zumeist Phantasien, die eine entfernte Ähnlichkeit mit der Realität aufweisen. 2 Allegorische Auslegung gilt als eine Methode, die »einen verborgenen tieferen Sinn des Textes hinter dem Wortverständnis« annimmt. 3 Die biblischen Autoren hätten sie eben benutzt, weil sie zu ihrer Zeit üblich war. Im Mittelalter habe man diese Methode dann zur Lehre vom vierfachen Schriftsinn ausgebaut, und fast immer folgt dann der unselige Merkvers dazu, der seit Luthers Zeiten die Geister verwirrt und die denkbar schlechteste Einführung in die Sache darstellt (Littera gesta docet…). 4 Es wird höchste Zeit, dass wir ihn vergessen. Josef Schmid schreibt in der 2. Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche: Die Probleme, die die moderne Bibelkritik findet, habe man in jenen Zeiten »teils noch nicht zu sehen vermocht, teils mit Hilfe der allegorischen Auslegung mühelos überwunden, d. h. praktisch ignoriert«. 5 Das ist eher eine Verleumdung als eine Beschreibung des historischen Sachverhalts. Eine verständnisvolle Einordnung der Allegorese unter heutigen Bedingungen ist demgegenüber Wilhelm Egger gelungen. In seiner heute leider nicht mehr gebräuchlichen »Methodenlehre zum Neuen Testament« behandelt der letzte Teil die »Lektüre unter hermeneutischem Aspekt«. Hier geht er auch auf »Lese- und Verstehensmodelle für aktualisierendes Lesen der Schrift« ein. Diese versteht er als »Amplifikation« des Textes durch Lesen in einem neuen Kontext. Als eine mögliche Form einer solchen Amplifikation versteht er auch die allegorische Lektüre als Lektüre eines Textes im Kontext der ganzen Schrift, der Liturgie, der Überlieferung der Gesamtkirche und der persönlichen Lebensgeschichte. Das lateinische allegoria übersetzt er mit »Glaubenssicht«. 6 1. Was geschieht bei einer allegorischen Deutung? Nehmen wir als Beispiel die Auslegung, die Paulus in 1Kor 10 dem wasserspendenden Felsen beim Wüstenzug des Volkes Israel gibt. Er erklärt ohne direkten Anhalt am alttestamentlichen Text: »Dieser Felsen war Christus« (1Kor 10,4). Diese Deutung ist wohl kaum im Sinne des alttestamentlichen Autors, als er diese Erzählung niederschrieb. Ebenso fremd war ihm zweifellos die Idee, mit dem Wasser aus diesem Felsen den eucharistischen Wein zu verbinden und mit dem Manna das eucharstische Brot. Aber für Paulus erzählt das Alte Testament nicht einfach die Geschichte der Vergangenheit, sondern zugleich die Geschichte der Gegenwart, freilich auf eine manchmal verborgene Weise. »Diese Dinge sind als Symbole im Hinblick auf uns geschehen« (1Kor 10,6). Das führte zu einer einfachen exegetischen Regel, die für viele biblische Erzähltexte gilt: Man ersetze nur die Protagonisten oder den Referenten durch entsprechende Beispiele aus der Gegenwart und verstehe alles in einem übertragenen Sinn, und schon hat man eine hochaktuelle Geschichte. Der Referentenwechsel ist das entscheidende Kriterium dafür, ob eine Allegorese vorliegt oder nicht. Und das entscheidende Kriterium dafür, ob eine sinnvolle Allegorese vorliegt, liefert die Frage, ob der neue Referent passend gewählt ist oder nicht. Dass diese Frage nicht immer eindeutig zu beantworten ist, steht auf einem anderen Blatt. Auch in einem bekannten Jesuswort liegt eine solche Allegorese vor. Es ist die Geschichte von der reichen Dame, die Jesus mit einem teuren Parfüm salbt (Mk 14,3-9). Die Jünger sind ärgerlich und meinen, man hätte das Geld sinnvoller verwenden können zugunsten der Armen. Jesus verteidigt die Frau, indem er zunächst bemerkt, zur Armenunterstützung hätten sie noch Gelegenheit genug, ihn aber hätten sie nicht immer. Und dann kommt der eigentliche Clou, denn Jesus macht noch einen merkwürdigen Zusatz: »Sie hat getan, was ihr möglich war. Sie hat meinen Leib vorweg gesalbt für das Begräbnis« (Mk 14,8). Daran kann die Frau nun wirklich nicht gedacht haben. Sie hatte lediglich eine Geste der Liebe und Verehrung im Sinn. Hat Jesus diese Absicht der Frau verkannt? Wohl kaum. Aber er gibt ihrer Geste bewusst einen weiteren, tieferen Sinn und wendet dabei ein ihm offenbar vertrautes Verfahren an, eben jenes, das wir heute als Allegorese bezeichnen. Er nimmt eine leichte Marius Reiser Allegorisch lesen! 1 Kontroverse Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 47 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 47 Marius Reiser Allegorisch lesen! später sehr übel genommen und konnte sich deshalb bis zur Aufklärung nicht durchsetzen. Die Aufklärung aber schüttete dann das Kind mit dem Bad aus. 9 Das allegorische Deutungsverfahren eröffnet ein Meer von Möglichkeiten: Jedes Wort, jede Geschichte, jedes einzelne Detail einer Erzählung ist potentiell als Metapher oder Symbol zu verstehen und kann nicht nur einen, sondern mehrere neue Referenten und Bedeutungen erhalten. Dem kreativen Geist scheint keine Grenze gesetzt. Stichwörter bilden Brücken und stellen ein unendliches Geflecht von Verbindungen zwischen Schriftstellen her, deren Zusammenfügung wie bei einer chemischen Reaktion Neues hervorbringt. Die Stichwortassoziation ist das häufigste Mittel bei allegorischen Deutungen. Durch eine solche Stichwortassoziation gerieten bekanntlich Ochs und Esel an unsere Krippen. Das Kind in der Krippe (Lk 2,7. 12. 16) verknüpften die Väter mit Jes 1,3: »Der Ochse kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn. Israel aber hat keine Erkenntnis, mein Volk hat keine Einsicht.« Ochs und Esel waren ursprünglich als Symbole und Aufforderung gedacht, diese Krippe mit der rechten Erkenntnis und Einsicht zu betrachten. Aber die Aufklärung, die uns das poetische und symbolische Denken abgewöhnt hat, führte dazu, dass diese Tiere als unhistorische, sentimentalische Zutaten verstanden wurden. Von den bisher genannten Beispielen her ist deutlich, was der Hauptzweck der Allegorese war und ist: die Aktualisierung. Wer einen Text der Vergangenheit aktualisieren möchte, muss ihn irgendwie symbolisch oder metaphorisch und das heißt, wenn damit ein Referentenwechsel verbunden ist: allegorisch verstehen. Damit ist aber auch deutlich, dass Predigten bis heute, soweit sie wirklich aktualisierende Schriftauslegung sind, großenteils Allegoresen darstellen. Ihre exegetischen Hauptmittel sind Metaphorisierung, Referentenwechsel und Stichwortassoziation. Vom weggerollten Stein vor dem leeren Grab können die Prediger auf die noch nicht weggerollten Steine vor unseren leeren Herzen kommen. Durch weitere Stichwortassoziationen lassen sie sich oft wild treiben, so dass der Gedanke im Gestrüpp der Metaphern nicht selten ganz verschwindet, falls er überhaupt vorhanden war. Denn den heutigen Predigern ist meistens gar nicht bewusst, wie oft sie die verpönte Methode der Allegorese anwenden. Würden sie das bewusst und gemäß den traditionellen Spielregeln dieser Form der Auslegung tun, dann wären ihre Predigten besser. Verschiebung des Bezugs der Handlung vor, indem er die Geste auf eine Situation in der Zukunft anwendet, und gibt ihr so einen zusätzlichen, neuen Sinn. Die Äußerungen des Origenes zum Thema versteht man nur, wenn man sich klar macht, dass er zur allegorischen Dimension der Heiligen Schrift nicht nur die Deutungen des Exegeten zählt, die über den Literalsinn hinausgehen, sondern auch die Metaphorik des Literalsinns selbst. Eine literaturwissenschaftlich genaue Unterscheidung zwischen der vom Autor intendierten Metaphorik und der metaphorischen Deutung eines gar nicht metaphorisch gemeinten Textes hat erst Thomas von Aquin getroffen. 7 Origenes aber war es, der erstmals in der Bibel Texte entdeckte, die nicht als Gleichnisse gekennzeichnet sind, aber wörtlich genommen »unmöglich« und deshalb nur im übertragenen Sinn als wahr betrachtet werden müssen, z. B. die Urgeschichte der Genesis (Gen 1-3). Die Zahl dieser Texte war seiner Ansicht nach sehr begrenzt und bedurfte einer gründlichen Untersuchung. 8 Diese richtige Einsicht wurde ihm Prof. Dr. Marius Reiser, geboren 1954, verheiratet. Studium in Tübingen und Paris (Katholische Theologie, Sinologie, Klassische Philologie). Promotion 1983 mit der Dissertation: »Syntax und Stil des Markusevangeliums im Licht der hellenistischen Volksliteratur« (erschienen Tübingen 1984). Habilitation 1989 mit der Habilitationsschrift: »Die Gerichtspredigt Jesu. Eine Untersuchung zur eschatologischen Verkündigung Jesu und ihrem frühjüdischen Hintergrund« (erschienen Münster 1990). Von 1991 bis 2008/ 9 Professor für Neues Testament an der Fakultät Katholische Theologie der Johannes-Gutenberg- Universität Mainz. Zum Ende des Wintersemesters 2008/ 9 Verzicht auf die Professur aus Protest gegen den Bologna-Prozess. Seither Privatgelehrter. Marius Reiser »Wer einen Text der Vergangenheit aktualisieren möchte, muss ihn irgendwie symbolisch oder metaphorisch und das heißt, wenn damit ein Referentenwechsel verbunden ist: allegorisch verstehen. « Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 48 - 3. Korrektur 48 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Kontroverse 2. Die Einheit von Altem und Neuem Testament Bildet der Kanon nicht ein Sammelsurium von Schriften? Inwiefern haben wir überhaupt das Recht, von der Bibel als einem Buch im Singular zu sprechen? Mit welchem Recht ist das Neue Testament mit dem Alten zusammengebunden? Gibt es nicht unvereinbare Widersprüche zwischen diesen beiden Teilen? Die Antwort der Väter auf diese Fragen war eindeutig: Die Bibel bildet nur als Heilige Schrift eine Einheit. Denn ihre Einheit wird nicht etwa durch einen irgendwie gearteten historischen oder traditionsgeschichtlichen Zusammenhang konstituiert, sondern einzig und allein durch den Geist, der das Ganze durchdringt. Der Heilige Geist garantiert die Einheit von Altem und Neuem Testament und rechtfertigt allegorische Deutungen. Nur auf der Ebene der allegorischen Deutungen können wir zu einer Harmonie zwischen Altem und Neuem Testament gelangen. Wer die Inspiration dieses Buches und die auf ihr basierende allegorische Deutung ablehnt, hat nur noch »menschliche Aufzeichnungen« vor sich, die sich vielfach uneins sind und Widersprüche aufweisen. Das hat Origenes bereits mit aller Deutlichkeit gesehen. 10 Die aufgeklärte Exegese lehnte Inspiration und Allegorese ab und hat seither die von Origenes vorhergesehenen Probleme. Markion spukt in vielen Formen durch die heutige Theologie. Was sollen die vielen Ritualgesetze des Alten Testaments in unseren Bibeln? Sind sie nicht, historisch betrachtet, »der Juden Sachsenspiegel«, wie Luther sagte? 11 Aber warum werfen wir sie dann nicht aus dem Kanon? Origenes und die Väter waren der Meinung, dass sie nur sinnvoll allegorisiert eine christliche Bedeutung haben. Was fangen wir mit den grausamen Eroberungskriegen im Buch Josua an? Sind sie nicht, im Literalsinn verstanden, eine Aufforderung zum Blutvergießen? Ohne Zweifel, meinte Origenes und bemühte sich deshalb, ihnen einen christlichen Sinn durch Allegorese abzugewinnen. Was sollen wir mit den sogenannten Fluchpsalmen tun? Können wir sie überhaupt beten? Viele Christen sagen »Nein« und lassen sie beim Gebet einfach weg. So machen es auch Klöster in ihren Stundengebeten. Warum streichen wir sie nicht einfach aus unseren Texten? Die historischkritische Exegese hat auf solche Fragen keine Antwort. Die Väter hatten eine. Sie erklärten: Im wörtlichen Sinn können wir diese Texte nicht akzeptieren, denn Christus hat uns die Feindesliebe gelehrt. Aber da sie in der Heiligen Schrift stehen, müssen sie einen christlichen Sinn erhalten können. Das ist nach Lage der Dinge nur durch Allegorese möglich. Wie so etwas im konkreten Fall aussehen kann, zeigt die Auslegung von Ps 137 durch Origenes. Dieser Psalm schließt bekanntlich mit der schrecklichen Seligpreisung dessen, der die Kinder Babels packt und sie am Felsen zerschmettert. Origenes beobachtet nun, dass im ganzen Psalm Jerusalem und Babel kontrastiert werden. Jerusalem ist im Neuen Testament aber ein Symbol des Gottgefälligen, Babel dagegen ein Symbol des Gottwidrigen. Beides, erklärt Origenes, haben wir auch in unserer Seele. Die Verwüsterin Babel ist ungefähr das, was wir Deutsche den inneren Schweinehund nennen. 12 Die Kinder dieser Verwüsterin sind unsere schlimmen, unreinen Gedanken und Absichten. Was können wir Besseres tun, als sie beim Schopf packen und am Felsen zerschmettern, jenem Felsen nämlich, der nach 1Kor 10,4 Christus ist. Tatsächlich lassen sich alle Einzelheiten des Psalms problemlos in dieses Deutungsmuster einfügen, und auf diese Weise erhält er einen betbaren und aktuellen Sinn. 13 Und niemand kann behaupten, dieses Deutungsmuster sei willkürlich. Die allegorische Exegese der Väter beruht auf einer durchdachten Hermeneutik und geht nach einsichtigen methodischen Grundsätzen vor. Die immer noch vielfach herrschende Ansicht unter Exegeten, die Väter hätten den Literalsinn nicht ernst genommen, verrät nur Ignoranz. Der Literalsinn ist vielmehr stets der Ausgangspunkt ihrer Exegese, der auch die Allegorese bestimmt. Im übrigen muss man sich klar machen: »Das vor der Ankunft Christi entstandene Gebetbuch des alttestamentlichen Bundesvolkes ist nicht etwa wegen der ganz seltenen prophetischen Vorausblicke auf den Messias, die sich in ihm finden, Gebetbuch der christlichen Kirche geworden, sondern weil man es in seiner Gänze christlich verstanden hat.« 14 Das Büchlein von C.S. Lewis »Reflections on the Psalms« (dt. unter dem unglücklichen »Nur auf der Ebene der allegorischen Deutungen können wir zu einer Harmonie zwischen Altem und Neuem Testament gelangen. Wer die Inspiration dieses Buches und die auf ihr basierende allegorische Deutung ablehnt, hat nur noch ›menschliche Aufzeichnungen‹ vor sich, die sich vielfach uneins sind und Widersprüche aufweisen.« »Die allegorische Exegese der Väter beruht auf einer durchdachten Hermeneutik und geht nach einsichtigen methodischen Grundsätzen vor.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 49 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 49 Marius Reiser Allegorisch lesen! Titel »Das Gespräch mit Gott«) enthält nicht nur ein ausgezeichnetes Kapitel über die Fluchpsalmen, sondern in den letzten drei Kapiteln auch so etwas wie eine literaturwissenschaftliche Einführung in das allegorische Verständnis, wie man sie bei Fachexegeten vergeblich sucht. Das Hohelied ist bei Juden wie Christen nur in seiner allegorischen Deutung kanonisch. Bereits im Jahr 1967 veröffentlichte Norbert Lohfink, ohne an Allegorese zu denken, einen Aufsatz mit dem Titel: »Die historische und die christliche Auslegung des Alten Testaments«. 15 Darin macht er eine Feststellung, die für die Alte Kirche eine Selbstverständlichkeit war: »Wir lesen das Alte Testament ja nicht deshalb so aufmerksam, weil es Zeugnis aus einer vergangenen Zeit ist-- dann müssten wir die griechische, die mesopotamische, die indische und die chinesische Literatur mit der gleichen Verehrung und Intensität lesen. Wir lesen es vielmehr, weil wir als Christen davon ausgehen, dass es Heilige Schrift, das heißt in einem hier nicht näher zu erörternden Sinn ›Wort Gottes‹ ist.« 16 Faktisch liest die heutige christliche Fachexegese die Bibel aber lediglich als Zeugnis aus einer vergangenen Zeit, nicht anders als andere Klassiker, jedenfalls dort, wo sie sich auf die sogenannte historisch-kritische Methode beschränkt. Damit bleibt sie hinter ihrer Aufgabe zurück und lässt die Prediger allein. Norbert Lohfink formuliert: »Wenn wir davon ausgehen, dass Jesus Christus das letzte und alles umfassende Wort Gottes ist, daß also die Jesus Christus verkündende Botschaft des Neuen Testaments letzter Maßstab sein muß, dann kann das Alte Testament für uns nur Wort Gottes sein, wenn es in Harmonie zur Botschaft des Neuen Testaments verstanden und ausgelegt wird.« 17 Genau das war die Überzeugung der Alten Kirche und ein Grund für die Anwendung der Allegorese. 3. Wie viele Schriftsinne gibt es? In fast allen Handbüchern wird als Gipfel der Allegorese des Mittelalters der vierfache Schriftsinn hingestellt. Meistens wird ohne weiteres so getan, als rechnete man ganz schematisch mit vier verschiedenen Schriftsinnen. Und immer folgt dasselbe Beispiel: Jerusalem in vierfacher Bedeutung. Aber diese vier Schriftsinne sind eine Schimäre der Lehrbücher, die in der Praxis keine Rolle spielt. Sie entspricht auch nicht der wirklichen Theorie. Grundsätzlich werden in der Väterzeit wie im Mittelalter nur zwei Schriftsinne oder besser: zwei Dimensionen des Textes unterschieden. Die eine ist das, was als literaler oder historischer Sinn bezeichnet wird, die andere ist die übertragene Bedeutung, die u. a. als spirituelles, symbolisches oder mystisches Verständnis bezeichnet wird. Leider benutzen manche Theologen wie Thomas von Aquin den missverständlichen Begriff »sensus« (im Singular und Plural). So weit ich sehe, ist aber häufiger von einem mehrfachen »Verstehen« oder »Erklären« die Rede. Origenes kennt den Begriff »Schriftsinn« noch gar nicht. Hennig Brinkmann spricht in seinem Standardwerk zur Allegorese des Mittelalters deshalb konsequent von »vier Verstehensweisen« des Textes. 18 Die zweite Dimension des Textes kann sehr verschiedenen Charakter haben, je nach dem Referenten, auf den ein Text metaphorisch bezogen wird. Da reichen die drei Varianten der Lehrbücher und des unseligen Merkverses bei weitem nicht hin. Im Jahr 1935 hielt Dietrich Bonhoeffer einen Vortrag über »Vergegenwärtigung neutestamentlicher Texte«. Darin kommt er auch auf die Frage der allegorischen Auslegung zu sprechen. Seine Stellungnahme ist aus der Sicht der modernen Exegese überraschend, aber nicht aus der Sicht der traditionellen: »Warum soll das Wort [der Schrift] nicht auch symbolische oder allegorische Bedeutung haben können? Entscheidend ist doch nur, und das einzige Kriterium, ob hier nichts anderes entdeckt wird als eben Christus- - also 1.) auf das Was! Auf den Inhalt der allegorischen und symbolischen und typologischen Auslegung kommt es an. 2.) Darauf, dass nur dem Wort der Schrift diese Kraft des allegorischen, symbolischen etc. Christuszeugnisses, diese Durchsichtigkeit zugemessen wird. Innerhalb dieser beiden Schranken scheint mir der allegorischen etc. Auslegung ihre Freiheit bleiben zu müssen und innerhalb dieser Schranken hat sie das Neue Testament selbst geübt. Wie dürften wir sie für unmöglich halten? Nicht als falsches Beweismittel, aber als Lobpreis auf die Fülle des Christuszeugnisses der Schrift bleibt die allegorische Auslegung eine schöne Freiheit der kirchlichen Auslegung der Schrift.« 19 Die hier von Bonhoeffer genannten Kriterien sind die seit der Väterzeit für die Allegorese geltenden. Ich würde mir wünschen, dass diese »schöne Freiheit der kirchlichen Auslegung« wieder Allgemeingut wird. »Und, könnte es nicht sein, dass uns bald eine neue allegorische Lust packte? « 20 Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 50 - 3. Korrektur 50 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Kontroverse Anmerkungen 1 Für nähere Ausführungen verweise ich auf die einschlägigen Aufsätze zu dieser Thematik in: M. Reiser, Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift. Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese und Hermeneutik, Tübingen 2007. 2 Wer die wirkliche Konzeption des Origenes kennenlernen will, lese M. Harl, Introduction, in: Origène, Philocalie, 1-20: Sur les Écritures (SC 302), Paris 1983, 42-157. Hilfreich ist R. Voderholzer, Die Einheit der Schrift und ihr geistiger Sinn, Einsiedeln/ Freiburg 1998, 177-234; H. de Lubac, Typologie-- Allegorie-- geistiger Sinn. Studien zur Geschichte der christlichen Schriftauslegung. aus dem Französischen übertragen und eingeleitet von R. Voderholzer, Einsiedeln/ Freiburg 1999. 3 Ch. Dohmen/ Th. Hieke, Das Buch der Bücher. Die Bibel-- eine Einführung, Kevelaer 2005, 71. 4 Zu diesem in jeder Hinsicht verunglückten Vers vgl. M. Reiser, Bibelkritik (s. Anm. 1) 139-141. 5 J. Schmid, Art. Bibelkritik: LThK 2 2 (1958) 364. 6 W. Egger, Methodenlehre zum Neuen Testament. Einführung in linguistische und historisch-kritische Methoden, Freiburg i. B. 1987, 204-222. Gut informiert auch der Art. Allegorie/ Allegorese: RGG 4 1 (1998) 303-310. 7 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I 1,10 ad 3; in ep. ad Gal IV 7 (ed. Fretté 21,250f ). 8 Vgl. Orig., princ. IV 3, 5 (Görgemanns/ Karpp 744-747). 9 Vgl. M. Reiser, Bibelkritik (s. Anm. 1) 355-371. 10 Orig., princ. IV 2,2 (Görgemanns/ Karpp 700). 11 M. Luther, WA 16, 386. 12 Zu diesem eigenartig deutschen Vieh vgl. Asfa-Wossen Asserate, Draußen nur Kännchen. Meine deutschen Fundstücke, Frankfurt a. M. 2010, 65-70 (»Mein innerer Schweinehund«). 13 Vgl. B. Steidle, Vom Mut zum ganzen Psalm 137 (136): EuA 50 (1974) 21-36. 14 B. Fischer, Dich will ich suchen von Tag zu Tag. Meditationen zu den Morgen- und Abendpsalmen des Stundenbuches, Freiburg i. B. 1985, 15. 15 N. Lohfink, Die historische und die christliche Auslegung des Alten Testaments, in: Ders., Bibelauslegung im Wandel. Ein Exeget ortet seine Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1967, 185-213. 16 Ebd. 197. 17 Ebd. 18 H. Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, Tübingen 1980. 19 D. Bonhoeffer, Vortrag über Vergegenwärtigung neutestamentlicher Texte, in: E. Bethge u. a. (Hgg.), Dietrich Bonhoeffer Werke Bd. 14: Illegale Theologenausbildung: Finkenwald 1935-1937, Gütersloh 1996, 399-421, hier: 416 f. 20 Botho Strauß, Paare, Passanten, München/ Wien 1981, 148. A. Francke Verlag • D-72070 Tübingen • info@francke.de • www.francke.de Matthias Klinghardt/ Hal Taussig (Hrsg.) Mahl und religiöse Identität im frühen Christentum - Meals and Religious Identity in Early Christianity Texte und Arbeiten zum Neutestamentlichen Zeitalter, Band 56 2012, 372 Seiten, € (D) 78,00/ SFr 105,00 ISBN 978-3-7720-8446-1 Das gemeinsame Essen und Trinken prägte wesentlich die Identität antiker Gemeinschaften: Soziales und religiöses Selbstverständnis, Zugehörigkeit und innere Struktur sowie die Abgrenzung von anderen Gruppen waren in hohem Maße durch das gemeinsame Mahl bestimmt. Unter diesem Paradigma behandeln die Beiträge des vorliegenden Bandes frühchristliche Gemeinschaftsmähler in ihrem kulturellen und religionsgeschichtlichen Kontext.