eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 17/33

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2014
1733 Dronsch Strecker Vogel

Christian Schramm Im Alltag liest man die Bibel anders als an der Uni!?

2014
Christian Schramm
Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 2 - 3. Korrektur 2 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Wenn heutzutage über das Selbstverständnis wissenschaftlich-universitärer Exegese nachgedacht wird, dann wird die eigene Identität immer noch gerne durch Abgrenzung gewonnen. Wissenschaftliche Bibelauslegung wird definiert qua Negation: Sie ist eben etwas grundlegend anderes als alltägliche Bibelauslegung. Dabei spielt ein Wissensvorsprung der »Profis« gegenüber den »Laien« meist eine wichtige Rolle. Und nicht selten findet sich auch methodisches Arbeiten als Unterscheidungsmerkmal angeführt, oft zugespitzt auf historisch-kritisches Vorgehen, womit die methodische Pluralität innerhalb der wissenschaftlichen Exegese selbst zugunsten einer unwirklichen Eindimensionalität geleugnet wäre. 1 Aber abgesehen davon stellt sich die Frage, ob diese Dichotomie von wissenschaftlicher Exegese auf der einen und alltäglicher Bibelauslegung auf der anderen Seite überhaupt ihre Berechtigung angesichts der konkreten exegetischen Praxis hat: Wird die Bibel an der Universität wirklich fundamental anders gelesen als in alltäglichen Kontexten? Ist es hierbei das historisch-kritische Vorgehen bzw. Bewusstsein, das die entscheidende Demarkationslinie ausmacht? Und weitergefragt: Welchen grundsätzlichen Nutzen kann die wissenschaftliche Exegese selbst aus der Beschäftigung mit Alltagsexegesen ziehen, sprich: Inwiefern zahlt sich ein empirical turn in der Exegese aus? Diesen Fragen nachzugehen, birgt ein gewisses Risiko, rühre ich damit als Exeget doch an seit Jahrhunderten gehegten und gepflegten Grundüberzeugungen und stelle mich selbst ebenso in Frage wie die gesamte Zunft. Aber: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. 1. Entdeckt: Alltagsexegesen als Forschungsgegenstand-- ein Weg aus der Sackgasse? 1.1 Ein überschaubarer Forschungsstand in explizit exegetischer Hinsicht Während wissenschaftliche Exegetinnen und Exegeten durch die Geschichte der Exegese hindurch immer wieder über sich selbst und das eigene Tun nachgedacht und somit das exegetische Geschäft hermeneutisch reflektiert haben, ist der exegetisch forschende Blick auf Alltagsexegesen eher ein Projekt der jüngeren Zeit. Die Anfänge sind im Bereich der praktischen Theologie (Religionspädagogik, Pastoraltheologie) zu finden, wo z. B. das Verstehen bestimmter Textgattungen (beliebt sind Gleichnisse und Wundererzählungen) oder Prozesse im Religionsunterricht empirisch unter die Lupe genommen worden sind. Wenn man nach einem empirical turn in der Exegese Ausschau hält, dann steckt dieser sicherlich noch deutlich in den »Kinderschuhen«. Im engeren Kontext von wissenschaftlicher Exegese sind Alltagsexegesen nämlich bislang nur vereinzelt dezidiert zum Forschungsgegenstand gemacht worden, 2 was sicherlich mit dem Selbstverständnis des Mainstreams der exegetischen Wissenschaft zusammenhängt. Hier versteht man sich (noch) hauptsächlich als Anwälte des Textes, was sowohl historisch-kritisch als auch kanonisch oder synchronnarratologisch akzentuiert sein kann. Für heutige Bibelleseprozesse sind andere zuständig. Wenn die Rezeption biblischer Texte in den Blick kommt, dann meistens auch in historischer (z. B. Erstadressaten, Kirchenväter) oder theoretischer (Modellleser, impliziter Leser, Idealleser) Perspektive. Der heutige Leser, die heutige Leserin als konkrete Person wird eher selten in die exegetischen Überlegungen einbezogen-- leider. 1.2 Ein Aufbruch-- zumindest in Ansätzen Doch es mehren sich die Stimmen, die in dieser Haltung der exegetischen Wissenschaft sowohl eine vergebene Chance als auch ein grundlegendes Problem entdecken. Stellvertretend sei U. Luz zitiert, der bereits 2003 einen entsprechenden Wunsch äußerte: »Gemeinden sind ja hermeneutische Labors, die ›wilden Exegesen‹ bzw. die Applikationen der Bibel, welche in Bibelarbeiten ausgesprochen, in Bibliodramen gespielt, in Zeichnungen und auf Bildern gemalt werden, bieten hermeneutische Beobachtungsfelder von großer Bedeutung. […] Ich wünsche mir also Exegetinnen und Exegeten, welche sich für die Bibellektüren des ›ordinary reader‹ in den und außerhalb der Gemeinden interessieren, nicht, weil sie meist dankbare und interessierte Rezipient/ innen der Früchte exegetischer Arbeit sind, sondern weil sie uns hermeneutisch einiges lehren können.« 3 Christian Schramm Im Alltag liest man die Bibel anders als an der Uni! ? Von Alltagsexegesen als inspirierendem Lernfeld und den Chancen eines empirical turn in der Exegese Neues Testament aktuell Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 3 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 3 Christian Schramm Im Alltag liest man die Bibel anders als an der Uni! ? schließend ernst genommen werden. Wenn man sich universitär-exegetischerseits mehr Beachtung wünscht, so ist die umgekehrte Forderung wohl nicht vermessen: Die Beachtung heutiger Alltagsexegeten im Gefolge eines empirical turn als Voraussetzung dafür, selbst gegenwartsrelevant forschen und lehren zu können-- die Überwindung des Einbahnstraßendenkens als Weg aus der Sackgasse. 4 Dieses »erweiterte Selbstverständnis« 5 muss natürlich einhergehen mit einer grundsätzlichen wechselseitigen Wertschätzung sowie der Begegnung »auf Augenhöhe«. 2. Erforscht: Methodische Optionen und die Notwendigkeit von Interdisziplinarität Ist die vorstehende Option für die Einbeziehung von Alltagsexegesen in das wissenschaftlich-exegetische Forschen als sinnvoller und weiterführender Weg anerkannt, so stellen sich sogleich nicht einfach zu lösende Folgeprobleme: Wie soll ein analysierender Zugriff auf diese Alltagsexegesen gelingen? Diesbezüglich bietet die exegetische Wissenschaft, trotz all ihrem ausgefeilten Methodeninstrumentarium, keine anwendbare Handhabe. Von daher tut der methodische Blick über den Tellerrand hinaus not, ein interdisziplinäres Forschungsdesign ist unumgänglich: Empirische Erhebungsmethoden werden benötigt. Deren gibt es viele; bei der Erforschung von Alltagsexegesen kommen hauptsächlich zwei zum Einsatz: das (problemorientierte bzw. leitfadengestützte) Einzelinterview oder die Gruppendiskussion. In beiden Verfahren werden zumeist biblische Texte eingespielt (die Art der Einspielung variiert) und in der Folge die Rezeption bzw. das Verstehen dieser Texte durch heutige Leser-- z. T. in möglicher Abhängigkeit von Variablen (Geschlecht, Alter, Bildungsstand, religiöse Ausrichtung, psychologischer Typ) 6 - - analysiert. An dieser Stelle ein Werturteil zwischen Einzelinterview und Gruppendiskussion als Datenerhebungsmethode fällen zu wollen, ist nicht weiterführend: Jedes Verfahren hat seine Vor- und Nachteile und vermutlich ist eine wechselseitige Ergänzung und Bereicherung ein produktiv gangbarer Weg. Meine eigenen Forschungserfahrungen beruhen auf empirischem Material, das in einer interdisziplinär zusammengesetzten Forschungsgruppe mit- Dieser zehn Jahre alte Wunsch hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Und hier klingt eine entscheidende Erkenntnis an: Wissenschaftlich forschende Exegeten können von Alltagsexegesen u. U. viel lernen. Wir lassen ein vielversprechendes Forschungsfeld brach liegen, das zudem bei der Überwindung einer grundsätzlichen Krise der exegetischen Wissenschaft hilfreich in die Überlegungen einbezogen werden könnte. Dem vielerorts beklagten Relevanzverlust der universitären Bibelwissenschaft könnte offensiv und produktiv damit begegnet werden, dass die heutigen Bibelleserinnen und -leser zuerst einmal wahr- und an- Dr. Christian Schramm, Jahrgang 1977, geboren in Bamberg; 1998-2004: Studium der Katholischen Theologie in Bamberg, Jerusalem und Münster; 2004-2006: Wiss. Mitarbeiter im DFG-Forschungsprojekt »Bibelverständnis in Deutschland«; 2006- 2007: Studienassistent in Jerusalem; 2007 Promotion mit der Arbeit: »Alltagsexegesen. Sinnkonstruktion und Textverstehen in alltäglichen Kontexten. Gruppendiskussionen zu neutestamentlichen Texten auf sozialempirisch-rekonstruktiver Grundlage ausgewertet«; 2007-2013: Wiss. Mitarbeiter für Biblische Wissenschaften am Institut für Katholische Theologie und ihre Didaktik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; seit 2013: Dozent für theologische Fortbildung (Schwerpunkt: biblische Bildung) im Bischöflichen Priesterseminar Hildesheim und in der Arbeitsstelle für pastorale Fortbildung und Beratung; Leiter der Bibelschule Hildesheim. Forschungsschwerpunkte: Alltagsexegesen - alltägliche Sinnkonstruktions- und Textverstehensprozesse; Interpretation neutestamentlicher Texte vor ihrem zeit- und sozialgeschichtlichen Hintergrund; Schöpfungstheologie und Markusevangelium; Vermittlung theologischer, insbesondere exegetischer Erkenntnisse in außeruniversitären Kontexten Homepage: www.schrammchristian.de Christian Schramm »Dem vielerorts beklagten Relevanzverlust der universitären Bibelwissenschaft könnte offensiv und produktiv damit begegnet werden, dass die heutigen Bibelleserinnen und -leser zuerst einmal wahr- und anschließend ernst genommen werden.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 4 - 3. Korrektur 4 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Neues Testament aktuell tels des Gruppendiskussionsverfahrens erhoben wurde. 7 Dabei wurde nach einer einleitenden, leitfadengestützten Diskussionsphase zur Bibel im Allgemeinen mit zwei konkreten Texten gearbeitet: Mt 5,38-48 (»Von der Widervergeltung« und »Von der Feindesliebe«) und Mk 5,24b-34 (»Die Heilung der blutflüssigen Frau«). Zu diesen beiden Texten wurden Diskussionen in Gang gebracht, und zwar allein durch den Impuls: »Diskutieren Sie den Text, legen Sie den Text aus! Wie verstehen Sie diesen Text? « 2.1 Orientierungsrahmen, konjunktive Erfahrungsräume und die dokumentarische Methode der Interpretation-- Auswertung sozialempirisch In besagtem Forschungsprojekt ist aus verschiedenen Gründen mit dem Gruppendiskussionsverfahren gearbeitet worden. 8 Ein aus soziologischer Sicht entscheidender: Gruppendiskussionen eignen sich gut dazu, mithilfe der dokumentarischen Methode der Interpretation in der Entfaltung nach R. Bohnsack Orientierungsrahmen zu eruieren. 9 Das vierschrittige soziologische Auswertungsverfahren kann an dieser Stelle nicht näher erläutert werden; nur so viel: Es dient dazu, die drei Hauptbestandteile der Orientierungsrahmen zu ermitteln, nämlich positive und negative Gegenhorizonte sowie Enaktierungspotenziale (= Umsetzung einer Orientierung in Alltagshandeln). Und diese Orientierungsrahmen wiederum lassen Rückschlüsse zu auf die dahinter stehenden und die entsprechenden Menschen prägenden konjunktiven Erfahrungsräume. Konjunktive Erfahrungsräume entstehen durch gemeinsame bzw. strukturidentische (= gleichartige) Erlebnisschichtung; hierzu zählen Generationenzusammenhänge ebenso wie die gemeinsame Geschichte im Sportverein vor Ort. Innerhalb dieser Erfahrungsräume lebt, handelt, denkt man-- und versteht entsprechend auch Texte, sprich: konstruiert Sinn. Daher verspricht der Blick auf konjunktive Erfahrungsräume, vermittelt über die sozialempirisch rekonstruierbaren Orientierungsrahmen, spannende Hintergrundeinsichten, wenn es um das alltägliche Lesen und Verstehen biblischer Texte geht. Insgesamt zwölf nach Alter, Bildungsniveau, Geschlecht und Konfession verschiedene Gruppen sind im Rahmen des genannten DFG-Projektes be- und hinsichtlich ihres Bibelverständnisses untersucht worden. 2.2 Virtueller Hypertext, Methodeneinsatz und Lesestrategien-- Auswertung exegetisch Während für die Auswertung in sozialempirischer Perspektive grundsätzlich vielfältige Möglichkeiten in Frage kommen, steht man diesbezüglich in exegetischer Hinsicht vor der Herausforderung, entweder ein soziologisches Instrument entsprechend zu adaptieren oder eine eigene Auswertungsmethodik zu kreieren. Letzteres habe ich selbst unternommen. Die folgenden Ausführungen sollen ansatzweise das dynamische Wechselspiel zwischen leitenden Beobachtungen am empirischen Material und Methodenentwicklung widerspiegeln, womit natürlich erste Erkenntnisse aus der Beschäftigung mit Alltagsexegesen bereits eingestreut werden. Betrachtet man die Diskussionen der zwölf Gruppen zu den beiden biblischen Texten in einem ersten Überblick, so wird eines schnell deutlich: Obwohl allen Gruppen eine identische schriftliche Textvorlage an die Hand gegeben worden ist, wird noch lange nicht jeweils derselbe Text diskutiert. Jede Gruppe fängt beispielsweise bei einem anderen Vers an. Und verfolgt man den Weg der Gruppen durch den Text, so ist zu beobachten, dass für jede Gruppe ein eigener Text, ein virtueller Text -- gewissermaßen im Kopf der Diskutierenden-- entsteht. Die schriftliche Textvorlage wird dabei in einzelne Einheiten zerlegt, welche anschließend neu zusammengesetzt und gewissermaßen verlinkt werden. Auf diese Weise schafft sich jede Gruppe ihren eigenen Hypertext. Dieser aus der Computerwelt entlehnte Begriff ist für die vorliegende Problemstellung adaptiert worden. Im Hyperspace des PC-Universums versteht man unter einem Hypertext ganz allgemein ein »Medium der nicht-linearen Organisation von Informationseinheiten« 10 . Man klickt sich per Links einen eigenen Text zusammen. Genau dies tun die Gruppen im Prozess der Sinnkonstruktion auch, gewissermaßen virtuell. Bei dieser Hypertextkonstruktion beschränken sich die Diskussionsgruppen meist nicht rein auf die schriftliche Textvorlage. Verlinkungen erfolgen auch zu weiteren Texten (in einem weiteren Sinne verstanden), beispielsweise werden weitere Bibelstellen, Sprichworte, Liedtexte eingespielt. Dabei lassen sich unterschiedliche Intentionen ausmachen, mit denen die Gruppen zusätzliches Material in den eigenen Hypertext einbeziehen, u. a. unterstützen, widersprechen, verallgemeinern, in Frage stellen, ersetzen, ergänzen. »Obwohl allen Gruppen eine identische schriftliche Textvorlage an die Hand gegeben worden ist, wird noch lange nicht jeweils derselbe Text diskutiert.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 5 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 5 Christian Schramm Im Alltag liest man die Bibel anders als an der Uni! ? Zudem zeigt schon eine erste Materialsichtung, dass das auslegende Vorgehen der Gruppen sinnvollerweise nach methodischen Ansatzpunkten-- basierend auf einem weiten Verständnis von »exegetischen Methoden« (grundsätzlich differenziert nach textintern/ textextern)-- durchforstet werden kann. Hier deuten sich vielversprechende Resultate an. Mit diesen ersten Überlegungen sind bereits zwei Analyseschritte für das empirische Material erarbeitet: (A) Blick auf mögliches methodisches Vorgehen; (B) Hypertext(re)konstruktion. Wird noch die Analyse der Positionierung (C) einer Gruppe-- sprich: Wie verhält sich die Gruppe zum eigenen Hypertext? Womit bzw. mit welchen Figuren identifiziert sie sich? Wovon grenzt sie sich ab? -- hinzugenommen sowie die abschließende Frage nach einer Gesamtstrategie des Textverstehens (D), dann ist ein insgesamt vierschrittiges Instrumentarium entwickelt, mit dem das empirische Material intersubjektiv nachvollziehbar und methodisch kontrolliert ausgewertet werden kann. Alles in allem bin ich somit nicht mit der ›klassischen‹ Exegetenfrage »Verstehst du auch, was du liest? « (vgl. Apg 8,30) an die Alltagsexegesen herangegangen und auch die Kategorien »richtig/ falsch« spielten ausdrücklich keine Rolle, sondern das Forschungsinteresse lautete: »Wie verstehst du, wenn du liest-- und warum verstehst du so, wie du verstehst? « 3. Erkannt: Methodisches Vorgehen ab und an, subjektiv geprägte Lesestrategien immer Sollen die wesentlichen Erkenntnisse aus der Beschäftigung mit Alltagsexegesen kurz im Überblick dargestellt werden, so ist zum einen festzuhalten: Der Weg war das Ziel. Die vorstehend skizzierte vierschrittige Auswertungsmethodik stellt einen wesentlichen Forschungsertrag dar, da diesbezüglich in der exegetischen Forschungslandschaft eine Flaute zu konstatieren ist. Besonders die »Entdeckung« der Hypertextkonstruktion (inkl. Verlinkungstätigkeit) als wesentlicher Baustein der Sinnkonstruktion und des Textverstehens ist an dieser Stelle noch einmal hervorzuheben. Zum anderen sind einige Zentralpunkte zu nennen, die angesichts der eigenen Vorerwartungen einmal mehr, einmal weniger überraschend ausfallen. 3.1 Methodische Vielfalt-- zielgerichtet eingesetzt Beginnen wir mit dem (vielleicht) Unerwarteten: Methodisches Vorgehen spielt für einzelne Gruppen immer wieder eine wichtige Rolle. Entgegen der auch eingangs (s. o.) referierten und problematisierten Vorannahme ist methodisches Arbeiten auf keinen Fall ein exklusives Merkmal der wissenschaftlichen Exegese. Alltagsexegesen gehen immer wieder methodisch orientiert vor und sie weisen fast das gesamte Spektrum an methodischen Möglichkeiten (sowohl textintern/ synchron als auch textextern/ diachron) auf, das auch klassischerweise in der wissenschaftlichen Exegese Anwendung findet. Von daher kann in dieser Hinsicht nur bedingt davon gesprochen werden, dass die Bibel im Alltag grundsätzlich anders gelesen würde als an der Universität, auch wenn der eigene Methodeneinsatz den Alltagsgruppen meist nicht terminologisch reflektiert bewusst ist. De facto werden Methoden angewandt-- und zwar problemorientiert und zielgerichtet. Gerade bei alltags exegetischen Gruppen lässt sich somit anschaulich der grundsätzliche Sinn einer Methode als »Weg zu einem bestimmten Ziel hin« 11 studieren. Methoden sind Werkzeuge, mithilfe derer Texte angegangen und ausgelegt werden können. Gemäß dem Motto »Not macht erfinderisch« wird methodisches Arbeiten gerade in der Auseinandersetzung mit Mt 5,38-42 zielgerichtet eingesetzt, um diesen schwierigen, provokativen und herausfordernden Text sinnvoll zu verstehen. Dabei kommt auch die Frage der historisch-kritischen Exegese schlechthin zu Ehren, die Frage nach dem Ursprungssinn, nach der intentio auctoris, nach dem, was der Autor ursprünglich einmal sagen wollte. Dies dürfte die größte Überraschung sein: Sogar das historisch-kritische methodische Vorgehen ist kein zwingendes Alleinstellungsmerkmal der wissenschaftlichen Exegese, auch wenn es bei den Alltagsexegesen keinen dominierenden Stellenwert einnimmt. 3.2 Grundsätzliche Lesestrategien-- gewonnen per Abstraktion Ein weiteres Resultat, das angesichts der offensichtlichen Disparatheit der einzelnen Gruppendiskussionen auch überraschen kann: Trotz der Vielfalt der Auslegun- »Alltagsexegesen gehen immer wieder methodisch orientiert vor und sie weisen fast das gesamte Spektrum an methodischen Möglichkeiten (sowohl textintern/ synchron als auch textextern/ diachron) auf, das auch klassischerweise in der wissenschaftlichen Exegese Anwendung findet.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 6 - 3. Korrektur 6 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Neues Testament aktuell gen lassen sich übergreifende Lesestrategien erarbeiten. Die Gruppen gehen bei ihren Textverstehensversuchen höchst strategisch vor. Drei grundsätzliche Lesestrategien haben sich herauskristallisiert: Übersetzen (Variante 1: implizit-selbstverständlich; Variante 2: problematisierend); Kritisieren (1: Kritik an der Bibel, ausgehend von Welt/ Alltag; 2: Kritik an Welt/ Alltag/ Gesellschaft mithilfe der Bibel); Selektieren (1: Konzentration auf positive Elemente; 2: Fokus auf Negatives). Gruppen, die die Strategie »Übersetzen« anwenden, beziehen einen biblischen Text sofort aufs eigene Leben, greifen plausible Gesichtspunkte heraus und scheuen auch nicht davor zurück, Neuformulierungen vorzunehmen, wenn etwas nicht alltagstauglich erscheint. Dabei wird weitgehend nicht methodisch an die Texte herangegangen und meist verhältnismäßig wenig von der materialen Textvorlage wahrgenommen. Manche Gruppen sind sich der eigenen Übersetzungstätigkeit bewusst (= problematisierend), andere tun dies selbstverständlichimplizit, ohne groß darüber nachzudenken. Bei der Lesestrategie »Kritisieren« 12 kommt vor allem textexternes methodisches Vorgehen zum Einsatz. Hierbei spielt die Frage nach der intentio auctoris eine wichtige Rolle. Mit ihrer Hilfe können nämlich heute gängige Auslegungsangebote, die nicht geteilt oder akzeptiert werden, in Frage gestellt und zurückgewiesen werden. Verlinkungen erfolgen überwiegend in widersprechend-kritisierender Absicht. Grundsätzlich kann die Kritik vom biblischen Text ausgehen und auf die heutigen (Gesellschafts-)Verhältnisse zielen oder es wird umgekehrt bei der alltäglichen (Lebens-)Plausibilität angesetzt und von dieser Basis aus werden die biblischen Texte kritisiert. Die dritte Lesestrategie »Selektieren« zeichnet sich durch eine ausgesprochene Konzentration auf einzelne Textelemente aus. Dabei kann der Fokus auf den als positiv klassifizierten Bestandteilen liegen oder auf den als negativ wahrgenommenen. In beiden Fällen steht der Text als Text im Fokus, entsprechend erfreuen sich vorrangig textinterne Methoden großer Beliebtheit. 3.3 Auf die Orientierung kommt es an-- Persönlichsubjektive Einflussfaktoren jenseits des Textes Und das letzte Grundresultat, das in dieser kurzen Skizze angeführt werden soll, dürfte am wenigsten überraschen und die meisten Vorerwartungen erfüllen: Bei der Auslegung eines Bibeltextes ist der Bibeltext selbst nur eine Einflussgröße neben anderen. Sinnkonstruktion erfolgt vor/ während/ nach bzw. jenseits der Lektüre. In diesem Zusammenhang spielt der jeweilige Orientierungsrahmen eine entscheidende Rolle, das zeigen die hermeneutischen »Live-Beobachtungen« deutlich: Manchmal sagt die Auslegung mehr über die auslegende Person aus als über den ausgelegten Text. An dieser Stelle zahlt sich die interdisziplinäre Grundkonzeption des Forschungsprojektes »Bibelverständnis in Deutschland« aus: Die durch die exegetische Auswertung ermittelten Sinnkonstruktionen lassen sich mit den sozialempirisch-- mittels dokumentarischer Methode der Interpretation- - erarbeiteten Orientierungsrahmen in Beziehung setzen und vergleichen. Auf diesem Wege ist ansatzweise eine Beantwortung der Frage nach dem Warum einer spezifischen Sinnkonstruktion möglich. Dass jede Gruppe die beiden Texte jeweils anders gelesen, verstanden, ausgelegt hat, ist deutlich. Dass dies so ist, weil das auslegende Subjekt in der jeweiligen Auslegung grundlegend beinhaltet ist, ist eine hermeneutische Banalität. Aber warum eine konkrete Auslegung einer ganz bestimmten Gruppe so beschaffen ist, wie sie beschaffen ist, das kann bei der Zusammenschau der beiden unterschiedlichen Auswertungen desselben empirischen Materials z.T. im Detail erklärt werden. Dabei gehen Textwahrnehmung und -ausblendung (manchmal kommt es auf ein einzelnes Wort an) Hand in Hand mit eigenen Positionierungen und methodischem Vorgehen. Dies belegt einmal mehr die Grundeinsicht, dass Methoden ganz und gar nicht als Garanten für Objektivität taugen. Durchgängig ist der jeweilige Orientierungsrahmen als die entscheidende Hintergrundfolie auszumachen. 4. Verglichen: Graduelle statt substanziell-prinzipielle Unterschiede Nun könnte man angesichts des zuletzt angeführten Resultats annehmen, dass gerade dies typisch ist für Alltagsexegesen im Unterschied zu wissenschaftlichen Bibelauslegungen. Doch sollte hier vorsichtig und zurückhaltend argumentiert werden. 4.1 Grundsätzliche Vergleichbarkeit wissenschaftlicher und alltagsexegetischer Bibelauslegung Zwar habe ich selbst keine Analyse wissenschaftlicher Bibelauslegungen vorgenommen, 13 doch schon auf theoretisch-hermeneutischer Ebene ist eine gesunde Skepsis gegen diese Einschätzung angebracht: Dass Bibelauslegung professionell im wissenschaftlich-universitären Kontext betrieben wird, ändert nichts an der grundsätzlichen Prägung jeder Auslegung durch das auslegende Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 7 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 7 Christian Schramm Im Alltag liest man die Bibel anders als an der Uni! ? Subjekt. Dies ist in der exegetischen Wissenschaft seit Langem hinlänglich bekannt-- zumindest auf der theoretischen Ebene (inwiefern die exegetische Praxis davon wirklich durchdrungen ist, ist eine andere Frage). Die empirische Untersuchung der Alltagsexegesen hat nun genau diese grundlegende Erkenntnis, diesen hermeneutischen Basissatz empirisch verifiziert. Und wenn man anerkennt, dass universitäre Exegese zwar in einem anderen Kontext stattfindet, strukturell aber durchaus mit den Alltagsexegesen vergleichbar ist, dann können die Alltagsexegesen der wissenschaftlichen Bibelauslegung einen aufschlussreichen Spiegel vorhalten, einen Spiegel des eigenen Tuns. 4.2 Auf der (schwierigen) Suche nach Unterscheidungsmerkmalen Selbstverständlich gibt es Unterschiede zwischen Alltagsexegesen und wissenschaftlichen Exegesen, doch worin diese genau bestehen, ist gar nicht so einfach festzumachen. Zum einen scheint der mit der jeweiligen Auslegung verbundene Anspruch ein durchaus anderer zu sein, je nachdem, ob alltäglich oder wissenschaftlich die Bibel interpretiert wird: einmal geht es um ein privat-persönliches Verstehen eines Bibeltextes in einer bestimmten Situation, einmal um einen-- meist schriftlich fixierten-- Beitrag zu einer wissenschaftlichen Diskussion. Mit diesem Anspruch sind natürlich umgekehrt auch bestimmte Qualitätsanforderungen an die wissenschaftliche Exegese verbunden, z. B. die intersubjektive, argumentative Plausibilisierung der vorgetragenen Auslegung, die sachliche Auseinandersetzung mit Anfragen und Gegenpositionen im Rahmen wissenschaftlicher Diskurse, die Verpflichtung auf wissenschaftliche Standards. Zum anderen dürfte der methodische Bereich als Unterscheidungsmerkmal trotz allem hilfreich sein. Zwar kann nicht oft genug betont werden, dass einerseits auch alltagsexegetisch methodisch vorgegangen wird und andererseits der Methodengebrauch grundsätzlich immer intentional erfolgt, doch fällt der Grad der Differenziertheit und Reflektiertheit-- etwas pauschal gesprochen-- zwischen Alltagsexegesen und wissenschaftlichen Exegesen im Großen und Ganzen unterschiedlich aus: Wissenschaftliche Exegesen verfügen im Allgemeinen über eine größere Bandbreite an einsetzbaren Methoden und sind sich des Methodengebrauchs zumeist bewusst (methodisch oder sogar methodologisch reflektiert). Dies ist bei alltagsexegetischen Gruppen nur in Ausnahmen der Fall. Dafür kann die wissenschaftliche Exegese durch den Blick auf Alltagsexegesen einmal mehr daran erinnert werden, dass die durch Methoden geleistete Distanzierung vom Text auch nur eine relative ist und schon die Auswahl und die konkrete Anwendung einer Methode auf-- meist im auslegenden Subjekt begründeten-- (Vor-)Entscheidungen basieren. Wissenschaftliche Exegese kann somit von den Alltagsexegesen neu lernen, was Methoden leisten können und was nicht. Und noch ein drittes Differenzierungskriterium kann an dieser Stelle angeführt werden: Wissenschaftliche Exegese weist für gewöhnlich einen deutlichen Wissensvorsprung (kulturelle, zeitgeschichtliche Hintergründe; Texttheorien; Erzähltheorien; Sprachkompetenz hinsichtlich der antiken Sprachen usw.) gegenüber den Alltagsexegesen auf, gekoppelt mit einer breiteren Übung und Praxiserfahrung. 14 Diese drei Aspekte (Anspruch, reflektierter und umfassenderer Methodengebrauch, Wissensvorsprung) kristallisieren sich als die zentralen Unterscheidungsmerkmale heraus- - nicht mehr, aber auch nicht weniger. An der Universität wird die Bibel somit durchaus anders gelesen, aber eben nur graduell anders und nicht substanziell-prinzipiell. 15 Inwiefern dies das Selbstverständnis der wissenschaftlichen Exegese nachhaltig prägen bzw. verändern wird, wird die Zukunft zeigen. 4.3 Kurze Zwischenreflexion: Der Kontext ist entscheidend Durch die Ausführungen hindurch ist immer wieder ganz selbstverständlich von »Alltagsexegese« auf der einen und »wissenschaftlich-universitärer Exegese« auf der anderen Seite gesprochen worden, die zugehörige Definition hebt auf den Kontext der Auslegung ab und sei an dieser Stelle einmal explizit formuliert: Darunter sind Bibelauslegungen in den beiden Kontexten »Alltag« und »Universität/ Wissenschaft«, verbunden mit den vorstehend skizzierten Unterscheidungskriterien, zu verstehen. Allerdings ist diese Abgrenzung nicht immer hundertprozentig trennscharf durchzuhalten. Zudem haben die empirischen Forschungen gezeigt, dass ein und dieselbe Person je nach Situation auch in beiden Kontexten unterwegs sein kann: Die beiden Gruppen 16 »Theologinnen« und »Kirchenmänner« bestanden na- »An der Universität wird die Bibel somit durchaus anders gelesen, aber eben nur graduell anders und nicht substanziell-prinzipiell.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 8 - 3. Korrektur 8 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Neues Testament aktuell hezu ausschließlich aus universitär geschulten Theologinnen/ Theologen bzw. z.T. sogar Exegetinnen/ Exegeten-- und trotzdem wurde in beiden Gruppen in der Forschungssituation Alltagsexegese betrieben. Vereinzelt klang ein Bewusstsein für dieses je nach Zusammenhang und Situation verschiedene Vorgehen und Umgehen mit den biblischen Texten ausdrücklich an: »[I]ch glaube, das liegt auch am Kontext. [… D]a würd ich da ganz anders mit umgehen« (Transkript Gruppe »Theologinnen«, S. 22, Person F 3 ). 5. Gesucht: Brückenbauer mit erweitertem Selbstverständnis zur kritisch-sensiblen Lektürebegleitung Stellt sich zum Ende hin die Frage: Was bringt die Beschäftigung mit Alltagsexegesen, u. a. für wissenschaftlich forschende und lehrende Exegetinnen und Exegeten? 5.1 Alltagsexegetisch bereichert wider die wachsende Entfremdung-- Plädoyer für einen empirical turn Zuallererst einmal ist der konkrete, empirische Bibelleser von heute als möglicher Forschungsgegenstand entdeckt und unter die Lupe genommen worden-- kein (nur) impliziter, historischer oder idealer Leser. Die vorstehenden Ausführungen, die natürlich nur allgemein bleiben und nicht ins Detail gehen konnten, haben hoffentlich eines deutlich gemacht: Es lohnt sich, über den eigenen exegetischen Tellerrand hinauszuschauen, und es ist spannend, alltäglichen Gruppen beim Textverstehen und bei der Sinnkonstruktion über die Schulter zu blicken. Sollen sich exegetische Wissenschaft auf der einen, alltägliche Bibellektüren auf der anderen Seite nicht völlig voneinander entfremden und soll der teilweise bereits bestehende Graben nicht noch tiefer bzw. breiter werden, dann ist die Suche nach Anknüpfungspunkten, nach relevanten Fragestellungen, nach einer verständlichen Sprache etc. in Zukunft unentbehrlich. Somit sind Exegetinnen und Exegeten heute mehr denn je gefordert, den universitären Elfenbeinturm mit einem erweiterten Selbstverständnis im Gepäck zu verlassen, auf einer klassischen Einbahnstraße in der Gegenrichtung unterwegs zu sein und der (drohenden oder vielleicht auch bereits eingetretenen) flächendeckenden Verstehensstörung 17 offensiv entgegenzuwirken: hörend auf Alltagsexegeten. Dabei können auch Exegetinnen und Exegeten noch einiges lernen und damit kann der zunehmenden gesellschaftlichen Anfrage hinsichtlich der Legitimität wissenschaftlich-exegetischen Forschens und Tuns konkret begegnet werden. Der direkte Kontakt zwischen universitärer Exegese und alltäglicher Bibellektüre bereichert beide Seiten. So plädiere ich dafür, den ansatzweise erkennbaren empirical turn in der exegetischen Wissenschaft auf jeden Fall fortzuführen und zu intensivieren. 18 5.2 Unverzichtbare Brückenschläge und wichtige Betätigungsfelder In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, ein mögliches außeruniversitäres Publikum als Empfänger für Erkenntnisse der wissenschaftlichen Exegese in den Blick zu nehmen: Hier sind Brückenbauer gefordert, die die ansprechend-verständliche Präsentation der eigenen Arbeit für eine breitere Leserschaft leisten. Denn was nützen die besten Resultate, wenn sie außer dem Fachkollegen niemand versteht und/ oder sich außerhalb der eigenen Fachwelt niemand dafür interessiert? Das Kreisen der exegetischen Wissenschaft um sich selbst ist aufzubrechen und der breite (wissenschaftlich-interdisziplinäre sowie gesellschaftliche) Diskurs zu suchen. Für die wissenschaftliche Exegese selbst lässt sich vor diesem Hintergrund eine »kritisch-sensible Lektürebegleitung« als wichtige zusätzliche Aufgabe in die to-do- Liste eintragen-- dies ist aber nur leistbar, wenn man sich für das potenzielle Gegenüber ernsthaft interessiert. Und im Bereich der Bibelpastoral empfiehlt sich die Grundmaxime »die Menschen dort abholen und ernst nehmen, wo sie lesen und verstehen« als wegweisend für die Zukunft. 6. Gefordert: Sinnkonstruktionssensibilität mit Selbstprüfungspotenzial Durch die intensive, empirisch fundierte Beschäftigung mit dem Phänomen »Sinnkonstruktion« konnte ein wichtiger Clou erkannt werden: Bereits mit der ersten Lektüre schafft sich jeder Leser/ Ausleger (s)einen eigenen virtuellen Hypertext, der mit der vorliegenden schriftlichen Textvorlage z.T. nur entfernt etwas zu tun hat. Ausblendung, Fragmentierung, Neukombination, Umstellung, Einspielung weiteren Materials (»Verlinkung«) mit unterstützender, widersprechender, verallgemeinernder, ersetzender Absicht, Umformulierung-- der kreative Textverstehensprozess ist facettenreich und höchst individuell, meist läuft er jedoch unreflektiert und unbewusst im Verborgenen ab. In diesem Punkt Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 9 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 9 Christian Schramm Im Alltag liest man die Bibel anders als an der Uni! ? scheint mir eine grundsätzliche Sensibilität gekoppelt mit einem entsprechenden Problembewusstsein wichtig und fruchtbar. Vor diesem Hintergrund ist in meinen Augen ein selbstkritischer Blick auf die wissenschaftlich-exegetische Zunft angesagt. Denn wenn wir uns die Landschaft der wissenschaftlichen Auslegungsangebote ansehen, dann werden wir auch hier von einer wahren Sinn-Flut gewissermaßen weggeschwemmt. Nicht nur im alltagsexegetischen Bereich gibt es eine unübersehbare Vielfalt an Auslegungsangeboten, auch in der Wissenschaft kursieren Dutzende von Interpretationen, die strukturell vergleichbar zustande kommen wie das, was bei den Alltagsexegesen unter die Lupe genommen worden ist. Die auslegende Person spielt eine wesentliche Rolle für die Auslegung-- diese hermeneutische Grundmaxime macht auch vor der Tür des Exegeten/ der Exegetin nicht Halt. Diese Grundeinsicht schadet dem Ansehen der exegetischen Wissenschaft nicht, ganz im Gegenteil. Denn dass innerexegetisch nicht immer alle einer Meinung sind, ist ja weithin bekannt. Und vor diesem Hintergrund sollte konstruktiv mit der je eigenen (biographischen) Prägung umgegangen werden, d. h. der Beschäftigung mit der Person des Exegeten/ der Exegetin-- in welcher konkreten Konzeption auch immer-- ist meiner Meinung nach mehr Gewicht zu geben. 19 Die Standortgebundenheit jeder Auslegung sowie die Verantwortung der auslegenden Person für die erarbeiteten Auslegungen werden durch den analytischen Blick auf Alltagsexegesen neu ins Bewusstsein gehoben. Alltagexegeten haben für gewöhnlich kein Problem damit, »ich« oder »meine Auslegung« etc. zu sagen-- in wissenschaftlich-exegetischen Beiträgen findet man dies kaum, stattdessen begegnet ab und an zumindest zwischen den Zeilen ein manchmal beängstigender Absolutheitsanspruch mit Blick auf die vorgetragene eigene (! ) Auslegung. In diesem Punkt sind Alltagsexegesen hermeneutisch deutlich weiter und manchmal auch reflektierter-- hier besteht Lernpotenzial für die wissenschaftliche Exegese. Und von hier aus sind es dann nur noch kleine Schritte hin zu einer erweiterten »Auslegungsethik«, deren Standards im Interesse einer heute diskursfähigen Exegese nicht unterlaufen werden dürfen: Zu den Forderungen nach guter wissenschaftlicher Praxis in all ihren Facetten muss die kritische Sensibilität für das bleibend Subjektive an jeder Auslegung hinzukommen. 7. Gewünscht: Mediative Grundklärungen statt (pseudo-)argumentativer Detailstreitereien Doch sind wir damit gewissermaßen am Ende der Fahnenstange angelangt? Stehen letztendlich nahezu unendlich viele konstruierte Sinnangebote nebeneinander, ohne dass eine begründete Unterscheidung möglich wäre? Ist die Sinn-Flut nicht aufzuhalten oder handelt es sich nicht vielmehr um eine (legitime) Sinn-Fülle, die einmal mehr deutlich macht, wie vielschichtig, reichhaltig, wertvoll, ja inspiriert bzw. inspirierend die biblische Botschaft ist? Die Frage nach »richtig/ falsch« ist bislang-- sowohl bei den empirischen Forschungen zu Alltagsexegesen als auch in den vorliegenden Ausführungen-- bewusst ausgeklammert worden. Und es fällt mir selbst schwer, Bewertungen vorzunehmen. Abgesehen von einigen Auslegungen, die dezidiert dem zugrunde liegenden biblischen Text zuwider laufen, gibt es meiner Meinung nach eine legitime Pluralität an Sinndimensionen, wobei es mir viel sinn-voller erscheint, diese in ein konstruktiv-produktives Gespräch miteinander zu bringen, als sich im Streit um die vermeintlich eine Wahrheit aufzureiben. Statt sich in Detailauseinandersetzungen zu verlieren, ist es weiterführender, erst einmal Grundannahmen, methodische, persönliche usw. Voraussetzungen etc. offenzulegen und wechselseitig wahrzunehmen. Vielleicht braucht es in der exegetischen Wissenschaft bzw. allgemein beim Ringen um das Verstehen biblischer Texte einen Streitschlichter, einen Mediator, der nicht wie ein Richter (ver-)urteilt, sondern gegenseitiges Verstehen befördert, denn das »exegetische Geschäft wäre einfacher und erfolgreicher, wenn die Exegeten wagten, ihre sehr spezifischen Forschungsinteressen und deren Bedingungen explizit zu reflektieren und als Chance der Kommunikation mit dem Text und der Interpretengemeinschaft zu verstehen« 20 . Und in dieser Überzeugung von der legitimen Auslegungsvielfalt möchte ich abschließend dafür plädieren, die seit Jahrhunderten existierende Sinn-Flut als Chance zu begreifen-- als Chance für die Bibel, auch heute Relevanz/ Bedeutung, Aktualität und eine bleibende prägende (kulturelle) Kraft zu entfalten. Denn wenn die Sinn-Flut erst einmal erkannt und grundsätzlich akzeptiert ist und wenn v. a. für die dahinter stehenden Verstehensprozesse und -mechanismen Sensibilität geweckt ist, dann sind die grundlegenden Voraussetzungen dafür »Zu den Forderungen nach guter wissenschaftlicher Praxis in all ihren Facetten muss die kritische Sensibilität für das bleibend Subjektive an jeder Auslegung hinzukommen.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 10 - 3. Korrektur 10 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Neues Testament aktuell geschaffen, in einen ergebnisoffenen, von unterschwelligen ideologischen Voreingenommenheiten befreiten (da geklärten) und damit fruchtbar-bereichernden Dialogprozess eintreten zu können. Dann besteht die begründete Hoffnung, dass die Bibel immer wieder neu lebendig werden kann. Es ist heute meines Erachtens der Mut gefordert, sich-- inspiriert von Alltagsexegesen-- auch im wissenschaftlich-universitären Kontext auf die Sinn-Flut einzulassen und in diesem Sinne die Bibel vielfältig anders zu lesen - im anerkennenden Bewusstsein der je subjektiven Einflussfaktoren. Aber das Wagnis lohnt sich, wie das abschließende Zitat einer Gruppe des Forschungsprojektes zum Ausdruck bringt: »Ja, und das ist […] für mich so spannend, dass eben auch so unterschiedliche Dinge daraus entwickelt werden und jeder da so auch etwas Unterschiedliches zu sagen kann. [… G]anz selten ist das ja so, dass alle dasselbe sagen. Oder auch eine Geschichte baut sich so […] in dem Gespräch auf, also jeder [liefert; C. S.] so […] einen Baustein dazu […] und die Geschichte [wird; C. S.] dadurch erst so richtig interessant und spannend« (Transkript Gruppe »Montagskreis«, S. 43, Person M 4 ). Anmerkungen 1 Zu Belegen und Verweisen vgl. C. Schramm, Alltagsexegesen. Sinnkonstruktion und Textverstehen in alltäglichen Kontexten, Stuttgart 2008, 78-81. Dieser Literaturtitel ist die umfassende Basis für den gesamten vorliegenden Beitrag. Auf eine unübersehbare Schar von weiteren Querverweisen wird in der Folge verzichtet. Vgl. die Kurzpräsentationen C. Schramm, »Wenn zwei einen Text lesen …« Alltägliches Bibelverstehen empirisch untersucht, BiKi 64 (2009), 114-118; C. Schramm, Wie verstehst du, was du liest: Alltagsexegesen, KatBl 137 (2012), 296-301. 2 Ein kurzer Abriss zum Forschungsstand findet sich in C. Schramm, Alltagsexegesen, 24-28, sowie in S. A. Strube, Bibelverständnis zwischen Alltag und Wissenschaft. Eine empirisch-exegetische Studie auf der Basis von Joh 11,1- 46 (Tübinger Perspektiven zur Pastoraltheologie und Religionspädagogik 34), Münster 2009, 37-53. Für eine umfassendere Aufarbeitung des aktuellen Forschungsstandes sowie einen weiterführenden Quervergleich verweise ich auf meinen Beitrag »Empirisch gepflückt: Alltagsexegesen. Forschungsüberblick und methodologische Erwägungen«, der demnächst (geplant ist 2014) in den Protokollen zur Bibel (PzB) erscheinen wird. 3 U. Luz, Was hast du, das du nicht empfangen hast? , in: E.-M. Becker (Hg.), Neutestamentliche Wissenschaft. Autobiographische Essays aus der Evangelischen Theologie, Tübingen 2003, 295-305: 302 f. Daneben ist an dieser Stelle, gewissermaßen als »langjähriger Mahner«, Joachim Kügler zu erwähnen, der als Neutestamentler in zahlreichen Publikationen in eine ähnliche Richtung votiert hat. 4 Vgl. S. A. Strube, Den »garstig breiten Graben« überwinden. Plädoyer für ein erweitertes Selbstverständnis der Exegese-- ein Diskussionsanstoß, Orientierung 68 (2004), 242-245: 243; U. Luz, Was hast du, 302. 5 Vgl. Strube, Diskussionsanstoß. 6 Vgl. z. B. für die Untersuchung von »geschlechtsspezifischer Auslegung« S. Arzt, »Absurd, daß die Frauen so niedergemacht werden«. Zur geschlechtsspezifischen Rezeption der Erzählung vom Widerstand der Waschti in Ester 1, KatBl 121 (1996), 370-373; S. Arzt, Frauenwiderstand macht Mädchen Mut. Die geschlechtsspezifische Rezeption einer biblischen Erzählung, Innsbruck 1999. 7 Den Rahmen bildete das DFG-Forschungsprojekt »Bibelverständnis in Deutschland« (2004-2006; Westfälische Wilhelms-Universität Münster; Seminar für Exegese des Neuen Testaments, Prof. Dr. M. Ebner; Institut für Christliche Sozialwissenschaften, Prof. Dr. Dr. K. Gabriel), vgl. http: / / www.uni-muenster.de/ FB2/ bibel. Die wichtigsten Eckdaten sowie Resultate des Projekts sind dokumentiert in: M. Ebner/ K. Gabriel, Bibel im Spiegel sozialer Milieus. Eine Untersuchung zu Bibelkenntnis und -verständnis in Deutschland (Forum Religion & Sozialkultur. Abteilung A: Religions- und Kirchensoziologische Texte 16), Münster 2008; K. Gabriel u. a., Bibelverständnis und Bibelumgang in sozialen Milieus in Deutschland. Ergebnisse aus einem DFG-Projekt, in: C. Bizer u. a. (Hgg.), Bibel und Bibeldidaktik (JRP 23), Neukirchen-Vluyn 2007, 87-103. Die exegetische Seite des Forschungsprojektes ist das Fundament meiner eigenen Dissertation: C. Schramm, Alltagsexegesen. 8 Vgl. C. Schramm, Alltagsexegesen, 35-39. 9 Vgl. insgesamt R. Bohnsack, Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden, Opladen 5 2003. 10 R. Kuhlen, Hypertext. Ein nicht-lineares Medium zwischen Buch und Wissensbank, Berlin 1991, 27 (im Original kursiv). Stefan Scholz und Volker Eisenlauer haben den Begriff des »Hypertextes« auch verschiedentlich aufgegriffen und auf die Bibel (sowie die Bibellektüre) insgesamt übertragen. Ähnlich wie im obigen Gebrauch legen sie dabei u. a. Wert auf »individualisierte Textwahrnehmung« und »Interaktivität«, jedoch hebt ihr Hypertextkonzept nicht auf die Auseinandersetzung mit einem konkreten biblischen Text ab, sondern sie entwickeln damit einen makrostrukturellen Lese- und Verstehensrahmen, vgl. www. die-bibel-als-hypertext.de [23. 12. 2013]; S. Scholz/ V. Eisenlauer, Hypertextualität als Interpretament der Bibel und ihrer Auslegung, in: O. Wischmeyer/ S. Scholz (Hgg.), Die Bibel als Text. Beiträge zu einer textbezogenen Bibelhermeneutik (NET 14), Tübingen 2008, 69-98; S. Scholz/ V. Eisenlauer, Art. Hypertext, in: O. Wischmeyer (Hgg.), Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe-- Methoden-- Theorien-- Konzepte, Berlin 2009, 272-274. 11 C.Berg, Art. Methodologie, RGG 5, Tübingen 4 2002, 1187-1189: 1187. 12 Vgl. zur Lesestrategie »Kritisieren« im Besonderen C. Schramm, Kritik und Konstruktion. Kritisieren als Lesestrategie im Rahmen heutiger Alltagsexegesen, in: J. Kügler/ U. Bechmann (Hgg.), Biblische Religionskritik. Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 11 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 11 Christian Schramm Im Alltag liest man die Bibel anders als an der Uni! ? Kritik in, an und mit biblischen Texten. Beiträge des IBS 2007 in Vierzehnheiligen, Münster 2009, 214-228. 13 Diesbezüglich sei auf das Habilitationsprojekt von S. A. Strube verwiesen, die hier pioniermäßig Neuland zu betreten gewagt hat: S. A. Strube, Bibelverständnis. Kurz resümiert in: S. A. Strube, Den »garstig breiten Graben« überwinden. Ein Vergleich alltäglicher und exegetischer Lesarten zur Erzählung von der Auferweckung des Lazarus (Joh 11), Orientierung 72 (2008), 181-185; S. A. Strube, Bibelverständnis zwischen Alltag und Wissenschaft. Eine empirische Studie anhand der Erzählung von der Auferweckung des Lazarus (Joh 11), Info-Dienst theologische Erwachsenenbildung 47 (2008), 11-16; S. A. Strube, Lektüre auf Augenhöhe. Bibellektüren von Alltagsbibelleser/ innen-- eine Bereicherung für alle, BiKi 64 (2009), 216-222. 14 Vgl. zum Vorstehenden auch das Resümee bei H. Roose/ G. Büttner, Moderne und historische Laienexegesen von Lk 16,1-13 im Lichte der neutestamentlichen Diskussion, ZNT 7 (2004), 59-69: 67. 15 Vgl. Strube, Diskussionsanstoß, 244. 16 Zum Profil der beiden Gruppen vgl. C. Schramm, Alltagsexegesen, 336 f. (»Kirchenmänner«: »klerikaler Mittagessenskreis«) und 418 f. (»Theologinnen«: »Kreis theologische Forschung von Frauen«). 17 Vgl. D. Frickenschmidt, Empfänger unbekannt verzogen? Ergebnisse empirischer Glaubensforschung als Herausforderung für die neutestamentliche Exegese, ZNT 2 (1999), 52-64. 18 Mit dieser Forderung stehe ich nicht alleine da. Einige Kolleginnen und Kollegen mit ähnlichem Anliegen sind in den Anmerkungen bereits erwähnt/ zitiert worden. Zu ergänzen ist auf jeden Fall D. Dieckmann, Empirische Bibelforschung als Beitrag zur Wahrnehmungsästhetik. Am Beispiel von Gen 12,10-20, in: A. Grund (Hg.), »Wie schön sind deine Zelte, Jakob! « Beiträge zur Ästhetik des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 2003, 13-43. 19 E.-M. Becker hat hierzu nicht nur eine theoretische Grundlage entfaltet-- vgl. E.-M. Becker, Die Person des Exegeten. Überlegungen zu einem vernachlässigten Thema, in: O. Wischmeyer (Hg.), Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft, Tübingen 2004, 207-243--, sondern auch ein autobiographisch angelegtes Projekt in die Tat umgesetzt: E.-M. Becker (Hg.), Neutestamentliche Wissenschaft. Autobiographische Essays aus der Evangelischen Theologie, Tübingen 2003. Mögliche Konkretionen, wie die auslegende Person im Auslegungsprozess sichtbar gemacht werden kann, werden u. a. im amerikanischen Kontext verhandelt. An dieser Stelle müssen Stichworte genügen: cultural exegesis, autobiographical biblical criticism usw. 20 O. Wischmeyer, Die neutestamentliche Wissenschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts. Überlegungen zu ihrem Selbstverständnis, ihren Beziehungsfeldern und ihren Aufgaben, in: O. Wischmeyer (Hg.), Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft, Tübingen 2004, 245-271: 267. A. Francke Verlag • D-72070 Tübingen • info@francke.de • www.francke.de Philipp F. Bartholomä The Johannine Discourses and the Teaching of Jesus in the Synoptics Texte und Arbeiten zum Neutestamentlichen Zeitalter, Band 57 2012, XIV, 491 Seiten, € (D) 78,00/ SFr 105,00 ISBN 978-3-7720-8457-7 Especially those scholars with a negative attitude towards Johannine authenticity have frequently employed the argument based on vast differences between John and the Synoptics as to substantiate their view. Having established the methodological necessity for a clear differentiation between similarity in wording and similarity in content, the study’s main result is that what we —nd in the Johannine discourses is a representation of the teaching of Jesus that corresponds conceptually to a signi—cant degree with the picture offered by Matthew, Mark, and Luke.