eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 17/33

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2014
1733 Dronsch Strecker Vogel

Verlorene Söhne.

2014
Stefan Alkier
Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 24 - 3. Korrektur 24 ZNT 33 (17. Jg. 2014) 1. Zufall Da lag es auf meinem Frankfurter Schreibtisch: »Der verlorene Sohn«, ein Buch von Rolf Rameder, zugeschickt vom Verleger Theodor Itten. Viele Bücher gelangen unaufgefordert in mein Dienstzimmer, das bringen meine Herausgeberschaften der ZNT und des www.wibilex.de mit sich. Dieses besondere Buch kam in einem günstigen Augenblick. Ich hatte mich gerade entschlossen, eine Vorlesung über biblische Intertextualität zu halten und mir war klar, dass ich in jedem Fall André Gides und Rainer Maria Rilkes Gegen(ent)würfe der lukanischen Erzählung vom verlorenen Sohn besprechen würde-- aber, ich hatte davon noch niemandem erzählt. Und nun dieses Buch von Rameder. Ich habe es nicht gesucht. Es hat mich gefunden. Auf seinem Umschlag präsentiert es das Bild »Gleichnis vom verlorenen Sohn« von Pompeo Batoni, das im Kunsthistorischen Museum Wien hängt. Ein junger Mann mit nacktem Oberkörper lehnt sich an die Brust eines alten, bärtigen Mannes, dessen Kleidung seinen Reichtum anzeigt. Der junge Mann wirkt erschöpft. Der alte Mann hat die Augen nahezu geschlossen, und doch wirkt es so, als blicke er gleichermaßen gütig und besorgt auf den bei ihm Schutz und Trost Suchenden. Titel und Umschlaggestaltung wecken die Erwartung eines religiösen Romans, vielleicht eine Neuerzählung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn. Ich stecke das Buch ungelesen, aber berührt vom Zufall und vom Bild des Gemäldes in meine Tasche, um es bei nächster Gelegenheit anzulesen, um zu entscheiden, ob ich es wohl für meine geplante Vorlesung gebrauchen kann. 2. Rameder-- Kein Gleichnis Nachdem ich noch am selben Tag den ersten Abschnitt des Buches gelesen habe, bin ich erschreckt und gefesselt: »Sonntag, 16. September 2007, 19 Uhr 36 Sehr geehrter Dr. Holl, ich plane für morgen einen Sprung aus dem Fenster, weil ich das Leben, das ich habe, nicht mehr aushalte. Das Grauenhafteste daran ist die Angst vor mir selbst, das ist mir heute, nach langem Erinnern, Nachdenken und Sortieren, klar geworden. Ich hatte von Kindheit an immer Grund dazu, Angst zu haben, mich nicht heimisch zu fühlen bei mir selbst, Angst zu haben vor meinem Vater, meiner Mutter, Schwestern, Lehrern. Ausführen dazu kann ich hier nichts, nicht viel, oder nur, der Erschöpfung wegen, in dürren, fragmentarischen Zusammenfassungen: wie mich meine Mutter geschlagen hat mit einer Besinnungslosigkeit, die mich aus Todesangst schreien und wimmern hat lassen, wie mich mein Vater verachtet hat, meine Schwestern mich gequält. Wie ich mich noch im Kindergarten angepisst habe« (7) 1 . Wie Lukas an Theophilus schreibt der Ich-Erzähler des Textes von Rameder an Dr. Holl. Der dadurch bewirkte Rezeptionseffekt zielt nicht nur auf die Authentizitätsgarantie durch den explizit genannten Leser, sondern mehr noch auf die referentielle Einbindung des Erzählten in die reale Welt. Die Welt der erzählten Geschichten wird damit nicht als fiktionale Erfindung, sondern als reale Vorgabe deklariert, die jeder Leser durch seine eigene leibhaftige Weltverortung prinzipiell überprüfen kann. Dieser Effekt des expliziten Lesers wird durch zwei Paratexte im Buch von Rameder noch verstärkt. Auf Seite 156 findet sich ein Paratext, der erklärt, wer Dr. Holl ist: »Adolf Holl, 1930 in Wien geboren, 1954 zum Priester geweiht, Verfasser des Buchs ›Jesus in schlechter Gesellschaft‹ (1971), das ihn in Konflikt mit der katholischen Kirche brachte. 1976 folgte die Suspendierung vom Priesteramt. Er lebt heute als Schriftsteller und freier Publizist in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik.« Dieser so ausgezeichnete explizite Leser empfiehlt Rameders Werk dem Verleger Itten, wie im Nachwort von Holl selbst zu lesen ist, und schreibt sich damit als Förderer des Autors in dessen Buch ein. Der letzte Satz seines Nachworts verstärkt die realistische Referentialisierung unüberbietbar, nicht zuletzt dadurch, dass er den Verleger als zweiten Leser in das Garantiespiel einbezieht: »Dem Verleger ist zu danken, dass er meinen Hinweis auf das Manuskript des nun vorliegenden Buches aufgegriffen hat. Als Heilkünstler hat er erkannt, dass Rameder seiner erbarmungslosen Welt, in die er hineingeboren wurde, etwas Dringendes mitzuteilen hat« (157). Stefan Alkier Verlorene Söhne. Rameder, Rilke, Lukas-- ein intertextueller Bericht Zum Thema Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 25 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 25 Stefan Alkier Verlorene Söhne. Erst die letzten Sätze des Buches berichten vom viele Jahre zurückliegenden Aufbruch des verlorenen Sohnes: »ich verließ den Betrieb von einem Tag auf den anderen. Ebenso mein Elternhaus. Ich ging nach Wien und war 16 Jahre alt. Habe nichts gelernt und mitbekommen, nur Erinnerungen, von denen ich nichts wusste und die sich doch immer wieder melden, als Seiteneinfälle, als Ekelanfall, als Tränenfluss« (155). Der Ich-Erzähler hat keine Chance auf eine Rückkehr: »Meine Eltern haben mir an die zwanzig Jahre vorher schon verboten, mich bei ihnen sehen zu lassen oder mich bei ihnen zu melden. Ich war für sie tot. Kriminell, krank, homosexuell« (123). Kein Gleichnis, keine gute Nachricht, wie sie im Lukasevangelium am Ende der Erzählung vom verlorenen Sohn mitgeteilt wird: »Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden« (Lk 15,32). Rameders Ich-Erzähler bleibt tot, weil er nicht gefunden, ja nicht einmal gesucht wird. Mit die stärksten Passagen des Buches bringen zur Sprache, wie dieser soziale Tod bittere politische Realität inmitten der Wohlstandsgesellschaft ist: »Ausgeschlossen also, vor allem aber heute, jetzt, nicht angeschlossen an Neue Medien und Technologien, also kein Handy, kein Computer, kein Internet. Ohne das gibt es heute kein Leben und auch in Zukunft nicht, das alles ist Teil unserer Körper, unentbehrlich, man ist ohne diese Ergänzungen des Menschseins ein Krüppel ganz neuen Typs und wird genau so wahrgenommen, radikal gnadenlos, als Krüppel. Moderne Zeiten waren immer schon so: gnadenlos und radikal. Und ich finde das gut so, das mit den neuen Medien und Technologien« (8). »Kein Geld, keine Menschen. Ich werde da nirgends mehr dabei sein, nicht zu dem gehören, was community der user genannt wird, ohne dass mich dabei die Anglizismen stören. Also aus, das Verlangen verläuft sich auf toten Gleisen, die Wünsche können scheißen gehen, Geld ist nicht da, Freunde habe ich keine« (9). Rameders verlorener Sohn ist ein verlorenes Kind unserer Zeit, wie es sie millionenfach gibt. In drastischen Worten vermag er seine Verzweiflung, seine Hoffnungslosigkeit, seine Kapitulation vor der Erbarmungslosigkeit gesellschaftlicher Missachtung zur Sprache zu bringen und verleiht damit allen verlorenen Kindern, Kann man die pragmatische Botschaft des Lukasevangeliums mit dem Aufruf zur Barmherzigkeit (vgl. Lk 6,36) charakterisieren, so klassifiziert das Nachwort von Holl Rameders Text als Anti-Evangelium von der »erbarmungslosen Welt«. Rameder erzählt demzufolge gerade kein Gleichnis vom verlorenen Sohn. Der Ich- Erzähler Rameders ist der verlorene Sohn, ein Sohn, der verloren bleibt, weil er keinen Vater, keine Mutter, kein Zuhause hat, zu dem er zurückkehren könnte: Kein Gleichnis, keine Rettung des Verlorenen, kein zurück vom Toten zum Lebendigen, kein Evangelium, nur die unerfüllte Sehnsucht nach Geborgenheit: »Gestern am frühen Abend vom Fenster aus etwas Schönes gesehen. Ein junger Vater ist mit seinem Kind unterwegs, das Kind, vielleicht zwei, drei Jahre alt, jedenfalls spricht es schon, befindet sich in den schönsten Anfängen seiner Welteroberung« (146). »Der Vater gibt dem Kind einen Raum zur Entfaltung, zum Spiel, zum Austausch. Das Kind war vergnügt und ernsthaft zugleich, es war wunderschön, das zu beobachten. […] Fast sechzig Jahre nach meiner Geburt habe ich jetzt alles gesehen, was ich nie gehabt habe und was nicht mehr zu bekommen ist« (147). Prof. Dr. Stefan Alkier ist seit 2001 Professor für Neues Testament am Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt/ Main. 2009 erschien im Francke-Verlag als NET 12 seine Monographie: Die Realität der Auferweckung in, mit und nach den Schriften des Neuen Testaments. 2010 erschien wieder im Francke Verlag sein Lehrbuch: Neues Testament, UTB Basics. Er ist seit Heft 1 der ZNT einer ihrer drei geschäftsführenden Herausgeber. Seit 2008 gibt er zudem den neutestamentlichen Teil des bibelwissenschaftlichen Internetlexikons www.wibilex.de heraus. Stefan Alkier »Rameders verlorener Sohn ist ein verlorenes Kind unserer Zeit, wie es sie millionenfach gibt. In drastischen Worten vermag er seine Verzweiflung, seine Hoffnungslosigkeit, seine Kapitulation vor der Erbarmungslosigkeit gesellschaftlicher Missachtung zur Sprache zu bringen und verleiht damit allen verlorenen Kindern, die diese immense Sprachfähigkeit nicht haben, eine Stimme des Aufschreis« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 26 - 3. Korrektur 26 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Zum Thema die diese immense Sprachfähigkeit nicht haben, eine Stimme des Aufschreis: Unrecht. Nicht blindes Schicksal, nicht individuelles Pech mit seinem Elternhaus, sondern politische, institutionelle, soziale Ungerechtigkeit und Ignoranz wie individuelles Versagen generieren eine unbarmherzige Welt. Rameders verlorener Sohn hat keinen Gefallen am eigenen Leid. Anders als Rilkes verlorener Sohn möchte er geliebt werden, sehnt sich nach Liebe, die ihn hält und trägt und ihn selbst lieben lässt. Tragfähige Beziehungen, Leben in der Geborgenheit liebevoller Menschen und gesellschaftlicher Solidarität. Rameders verlorener Sohn ist ein Kind, das geliebt werden will, so gern heimkehren würde, aber keine Beachtung, keine Liebe, kein zu Hause erfährt: »Ich wäre so gern ein Sohn gewesen. Dessen bin ich beraubt worden« (109). 3. Rilke-- Keine Lösung Schon vor der Bekanntschaft mit Rameders verlorenem Sohn schätzte ich Rainer Maria Rilkes einzigen Roman »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«. Die Intensität des Stils Rameders hat mich während der Lektüre seines Textes immer wieder an Rilkes Malte Laurids Brigge denken lassen. Rameders Text enthält sogar eine intertextuelle Disposition für diese Textbeziehung: »… erschrocken gelesen ›Malte Laurids Brigge‹ von Rilke, zur Beruhigung Gedichte von ihm« (78 f.). Wird der Grund zur Freude über das heimgekehrte Kind im Lukastext durch den Text Rameders erheblich verstärkt, so liest sich Rameders Verlorener Sohn in Bezug auf Rilkes Malte als Gegenentwurf, als Parabel im wörtlichen Sinn. Das sieht man nicht nur an der Figurenzeichnung. Rameders verlorener Sohn ist arm, krank, homosexuell, straffällig, ohne zu Hause, ohne Liebe. Rilkes Malte aber gleicht dem lukanischen verlorenen Sohn gerade darin: ein reicher Jungspunt, der sein gut situiertes Elternhaus auf dem Land nicht zu schätzen weiß und es verlässt, um sich mutwillig seinen Begierden hinzugeben. Luxusbuben, die den Rausch in der Fremde suchen, bei Lukas den Rausch des flotten Lebens, bei Rilke den Rausch an sich selbst. Der Rausch an sich selbst bestimmt auch die Form von Rilkes Roman. »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« verfolgen keinen mehr oder weniger offensichtlichen Erzählfaden der Ereignisse, die eine Ausgangssituation durch eine spannende Transformationsgeschichte in eine veränderte Schlusssituation münden ließen. Sie präsentieren keine große Erzählung, die die Anordnung von allem anderen bestimmt, sondern komponieren Gedankenströme und Erzählepisoden auf eine Weise, die es dem Leser abverlangt, Verknüpfungen selbst herzustellen. Diese damals neue Romanform inszeniert selbst bereits die Unordnung und Unübersichtlichkeit des modernen Welterlebens, in der das Subjekt auf der Suche nach seiner eigenen Positionierung keinen souveränen Über-Blick hat, sondern sich immer wieder verliert. Während aber Rameders verlorener Sohn durch die Form eines langen Briefes an Holl noch im Entschluss der Selbsttötung einen Adressaten außerhalb seiner selbst sucht, sich also wie Jesus am Kreuz an einen anderen wendet, schreibt Rilkes Malte seine Aufzeichnungen in der Form eines Tagebuches an und für sich selbst. Er bricht jede Kommunikation mit anderen ab, um ganz für und bei sich zu sein: »Ich lerne Sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wußte. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht. Ich habe heute einen Brief geschrieben, dabei ist mir aufgefallen, daß ich erst drei Wochen hier bin. Drei Wochen anderswo, auf dem Lande zum Beispiel, das konnte sein wie ein Tag, hier sind es Jahre. Ich will auch keinen Brief mehr schreiben. Wozu soll ich jemandem sagen, daß ich mich verändere? Wenn ich mich verändere, bleibe ich ja doch nicht der, der ich war, und bin ich etwas anderes als bisher, so ist klar, daß ich keine Bekannten habe. Und an fremde Leute, an Leute, die mich nicht kennen, kann ich unmöglich schreiben« (10) 2 . Erst der Abbruch aller Beziehungen lässt ihn »sehen«. Seine eindrücklichen Beschreibungen des sozialen Elends und entfremdeten Sterbens in der Großstadt Paris bleiben von Anfang bis Ende distanziert. Der erste Tagebucheintrag lautet: »So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin aus gewesen. Ich habe gesehen: Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest. Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie schob sich schwer an einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der sie manchmal tastete, wie um sich zu überzeugen, ob sie noch da sei. Ja, sie war noch da. Dahinter? Ich suchte auf meinem Plan: Maison d’Accouchement. Gut. Man wird sie entbinden-- man kann das. Weiter, rue Saint-Jacques, ein großes Gebäude mit einer Kuppel. Der Plan gab an Valde grâce, Hôspital militaire. Das brauchte ich eigentlich nicht zu wissen, aber es schadet nicht. Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen. Es roch, soviel sich unterscheiden ließ, nach Jodoform, nach dem Fett von Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 27 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 27 Stefan Alkier Verlorene Söhne. pommes frites, nach Angst. Alle Städte riechen im Sommer. Dann habe ich ein eigentümlich starblindes Haus gesehen, es war im Plan nicht zu finden, aber über der Tür stand noch ziemlich leserlich: Asyle de nuit. Neben dem Eingang waren die Preise. Ich habe sie gelesen. Es war nicht teuer. Und sonst? ein Kind in einem stehenden Kinderwagen: es war dick, grünlich und hatte einen deutlichen Ausschlag auf der Stirn. Er heilte offenbar ab und tat nicht weh. Das Kind schlief, der Mund war offen, atmete Jodoform, pommes frites, Angst. Das war nun mal so. Die Hauptsache war, daß man lebte. Das war die Hauptsache.« Selbst dem Sterben in der Großstadt attestiert der aristokratische Blick des Gutsherrensohnes Malte gegenüber dem Sterben in seiner ländlichen Heimat in Dänemark entmenschlichte Entfremdung: »Dieses ausgezeichnete Hôtel ist sehr alt, schon zu König Chlodwigs Zeiten starb man darin in einigen Betten. Jetzt wird in 559 Betten gestorben. Natürlich fabrikmäßig. Bei so enormer Produktion ist der einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es auch nicht an. Die Masse macht es. Wer gibt heute noch etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod? « »Wenn ich nach Hause denke, wo nun niemand mehr ist, dann glaube ich, das muß früher anders gewesen sein. Früher wußte man (oder vielleicht man ahnte es), daß man den Tod in sich hatte wie die Frucht den Kern.« Die Aufzeichnungen seiner Erinnerungen an das Leben und mehr noch das Sterben in seiner dänischen Heimat nehmen den größten Raum des Romans ein. Ohne Grenzziehungen von Wirklichkeitsebenen werden realistische Erinnerungen mit der Erscheinung von Toten und eigenständig agierenden Händen ohne Körper ineinander gearbeitet. Den Realitätsgrad bestimmt allein das erinnernde Subjekt. Dessen sprachliche Wirklichkeit tritt immer mehr an die Stelle von Menschen aus Fleisch und Blut. So tritt die literarische Figur Bettine an die Stelle seiner Jugendliebe Abalone: »Das Versprechen erfüllt sich noch immer, irgendwann ist dasselbe Buch unter meine Bücher geraten, unter die paar Bücher, von denen ich mich nicht trenne. Nun schlägt es sich mir an den Stellen auf, die ich gerade meine, und wenn ich sie lese, so bleibt es unentschieden, ob ich an Bettine denke oder an Abelone. Nein, Bettine ist wirklicher in mir geworden, Abelone, die ich gekannt habe, war wie eine Vorbereitung auf sie, und nun ist sie mir in Bettine aufgegangen wie in ihrem eigenen, unwillkürlichen Wesen. Denn diese wunderliche Bettine hat mit allen ihren Briefen Raum gegeben, geräumigste Gestalt« (149). Genau das aber gewähren Malte weder die Großstadt noch die leibhaftigen Liebesbeziehungen: Raum geben. Nach diesem Raum, der das eigene Werden erst ermöglicht, sehnt sich Malte Laurids Brigge. Er findet ihn nicht im realen Leben, sondern nur in der Dichtung. Und so wird ihm das lukanische Gleichnis vom verlorenen Sohn zur »Legende dessen«, »der nicht geliebt werden wollte«: »Man wird mich schwer davon überzeugen, daß die Geschichte des verlorenen Sohnes nicht die Legende dessen ist, der nicht geliebt werden wollte. Da er ein Kind war, liebten ihn alle im Hause. Er wuchs heran, er wusste es nicht anders und gewöhnte sich in ihre Herzweiche, da er ein Kind war. Aber als Knabe wollte er seine Gewohnheiten ablegen. Er hätte es nicht sagen können, aber wenn er draußen herumstrich den ganzen Tag und nicht einmal mehr die Hunde mithaben wollte, so wars, weil auch sie ihn liebten: weil in ihren Blicken Beobachtung war und Teilnahme, Erwartung und Besorgtheit; weil man auch vor ihnen nichts tun konnte, ohne zu freuen oder zu kränken. Was er aber damals meinte, das war die innige Indifferenz seines Herzens, die ihn manchmal früh in den Feldern mit solcher Reinheit ergriff, daß er zu laufen begann, um nicht Zeit und Atem zu haben, mehr zu sein als ein leichter Moment, in dem der Morgen zum Bewusstsein kommt. Das Geheimnis seines noch nie gewesenen Lebens breitete sich vor ihm aus« (180). Der Knabe möchte die gewohnte »Herzweiche« der Kindheit ablegen, um so sein eigenes Leben zu finden. Die liebevollen Bindungen empfindet er als Zwang. Die Erwartungen der anderen, selbst die der Hunde am Hof, machen ihn unfrei. Das ganze Leben zu Hause erscheint ihm als Lüge, aus der er ausbrechen möchte, um sich selbst zu finden: »Wird er bleiben und das ungefähre Leben nachlügen, das sie ihm zuschreiben, und ihnen allen mit dem ganzen Gesicht ähnlich werden? Wird er sich teilen zwischen der zarten Wahrhaftigkeit seines Willens und dem plumpen Betrug, der sie ihm selber verdirbt? Wird er es aufgeben, das zu werden, was denen aus seiner Familie, die nur noch ein schwaches Herz haben, schaden könnte? Nein, er wird fortgehen« (181). In der Fremde lernt er zu lieben, ohne den Geliebten zu binden. Selbst aber erfährt er solche Liebe nicht: »Aus den Wurzeln seines Seins entwickelte sich die feste, überwinternde Pflanze einer fruchtbaren Freudigkeit. Er ging ganz darin auf, zu bewältigen, was sein Binnenleben ausmachte, er wollte nichts überspringen, denn er zweifelte nicht, daß in alledem seine Liebe war und zunahm. Ja, seine innere Fassung ging so weit, daß er beschloß, das Wichtigste von dem, was er früher nicht hatte leisten können, was einfach nur durchwartet worden war, nachzuholen. Er dachte vor allem an die Kindheit, sie kam ihm, je ruhiger er sich besann, desto Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 28 - 3. Korrektur 28 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Zum Thema ungetaner vor; alle ihre Erinnerungen hatten das Vage von Ahnungen an sich, und daß sie als vergangen galten, machte sie nahezu zukünftig. Dies alles noch einmal und nun wirklich auf sich zu nehmen, war der Grund, weshalb der Entfremdete heimkehrte. Wir wissen nicht, ob er blieb; wir wissen nur, daß er wiederkam. Die die Geschichte erzählt haben, versuchen es an dieser Stelle, uns an das Haus zu erinnern, wie es war; denn dort ist nur wenig Zeit vergangen, ein wenig gezählter Zeit, alle im Haus können sagen, wieviel. Die Hunde sind alt geworden, aber sie leben noch. Es wird berichtet, daß einer aufheulte. Eine Unterbrechung geht durch das ganze Tagewerk. Gesichter erschienen an den Fenstern, gealterte und erwachsene Gesichter von rührender Ähnlichkeit. Und in einem ganz alten schlägt ganz plötzlich blass das Erkennen durch. Das Erkennen? Wirklich nur das Erkennen? -- Das Verzeihen. Das Verzeihen wovon? -- Die Liebe. Mein Gott: die Liebe. Er, der Erkannte, er hatte daran nicht mehr gedacht, beschäftigt wie er war: daß sie noch sein könne. Es ist begreiflich, daß von allem, was nun geschah, nur noch dies überliefert ward: seine Gebärde, die unerhörte Gebärde, die man nie vorher gesehen hatte; die Gebärde des Flehens, mit der er sich an ihre Füße warf, sie beschwörend, daß sie nicht liebten. Erschrocken und schwankend hoben sie ihn zu sich herauf. Sie legten sein Ungestüm nach ihrer Weise aus, indem sie verziehen. Es muß für ihn unbeschreiblich befreiend gewesen sein, dass sie ihn alle mißverstanden, trotz der verzweifelten Eindeutigkeit seiner Haltung. Wahrscheinlich konnte er bleiben. Denn er erkannte von Tag zu Tag mehr, daß die Liebe ihn nicht betraf, auf die sie so eitel waren und zu der sie einander heimlich ermunterten. Fast mußte er lächeln, wenn sie sich anstrengten, und es wurde klar, wie wenig sie ihn meinen konnten. Was wußten sie, wer er war. Es war jetzt furchtbar schwer zu lieben, und er fühlte, dass nur Einer dazu imstande sei. Der aber wollte noch nicht« (185 f.). Hat sich der heimkehrende Sohn wirklich geändert? Der Erzähler meint wohl ja, weil er den Sohn erkennen lässt, dass die Liebe der zu Hause gebliebenen ihn gar nicht betreffe. Dies macht ihn nun freier inmitten der Erwartungen der anderen, die er nicht bereit ist, Liebe zu nennen. Die Geste des Niederfallens ist nicht die Demut des Gefallenen, sondern der aristokratische Hochmut dessen, der meint, besser zu lieben als die anderen. Rilkes verlorener Sohn muss die Liebe der anderen als »eitel« diffamieren, um sich weiter einsam und damit ungebunden überlegen zu fühlen. Mit dieser aristokratischen Haltung begegnet Malte Laurids Brigge auch seinen Mitmenschen in Paris. Obwohl ihn das ausgehende Geld, die beengte Wohnung, der Verschleiß der Kleidung und schließlich seine aufkeimende Krankheit ihn den verlorenen Gestalten, die er in seinen Aufzeichnungen beschreibt, äußerlich immer ähnlicher werden lässt, kommt es nicht zu einem solidarischen Gefühl gelebter Mitmenschlichkeit. Malte braucht das aristokratische Gefühl, besser zu sein als die anderen. Er kann und will sich nicht gemein mit ihnen machen. Der verlorene Sohn Rilkes ist der Aristokrat, dem die ganz gewöhnliche Liebe nicht genug ist, der diese Liebe, die Bindungen eingeht und seine Autokratie dadurch begrenzt, nicht will. Der verlorene Sohn Rilkes ist der Mensch, der die ihm entgegengebrachte Liebe ausschlägt, aus Angst, sich zu verlieren. Er ist sich zu schade für die Gewöhnlichkeit menschlicher Liebe. Keiner, so meint er, könne ihn nunmehr lieben außer Gott, der ihm aber seine Liebe wohl noch nicht offenbart habe. Wie bei Rameder, so gibt es auch bei Rilke keinen Grund zu feiern. Das Fest der Barmherzigkeit bleibt aus unterschiedlichen Gründen bei beiden aus. Der eine erzählt die Geschichte vom verlorenen Sohn, als Geschichte desjenigen, der nicht geliebt wird, der andere als die von dem, der nicht geliebt werden will. Wer feiern will, wird von diesen Texten auf Lukas zurückgeworfen. 4. Lukas-- Das Fest der Barmherzigkeit findet dennoch statt Aus der intertextuellen Erfahrung 3 der Texte von Rameder und Rilke lese ich die in Lk 15,11-32 erzählte Geschichte nicht mehr als das Gleichnis vom verlorenen Sohn, auch nicht als Allegorie vom liebenden Vater, sondern als Parabel vom Fest der Barmherzigkeit. Den Begriff der Parabel verstehe ich dabei im Sinne des objektsprachlichen griechischen Wortes parabolē mit dem Lukas seine Gleichnisse nicht nur im 15. Kapitel seines Evangeliums selbst metasprachlich klassifiziert. Es handelt sich um einen neben die herrschende Ansicht geworfenen Vergleich, der alternative Denkmöglichkeiten entwirft: Gegen(ent)würfe zur herrschenden Weltsicht, Gegenentwürfe zur Erbarmungslosigkeit, die aus dem Eintreten für Barmherzigkeit heraus formuliert werden, Gegenentwürfe, die zum Umdenken (gr. metanoia, vgl. Lk 3,3; Mk 1,4.15) anleiten-- nichts anderes bedeutet der Ruf zur Umkehr, der meistens irreführender Weise »Wie bei Rameder, so gibt es auch bei Rilke keinen Grund zu feiern. […] Wer feiern will, wird von diesen Texten auf Lukas zurückgeworfen.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 29 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 29 Stefan Alkier Verlorene Söhne. mit »Buße« übersetzt wird und dadurch seine politische Kraft individualisierend, moralisierend verliert. Die pragmatische Botschaft des Evangeliums vom auferweckten Gekreuzigten, dem Opfer der Unbarmherzigkeit und des institutionalisierten wie individuellen Unrechts schlechthin, formuliert Lukas in 6,36: »Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.« Gottes schöpferische Liebesmacht siegte über den Tod am Kreuz, und seitdem gibt es was zu feiern: Evangelium-- der Tod ist besiegt von Gottes Barmherzigkeit. Christinnen und Christen partizipieren an diesem Fest in der Abendmahlsfeier. Für Christinnen und Christen gibt es Grund zu feiern und ihre Freude am Evangelium äußert sich, spricht an-- das wäre missionarische Verkündigung im Sinne des lukanischen Evangeliums von der Barmherzigkeit Gottes. Mit Lukas gibt es Grund zum Feiern und nach der Lektüre der berührenden Texte von Rameder und Rilke lese ich die Parabel vom Fest der Barmherzigkeit aus der Perspektive dieser literarischen Ereignisse. Ein Friede-- Freude-- Eierkuchen-Verständnis der Parabel vom verlorenen Sohn wird durch die Texte von Rilke und Rameder heilsamer Weise verunmöglicht. Es fällt dann gleich ins Auge, dass in Lk 15 vor der ersten Parabel vom Verlorenen-- der Gegenentwurf vom verlorenen Schaf (Lk 15,3-7)-- folgende Beschreibung der Erzählsituation angeführt wird: »Alle Zöllner und Sünder kamen zu ihm, um ihn zu hören. Die Pharisäer und Schriftgelehrten empörten sich darüber und sagten: Er gibt sich mit Sündern ab und ißt sogar mit ihnen« (Lk 15,1 f.). Wer darf eingeladen werden in das Reich Gottes? An wen richtet sich die Botschaft des Messias, des Sohnes Gottes? Die in Lk erzählten Parabeln sind Argumente im Streit um die Frage nach den rechtmäßig intendierten Adressaten des Evangeliums. Die unbarmherzige Meinung, die die Pharisäer und Schriftgelehrten hier repräsentieren, lautet: Mit diesen Leuten gibt man sich nicht ab. Jesus aber gibt ihnen nicht nur Almosen im Vorbeigehen, sondern er schenkt ihnen Zeit und körperliche Nähe: Er ißt mit ihnen. In der Logik der Unbarmherzigkeit sind die da draußen abgeschrieben, aussortiert. Menschen, wie sie exemplarisch Rameders verlorener Sohn darstellt und wie sie Rilkes Malte in Paris zuhauf sieht-- wertlos, nutzlos, Abfall. In diese abseitige Gesellschaft gerät der jüngere Sohn aus Lk 15,11, dem Eingangsvers des sogenannten Gleichnisses vom verlorenen Sohn. Er nimmt seinen Erbteil und verprasst es. Er sinkt so tief, dass er sogar Schweinefutter fressen möchte, aber nicht einmal das wird ihm gegeben. Er wird nicht als aristokratischer Schöngeist gezeichnet, wie Rilke ihn sehen möchte. Er verprasst seinen Reichtum mit unmäßigen Saufgelagen und mit Hurerei bis er am Ende ist. Aber anders als Rameders verlorener Sohn hat der bis in den Schweinetrog hinein Erniedrigte einen Vater, an den er sich in seinem selbst verschuldeten ausweglosen Schlamassel neue Hoffnung schöpfend erinnern kann. Er fasst den Entschluss zurückzukehren, nicht wegen seiner Liebe zum Vater, sondern wegen des Brotes, das dessen Tagelöhner bekommen. Darauf hofft er. Dafür will er dem Vater seine Einsicht in sein Fehlverhalten mitteilen. Aber es kommt anders. Noch bevor er sein Schuldbekenntnis sagen kann, wird der Vater von seinem Anblick körperlich berührt. Wir würden sagen: es ging ihm an die Nieren. Im Griechischen wird das mit dem Verb splanchnizomai zur Sprache gebracht, was soviel heißt, dass der Anblick des heruntergekommenen Sohnes die Eingeweide des Vaters in Aufruhr bringt-- also körperlich empfundenes Mit-Leid--, noch bevor der Sohn irgendetwas sagen kann. Der Vater weiß nichts von der Einsicht seines Sohnes, sie ist nicht Voraussetzung seiner Zuwendung. Er ist einfach froh, ihn gesund und lebendig zurück zu sehen. Er kleidet ihn prächtig neu ein und gibt ihm damit seine verlorene Würde der Sohnschaft zurück. Er ordnet ein Freudenfest an und fordert zur Mitfreude auf: »denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu werden« (Lk 15,24). Tot-sein ist hier keine pleonastische Metapher, das lehren die Texte Rameders und Rilkes: Armut raubt Leben. Die Reaktion des heimgekehrten Sohnes wird von Lukas nicht geschildert. Ihn interessiert vielmehr der Versuch des älteren, daheimgebliebenen Sohnes, das Fest zu verhindern. Bewirkt der Anblick des heimgekehrten jüngeren Sohnes beim Vater körperliches Mit-Leid, das in Freude umschlägt, so löst die Freude des Vaters über den heimgekehrten im älteren Sohn Empörung aus. Er lässt sich nicht anstecken von der Zumutung der Freudenbotschaft, sondern er interveniert: »Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten, und du hast mir noch nie einen Bock geschenkt, damit ich mit meinen Freunden ein Fest feiern konnte. Kaum aber ist der hier ge- »Ein Friede - Freude - Eierkuchen- Verständnis der Parabel vom verlorenen Sohn wird durch die Texte von Rilke und Rameder heilsamer Weise verunmöglicht.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 30 - 3. Korrektur 30 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Zum Thema kommen, dein Sohn, der dein Vermögen mit Dirnen durchgebracht hat, da hast du für ihn das Mastkalb geschlachtet« (Lk 15,29b-32). Man sollte diesen Text laut lesen und das Wort »Sohn« im Munde des Bruders ironisch betonen. Der alltagsweltlich verständliche erbarmungslose Zorn des älteren Sohnes, verwehrt dem Zurückgekommenen die Akzeptanz als »Bruder«. »Der da« ist kein Bruder, der Sohnschaft nicht wert, Müll, Abfall, dahin gehört er. Das Fest findet trotz der Einwände des älteren Sohnes statt. Der Vater hört nicht auf dessen Empörung. Nichts und niemand kann das Freudenfest der Barmherzigkeit verhindern-- und selbst der erzürnte ältere Sohn bleibt geladener Gast dieses Festes. Der Zorn des Bruders bewirkt beim Vater keinen Gegenzorn. Der mehr oder weniger verständliche Zorn kann die Stimmung der Freude nicht trüben. Ob der ältere Bruder dann doch noch die Zumutung der Freude annehmen kann und mitfeiert, oder er in seiner freudlosen Empörung verharrt, lässt Lukas offen. Nicht, wie sich der Unbarmherzige schließlich entscheidet, interessiert Lukas. Die Pointe des offenen Schlusses liegt vielmehr darin, dass keiner vom Fest ausgeschlossen wird. Selbst die Unbarmherzigen bleiben geladen. Das Freudenfest der Barmherzigkeit findet statt-- mit oder ohne sie. 5. Wen sprechen Christen heute an? Rameder schreibt über die Christenheit von heute: »Christen interessieren sich eigentlich für gar nichts mehr. Die Welt ist ihnen abhanden gekommen« (86 f.). Soll ich der Hüter meines Bruders sein, fragt der erbarmungslose Kain? Ja, sagt Lukas. Seid anspruchsvoll: Kümmert euch um die Zurückkehrenden. Geht hinaus zu den Verlorenen. Sucht diejenigen, die keiner vermisst. Christliche Mission heute-- das wäre nicht nur unbedingter sozialer, diakonischer Dienst an den Verlorenen, Verwahrlosten, Vergessenen, Ausgesonderten, Abgehalfterten, Übersehenen, Unbrauchbaren. Christliche Mission heute ist sich-gemein-machen mit den Abgeschriebenen und sich politisch einmischen, nach den politischen und sozialen Ursachen von Unrecht, Armut und Gewalt fragen und Gegenentwürfe entwickeln zu Gunsten der Erniedrigten und Beleidigten im Wissen um das große Fest der Barmherzigkeit, das schon jetzt in der Weise des Abendmahls gefeiert wird. Alle sind eingeladen. Anmerkungen 1 Rolf Rameder, Der verlorene Sohn, St. Gallen 2010. 2 Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt a. M. 2009. 3 Eine ganze Reihe anderer Texte wären noch hinzuzunehmen, wie etwa André Gides »Die Rückkehr des verlorenen Sohnes« oder »Die Heimkehr« von Franz Kafka. Vgl. W. Brettschneider, Die Parabel vom verlorenen Sohn. Das biblische Gleichnis in der Entwicklung der europäischen Literatur, Berlin 1978; M. Siebald, Der verlorene Sohn in der amerikanischen Literatur, American Studies MS 100, Heidelberg, 2003.