eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 17/33

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2014
1733 Dronsch Strecker Vogel

Markus 5,21-43 in vier Lektüren

2014
Musa W. Dube
Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 12 - 3. Korrektur 12 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Einführung: Wie man nicht im Tod bleibt »Talitha kum! «-- Der Markusevangelist erklärt die Bedeutung dieses Satzes: »Mädchen, steh auf! « Die Geschichte erzählt uns, dass Jairus’ zwölfjährige Tochter dem Tode nahe war. Ihr Vater kommt zu Jesus und sagt ihm: »Bitte komm und lege ihr die Hände auf, damit sie gesund wird und am Leben bleibt« (V. 23). Jesus macht sich mit Jairus auf den Weg, um das kranke Kind zu heilen. Er wäre vielleicht rechtzeitig gekommen, hätte ihn nicht eine Frau in Anspruch genommen, die seit zwölf Jahren an Blutungen litt und all ihre Habe für vergebliche Therapien drangegeben hatte. Unauffällig und von hinten berührt sie seine Kleidung. Sie wird nicht nur geheilt, sondern Jesus hält inne und hört ihre Geschichte von zwölf Jahren vergeblicher Hoffnung auf Heilung an. Inzwischen stirbt die kleine Tochter. Jesus geht zu Jairus’ Haus, ergreift ihre Hand und sagt: »Talitha kum! «. »Und sofort«, erfahren wir, »stand das Mädchen auf und fing an umherzulaufen«. Was kommt dabei heraus, wenn man solch eine Geschichte aus einer feministischen, einer postkolonialen und einer HIV/ AIDS-Perspektive liest? Natürlich kann man jeden Text auf jede Weise lesen. Entscheidend ist aber: Jedes der genannten Paradigmen ist in sich selbst schon ein weites Feld aus unterschiedlichen Methoden. Meine eigene Lektüre kann jeweils nur einige wenige Aspekte dieser Paradigmen mit einander kombinieren. Ich beginne damit, dass ich die Narration der Geschichte nach plot und setting nachzeichne. Die Analyse der Charaktere wird auch in den folgenden Abschnitten Thema sein. Auf diese Weise interagiert die narrative Analyse methodologisch mit der postkolonialen, der feministischen und der HIV/ AIDS-Perspektive. Zumal mein postkolonialer Ansatz bestimmt die narrative Analyse an der Oberfläche und in der Tiefe, d. h. ich verstehe die Narration auf dem konkreten Hintergrund des römischen Imperiums. 1 Nachfolgend geht es um folgende Fragen, die diesem Beitrag zugleich seine Zwischenüberschriften geben: (1) Wie stellen sich einer narrativen Analyse setting und plot der Geschichte dar? (2) Wie gestaltet sich Mk 5,21-43 aus einem postkolonialen Blickwinkel? (3) Welches Bild ergibt sich aus feministischer Perspektive? (4) Welches Licht wirft die HIV/ AIDS-Epedemie auf die Geschichte aus Mk 5? Zwar wird jede Perspektive separat behandelt, zugleich werden sie aber auf vielen Ebenen und an vielen Stellen miteinander ins Gespräch gebracht und bestimmen sich so gegenseitig. Alle vier Perspektiven teilen bei ihrem jeweiligen Ringen um den Text gemeinsame Annahmen, Fragen, Anliegen und befreiende Lektüren von Text und Welt. Fragen wie gender, Klasse, Abstammung, Ethnizität, Sexualität, zwischenstaatliche Beziehungen und andere Analysekategorien liegen quer zum postkolonialen, feministischen und HIV/ AIDS-Paradigma. Bevor wir uns jedem einzelnen Punkt zuwenden, will ich noch erklären, warum mir an der von mir gewählten Kombination gelegen ist. Zunächst kann ich mit Fug und Recht sagen: Eine meiner Grundannahmen lautet, dass das Lesen eines Textes eine Weise ist, die Welt zu lesen, und dies nicht nur, um die Welt zu verstehen, sondern auch sie zu ändern, 2 und zwar, wie ich ergänzen möchte, sie zum Besseren zu ändern. Meine wichtigsten Anliegen sind folgende: Die postkoloniale Perspektive ermöglicht es mir, unsere vergangenen und gegenwärtigen internationalen Beziehungen zu untersuchen und zu befreienden Lektüren für unsere heutige Welt zu gelangen. Das ist für eine von HIV/ AIDS geprägte Zeit essentiell wichtig. Die feministische Perspektive ist von zentraler Bedeutung für jeden Versuch, Unterdrückung zu verstehen und Befreiung zu ersinnen, denn hier geht es um gender, eine Analysekategorie, die Konstruktionen des Männlichen und des Weiblichen betrifft und bestimmt und insofern etwas mit allen Menschen zu tun hat, unabhängig von ihrer Identität. Schließlich die HIV/ AIDS-Lektüre: Diese Epidemie wurde vor drei Jahrzehnten entdeckt und ist inzwischen eine globale Krise mit mindestens 22 Millionen Opfern bis 2002 und etwa weiteren 40 Millionen Infizierten innerhalb dieses kurzen Zeitraumes. 3 Während der letzten zehn Jahre hat sich durch die Verfügbarkeit von Medikamenten die Zahl der von AIDS-verursachten Todesfälle Musa Dube Markus 5,21-43 in vier Lektüren Narrative Analyse-- postcolonial criticism-- feministische Exegese-- HIV/ AIDS Zum Thema »Eine meiner Grundannahmen lautet, dass das Lesen eines Textes eine Weise ist, die Welt zu lesen, und dies nicht nur, um die Welt zu verstehen, sondern auch sie zu ändern, und zwar, wie ich ergänzen möchte, sie zum Besseren zu ändern.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 13 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 13 Musa Dube Markus 5,21-43 in vier Lektüren nehmung schärft für gegenwärtige und vergangene internationale Beziehungen. Hinzu kommt meine Identität als Frau samt allen Höhen und Tiefen, die damit zusammen hängen, schließlich die Realität des Lebens in einer Region der Erde, die massiv von HIV/ AIDS betroffen ist. Nach diesen einführenden Bemerkungen wende ich mich nun der narrativen Analyse von Mk 5,21-45 zu, einer Geschichte, die unter afrikanischen Theologinnen überaus populär ist. 6 Diese Lektüre eröffnet zugleich die Möglichkeit des Geschichtenerzählens 7 , und Geschichtenerzählen ist Anlass und Ereignis der Partizipation an gegenseitigen individuellen und sozialen Heilungsprozessen. 1. »Talitha kum! « Eine narrative Lektüre von plot und setting von Mk 5,21-43 Eine narrative Analyse fragt: »Wie erzeugt die Geschichte Bedeutung? « 8 In und mit dieser Frage richten die Lesenden ihre Aufmerksamkeit auf die Bedeutung erzeugenden narrativen rhetorischen Elemente wie etwa plot, setting, Charaktere, Erzähler, Adressat, impliziter Leser, Wiederholung, Anordnung, Symbolik und Ironie. Diese narrativen Gestaltungselemente zielen auf die Beeinflussung der Lesenden, die bestimmte Perspektiven einnehmen und sich von anderen distanzieren sollen. 9 Kurz gesagt: Eine Narration ist nicht neutral, und sie erwartet auch von den Lesenden keine Neutralität. Wer es mit einer Erzählung zu tun bekommt, ist per se aufgefordert, sich zu ihrer Weltsicht zu verhalten. Das setting bestimmt Ort und Zeit der Handlung, und der plot gibt die Handlungs- und Ereignisstruktur der Charaktere vor, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. 1.1 Notfall-Reisen Die Eingangsszene findet am See statt. Jesus ist gerade mit dem Boot an einem neuen Ort angekommen. Er ist von einer Menschenmenge umgeben. Dann aber führt uns die Handlung auf einen Weg vom öffentlichen Platz am See an einen privaten Ort, in das Haus des Jairus, wo Jesus die Leute aus dem Zimmer schickt, in dem das Mädchen krank daniedergelegen hat und schließlich gestorben ist. Hier ruft er »Talitha kum! «, und das Kind richtet sich auf und beginnt herumzulaufen. Sie muss aus dem Raum gelaufen sein, in dem sie gelegen und von Infektionen während der Geburt wesentlich verringert. Der aktuelle UNAIDS-Bericht für 2012 verzeichnet 38,8 Millionen HIV-Infizierte, 2,7 Millionen Neuinfizierte und 1,9 Millionen Todesfälle. 4 Die Weltgemeinschaft ist angesichts dieser Zahlen mit Nachdruck aufgefordert, sich dieser Realität zu stellen. Für die Bibelwissenschaft ist es an der Zeit, zu fragen, wie und auf welche Weise neutestamentliche Texte eine Hilfe sein können, HIV/ AIDS zu verstehen und damit umzugehen. Mich beschäftigen folgende Fragen: Welchen Beitrag leistet die Erforschung des Neuen Testaments, einer von HIV/ AIDS bestimmten Welt Heilung zu bringen? Wie kann die Neutestamentliche Wissenschaft zur HIV/ AIDS-Prävention, zur Verbesserung und Verbreitung bezahlbarer Therapien, zur Überwindung des mit HIV/ AIDS verbundenen Stigmas und zur Bekämpfung der sozialen Übel beitragen, die die Ausbreitung der Epidemie forcieren? Wie sind wir durch HIV/ AIDS herausgefordert, unsere Lektürekategorien zu erweitern? Im Blick auf diese Fragen bin ich alles andere als sesshaft, führe eher ein wissenschaftliches Nomadendasein in ständiger Suche und Bewegung. 5 Mein methodologisches Interesse rührt außerdem von meiner sozialen Umgebung her, die meine Wahr- Apl. Prof. Dr. Musa W. Dube, Bibelwissenschaftlerin an der Universität von Botswana, apl. Professorin an der Universität von Südafrika, Humboldt-Stipendiatin (2011), studierte in Durham (UK) und an der Vanderbilt Universität, war visiting scholar am Union Theological Seminary (2010) und an der Universität Bamberg (2011). Zahlreiche Veröffentlichungen zu postcolonial criticism, feministischer Exegese, Studien zu HIV/ AIDS, Afrikanische Exegese u. a. In ihren neueren Forschungen befasst sich Dube mit der Frage, wie sich postkoloniale und gender-Strukturen in Übersetzungen der Bibel in indigene afrikanische Sprachen niederschlagen. Musa W. Dube »Für die Bibelwissenschaft ist es an der Zeit zu fragen, wie und auf welche Weise neutestamentliche Texte eine Hilfe sein können, HIV/ AIDS zu verstehen und damit umzugehen.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 14 - 3. Korrektur 14 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Zum Thema hat, denn die Menge erblickt sie und »gerät in großes Staunen« (V. 42). Zugleich ist es aber der Zeitaspekt, der die Geschichte zuspitzt, ihr Spannung verleiht und sie einem Höhepunkt zuführt. Er bündelt sich in einem kritischen Moment von größter Dringlichkeit, und es ist Jairus, der Synagogenvorsteher, der diesen Zeitaspekt in die Erzählung einbringt. Er eilt in großer Verzweifelung herbei und fleht wiederholt: »Meine kleine Tochter liegt im Sterben«. Er redet auf Jesus ein, er solle kommen und die Hände auf sie legen, damit sie gesund wird und am Leben bleibt. So dringlich ist das: Eine Sache auf Leben und Tod. Alles wird sich daran entscheiden, ob Jesus rechtzeitig kommt und ihr die Hände auflegt, bevor sich der Tod ihrer bemächtigt. Jesus muss den Ernst der Lage sofort erkannt haben. Ohne ein Wort der Nachfrage macht er sich mit Jairus auf den Weg zu dem sterbenden Kind. Jesus hat einen Notruf erhalten. Wir Heutigen hören förmlich Martinshorn und Sirenengeheul, sehen das Blaulicht des Notarztwagens, der sich seinen Weg durch den dichten Verkehr bahnt, und jeder Fahrer muss Platz machen, um dem Leben eine Chance zu geben. Es zählt jede Minute, jede Sekunde. Die Lesenden, die Jesus und Jairus auf diesem Weg begleiten, sind sich über die Notlage völlig im Klaren. Die Notlage überträgt sich auf die Ebene des Erzählverlaufs, denn die Lesenden wissen, dass der plot so schnell wie möglich zu Jarirus’ Haus führen muss-- um ein Leben zu retten, das dem Tode nahe ist. Aber es geht sprichwörtlich alles schief, was schief gehen kann. Die nach vorn drängende Handlung wird blockiert, der plot wird abgebogen. Von hinten tritt eine Frau auf. Man liegt nicht ganz falsch, wenn man in ihr eine Saboteurin sieht, die plötzlich hinter den Kulissen hervor tritt, denn sie verfolgt einen Plan. Sie ist eine Frau, die seit zwölf Jahren an Blutungen leidet, und sie hat viele Ärzte aufgesucht, die ihr zwar Geld abgenommen, ihrem anämischen Körper aber nicht die erhoffte Heilung gebracht haben. Diese Frau wird es fertigbringen, den eilig voranschreitenden Handlungsverlauf anzuhalten. Sie unterbricht den linearen plot, indem sie ihre Geschichte in die Geschichte von Jairus und seiner sterbenden Tochter einschaltet. Damit bringt sie das Unvorstellbare fertig: Sie hält Jesus auf und lenkt ihn von seinem Notfalleinsatz ab. Nun ist es nicht gänzlich abwegig, sie in der Rolle einer Entführerin zu sehen, möglich ist aber auch, dass sie den an Jesus ergangenen Notruf eigentlich respektieren wollte. In V. 27 heißt es, dass sie von Jesus gehört hat. Da sie aber unter der Volksmenge war, muss sie auch das Flehen des Jairus gehört haben. Möglicherweise stand sie auch nah genug, um Jesu positive Reaktion mitzubekommen, dass er sich nämlich sofort mit Jairus auf den Weg machte, um seine sterbende Tochter vom Tode zu retten. Diese Frau muss nach zwölf Jahren vergeblicher Suche nach Heilung von diesem plötzlichen Hoffnungszeichen, das sie in der Reaktion Jesu sah, tief getroffen gewesen sein: Jesus, nur einige Meter entfernt, würde nun ein Mädchen heilen, das dem Tode nahe war. Gewiss würde er auch in der Lage sein, sie von ihrer langjährigen Krankheit zu heilen, die sie in Armut gestürzt und stigmatisiert hatte. Möglicherweise hat sie den akuten Notfall, der Jesus, Jairus und die Menge hin zu der sterbenden Tochter in Bewegung versetzt hatte, völlig anerkannt. Aber diesen kostbaren Moment konnte sie nicht ungenutzt verstreichen lassen. Deshalb mag sie beschlossen haben, unauffällig aus dem Hintergrund ihr Glück zu versuchen und so den Notfalleinsatz von Jesus und Jairus nicht zu behindern. Mit diesen Gedanken bahnt sich die blutende Frau ihren Weg hin zu Jesus. Sie sagt zu sich selbst: »Wenn ich auch nur seine Kleider anrühre, so werde ich gesund werden« (V. 28). Noch während der Berührung wird sie geheilt. Sollte sie jedoch darauf gesetzt haben, dass diese Berührung unbemerkt bleiben würde, so hatte sie sich gründlich getäuscht. Außerdem hatte sie Jairus und seine Tochter in eine noch schlimmere Lage gebracht: Jesus bemerkt sofort die von ihm ausgegangene Kraft. Er hält inne. Er wendet sich um. Er fragt: »Wer hat meine Kleider berührt? « (V. 30). Die Frage stößt bei seinen Jüngern angesichts der Menschenmenge auf Unverständnis. Sie antworten: »Du siehst, wie das Volk dich umdrängt, und sagst: Wer hat mich angerührt? « (V. 33). Die Frage kommt ihnen lächerlich vor. Sollte die Frau gehofft haben, Jesus würde sich von der Antwort der Jünger überzeugen lassen, so hat sie sich einmal mehr getäuscht. Jesus forscht weiter nach: »Er blickte umher, um zu sehen, wer die war, die dies getan hatte« (V. 32). Nun war der Frau klar, dass sie sich nicht länger verstecken konnte. Jairus nicht unähnlich »kam die Frau mit Furcht und Zittern, warf sich vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit« (V. 33). Das Problem ist, dass die »ganze Wahrheit« höchstwahrscheinlich die ganze Geschichte ihrer zwölfjährigen Suche nach Heilung umfasste. Vielleicht hat sie davon erzählt, wie sie verarmte und stigmatisiert wurde, wie Familie, Freunde und die ganze Gesellschaft sie ausschlossen. Während Jesus ihr zuhört, spüren wir die Ungeduld und Verzweiflung des Jairus. Wertvolle Minuten vergehen. Die Zeit ist nicht auf seiner Seite. Seine Tochter ist dem Tode nahe. Es war jetzt wirklich nicht die Zeit, eine langatmige Geschichte anzuhören. Jairus’ Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 15 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 15 Musa Dube Markus 5,21-43 in vier Lektüren schlimmste Befürchtungen werden bestätigt. Boten von Zuhause treffen ein und sagen ihm: »Deine Tochter ist gestorben, was bemühst du den Lehrer noch? « (V. 35). Das Mädchen ist aus dem Rennen ausgeschieden und aus dem Leben. Der Notfall, der bisher den plot vorangetrieben hat auf dem Weg zu Jairus’ Haus, ist zum völligen Stillstand gekommen. Nun ist alles zu spät. Alle Zeit ist verloren: »Was bemühst du den Lehrer noch? « (V. 35). Lesende und Hörende erwarten, dass die Reise nun vorüber ist, denn es gibt nichts endgültigeres als den Tod. 1.2 Reisen des Glaubens Aber: Nein! Die Reise wird fortgesetzt. Jesus wendet sich Jairus zu und sagt: »Habe keine Furcht. Nur dies: Glaube! « (V. 36). Sie setzen ihren Weg zu Jairus’ Haus fort. An diesem Punkt erweist sich der Zeitaspekt des Notfalls als begrenzt. Es zeigt sich, dass er nicht der entscheidende Faktor des Handlungsfortschritts ist. Die Lesenden/ Hörenden werden unsanft dazu gebracht, den ganzen bisherigen Weg nochmals zu gehen, nun unter der Maßgabe, dass nicht Zeit entscheidet, sondern Glaube. Es war Jairus’ Glaube, der Jesus dazu bewegt hat, mit ihm zu gehen, um seine kranke Tochter zu retten. Es war der Glaube der Frau, der Jesus aufgehalten und ihn hat fragen lassen: »Wer hat mich berührt? « In Anerkennung ihres Schrittes sagte er zu ihr: »Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden und sei heil von deiner Plage« (V. 34). Und so erinnert und ermutigt Jesus den Jairus genau in jenem Moment, da alle Zeit verronnen ist, um das sterbende Mädchen zu retten, dass die Energie seines Glaubens nicht nachlassen soll. Von der Reaktion des Jairus verlautet nichts. Klar ist aber: Beide gehen miteinander zu seinem Haus. Sie treffen ein, finden das Haus in Aufruhr, voll mit Menschen, die trauern und laut klagen. Dieses setting unterstreicht: Die Tochter ist tatsächlich tot. Jesus jedoch fragt: »Was lärmt und weint ihr? Das Mädchen ist nicht gestorben, sondern es schläft« (V. 39). Seine Worte hätten nicht realitätsferner sein können. Dennoch bekräftigt die klagende Menge, dass das Mädchen tot ist, indem die Leute ihn auslachen. Sie bestehen darauf, dass der Tod nicht mit dem zeitlich befristeten Schlaf gleichgesetzt werden kann. Der Tod ist endgültig. Die Klagenden handeln nach Maßgabe realer Zeit, wohingegen Jesus aus Glauben agiert. Jesus tritt dort ein, wo das tote Kind liegt, nimmt ihre Hand und spricht: »Talitha kum! «, und sofort richtet sich das Mädchen auf und läuft umher (V. 41f ). Durchweg geht es darum, die Persönlichkeit Jesu herauszustreichen. In der Erzählung tritt er auf inmitten einer Menschenmenge, die seine Berühmtheit anschaulich macht. Jairus und die Frau stellen einen starken Glauben in die heilenden Kräfte Jesu unter Beweis. Jairus glaubt, dass Jesus ein sterbendes Kind retten kann. Die Frau glaubt, dass er in der Lage ist, eine im Lauf von zwölf Jahren als unheilbar erwiesene Krankheit zu heilen. Die Erwartungen der Frau werden erfüllt, die des Jairus weit übertroffen: Er glaubte an Jesu Macht, sie vor dem Sterben zu bewahren, doch Jesus hat sie aus dem Tode wiedergebracht. Der plot, der auf der Zeitachse eines Notfalls einsetzt, führt konsequent in die Kategorie des Glaubens hinüber. Warum dieser Wechsel? Welches ist seine Funktion und Bedeutung? In seinem Buch The Art of Biblical Narrative von 1981 zeigt Robert Altmeier, dass solche Veränderungen von großer Bedeutung sind und nicht übersehen werden dürfen. Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine wichtige narrative Charakterisierung Jesu. So fällt etwa auf, dass von dem Moment an, da das Mädchen für tot erklärt ist, niemand mehr spricht außer Jesus. Auf der Achse »Glaube«, die keinen Zeitindex aufweist, bleibt Jairus stumm, die anderen lachen, und dann »gerieten sie ganz außer sich« (V. 42), als sie sahen, dass das tote Mädchen umherlief. Der beobachtete Wechsel führt die Lesenden also aus dem Bereich menschlicher Möglichkeiten, wo man ständig gegen die Zeit kämpft, in einen außerordentlichen Raum des Glaubens, wo es nicht nur keine Zeit mehr gibt, sondern wo das menschlich Unmögliche möglich wird. In diesem Raum stehen Tote auf. Tod ist für Jesus nichts als Schlaf. Mag der Tod für alle anderen die schiere Machtfülle sein-- er hat nicht das letzte Wort. Jesus hat es. Damit schreitet die Charakterisierung Jesu fort vom Machtvollen zum Erstaunlichen, vom Menschlichen zum Göttlichen. Hier erreicht der plot seinen Höhepunkt. Jesus tritt als Hauptfigur hervor, und naturgemäß sind alle, die Klagenden, die Lesenden, die Hörenden, überwältigt (V. 42). Sie sind gerufen, von einem Leben innerhalb menschlicher Möglichkeiten in den Raum des Glaubens vorzudringen, wo das Unmögliche möglich ist. Aus theologischer Sicht und für feministische, postkoloniale und HIV/ AIDS-spezifische Belange ist es dieser Raum zwischen Leben und Tod, den ich in meinem Beitrag erkunden will, die Herausforderung des Rufes, vom Tode aufzustehen, die Einladung zu einem Wandel in Hoffnung angesichts krasser Hoffnungslosigkeit, diesen berückenden Akt, tatsächlich von den Toten aufzustehen. Wenn gilt, dass jedes dieser drei Paradigmen damit zu tun hat, gegen Formen des Todes von Beziehungen anzugehen, wie interagiert dann diese Geschichte mit jedem dieser Paradigmen? Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 16 - 3. Korrektur 16 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Zum Thema 2. »Talitha kum! « Eine postkoloniale Geschichte vom Aufstehen aus dem Tod Wie können wir diese Geschichte als postkoloniales Narrativ von Widerstand, Kollaboration und Suche nach Gerechtigkeit lesen, der Suche nach Leben gegen den Tod als Akteur in internationalen Beziehungen? Gewiss gibt es viele Weisen postkolonialer Analysen. 10 In diesem Beitrag geht es mir erstens darum, der historischen Realität der mannigfaltigen Formen des Imperialismus und Kolonialismus unterschiedlicher Zeiten und Orte als einem Phänomen Rechnung zu tragen, das die antike Welt ebenso geprägt hat, wie es unsere heutige Welt prägt. Zweitens-- damit kommen wir zu unserer Geschichte-- wurde der markinische Text von einer kolonisierten Gruppe geschrieben. Es handelt sich mithin um ein postkoloniales Narrativ, dessen Widerstandspotential von den Lesenden wieder zu entdecken ist. Und selbstredend geht es in der markinischen Erzählung rücksichtlich der damaligen Stärke des römischen Imperiums und der patriarchalen Ursprungskultur des Textes auch um Kollaboration. Des Weiteren bin ich der Auffassung, dass wir uns als Lesende bewusst oder unbewusst als Befürworter, Gegner oder Kollaborateure des Imperiums verhalten, das in der Geschichte sichtbar wird. Wir sind nicht neutral. Schließlich meine ich, dass der ideologische Kern in solchen Geschichten bestimmte gegenwärtige Herrschafts- und Unterdrückungsstrukturen zwischen mächtigen und benachteiligten Nationen unterstreicht, und dass deshalb nicht nur feministische Lektüren gefordert sind, sondern dekolonisierende feministische Lektüren. Folgende Fragen stelle ich oft im Rahmen eines postkolonialen Dialogs an einen Text: (a) Hat dieser Text einen klaren Standpunkt gegen den politischen, kulturellen und ökonomischen Imperialismus seiner Zeit? (b) Wie lesen Leserinnen und Leser den Text: Als Kolonisten, als Kolonisierte oder als Kollaborateure? (c) Ermutigt der Text dazu, in ferne bewohnte Länder aufzubrechen? (d) Wenn ja: Wie rechtfertigt der Text sich selbst? Welche Seite des Textes bereise ich als Lesende/ r? 11 (e) Repräsentiert der Text gender-Elemente, um Beziehungen von Unterordnung und Beherrschung zu konstruieren? (f ) Wenn ja: Von welcher Seite lese ich? Von der Seite der Kolonisten, der Kolonisierten oder der Kollaborateure? (g) Wenn ich eine de-kolonisierende Lesehaltung einnehme, lässt sich das in einen de-patriarchalisierenden Akt übersetzen und umgekehrt? (h) Wie affiziert Imperialismus Frauen und Männer? 12 Was den historischen Kontext des Markusevangeliums betrifft, so ist anerkannt, dass es innerhalb der geographischen Grenzen des römischen Imperiums geschrieben wurde. 13 Eine präzise Lokalisierung steht aus, doch oszillieren die meisten Debatten zwischen Rom und Jerusalem. Die Datierung steht in engem Zusammenhang mit dem judäisch-römischen Krieg 66-70 n. Chr., dem Jerusalem und der Tempel zum Opfer fielen. Unklar ist auch, ob der Verfasser Jude war oder nicht. Klar scheint dagegen, dass er keine hohe Literatur schrieb. Er scheint aus weniger gebildeten Schichten zu stammen. Möglicherweise trifft das auch für sein Publikum zu (vgl. 1Kor 1,26-28). Jedenfalls gehörte er schwerlich zur herrschenden römischen Klasse. Vielmehr lebten der Verfasser und seine Gemeinde unter der Macht des römischen Imperiums, das Unterdrückung und Gewalt als Instrumente seiner Herrschaft während des jüdischen Krieges hinlänglich unter Beweis gestellt hatte. Gewiss umfasst die markinische Gemeinde Juden wie Nichtjuden, Menschen, die unter der Gewaltsamkeit des Imperiums zu leiden hatten und miterleben mussten, wie das Schicksal des judäischen Tempels durch die nach dem Krieg verhängte Strafsteuer besiegelt wurde. Die Instruktionen im 13. Kapitel des Evangeliums sind in apokalyptischem Ton vorgetragen, und das heißt: in einer Tonlage des Widerstands. Was ist davon in unserem Text zu spüren? Bietet der Verfasser eine Erzählung der Kolonisten, die die Ideologie internationaler Beherrschung und Unterdrückung unterstützt? Oder ist die Erzählung aus der Sicht von Kolonisierten und Kollaborateuren verfasst? Wir werfen an dieser Stelle einen Blick auf das gesamte fünfte Kapitel: Vor der Geschichte von dem sterbenden Mädchen und der an Blutungen leidenden Frau treffen wir auf Jesus und sein Gefolge als er dem Besessenen in Gerasa begegnet, also auf heidnischem Gebiet. Der Mann kommt aus den Gräbern und fleht Jesus an, ihn in Ruhe zu lassen. Jesus fragt ihn: »Was ist dein Name? «, und er antwortet: »Mein Name ist Legion, denn wir sind viele«. Jesus jagt den Dämon »Legion« in eine Schweineherde, und der Dämon treibt sie ins Meer. Jesus muss das Gebiet der Gerasener verlassen. Der subversive politische Ton der Geschichte ist deutlich zu vernehmen. Legion war der terminus technicus für »eine Einheit der römischen Armee« 14 . »Eine komplette Legion bestand aus 6000 Fußsoldaten, 120 berittenen Soldaten und Hilfstruppen. Der Terminus kann ebenso ein Battalion aus 2048 Mann bezeichnen« 15 . Der Gerasener ist jemand, der von den Mächten des römischen Imperiums ergriffen und in Besitz genommen wurde, ein Einfluss, der sich als dämonische Besessenheit äußert. »Die Dämonen haben diesem Mann auch noch das letzte Stückchen Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 17 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 17 Musa Dube Markus 5,21-43 in vier Lektüren Menschlichkeit geraubt«, bis dahin, dass er sich selbst Verletzungen beibringt. 16 Nach dieser Geschichte heißt kolonisiert zu werden, dass die bösen Geister der Legion von den Menschen Besitz ergreifen und sie in ein Dasein bei den Gräbern bannen, d. h. in ein Leben unter den Toten. 17 Seine Postadresse ist ein Gräberfeld. 18 Kolonisiert zu werden, ist nach dieser Geschichte wie Besessenheit von bösen Geistern des Todes. Man koexistiert mit den Toten. Die eigenen menschlichen Möglichkeiten werden unter jedes menschliche Maß gedrückt, wie der Gerasener drastisch vor Augen führt. Wichtiger aber ist: Die Geschichte präsentiert Jesus als Befreier. Die Begegnung Jesu mit den herrschenden Mächten lässt sie erzittern vor einer höheren Macht. Der Legion- Geist erkennt die Macht Jesu und bittet darum, sich anderswo niederlassen zu dürfen, nämlich bei den Schweinen. Jesus treibt den Geist Legion mühelos aus, den Geist Roms, den bösen Geist, der Völker zu Mitbewohnern des Todes gemacht hat. Jesus ist ein machtvoller Heiler und ein politischer Befreier. Jesus repräsentiert den Anbruch des Reiches Gottes. Der römische Geist des Kolonialismus zittert in seiner Gegenwart. »Es entsteht«, so Pheme Perkins, »ein erstaunliches Bild: Sobald Jesus nichtjüdisches Territorium betritt, unterwirft sich ihm eine Legion. Gottes königliche Macht hat die imperiale Herrschaft gebrochen« 19 . Für Dewey ist »das Ertrinken der Dämonen im See eine politische Anspielung auf die Zerstörung der römischen Besatzerarmee« 20 . Aber Jesu Taten der Befreiung sind derart unerhört, dass ihn die Leute auffordern, ihr Gebiet zu verlassen. Wie sollen wir das verstehen? Hieran wird beispielhaft deutlich, dass ein kolonisiertes Volk zu einem Kollaborateur werden kann, der das Leben unter der kolonisierenden Macht vorzieht. Jedenfalls: Mit diesen Ereignissen im Rücken geht Jesus nach der Überfahrt an Land, wo ihn Jairus inmitten eines großen Gefolges antrifft. In der Geschichte von der an Blutungen leidenden Frau und dem sterbenden Mädchen finden wir an der Stelle einen ersten Hinweis auf eine mögliche politische Agenda der Handlung, wo der Text gender-Kategorien verwendet, um imperiale Unterordnung und die Suche nach Befreiung zu artikulieren. Ich meine die Zwölfzahl, die an zwei Stellen eine Rolle spielt: Die zwölf Jahre währende Krankheit der Frau und das Lebensalter des zwölfjährigen Mädchens. Der Bezug zu den zwölf Jakobsöhnen und den zwölf Stämmen Israel liegt nicht fern. Jesus, der auf heidnischem Gebiet dem Imperium furchtlos widerstanden hat, begegnet dieser Frau in seinem eigenen Land von Angesicht zu Angesicht, einer Frau die schon lange vergeblich nach Heilung sucht. Von Angesicht zu Angesicht begegnet er der zwölfjährigen Tochter, deren Vater fest daran glaubt, dass sie leben wird, wenn Jesus kommt und die Hände auf sie legt. Wenn wir darin einig sind, dass die die Geschichte rahmende Zwölfzahl eine Aussage über die nationale Situation Israels ist, dann haben wir ein anschauliches Beispiel dafür, wie Beziehungen von Unterordnung und Widerstand in gender-Kategorien ausgedrückt werden können. Wir stoßen auf Israel-Bezüge, wo von der Frau und dem Mädchen die Rede ist. Die Aussage ist: Israel ist eine verzweifelte Frau, die an Blutungen leidet und auf der Suche nach Heilung alles verloren hat, und ein junges Mädchen, das im Sterben liegt. Die Situation Israels ist bestimmt von einer verzweifelten Suche nach Heilung und nach Leben. Israels ausbeuterische Ärzte haben das Volk über jedes Maß ausgebeutet. Israel ist durch das Blut unrein geworden, ähnlich wie der besessene Gerasener. Wie der Gerasener ist das sterbende Mädchen dem Tode näher als dem Leben. Im Blick auf das ganze Kapitel gilt: »Mk 5 gewinnt mit jeder Episode an politischer und religiöser Tiefe« 21 . Die gute Nachricht besteht nun darin, dass die Geschichte imperialer Unterdrückung nicht einfach immer so weitergehen muss. Jesus ist der Heiler und der Befreier. Ich zögere nicht zu behaupten, dass diese Geschichte im literarischen Kontext von Mk 5 und im historischen Kontext des markinischen Evangeliums eine Geschichte des Widerstands ist. Es ist die Geschichte der Kolonisierten, der in Ketten Gelegten, der Blutenden, der Unreinen (unrein, weil fremde und böse Mächte von ihnen Besitz ergriffen haben) und der Sterbenden. Die Geschichte besteht darauf, dass das Imperium nicht das letzte Wort hat und haben wird. Jesu Taten der Vertreibung der Legion, des Heilens von Kranken und der Auferweckung Toter verkörpern Hoffnung. Hoffnung auf Befreiung liegt in den unterdrückten Regungen der Ermächtigung. Hoffung »Kolonisiert zu werden, ist nach dieser Geschichte wie Besessenheit von bösen Geistern des Todes. Man koexistiert mit den Toten. Die eigenen menschlichen Möglichkeiten werden unter jedes menschliche Maß gedrückt« »Wir stoßen auf Israel-Bezüge, wo von der Frau und dem Mädchen die Rede ist. […]Die Situation Israels ist bestimmt von einer verzweifelten Suche nach Heilung und nach Leben.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 18 - 3. Korrektur 18 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Zum Thema ist bei den Toten, die zum Leben aufstehen. Der Text insistiert darauf, dass die Macht des Imperiums Jesus dem Befreier nicht wird standhalten können. Markus schreibt als ein kolonisiertes Subjekt mit einer Haltung des Widerstands gegen das Imperium. Man kann sogar sagen: »Die markinische Geschichte wurde zuerst unter ›nichtoffiziellen‹ Leuten erzählt, die ein Vergnügen daran hatten, dass über einen offiziell-römischen, jüdischen oder apostolischen ›Glauben‹ nichts verlautet« 22 . An dieser Stelle fragen wir: Warum wird die kolonisierte israelitische Nation als Frau dargestellt? Ist ein solches ideologisches Interpretament dazu angetan, Frauen zu ermächtigen oder ihre Machtlosigkeit zu festigen? An anderer Stelle habe ich die These geäußert, dass koloniale Narrative von Unterdrückung und Widerstand dazu neigen, anhand des weiblichen Körpers ihre Agenda von Herrschaft zu artikulieren, dass sie aber, wo immer sie diese Metaphorik verwenden, zugleich auch der Unterordnung der Frau das Wort reden. 23 Man kann angesichts der weiblichen Symbolik von Unterdrückung immerhin erfreulich finden, dass der besessene Gerasener hierzu ein Gegengewicht darstellt. Doch steht er eher für das Imperium selbst, während die Frau und das Mädchen die Unterdrückten und kolonisierten repräsentieren. Aber auch dann gilt: Das markinische Narrativ veranschaulicht in gewisser Weise, dass Imperialismus in den kolonisierten Gebieten Männer und Frauen gleichermaßen unterdrückt. Die kolonisierten Völker koexistieren mit Krankheit und bewegen sich am Rande des Todes. Dennoch befördert die der Geschichte inhärente gender-Ideologie die Unterordnung von Frauen, und zwar im Einklang mit vielen postkolonialen Aktivisten, die auf dem Standpunkt stehen »die wichtigen Dinge zuerst«, die also der Befreiung vom Imperialismus gegenüber dem feministischen Kampf um gender-Ermächtigung den Vorrang geben. 24 Dass eine kolonisierte Nation mit einer kranken, der Heilung bedürftigen Frau identifiziert wird, zeigt, dass die Geschichte einer patriarchalischen Gesellschaft entstammt, in der »Land« und »weiblicher Körper« gleichgesetzt werden. Außerdem wird deutlich: Kolonisierung toleriert man nicht, dem Patriarchat hat man sich dagegen weitgehend angepasst. Das unterstreicht, so meine ich, die Notwendigkeit einer feministischen Analyse der Geschichte, die darin enthaltene gender-Konstruktionen ebenso aufspürt wie Zeichen der Hoffnung, jenen Konvergenzpunkt, der uns erlaubt, gender-spezifischer Unterdrückung ebenso zu entkommen wie den Zwangsverhältnissen von Kolonisierung und Globalisierung. 3. »Talitha kum! « Eine feministische Geschichte vom Aufstehen aus dem Tod Wenn wir die narrative gender-Analyse einer Geschichte durchführen, dann fragen wir, (a) aus welchen Gründen Männer und Frauen auf welche Weise charakterisiert werden. 25 Wir fragen, (b) ob sie Namen tragen und (c) welches ihre sozialen Rollen sind. Wir untersuchen, (d) was sie sagen und was sie nicht sagen, ob es sich (e) um Haupt- oder Nebenrollen handelt, und wir fragen, (f ) wie diese Charakterisierungen gender-Ideologie reflektieren. Plot und setting befragen wir (g) danach, wo Männer und wo Frauen auftreten, und ob und wann dies etwas mit gender-Konstruktionen zu tun hat. Feministische Lektüren fragen außerdem (h) nach Ansätzen von genderempowerment von Männern und Frauen. Ich wende mich nun Mk 5,21-43 zu und wende einige dieser Fragen auf den Text an, um gender-Konstruktionen zu untersuchen und Möglichkeiten einer feministischen Neuinterpretation zu erkunden. Ich beginne damit, alle auftretenden Frauen zu identifizieren und sie aus narrativer Perspektive einer feministischen gender-Analyse zu unterziehen. Drei Frauen treten in der Geschichte auf: die an Blutungen leidende Frau, das sterbende Mädchen und ihre Mutter. Frauen aus der Volksmenge und den Klagenden in Jairus’ Haus 26 bleiben ungenannt, und auch die drei anderen tragen keine Namen. Zwei von ihnen werden anhand dessen bezeichnet, des sie bedürfen, während die dritte als Mutter des Kindes eingeführt wird und implizit als Frau des Jairus. Keine hat eine öffentliche soziale Rolle inne. Beide, Tochter und Mutter, halten sich im gender-spezifischen Raum des Hauses auf. Soziale Geltung wächst beiden ausschließlich durch ihre Beziehung zum Synagogenvorsteher Jairus zu. Anders die an Blutungen leidende Frau: Sie tritt in einem öffentlichen Raum auf, inmitten einer Menschenmenge, wo sie sich eigentlich gar nicht aufhalten darf, gemessen an ihrer krankheitsbedingten Unreinheit. Wie Bonnie Thurston feststellt, ist die »Frau vierfach marginalisiert: Sie ist weiblich, sie ist ohne männlichen Beistand, sie hat keine finanziellen Ressourcen, und sie unterliegt dem Blut-Tabu« 27 . Sie setzt sich über rituelle Reinheitsbestimmungen hinweg, vielleicht aus Verzweiflung, und de facto schloss ihre Krankheit eine Heirat aus. Nun zu dem, was die Frauen tun und sagen: Wir stellen fest, dass die Mutter und die Tochter nirgends auch nur ein Wort sagen. Jairus spricht für sie und Jesus spricht zu dem toten Mädchen. Was ihr Handeln betrifft, so stellen wir uns die Mutter am besten als diejenige vor, die sich um das im Sterben liegende Kind kümmert. Sie sagt aber nie ein Wort. Das »Handeln« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 19 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 19 Musa Dube Markus 5,21-43 in vier Lektüren der Tochter, wenn man das denn so nennen will, besteht darin, dass sie im Sterben begriffen ist und dies auch zu Ende bringt. Außerdem hört sie die Stimme Jesu, sie wacht auf und läuft herum. Aber sie redet nicht. Dagegen handelt die an Blutungen leidende Frau, indem sie den Entschluss fasst, sich Jesus von hinten zu nähern und seine Kleider zu berühren. Sie hat gewiss nicht um Erlaubnis gefragt und hofft dementsprechend, unbemerkt zu entkommen. Um geheilt zu werden, nimmt sie es auf sich, kulturelle Barrieren zu unterlaufen, die ihr wegen ihrer Krankheit und der ihr zugeschriebenen Unreinheit untersagten, in der Öffentlichkeit zu erscheinen und mit anderen Leuten in Verbindung zu treten. Als Jesus nachforscht, wer ihn berührt hat, tritt sie nach vorn, wenngleich mit Furcht und Zittern, und erzählt ihre Geschichte. Diese Handlungen charakterisieren sie. Was ihre Worte betrifft, so fällt auf, dass am Anfang ein Selbstgespräch steht. Zuerst erfahren wir, dass sie in Jesu Nähe gelangt, weil sie sagt: »Wenn ich auch nur seine Kleider anrühre, werde ich gesund werden« (V. 28). Dies sind also Worte, die nicht hörbar über ihre Lippen kommen. Die zweite Gelegenheit zur öffentlichen Rede bietet sich, als sie nach vorn tritt, um ihre Geschichte zu erzählen. Der Erzähler notiert an dieser Stelle, dass sie Jesus »die ganze Wahrheit« erzählt habe. Was diese Wahrheit alles umfasste, bleibt unausgesprochen. Am Ende verstummt sie. Und: Der Erzähler gestattet ihr nicht, in direkter Rede zu sprechen. Insofern kann man sagen, dass auch ihre Tat, sich Jesus von hinten zu nähren, um geheilt zu werden, den gender-spezifischen Vorgaben stiller Unterordnung Rechnung trägt. Wenden wir uns nun den Männern der Erzählung zu: Jesus, Jairus, Petrus, Jakobus und Johannes sowie die aus der Volksmenge, die Boten und ein Teil der Klagenden. Bemerkenswert ist: Die individuell auftretenden Männer werden mit Namen genannt. Jesus hat außerdem einen hohen sozialen Status als berühmter Heiler, der von einer Menschenmenge belagert wird. Er hat seherische Fähigkeiten, denn er weiß, dass er in einer Kraft übertragenden Weise berührt wurde. Jairus ist ein Synagogenvorsteher, während Petrus, Jakobus und Johannes ihren Status daraus gewinnen, Anhänger eines berühmten Lehrers zu sein. Sie sind privilegierte Geheimnisträger (Mk 4,11), und als Schüler ihres Meisters können sie eines Tages so gut sein wie er oder ihn gar übertreffen. Betreffs der Worte und Handlungen beginnen wir mit Jairus. Er kommt zu Jesus, wirft sich vor ihm nieder, spricht zu ihm und bittet um die Heilung seiner Tochter. Die Bitte wird uns im Wortlaut mitgeteilt. Jarius spricht frei heraus. Im Vergleich mit der an Blutungen leidenden Frau treten die gender-spezifischen Unterschiede klar zutage: Beide sind auf eine Heilung Jesu angewiesen, doch Jairus tritt vor aller Augen direkt auf ihn zu und formuliert klar seine Notlage, während die Frau sich genau gegenteilig verhält: Sie kommt unbemerkt von hinten, sagt zu Jesus kein Wort, und zieht es vor, in aller Stille und Unauffälligkeit Heilung zu erlangen. Erst als nach ihr geforscht wird, gibt sie sich unter Furcht und Zittern zu erkennen, womöglich in der Erwartung, festgenommen zu werden. Was Jesus betrifft, so scheint er lauter Dinge zu tun, die ihm ein derart großes Gefolge beschert haben. Seine Taten werden uns beispielhaft anhand zweier Heilungswunder vor Augen geführt. Ja, er hat sogar Macht über den Tod. Jesus spricht. Er nimmt sich heraus, zu sagen, jemand habe ihn berührt, auch wenn die Bemerkung den Umstehenden lächerlich erscheint. Er nimmt sich heraus, Jairus zu sagen, er solle sich nicht fürchten, wo dessen Tochter doch gerade für tot erklärt wurde. Er nimmt sich heraus, den Weinenden und Klagenden die höchst erstaunlichen Worte ins Gesicht zu sagen: »Was lärmt und weint ihr? Das Kind ist nicht gestorben, sondern es schläft«. Und er nimmt sich heraus, zu einem toten Mädchen zu sagen: »Talitha kum! «. Alle vier Äußerungen Jesu stehen in engem Zusammenhang mit plot und setting: Sie stellen ihn vor als Wesen mit übermenschlichen Fähigkeiten. Er ist von göttlicher Art, oder, mit Markus gesprochen, er ist mit Staunen erregender Macht ausgestattet. Die Jünger, als Handlungssubjekte betrachtet, sind mit Jesus unterwegs. Ihre bloße Stellung als Schüler impliziert, dass sie privilegiert sind, von ihm zu lernen und sich seine Fähigkeiten anzueignen (Mk 4,34). Als sie Jairus’ Haus erreichen, dürfen einige von ihnen Jesus zu dem toten Mädchen begleiten. Sie nehmen sich die Freiheit, Jesu Frage, wer seine Kleider berührt habe, angesichts der ihn umdrängenden Menge als kurios zu bezeichnen. Die bisherigen Beobachtungen zeigen in aller Deutlichkeit: Eine feministische Analyse präpariert männliche und weibliche Erzählfiguren heraus, die gender-spezifisch scharf konturiert sind. Wenn Frauen gerettet werden, dann nicht ohne sie in ihre gender-definierten Schranken zu weisen. Dann aber stellt sich die Frage: Kann diese Geschichte so gelesen werden, dass sie über die Offenlegung gender-spezifischer Ungleichheit hinaus genderempowerment aus sich heraussetzt? Viele feministische Analysen des Textes sprechen für sich: Teresa Okure meint, dass »es ihre Entschlossenheit ist, die diese Frau auszeichnet, ihre Entschlossenheit, geheilt zu werden und ihren rechtmäßigen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Dadurch war sie imstande, es mit der Menschenmenge aufzunehmen, sich zu Jesus durchzuschlagen und ihn zu berühren« 28 . Nach Joana Dewey »verlangt Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 20 - 3. Korrektur 20 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Zum Thema sie nach Heilung und nimmt sie sich, ohne jemanden um Erlaubnis zu bitten, und sie verletzt Tabus durch ihren öffentlichen Auftritt« 29 . Bonnie Thurston lobt sie dafür, dass sie »soziale Konventionen und […] das Blut-Tabu« gebrochen hat. 30 Für Pheme Perkins »ist die Frau eine Heldin der Hartnäckigkeit und des Glaubens« 31 , »ihre Heilung ist«, so Mary Ann Tolbert, »allein ihre eigene Initiative« 32 . Ihre Eigenständigkeit wird außerdem nach verbreiteter feministischer Sicht durch die Antwort Jesu noch unterstrichen. Teresa Okure konstatiert: Jesus »hat sie nach vorn geholt, sie zu einer öffentlichen Person gemacht, sie ›Tochter‹ genannt und sie in Frieden ihres Weges gehen lassen« 33 . Bonnie Thurston notiert, dass Jesus »an einem öffentlichen Platz mit der Frau spricht« und »sie ›Tochter‹ nennt, sie also als vollwertiges Mitglied seines Volkes anspricht« 34 . Joana Dewey geht noch einen Schritt weiter, wenn sie mutmaßt, dass »ihre Aktion dem markinischen Jesus geholfen hat, sich von patriarchalen Kulturmustern männlicher Privilegierung zu befreien« 35 . Wichtig ist, dass sich feministische Analysen im Blick auf die in dieser Geschichte enthaltenen patriarchalen und kolonialen Ideologeme selbst kritisch prüfen. Während westliche feministische Lektüren den Besessenen in Mk 5,1-20 mit Kolonialismus assoziieren, sind sie weniger mitteilsam, sobald es um die an Blutungen leidende Frau und die sterbende Tochter geht. Geht man von der Identifikation von »Land« und »Frau« aus, dann stellt sich die Frage, ob die Heilung der Israeliten von der römischen imperialen Unterdrückung auch die gender-Beziehungen unter den Israeliten heilt. Die Historie bestätigt dies jedenfalls nicht. 36 Problematisch ist auch, dass sich die meisten feministischen Rekurse auf diese Geschichte auf gender-empowerment konzentrieren und die Symbolik des weiblichen Körpers im Zusammenhang internationaler Unterdrückung außer Acht lassen. Die meisten Frauen leiden aber weltweit gleichermaßen unter kolonialen und patriarchalen Systemen. 4. »Talitha kum! « Eine HIV/ AIDS- Geschichte vom Aufstehen aus dem Tod zum Leben Nach drei Jahrzehnten im Zeichen der HIV/ AIDS- Epidemie ist hinlänglich bekannt, dass es sich um eine Epidemie im Kontext anderer sozialer Epidemien wie Armut, Ungleichheit der Geschlechter, Gewalt, globaler Ungerechtigkeit und mannigfaltiger Diskriminierung nach Alter, Abstammung, ethnischer Zugehörigkeit und sexueller Orientierung handelt. 37 Individuen, Gemeinschaften und Volksgruppen, deren Menschenrechte missachtet werden, sind in erhöhtem Maße anfällig für die Infektion, bedingt durch ein mangelhaftes Gesundheitssystem und durch den fehlenden Zugang zu verfügbaren Medikamenten. Es ist mittlerweile weithin anerkannt, dass es bei HIV/ AIDS nicht einfach um individuelle Moral geht. Es geht auch um soziale Ungerechtigkeit, die Menschen den Zugang zu Informationen verwehrt oder aber ihnen das Recht abspricht, auf der Grundlage dieser Informationen selbst Entscheidungen zu treffen, die dem eigenen Schutz und längerem Leben dienen. HIV/ AIDS handelt auch von globaler Ungerechtigkeit. Es geht um eine Globalisierung, die sozialstaatliche Belange wie Gesundheit und Bildung zunehmend privatisiert, kommerzialisiert und verknappt, und die unsichere und familienzerstörende Beschäftigungsverhältnisse etabliert. 38 Die Globalisierung forciert die Feminisierung der Armut, und sie verändert die Geschlechterbeziehungen zu Lasten der Frauen, und zwar auch dadurch, dass patriarchale und religiöse Traditionen die Globalisierung als Bedrohung wahrnehmen und den erzeugten Druck an die Frauen weitergeben. 39 »Die Globalisierung ist eine anti-soziale Kraft, die Armut verschlimmert, Mobilitätszwänge verstärkt, Sex-Tourismus befördert und damit den Nährboden für die Ausbreitung von HIV/ AIDS bereitet« 40 . HIV/ AIDS hat wesentlich etwas mit ungerechten internationalen Beziehungen zu tun, die die ökonomische Lebensfähigkeit einiger Länder praktisch zum Erliegen gebracht haben. HIV/ AIDS hat etwas damit zu tun, dass Ländern der Zweidrittelwelt die Lizenzen für verfügbare Medikamente zur Behandlung HIV/ AIDS-affiner Infektionen verweigert werden, während täglich Menschen sterben. HIV/ AIDS handelt von ungleichen Geschlechterbeziehungen, die es Frauen unmöglich machen, auf safer sex zu beharren, enthaltsam zu sein oder aber im Schutz gegenseitiger Zuverlässigkeit zu leben. Es geht um die Machtlosigkeit von sexuell missbrauchten, stigmatisierten und ausgebeuteten Waisenkindern. Es geht um die Stigmatisierung und Diskriminierung der Infizierten und ihrer Familien. HIV/ »Problematisch ist […], dass sich die meisten feministischen Rekurse auf diese Geschichte auf gender-empowerment konzentrieren und die Symbolik des weiblichen Körpers im Zusammenhang internationaler Unterdrückung außer Acht lassen. Die meisten Frauen leiden aber weltweit gleichermaßen unter kolonialen und patriarchalen Systemen.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 21 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 21 Musa Dube Markus 5,21-43 in vier Lektüren AIDS handelt auch vom Rassismus, der viele dieser Entwicklungen begünstigt. HIV/ AIDS hat außerdem etwas zu tun mit Bürgerkriegen, in denen Frauen vergewaltigt werden und staatliche Fürsorge zum Erliegen kommt. Es geht um die Zwänge heterosexueller Normativität, die Menschen mit abweichender sexueller Orientierung von medizinischer Versorgung ausschließt und ihnen verwehrt, ihre sexuelle Identität frei zu leben. Mit einem Wort: Der Nährboden für HIV/ AIDS besteht in den sozialen Missständen, die in unseren Hinterhöfen ungehindert gedeihen. Zugleich tun wir gut daran, uns zu vergegenwärtigen, dass HIV/ AIDS eine abwendbare und beherrschbare Epidemie ist, sobald wir die sozialen Probleme angehen, die sie begünstigen. Eine postkoloniale und feministische Lektüre von Mk 5,21-43 im Horizont von HIV/ AIDS sucht nach dem Schnittpunkt von internationalen Beziehungen, Ungleichheit der Geschlechter und dem Kampf gegen HIV/ AIDS, um etablierte Unterdrückungsstrukturen namhaft zu machen und eine neue Geschichte des Aufstehens vom Tod zu erzählen 4.1 Mk 5,21-43 und HIV/ AIDS: Zusammenschau zweier Geschichten Liest man Mk 5,21-43 aus der Sicht von HIV/ AIDS, stößt man auf mehrere Gemeinsamkeiten, etwa die Entsprechung zwischen internationaler Ungerechtigkeit bzw. Kolonialismus und einer Krankheit, die die Unterdrückten angreift. Ebenso fördert soziale Ungleichheit HIV/ AIDS bei den Unterprivilegierten. Das ist so, weil unter den Bedingungen politischer und ökonomischer Unterdrückung weder eine stabile Gesundheitsversorgung noch eine tragfähige Wirtschaft möglich ist. Es ist dann nicht möglich, die vorhandenen Ressourcen zum Wohl der eigenen Bevölkerung zu nutzen. In beiden Geschichten stoßen wir auf Patienten/ Nationen, die schon lange krank sind und deren Zustand sich, obwohl sie all ihren Besitz darauf verwendet haben, gesund zu werden, ständig verschlechtert. Wir treffen auf Patienten/ Nationen, die hochgradig stigmatisiert und von anderen Nationen aus Gesundheitsgründen für unrein erklärt werden. Wir treffen auf qualifizierte Ärzte, die sich um die Kranken kümmern, Geld dafür nehmen, sie aber nicht heilen können, sondern ihren Zustand noch verschlimmern. Wenn wir Mk 5,21-43 aus der Sicht von HIV/ AIDS lesen, sind wir berührt von den kranken und sterbenden jungen Leuten/ Völkern. Verzweifelte Eltern/ Menschen in sozialer Verantwortung, die nach Heilung suchen für ihre Kinder/ Gesellschaften, spielen in beiden Geschichten eine Rolle. Nationen weinen laut um ihre sterbenden Kinder. Die Lesenden treffen auf kranke und arme Frauen/ Nationen und Kinder, die kein Recht auf freie Rede haben. Wir sind betroffen von fürsorglichen Frauen, die Zuhause sitzen und sich still um ihre Kinder sorgen und auf Hilfe warten, so lange warten, bis ihre Kinder sterben. Wenn die Zwölfzahl in Zusammenhang mit der Frau und dem Mädchen auf die international/ kolonial unterworfene Nation Israel anspielt, dann sind postkoloniale feministische Leserinnen, zu denen ich mich zähle, von ihrer eigenen Geschichte des Kolonialismus, des Neo-Kolonialismus und der Globalisierung herausgefordert, die sie zu Mitbewohnerinnen von Krankheit und Tod gemacht hat. Aber wiederum: Wichtig ist der Unterschied, den Jesus gebracht hat. Als Befreier bringt Jesus Heilung. Er treibt Legion/ das römische Imperium aus einem dämonisch besessenen und kranken Mann aus und jagt diese Macht in die Schweineherde. Die an Blutungen leidende Frau, die zwölf Jahre lang ohne jeden Erfolg nach Heilung gesucht hat, wird plötzlich gesund und gehört als »Tochter« wieder vollgültig der Gemeinschaft an. Mehr noch, Jesus bricht das Schweigen und die, die sich bisher verborgen hielt, animiert er dazu, öffentlich ihre Geschichte zu erzählen. Belastete, ausgebeutete, kranke und stigmatisierte Patienten/ Nationen können Jesus berühren und geheilt werden. Wo globale Ausbeutung Völker an den Rand des Todes gebracht und in ein Dasein in Krankheit und Stigmatisierung gebannt hat, eröffnet Jesus den Lebensraum einer neuen Familie, wo die Ausgebeuteten und Unterdrücken als Töchter willkommen geheißen und nicht etwa wegen ihres blutenden/ kolonisierten Zustandes ausgeschlossen werden. Der Unterschied, den Jesus in eine Situation der Verzweiflung bringt, rührt daher, dass er sich darauf einlässt, mit den Leidenden auf ihrer Suche nach Heilung solidarisch zu sein und so Hoffnung in die Hoffnungslosigkeit zu bringen. Er weckt Hoffnung, wenn er zu dem angstvollen Vater sagt: »Habe keine Furcht. Nur dies: Glaube! «. Hoffnung wird geweckt, wenn er die Klagenden zum Lachen bringt und wenn er ein kleines Mädchen ins Leben zurück ruft und sie aufsteht und anfängt umherzulaufen! Jesus macht einen riesigen Unterschied, wenn er die todbringenden Mächte patriarchaler und kolonialer Unterdrückung besiegt, die physische, geistige und soziale Körper angreifen. Das heißt Befreiung: Befreiung, die die Ketten patriarchaler und kolonialer internationaler Beziehungen zerreißt und Heilung für Individuen und Gemeinschaften bringt. Die Herausforderung hierbei ist: Wie können christliche Leserinnen und Leser des Neuen Testaments Teil Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 22 - 3. Korrektur 22 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Zum Thema einer feministischen, postkolonialen Suchbewegung werden, die sich an den harten Fakten von HIV/ AIDS bewährt? Wie können sie sich denen zur Seite stellen und mit ihnen leiden, die von HIV/ AIDS betroffen sind, und so für Hoffnung und Leben das Wort ergreifen inmitten von Verzweiflung und Tod? Wie kann ihre Beziehung zu Jesus, sei es als Individuen oder Gemeinschaften, als Akademiker oder Kirchen, eine Kraft aus sich heraussetzen, die die Bande des Todes sprengt- - koloniale, patriarchale und durch HIV/ AIDS manifeste Ausbeutung und Unterdrückung-- und Heilung bringt? Ich habe hierzu keine einfache Formel parat, bin mir aber völlig sicher, dass genau dies unser aller Pflicht ist, die wir in einer von HIV/ ADIS geprägten Zeit leben, und die wir das Neue Testament lesen auf der Suche nach Heilung und Befreiung. Das ist-- das sollte sein! -- ein wesentlicher Teil unseres Lernens, Lebens, Forschens, Schreibens und Lehrens im akademischen Alltag 41 und in unseren Glaubensgemeinschaften 42 , damit wir Hoffnung, Heilung, und Leben in eine Welt bringen, die so oft vom Tode überschattet ist. Wer nicht in seiner unmittelbaren Umgebung von HIV/ ADIS betroffen ist, kommt gleichwohl um die Frage nicht herum, wie patriarchale Strukturen und ungerechte internationale Beziehungen des eigenen Landes zu den Krankheiten anderer Länder und Regionen und der dort lebenden Menschen beitragen. Man ist dann vor die Frage gestellt, wie die eigene Wirtschaft und Politik viele andere Nationen ausbluten und sterben lässt, die die heilende Berührung der Gerechtigkeit so dringend brauchen. Noch wichtiger aber ist: Wie kann es geschehen, dass wir die Rolle dessen übernehmen, der in einer Zeit der HIV/ AIDS-Epidemie und der sozialen Unterdrückung den Sterbenden und Toten »Talitha kum! « zuruft? Anmerkungen 1 M. W. Dube, Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, St. Louis 2000, 127 f. 2 M. A. Tolbert, Protestants Feminists and the Bible: On the Horns of a Dilemma, in: A. Bach (Hg.), The Pleasures of Her Text: Feminist Readings of Biblical and Historical Texts, Philadelphia 1990, 5-23. 3 Global Report: UNAIDS Report on the Global AIDS Epidemic 2013, Genf UNAIDS, 2013, 8-22. 4 UNAIDS Report (s. Anm. 3), 4. 5 M. W. Dube, Re-reading the Bible: Biblical Hermeneutics and Social Justice, in: E. Katongole (Hg.), African Theology Today Bd. 1, Scranton 2002, 57-68: 65 f. 6 M. A. Oduyoye (Hg.), Talitha kum! , Ibadan 1997; T. Okure, The Will to Arise: Reflections on Luke 8: 40-56, in: M.A. Oduyoye/ M. Kanyoro (Hgg.), The Will to Arise: Women, Tradition and the African Church, New York 1992, 221-230; N. Njoroge/ M. W. Dube (Hg.), Thalitha Cum! Theologies of African Women, Pietermaritzburg 2001. 7 M. W. Dube, Fifty Years Of Bleeding: A Storytelling Feminist Reading of Mark 5: 24-43, in: M. W. Dube (Hg.), Other Ways of Reading: African Women and The Bible, Atlanta 2001, 50-62. 8 E. S. Malbon, Narrative Criticism: How does the Story Mean? , in: J. C. Anderson/ S. Moore (Hgg.), Mark and Method: New Approaches in Biblical Studies, Minneapolis 1992, 23-49: 24. 9 M.A. Powell, The Gospels: Fortress Introduction, Minneapolis 1998. 10 R. S. Sugirtharajah (Hg.), The Postcolonial Bible, Sheffield 1998; M. W. Dube, Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, St. Louis 2000; L. Donaldson (Hg.), Semeia 75: Postcolonialism and Scriptural Reading, Atlanta 1994; F. Segovia, Decolonizing Biblical Studies: A View from the Margins, Maryknoll 2000. 11 M. W. Dube/ J. Staley, Descending From and Ascending into Heaven: A Postcolonial Analysis of Travel, Space and Power in John, in: M. W. Dube/ J. Staley (Hgg.), John and Postcolonialism: Travel, Space and Power, Sheffield 2002, 1-10: 8 f. 12 Vgl. Dube, Re-reading the Bible (Anm. 5), 57. 13 Powell, Gospels (Anm. 9), 40-50. 14 J. Dewey, The Gospel of Mark, in: E. Schüssler Fiorenza (Hg.), Searching the Scriptures 2, A Feminist Commentary, New York 1994, 470-509: 481. 15 P. Perkins, Mark, in: The New Interpreters Bible, Nashville 1995, 507-734: 584 16 Perkins, Mark (Anm. 15), 538. 17 P. Stoller, Embodying Colonial Memories: Spirit Possession, Power and the Hauka in West Africa, New York 1995. 18 T.S. Maluleke, Bible Study: The Graveyard Man, The Escaped Convict and The Girl-Child: A Mission of Awakening, An Awakening of Mission, in: International Review of Mission 91 (2002), 550-57: 554. 19 Perkins, Mark (Anm. 15), 584. 20 Dewey, Gospel (Anm. 14), 481. 21 Dewey, Gospel (Anm. 14), 480. 22 B. Thurston, The Women in the New Testament: Questions and Commentary, New York 1998, 66 f. 23 M. Dube, Postcolonial Feminist Interpretation (Anm. 1), 117-124. 24 A. a. O., 111-115. 25 J. C. Anderson, Feminist Criticism: The Dancing Daughter, in: J. C. Anderson/ St. Moore: Mark and Methods: New Approaches in Biblical Studies, Minneapolis 2008, 29-58; Ch. J. Exum, Feminist Criticism: Whose Interests are Served? , in: G. Yee (Hg.), Judges and Method: New Approaches to Biblical Studies, Minneapolis 1995, 65-90. 26 Dewey, Gospel (Anm. 14), 481. 27 B. Thurston, The Women in the New Testament: Questions and Commentary, New York 1998, 71. 28 T. Okure, The Will to Arise: Reflections on Luke 8: 40-56, in: M. Oduyoye/ M. Kanyoro (Hgg.), The Will to Arise: Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 23 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 23 Musa Dube Markus 5,21-43 in vier Lektüren Women, Tradition and the African Church, New York 1992, 221-230: 227. 29 Dewey, Gospel (Anm. 14), 481. 30 Thurston, Women (Anm. 27), 71. 31 Perkins, Mark (Anm. 15), 590. 32 M.A. Tolbert, Mark in The Women’s Bible Commentary, Knoxville 1992, 268. 33 Okure, The Will to Arise (Anm. 28), 229. 34 Thurston, Women (Anm. 27), 71. 35 Dewey, Gospel (Anm. 14), 482. 36 Dube, Postcolonial Feminist Interpretation (Anm. 1), 111-115. 37 Botswana Human Development Report 2000: Towards and AIDS-Free Generation, Gaborone: UNDP & Botswana Government, 2000, 26-37. 38 K. R. Overberg, Jesus, the Leper, and HIV and AIDS: Suffering, Solidarity and Structural Transformation, in: G. Göran, Vulnerability, Churches and HIV, Oregon 2009, 33-51: 37 f. 39 A.-G.Garba/ K.P. Garba, Trade Liberalization, Gender Equality and Adjustment Policies in Sub-Saharan Africa«, in: Y. Fall (Hg.) Africa: Gender, Globalization and Resistance, New York 1999, 7-40: 24-27. 40 Theological Challenges: Proclaiming the Fullness of Life in the HIV/ AIDS & Global Economic Era, International Review of Mission 91 (2002b): 535-49, 536. 41 M. Dube, Healing Where There is No Healing: Reading the Miracles of Healing in an AIDS Context, in: G. Phillips/ N.W. Duran (Hg.), Reading Communities Reading Scripture: Essays in Honor of Daniel Patte, Harrisburg 2002, 121-133. 42 M. W. Dube, Introduction: Little Girl Get Up, 3-24, in: N. Njoroge/ M. Dube (Hgg.), Talitha cum: Theologies of African Women, Pietermaritzburg 2001. Phi l i ppe Kneubühl er Theologie des Wortes und Sakramentenlehre im Johannesevangelium 2013, 193 Seiten, €[D] 49, 00/ SFr 65, 50 I SBN 978-3-7720-8463-8 A. Francke Verlag • Di schi ngerweg 5 • D-72070 Tübi ngen • Tel . +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 • www. francke. de Di e Frage des Sakramentenverständni sses i m J ohannesevangel i um i st seit l angem bei den Exegeten umstritten. Di ese Stu di e versucht ei ne Antwort aus der neuen Perspekti ve ei ner synchroni schen Si chtwei se zu fi nden, di e von der H ypothese der Kohärenz des textus receptus ausgeht.