eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 17/33

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2014
1733 Dronsch Strecker Vogel

Allegorisch lesen?

2014
Michael Tilly
Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 41 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 41 Bereits die apologetische Mytheninterpretation der Stoiker verfolgte die Absicht, den moralisch fragwürdigen Göttergeschichten in den Epen Homers eine vernunftgemäße und ethisierende Deutung abzugewinnen. Antike jüdische Bibelausleger wie Aristobulos und Philon von Alexandria übernahmen diese seinerzeit verbreitete Auslegungsmethode, um den eigentlichen Sinn (insbesondere der kultischen Partien) des Mosegesetzes zu erheben und hierdurch seinen bleibenden und vernünftigen ethischen Charakter zu beweisen. In beiden Fällen diente die allegorische Auslegung ihres Wortsinns zunächst dazu, autoritative Texte und Traditionen, die mittlerweile unverständlich, unglaubwürdig oder mit ihrem veränderten kulturellen und religiösen Kontext inkompatibel geworden waren, in apologetischer Weise mit Gegenwartsrelevanz und Autorität auszustatten. 1 Als ein Instrument der aktualisierenden Schrifterklärung prägte die Allegorese, die den Bibeltext als Allegorie versteht, d. h. neu kontextualisiert und mittels Sinnübertragung aus diesem neuen, sachfremden Kontext seinen semantischen »Mehrwert« erhebt, die traditionelle christliche Schriftauslegung von ihren Anfängen bis weit in die aufgeklärte Neuzeit. 2 Die vehemente Zurückweisung der allegorischen Textinterpretation als eines angemessenen wissenschaftlichen Auslegungsverfahrens durch die Vertreter der »Religionsgeschichtlichen Schule« während des ausgehenden 19. Jahrhunderts war die Folge ihrer dezidierten Ablehnung einer konfessorisch bestimmten biblizistischen Theologie und eines supranaturalistischen Verständnisses des frühchristlichen Schrifttums. 3 Der Neutestamentler Adolf Jülicher und seine wissenschaftlichen Weggefährten betrachteten das Neue Testament ganz im Sinne des positivistischen Historismus als ein historisch erschließbares Erkenntnisobjekt, dessen wissenschaftliche Erforschung ihrerseits einen von der Geschichte her erneuerten modernen christlichen Glauben ermöglichen sollte. 4 Jülichers Überzeugung, dass die Entstehung und Entwicklung des Christentums grundsätzlich historisch bedingt seien, begründete für ihn die zwingende Notwendigkeit, Jesus aus Nazareth und die ersten Christen als Menschen zu betrachten, die in konkreten geschichtlichen Zusammenhängen handelten und redeten, und zwar genau das, was sie meinten. Dabei schied der Marburger Gelehrte die allegorischen Reden Jesu gerade aufgrund ihrer »unjesuanischen« prinzipiellen Erklärungsbedürftigkeit aus dem von ihm rekonstruierten Bestand »ursprünglicher« bzw. »echter« Herrenworte aus 5 und ordnete sowohl das literarische Gestaltungsmittel der Allegorie als auch das Auslegungsverfahren der Allegorese der missverständlichen Traditionsaneignung und den sekundären literarischen Deutungsbemühungen des nachösterlichen Christentums zu. Die hermeneutische Technik der Allegorese überließ Jülichers theologischer Rationalismus großzügig demjenigen, der »seine Seligkeit auf ein: ›das ist‹ gründen könnte«. 6 In der neutestamentlichen Wissenschaft seit Jülicher ist eine negative Konnotation des Allegoresebegriffs üblich geworden. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen bibelexegetischen Forschungsdiskurse lässt sich indes auch eine Reihe begründeter Einwände gegen eine solche pauschalierende Ablehnung der allegorischen Sinndimension des Bibeltextes vorbringen. Längst als abwegig erwiesen hat sich die Überzeugung, der christliche Glaube könne mittels historischer Forschung und Erkenntnis innerweltlich und innergeschichtlich begründet werden. Tatsächlich lenkt die Allegorese den Blick auf die Unmöglichkeit einer solchen Historisierung des Christentums. Fest steht zudem, dass die Allegorese als ein zwar recht seltener, aber durchaus konstruktiver Bestandteil der literarischen Gestaltungsmittel und hermeneutischen Methoden innerhalb des antiken Judentums und des frühen Christentums zu betrachten ist (z. B. Mk 4,13-20; Mt 22,1-14; 1Kor 9,9; 10,4; Gal 4,21-31). Der Prozess der Allegorisierung kann als ein Merkmal der Aktualisierung der Tradition in der frühchristlichen Überlieferung gelten. Durchgesetzt hat sich die Auffassung, dass auch ein allegorisch aufgeladener Text, der historisch nicht als »zuverlässig« gelten kann, durchaus einen theologischen Wert hat: »Die Allegorese erkennt an, daß die Bedeutung eines erzählenden Textes nicht unbedingt von seinem hist. Wahrheitsgehalt abhängt.« 7 Unbeschadet der hiermit skizzierten positiven Aspekte der allegorischen Auslegung als Korrektiv und Gegenstand der exegetischen Untersuchung des Neuen Testaments, das seinerseits als literarischer Ausdruck MichaelTilly Allegorisch lesen? Kontroverse Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 42 - 3. Korrektur 42 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Kontroverse literarischen, sprachlichen und kommunikativen Entstehungsbedingungen. Die Erfassung ihres besonderen Kontextes, die stets überprüfbaren und kommunizierbaren wissenschaftlichen Kriterien auf der Basis des aktuellen Standes der historischen, archäologischen und bibelexegetischen Forschung in der gesamten Breite ihrer jeweiligen Spezialisierung zu unterliegen hat, 8 ist für die Erhebung der Aussageintention und Textpragmatik neutestamentlicher Schriften von fundamentaler Bedeutung. Auch die Sprachbilder und Allegorien innerhalb des Neuen Testaments (z. B. 1Kor 5,6-8; Gal 3,16; Hebr 1,13-16) können keineswegs aus diesem Kontext gelöst und zur literarischen Trägersubstanz einer vergegenwärtigenden kirchlichen Bibelauslegung instrumentalisiert werden, zumal die mit einer solchen Vergegenwärtigung einhergehende christliche Lehre von der Totalinspiration der Schrift ihrerseits religionsgeschichtlich bedingt ist (vgl. Dtn 18,2 f.; Neh 9,30; Jer 23,20). Vielmehr ist einerseits durchgehend danach zu fragen, welche kognitiven, expressiven und textkonstitutiven Funktionen den verschiedenen Sprachbildern und Allegorien innerhalb ihres literarischen Zusammenhangs zukamen und welche Haltungen gegenüber dem jeweiligen Bildspender bzw. welche Teilmenge seiner Eigenschaften die impliziten Adressaten jeweils auf den Bildempfänger übertragen sollten. Andererseits ist zu untersuchen, welche sozialen, kulturellen und religiösen Traditionen und lebensweltlichen Gegebenheiten als artikulierte Bestandteile der besonderen Erfahrungswelt des antiken Verfassers und seiner Adressaten in den Sprachbildern und Allegorien zu erkennen sind. 9 Viele vermeintlich bedeutungsoffene semantische Zuordnungen erweisen sich bei näherer Betrachtung als zur Zeit der ersten Christen bereits kulturgeschichtlich geläufig oder sogar allgemein lexikalisiert (vgl. Mk 12,1-9); auch ihre »eigentlich gemeinte« Figuraldeutung war oft von Anfang an habitualisiert. Mittels allegorischer Auslegung erhobene und vermeintlich neue, tatsächlich jedoch ahistorische und willkürliche Deutungen des Bibeltextes rühren viel zu oft daher, dass sie vom Verständnis dieser Zusammenhänge und der hinter dem Text stehenden Vorgänge völlig unbelastet sind. Auch die drastische Gewaltmetaphorik der biblischen Rachepsalmen erfährt ihre eigentliche Sinngebung erst durch die Berücksichtigung ihrer eigentlichen historischen Funktion, nämlich der Artikulation der -- ganz unalder historisch, situativ und kommunikativ bedingten Glaubensvorstellungen, religiösen Weltdeutungen und Praktiken innerhalb des Christentums in seiner formativen Phase zu betrachten ist, sprechen vor allem drei wesentliche Gründe gegen ihre Eignung als sachgemäße Methode zur Analyse und Interpretation biblischer Texte und gegen die damit verbundene Relativierung der Leistungsfähigkeit des ausdifferenzierten historisch-kritischen Methodenkanons. 1. Die Allegorese entkontextualisiert den Bibeltext Der Sinn der neutestamentlichen Schriften steht in unmittelbarem Zusammenhang mit ihren jeweiligen historischen, gesellschaftlichen, religiösen, kulturellen, Prof. Dr. Michael Tilly, Jahrgang 1963, 1982-1989 Studium der Evangelischen Theologie in Mainz und Heidelberg, 1993 Promotion, 2001 Habilitation in Mainz. Lehraufträge und Lehrstuhlvertretungen in Koblenz, Schwäbisch Gmünd, Jena, Saarbrücken, Wuppertal, Jerusalem und Landau, seit 2012 Professor für Neues Testament und Antikes Judentum und Leiter des Instituts für antikes Judentum und hellenistische Religionsgeschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen, Research Associate am Department of New Testament Studies, University of Pretoria (South Africa). Derzeitige Forschungsschwerpunkte: Neutestamentliche Zeitgeschichte, Literatur und Religion des Judentums in hellenistisch-römischer Zeit, Religionsgeschichte des frühen Christentums, 1. Makkabäer, Tosefta. Homepage: http: / / www.uni-tuebingen.de/ fakultaeten/ evangelisch-theologische-fakultaet/ lehrstuehleund-institute/ neues-testament/ neues-testament-i/ mitarbeiter/ tilly-michael-prof-dr.html Michael Tilly »Mittels allegorischer Auslegung erhobene und vermeintlich neue, tatsächlich jedoch ahistorische und willkürliche Deutungen des Bibeltextes rühren viel zu oft daher, dass sie vom Verständnis dieser Zusammenhänge und der hinter dem Text stehenden Vorgänge völlig unbelastet sind.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 43 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 43 Michael Tilly Allegorisch lesen? legorische- - Not und Verzweiflung des von allen Seiten bedrängten und wehrlosen Beters bzw. der entlastenden Übertragung seiner Aggression auf einen machtvollen Vergeltungsakt Gottes. 2. Die Allegorese nimmt den Bibeltext in perspektivischer Weise wahr Das allegorische Deutungsverfahren geht oft einher mit der vormodernen Glaubensüberzeugung von der Existenz einer ursprünglichen, echten und verbindlichen Textform sämtlicher Schriften des Alten und Neuen Testaments und der Existenz eines festen kanonischen Gesamtbestandes als ihres Referenzrahmens. Nicht hinreichend berücksichtigt wird dabei, dass bei der Entstehung und Transmission der biblischen Schriften von Anfang an keine kategoriale Differenz zwischen Tradition und Text anzunehmen ist, sondern ein heterogener geschichtlicher Übergabebereich hinsichtlich der allmählichen Artikulation und literarischen Gestaltwerdung unterschiedlicher religiöser Erfahrungen und Ideen. 10 Nicht hinreichend berücksichtigt wird auch, dass der lange und komplizierte kanonisierende Sammlungs- und Auswahlprozess des neutestamentlich gewordenen Schrifttums in den Großkirchen erst Jahrhunderte nach der Entstehung der Texte abgeschlossen war und letztendlich auf historischen Kontingenzen beruhte. Insbesondere die allegorische Auslegung des Alten und des Neuen Testaments als sachlicher Einheit geht einher mit einer perspektivischen christlich-theologischen Bewertung der hebräischen Bibel, nämlich der Relativierung ihrer normativen und heilstiftenden Geltung als selbstständige und in sich abgeschlossene jüdische Offenbarungs- und Glaubensurkunde angesichts der als grundlegend wahrgenommenen Bedeutung des Christuszeugnisses. Die reiche allegorische Schriftverwendung im Neuen Testament diente dazu, das christologische Heilsereignis theologisch zu identifizieren und die Geschichte Jesu aus Nazareth wie auch das nachösterliche Christusbekenntnis in begründender und bestätigender Weise mit dem Gott Israels in Verbindung zu bringen. Der allegorisierende Nachweis der Erfüllung alttestamentlicher Weissagungen im Christusgeschehen und die damit einhergehende Grundannahme eines direkten und harmonischen offenbarungsgeschichtlichen Bezuges zwischen Altem und Neuem Testament entsprechen traditionellen christlichen Bekenntnisaussagen und haben ihr Gegenstück im Bemühen der Rabbinen, ihre halachischen (insbesondere strittigen) Positionen von der Schrift her zu begründen. Das Alte Testament ist auch für Christen ein verbindliches Zeugnis von Gott. Eine moderne Exegese, welche die biblischen Texte sachgemäß, nachvollziehbar und kommunizierbar zu interpretieren beabsichtigt und zugleich mittels der Auslegung hintergründiger Bedeutungen im vordergründigen Text der jüdischen heiligen Schriften (und entgegen ihrem ursprünglichen Sinn) auf genuin christliche Themen hinführen will, 11 muss sich jedoch-- nicht nur von jüdischer Seite-- den schwerwiegenden Vorwurf gefallen lassen, dass sie ein offenbarungstheologisch-dogmatisches Paradigma der Spätantike in ebenso anachronistischer wie übergriffiger Weise zur Anwendung bringt. 3. Die Allegorese bedeutet eine hermeneutische Engführung Bereits Albert Schweitzer betonte in seiner »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung«, 12 dass die historische Bibelwissenschaft wie jede moderne Geschichtsschreibung zunächst aktuelle Fragestellungen bedient und stets interessengeleitet ist. Die von ihr rekonstruierte Vergangenheit habe somit einen grundsätzlichen Projektionscharakter, was eine »objektive« Exegese geradezu unmöglich mache. Fast ein Jahrhundert später hat Jan Assmann in seiner Arbeit über »Das kulturelle Gedächtnis« 13 zudem dargestellt, dass nicht die bloße Ansammlung vorzeitiger realgeschichtlicher Daten und Fakten, sondern vor allem aktuelle Erfordernisse und der sich stetig wandelnde kontextuelle Bezugsrahmen der Gegenwart die erinnernde Wahrnehmung prägen. 14 Unser heutiges Vorverständnis bei der Lektüre der neutestamentlichen Schriften- - unsere geschichtlich bedingte Existenz, unsere kulturelle Enzyklopädie und unsere eigenen erkenntnisleitenden und sinnstiftenden Lebenskontexte-- entspricht niemals dem Vorverständnis ihrer antiken Rezipienten oder gar den Intentionen ihrer Verfasser. 15 Das Eingeständnis der Existenz einer solchen unüberbrückbaren Differenz hinsichtlich der jeweiligen Verstehensvoraussetzungen führt wiederum zu dem Schluss, dass es uns unmöglich ist, die »ursprünglichen« Kontexte und den hierdurch bedingten Sinn der neutestamentlichen Schriften als Ausdruck historisch zurückliegender Kommunikationssituationen umfassend und objektiv zu erfassen, ohne dabei zugleich selbst aktiv an der Konstitution dieses Sinnes beteiligt zu sein. Fraglos trägt eine ausschließlich historisch-kritische Betrachtung biblischer Texte, die sie allein als Zeugnisse einer vergangenen Zeit betrachtet, diesem hermeneutischen Prozess nicht hinreichend Rechnung. n Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 44 - 3. Korrektur 44 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Kontroverse Dass die notwendige Erweiterung der diachron orientierten klassischen exegetischen Arbeitsschritte durch synchron orientierte rezeptionsästhetische Auslegungsmethoden, intertextuelle oder narratologische Ansätze gerade die Allegorese nicht mit einschließt, liegt ganz wesentlich daran, dass gerade sie die sinnstiftende Bedeutung der Textrezeption ausblendet und von einem allein im Text selbst kodierten und aus ihm zu erhebenden Sinn ausgeht, der mittels eines amplifizierenden bzw. vergegenwärtigenden Referentenwechsels verständlich, aktuell und applizierbar gemacht werden kann. Auch jede allegorische Auslegung des Bibeltextes als dessen »methodisch gelenkte Rezeption« 16 unterliegt selbstverständlich bestimmten erkenntnisleitenden Interessen und kann nur im Rahmen einer bestimmten kulturellen Enzyklopädie formuliert werden. Aber im Gegensatz zur historisch-kritischen Auslegung ist die reproduktive Einbildungskraft der Allegorese methodisch nicht kontrolliert, sondern wesenhaft assoziativ und von subjektiven Prämissen geleitet. Allegorese als applikative Methode der Bibelauslegung leistet keinen Beitrag zu einem umfassenden Schriftverständnis, sondern macht die Bibel zu einer theologischen Bezeugungsinstanz ex eventu und produziert letztendlich nur religiöse Gebrauchsliteratur für den Moment. Nichts ist so überholt, wie die Allegorese von gestern. Ebenso wie die Massen von Seeigeln im Uferbereich des Meeres vor Eilat als deutliches Indiz für ein aus dem Gleichgewicht geratenes Ökosystem gelten können, lässt sich das verstärkte Bemühen um die Schaffung interpretatorischer Freiräume mittels der allegorischen Schriftlektüre als beredtes Zeugnis des von den Befürwortern dieses Auslegungsverfahrens offenbar wahrgenommenen Glaubwürdigkeits- und Autoritätsproblems der biblischen Tradition in Kirche und Gesellschaft deuten. Die historisch-kritische Betrachtung des Neuen Testaments verfolgt in der Tat nicht die Absicht, Glauben zu bewirken. 17 Es ist unbedingt daran festzuhalten, dass die wissenschaftliche Exegese des frühchristlichen Schrifttums allein von ihrem Gegenstand geleitet sein darf, unabhängig vom Sinnkriterium seines theologischen bzw. lebensdienlichen »Wertes« im Zusammenhang mit aktuellen kirchlichen Fragestellungen und Problemen. Daneben ist auch zu berücksichtigen, dass gerade die fortwährende erfahrungsproduktive Bedeutung des Bibeltextes bis heute die prinzipielle Relationalität zwischen den in ihm sich widerspiegelnden Möglichkeiten vergangenen menschlichen Seins und den erkenntnisleitenden Interessen bzw. der kulturellen Enzyklopädie seiner Rezipienten bedingt. Allein hier hat die Allegorese ihren besonderen Ort, denn sie vermag zwischen dem tradierten historischen Literalsinn des Bibeltextes und seinem kreativen aktualisierenden Gebrauch in sämtlichen kirchlichen Vollzügen immer wieder von neuem eine Brücke zu schlagen. 18 Die methodisch reflektierte, allgemein nachvollziehbare und vernünftige Beschreibung des unverfügbaren Offenbarungshandelns Gottes in der Geschichtlichkeit der biblischen Sinnentwürfe mittels des historisch-kritischen Methodenpluralismus 19 der bibelwissenschaftlichen Analysearbeit hingegen dient-- gleichsam als ihr hermeneutisch-kritisches Regulativ-- der möglichst umfassenden Explikation des Spannungsverhältnisses zwischen Bibeltext und Gegenwart und als »Anwältin der Autonomie der Texte« 20 zugleich der Abwehr von religiöser Beliebigkeit und fundamentalistischem Biblizismus. Anmerkungen 1 Vgl. G. Stemberger, Art. Schriftauslegung I. Judentum, in: TRE 30 (1999), 442-457 (hier: 444). 2 Vgl. K. Erlemann, Art. Allegorie/ Allegorese II. Neutestamentlich, in: O. Wischmeyer (Hg.), Lexikon der Bibelhermeneutik, Berlin 2009, 5 f. 3 Vgl. R. Hoppe, »Keine Prophetie ist Sache eigenwilliger Schriftauslegung« (2Petr 1,20b). Zur Begründung, Zielsetzung und zum Ertrag der historisch-kritischen Exegese, in: Th. Söding (Hg.), Geist im Buchstaben. Neue Ansätze in der Exegese (QD 225), Freiburg/ Br. u. a. 2007, 51-67 (hier: 55 f.). 4 Vgl. G. Lüdemann/ Th. Schröder, Die Religionsgeschichtliche Schule in Göttingen, Göttingen 1987; G. Lüdemann/ A. Özen, Art. Religionsgeschichtliche Schule, in: TRE 28 (1997), 618-624. 5 A. Jülicher, Die Gleichnisreden Jesu, Bd. 1, Tübingen 2 1910, 118. 6 A. Jülicher, Gleichnisreden, Bd. 1, 80. 7 F. B. Watson, Art. Allegorie/ Allegorese V. Systematisch, in: RGG 4 1 (1998), 308 f. (hier: 308). 8 Vgl. K. Finsterbusch/ M. Tilly, Ein Plädoyer für die historisch-kritische Exegese, in: Dies. (Hg.), Verstehen, »Allegorese als applikative Methode der Bibelauslegung leistet keinen Beitrag zu einem umfassenden Schriftverständnis, sondern macht die Bibel zu einer theologischen Bezeugungsinstanz ex eventu und produziert letztendlich nur religiöse Gebrauchsliteratur für den Moment. Nichts ist so überholt, wie die Allegorese von gestern.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 45 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 45 Michael Tilly Allegorisch lesen? was man liest. Zur Notwendigkeit historisch-kritischer Bibellektüre, Göttingen 2010, 9-17. 9 Vgl. P. Ricoeur, Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache, in: Ders./ E. Jüngel (Hg.), Metapher (EvTh Sonderheft 1974), 45-70; (hier: 53 f.). 10 Vgl. J. Lauster, Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart, Tübingen 2004, 444. 11 Vgl. J. Becker, Die Herde des Hirten und die Reben am Weinstock. Ein Versuch zu Joh 10,1-18 und 15,1-17, in: U. Mell (Hg.), Die Gleichnisreden Jesu 1899-1999. Beiträge zum Dialog mit Adolf Jülicher (BZNW 103), Berlin/ New York 1999, 149-178 (hier: 153). 12 A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 6 1951. Hierzu J. Roloff, Jesusforschung am Anfang des 20. Jahrhunderts, in: SBAW.PH 1998/ 4, 3-57. 13 J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, München 1992; Ders., Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2000. 14 Vgl. M. Tilly, Jerusalem-- Nabel der Welt, Stuttgart u. a. 2002, 3 f. 15 Vgl. J. Schröter, Erinnerung an Jesu Worte. Studien zur Rezeption der Logienüberlieferung in Markus, Q und Thomas (WMANT 76), Neukirchen-Vluyn 1997. 16 J. Becker, Herde, 156. 17 Vgl. R. Hoppe, »Prophetie«, 67. 18 Vgl. J. Becker, Herde, 153. 19 Vgl. J. Lauster, Religion als Lebensdeutung. Theologische Hermeneutik heute, Darmstadt 2005, 38. 20 K. Finsterbusch/ M. Tilly, Plädoyer, 14. JETZT BES TELLEN! Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de Michael Tilly Apokalyptik UTB Pro le 2012, 144 Seiten, €[D] 12,99/ SFr 18,50 ISBN 978-3-8252-3651-9 Die Erwartung eines radikalen Endes dieser Welt begegnet in der jüdischen und christlichen Tradition seit der Antike, und bis heute gehört die Vorstellung vomnahen Weltuntergang zu den mm Glaubensüberzeugungen zahlreicher religiöser Sondergemeinschaften. Vom Holzschnitt bis zum Horrorfilm fand das Thema immer wieder Eingang in die populäre Kultur. Dieser Band bietet gezielte und präzise Informationen über die antike jüdische und frühchristliche Apokalyptik sowie eine anschauliche Darstellung der Geschichte des Phänomens von der Spätantike bis in die Gegenwart.