eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 17/34

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2014
1734 Dronsch Strecker Vogel

Prekäres Wissen

2014
Kristina Dronsch
Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 37 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 37 Ein Bild, das im wahrsten Sinne unter die Haut geht und zudem zu den bekanntesten visuellen Umsetzungen zu einer Erzählung aus dem Johannesevangelium zählt: Thomas ausgestreckter Zeigefinger seiner rechten Hand dringt in die Seitenwunde des Auferstandenen ein, so dass an dieser Stelle das Fleisch aufgeworfen wird. Während Jesus mit dem Griff seiner Linken die Hand von Thomas führt, hat er mit seiner Rechten sein Gewand beiseitegeschoben, um die rechte Hälfte seines Oberkörpers und damit die Seitenwunde für die Berührung durch Thomas zu entblößen. Tief stößt der Jünger den Zeigefinger seiner alles andere als sauberen Hand in die Wunde Christi. Der Vorgang wird als regelrecht verletzend und anstößig greifbar. Der suggestiven Kraft von möglicherweise berstendem Fleisch durch zu starken Druck und dem Kontrast zwischen der Wunde im hellen reinen Körper des Auferstandenen und der dunkler getönten Hand mit den verschmutzten Fingernägeln von Thomas ist nur schwer auszuweichen. Thomas von Furchen überzogene Stirn und seine weit aufgerissenen Augen betonen die Körperlichkeit dieser Szene. Auch die anderen zwei Jünger auf dem Bild beugen ihre Köpfe hin zum Geschehen. Mit der Neigung seiner linken Hand scheint Jesus auch ihre Blicke mit in seine Wunde zu leiten. Das Gedränge der vier Häupter in der oberen Bildmitte spitzt die Dramatik des Geschehens in Caravaggios »Ungläubigem Thomas« ebenso zu wie die für den Künstler so typische Hell-Dunkel-Malerei. Der »Ungläubige Thomas« aus der Bildergalerie von Schloss Sanssouci gilt als eines der im 17. Jahrhundert meist rezipierten Werke aus dem Œuvre Caravaggios und stellt zugleich eine Urszene von Erkenntnis dar. In der Figur des Thomas und den eng bei ihm stehenden zwei Jüngern wird ein Modell von Erkenntnis künstlerisch in Szene gesetzt, nach dem nur das als Wissen zu gelten hat, was man selbst erkannt, in das man selbst Einsicht genommen hat. Erst die eigene Wahrnehmung schafft ein Wissen, das Gültigkeit hat. Mit gutem Grund hat Caravaggio in seiner visuellen Umsetzung von Joh 20 deshalb alle Einzelheiten vernachlässigt, die von der Wissensermittlung von Thomas und den zwei ihn rahmenden Jüngern ablenken. Ihr gesamtes Wesen erschöpft sich bei Caravaggio im Sehen und Betasten. Zugleich ist Caravaggios »Ungläubiger Thomas« auch ein Lehrstück, was passiert, wenn wir biblische Texte rezipieren. Die Geschichte aus Joh 20 zu lesen, heißt sie in im Akt der Lektüre zu aktualisieren. Denn ein Text ist ein Produkt, »dessen Interpretation Bestandteil des eigentlichen Mechanismus seiner Erzeugung sein muß. Einen Text hervorbringen, bedeutet, eine Strategie zu verfolgen, in der die vorhergesehenen Züge eines Anderen mit einbezogen werden« 1 . Oder um es mit Hartwig Thyen im Anschluss an Goethes West-östlichen Diwan zu formulieren: »Wer Johannes will verstehen, der muss seine Welt begehen« 2 . Damit ist keine Spielart biblizistischer Unmittelbarkeit gemeint, sondern der Umstand ausgedrückt, das jedes Verstehen von der narrativen Welt des Johannesevangeliums auszugehen hat. Das Johannesevangelium ist somit eine narrative Welt, die darauf wartet, im Akt der Interpretation entdeckt zu werden. Mit Umberto Eco kann diese narrative Welt als eine parasitäre bezeichnet werden, die nur vor dem Hintergrund der realen entfaltet werden könne. 3 Der Text stellt somit eine bewohnte Welt dar. Dementsprechend sind die im Text befindlichen erkannten immanenten Strukturen, Strategien und Techniken von größtem Interesse, die einen Effekt der Lektüre darstellen. Einerseits wird auf die im Text befindlichen Strategeme geantwortet, andererseits ist die erkannte Struktur eines Textes letztendlich selbst auch ein Effekt der Lektüre, da sie nur durch die Leistungen der Interpretation hervorkommt. Eine wesentliche Rolle spielen in diesem Kontext die sogenannten Unbestimmtheitsbzw. Leerstellen. Die Unbestimmtheit eines Textes ergibt sich stets im dialektischen Gegenüber zu den in ihm explizit formulierten Bestimmtheiten, die die von ihm organisierte Wirklichkeit vermitteln. Kristina Dronsch Prekäres Wissen Zeugenschaft als Lebensform im Johannesevangelium Zum Thema Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 38 - 2. Korrektur 38 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema Nach acht Tagen des Wartens kommt der Auferstandene erneut zu seinen Jüngern (vgl. 20,26) und spricht nach einem Gruß an alle anwesenden Jünger Thomas direkt an: »Leg deinen Finger hierher und sieh meine Hände an! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite …! « (Joh 20,27) Der nächste Satz lautet: »Thomas antwortete ihm: Mein Herr und mein Gott! « (Joh 20,28) Das Berühren der Wundmale des Auferstandenen wird also gerade nicht erzählt. D. h. auf die in Joh 20,25 profiliert geäußerte Forderung des Thomas sowie auf das durch Jesus angebotene Eingehen auf dessen Forderung in Joh 20,27 erzählt der Text gerade nicht, wie Thomas’ »Autopsie« vonstatten geht. Im Text bleibt zudem vollkommen unbestimmt, was ihn genau zum Bekenntnis gebracht hat. Diese beiden Unbestimmheitsstellen im Text nun hat Caravaggio künstlerisch in der totalen Fokussierung auf die handgreifliche Autopsie des Auferstandenen durch Thomas in Szene gesetzt. Der Thomas von Carravaggio glaubt nur, wenn er selbst Einsicht nehmen kann. Als Wissen gilt ihm nur jenes Wissen, welches durch seine Erfahrung gedeckt ist, und erst dieses Erfahrungswissen ermöglicht ihm das Bekenntnis: »Mein Herr und mein Gott! « Man muss nicht so weit gehen wie der Gräzist Glenn Most in seiner glänzenden Studie »Der Finger in der Wunde. Die Geschichte des ungläubigen Thomas« 5 , der Caravaggios Gemälde für das Ergebnis einer anderthalbtausendjährigen andauernden Fehllektüre von Joh 20 hält. Jedoch stellt die Einseitigkeit der Fokussierung auf den Vorgang der tastenden Wissensermittlung in der Figur des Thomas bei Caravaggio die Frage nach dem Wissenskonzept des Thomas der johanneischen Erzählung. 1. Thomas der Wissenszweifler An der narrativen Figur des Thomas wird im Johannesevangelium die Frage problematisiert, welche Form von Wissen unter der Bedingung von Tod und Auferstehung Jesu Christi Gültigkeit hat. In allen neutestamentlichen Narrationen ist eine Situation vorherrschend, die durch Tod und Auferstehung Jesu Christi gekennzeichnet ist, und die für die Adressaten die Entzogenheit des irdischen Jesus mit sich bringt. Alle Evangelien im Neuen Testament beschreiben deshalb diese Situation als eine durch die Abwesenheit von Jesus Christus gekennzeichnete. 6 Von Jesus gilt: ouk estin ōde-- »er ist nicht mehr hier« (Mk 16,6b; vgl. Lk 24,6; Mt 28,6). Oder in den Worten von Joh 20,2. »Wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben«. Jesus ist nicht mehr da, er ist abwesend. Damit Die Unbestimmtheitsbzw. Leerstellen eines Textes entsprechen den noch offenen Fragen der LeserInnen an den Text. Finden sich Antworten auf diese Fragen, so werden die betreffenden Leerstellen ausgefüllt. Dies erfolgt entweder mit Hilfe von Informationen aus dem Textverlauf oder aber durch Inferenzen, bei denen unter Rückgriff auf das Wissen der LeserInnen selbst entsprechende Informationen generiert werden. Inferenzen sind somit Antworten der LeserInnen auf die von ihnen selbst gestellten Fragen. Sie haben die Funktion, die mentale Repräsentation anzureichern und zu differenzieren. 4 Soviel zur Theorie der Leerstellen, doch nun zur Praxis von Caravaggios Lektüre von Joh 20,19-29. Das Johannesevangelium hat Thomas in tragender Rolle auf die narrative Bühne gestellt im Rahmen der Erscheinungen des Auferstandenen: Nachdem der Auferstandene den Jüngern unter Abwesenheit von Thomas erschienen war, berichten diese Thomas, dass Jesus zu ihnen gekommen ist. Den Erzählungen der Jünger kann Thomas nicht glauben, vielmehr fordert er: »Wenn ich in seinen Händen nicht die Male der Nägel sehe und meinen Finger nicht in die Nägelmale und meine Hand nicht in seine Seitenwunde lege, so werde ich nie und nimmer glauben.« (Joh 20,25). Kristina Dronsch, Jahrgang 1971, studierte Evangelische Theologie in Bonn, Göttingen, Zürich, Neuchâtel und Hamburg. Von 2001 bis 2010 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche am Fachbereich Ev. Theologie an der Goethe-Universität in Frankfurt und wurde dort 2006 promoviert. 2010-2012 Projektkoordinatorin für die Encyclopedia of the Bible and its Reception beim De Gruyter Verlag. Seit Juli 2012 Referentin für Frauen und Reformationsdekade angesiedelt beim Verband Evangelischer Frauen in Deutschland. Forschungsschwerpunkte: Markusevangelium, Johannesevangelium, Gleichnisse, Bedeutungs- und Medientheorien. Dr. Kristina Dronsch Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 39 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 39 Kristina Dronsch Prekäres Wissen steht das evidente Problem zur Disposition, »wie […] die an Christus Glaubenden in der von Christus verlassenen Welt« 7 als eine Gemeinschaft zu existieren vermögen. Oder um es mit Joh 15 zu formulieren: Wie kann derjenige, der die Seinen verlässt, unter ihnen bleiben und sie in ihm? Konkret stand somit im Zentrum der Erfahrung der frühen Christen die Abwesenheit Jesu Christi. Sie waren somit eine Gemeinschaft, die aufgrund der Entzogenheit von Jesus Christus auch vor ein Erkenntnisproblem gestellt war: Wie kann ich wissen, dass Jesus Christus »Mein Herr und mein Gott« (Joh 20,28) ist, wenn er doch als abwesend zu verstehen ist. Diese Frage wird anhand der narrativen Figur des Thomas im Johannesevangelium in Szene gesetzt. Thomas wird im Johannesevangelium nur an vier Stellen als narrativer Akteur eingeführt: Joh 11,16; 14,5 f.; 20,24-29; 21,2, wobei er in Joh 21,2 nur namentlich erwähnt wird, aber nicht weiter aktiv ist. Deshalb konzentrieren sich die folgenden Überlegungen auf die drei übrigen Stellen im Johannesevangelium. Gleich bei seinem ersten Erscheinen auf der narrativen Bühne des Johannesevangeliums in 11,16 tritt er in eine Szenerie hinein, die thematisch von Sterben und Auferstehung gekennzeichnet ist. In die Lazaruserzählung (Joh 11,1-12,11) eingebettet ist ein Dialog zwischen Jesus und seinen Jüngern (11,6-16), in dem Thomas zum ersten Mal prominent in Erscheinung tritt. In diesem Gespräch erklärt Jesus den Tod des Lazarus als Grund zur Freude: »Lazarus ist gestorben und ich bin froh um euretwillen, dass ich nicht dort war, damit ihr glaubt« (Joh 11,14-15). Daraufhin entgegnet Thomas nicht zu Jesus, sondern zu den Jüngern: »Lasst auch uns gehen, damit wir mit ihm sterben« (Joh 11,16). Völlig offen bleibt in der Erzählung, auf wessen Sterben sich Thomas bezieht-- auf das von Lazarus (vgl. Joh 11,14) oder auf das von Jesus (vgl. Joh 11,8). 8 Klar ist aber, dass er den Tod und die dadurch mitbedingte Abwesenheit nicht als einen Anlass zur Freude erkennen kann. Somit erweist sich Thomas schon mit seinem ersten Auftreten im Johannesevangelium als derjenige, der aufgrund von Tod und der damit einhergehenden bleibenden Entzogenheit der Person ein Wissensproblem hat, das ein positives und freudiges Verstehen unter den Bedingungen von Abwesenheit nicht erlaubt. Auffällig ist zudem, dass sein Aufruf aus Joh 11,16 im weiteren Handlungsverlauf keine Berücksichtigung erfährt, so dass auch hier eine Unbestimmtheitsstelle entsteht, die die LeserInnen auffordert, über den Zusammenhang von Tod und Auferstehung nachzudenken. Das Wissensproblem von Thomas manifestiert sich weiter bei seinem zweiten Auftritt in Joh 14,5 f.: hier tritt Thomas mit einer Frage auf den Plan, die zu einer Reihe von Jüngerfragen gehört, die im ersten Teil der Abschiedsreden an Jesus gestellt werden. Wieder geht es um Fragen der Abwesenheit und Entzogenheit von Jesus. Auf die Ankündigung Jesu von seinem Weggang zum Vater und seiner Erläuterung »Wohin ich gehe, dahin kennt ihr den Weg« (Joh 14,4) entgegnet Thomas: »Herr wir wissen nicht, wohin du gehst. Wie sollen wir da den Weg kennen? « (Joh 14,4). Wieder erweist sich Thomas als derjenige, der unter den Bedingungen von Abwesenheit und Entzogenheit ein Wissensproblem hat. Es ist für ihn unvorstellbar, dass in einer Situation von Ungewissheit und Unsicherheit überhaupt Wissen erlangt werden kann. Das direkt anschließende Ichbin-Wort, »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater, außer durch mich« (Joh 14,6), sowie die weiteren Ausführungen heben hervor, dass die Abwesenheit von Jesus nicht das Wissen verunmöglicht, sondern gerade ermöglicht. Jesu Weggang zum Vater »n’est plus conçu comme un déplacement spatial, mais comme un processus de connaissance sur le mode de la promesse« 9 . In der letzten Szene, in der Thomas aktiv die narrative Bühne betritt, spitzt sich die Frage nach dem Wissen unter den Bedingungen der Abwesenheit von Jesus dramatisch zu. Thomas, der im gesamten Abschnitt Joh 20,24-29 im Fokus der Erzählung steht, ist nun selbst abwesend bei der ersten Erscheinung Jesu vor den Jüngern und damit wird von vornherein ausgeschlossen, dass er auf sein Erfahrungswissen zurückgreifen kann. Ganz im Sinne seiner bisherigen Erkenntnislogik reagiert er auf die übermittelte Botschaft der Jünger, dass sie »den Herrn gesehen« haben, mit dem Verweis, dass nur selbst ermitteltes Wissen Gültigkeit für ihn hat. Das ihm durch die Mitjünger übermittelte Wissen weist er zurück. In einem Bedingungssatz weist er alternative Wissensformen des übermittelten Wissens mit der stärksten Form der Negation zurück (»nie und nimmer glauben«, Joh 20,25). Löning hat hervorgehoben, dass »die Bedingungen, unter denen Thomas nicht zustimmt«, dieselben sind, »unter denen der Leser liest« 10 . Es ist die Figur des Thomas, an der ein Wissensmodell nach dem Modell der Autopsie problematisiert wird: »Es ist die Figur des Thomas, an der ein Wissensmodell nach dem Modell der Autopsie problematisiert wird: Wissen, das durch die eigenen Augen oder durch die eigene Einsicht verbürgt ist, wird unter den Bedingungen von Abwesenheit unzureichend.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 40 - 2. Korrektur 40 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema Wissen, das durch die eigenen Augen oder durch die eigene Einsicht verbürgt ist, wird unter den Bedingungen von Abwesenheit unzureichend. Die Figur des Thomas wird nicht durch einen Glaubenszweifel charakterisiert, sondern durch einen Wissenszweifel, der sich weigert, andere Wissensformen in den Blick zu nehmen. Die Unbestimmtheitsstellen in Joh 20,24-29, die gerade nicht die Berührung der Wundmale Jesu durch Thomas erzählen und unerzählt lassen, warum Thomas zu seinem Bekenntnis »Mein Herr und mein Gott! « kommt, überlassen den LeserInnen nicht nur die Beantwortung der Frage, hat er oder hat er nicht die Finger in die Wundmale gelegt, sondern fordern die LeserInnen auch auf, nach Figuren im Evangelium Ausschau zu halten, die als Beispiele für andere Wege des Wissens stehen können, die auch dann Gültigkeit haben, wenn Jesus als gekreuzigter Auferstandener bleibend entzogen ist. Diese Suche der LeserInnen wird noch einmal besonders motiviert durch den abschließenden Makarismus »Selig sind die nicht sehen und dennoch glauben« (Joh 20,29), mit dem die LeserInnen direkt angesprochen werden 11 . 2. Im Wissensnetz der Zeugen Bei einer aufmerksamen Lektüre des Johannesevangeliums fällt auf, das neben der johanneische Figur des Thomas, für den nur selbstermitteltes Wissen echtes Wissen ist und der auf ein Wissensproblem stößt, wenn er mit Distanz und Differenz konfrontiert wird, ein Netz von Akteuren tritt, für die sich Wissen als Zeugenwissen konkretisiert. 12 So sind die Werke, die der Vater dem Sohn gegeben hat, um sie zu vollenden, im johanneischen Erzählzusammenhang Zeugen. Denn die Werke geben Zeugnis über den johanneischen Jesus und über die legitime Sendung durch den Vater (Joh 5,37). Ebenso geben die Schriften Zeugnis über Jesus und auch die Menge (gr.: ho ochlos) tritt als Zeuge im Johannesevangelium im Anschluss an die Lazaruserzählung auf die narrative Bühne. Auch die nur im Johannesevangelium auftretenden Figur des Lieblingsjüngers wird erst greifbar in seiner Funktion als Zeuge: Nicht umsonst endet das Evangelium mit einer Fokussierung auf den Akt des Zeugnisgebens des sogenannten Lieblingsjüngers. »Das ist der Jünger, der von diesen Dingen zeugt und der dies geschrieben hat, und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist. Es gibt aber auch viele andere Dinge, die Jesus getan hat, wenn diese alle einzeln niedergeschrieben würden, so würde, scheint mir, selbst die Welt die geschriebenen Bücher nicht fassen.« (Joh 21,24-25) Wie ein roter Faden zieht sich das Thema Zeugenschaft durch das gesamte Evangelium. Deswegen soll anhand eines Akteurs exemplarisch dargestellt werden, was Zeugenschaft in der Konzeption des Johannesevangeliums bedeutet. Schon gleich zu Beginn der Erzählung des Johannesevangeliums begegnen wir dem ersten Zeugen auf der narrativen Bühne des Evangeliums, denn mit der überschriftartigen Eröffnung des erzählenden Teils des Evangeliums in Joh 1,19 wird sogleich die entscheidende Funktion des ersten Handlungsträgers benannt: es geht um dessen Zeugnis! Was das Zeugnis (gr. martyria) in der Erzählung grundlegend bedeutet, wird an dieser Figur deutlich. Zur »Grammatik der johanneischen Zeugenschaft« gehört als erstes, dass Johannes in seiner Zeugenfunktion eingeführt wird als einer, der gesandt ist. Und zwar gesandt von Gott. Als von Gott Gesandter ist es seine Aufgabe, von etwas ihm Mitgeteilten zu zeugen. Als Gesandter ist er nicht autonom, sondern heteronom. Johannes, der gesandt ist, untersteht nicht seinem eigenen »Gesetz«, sondern-- wenn man so will-- dem Gesetz eines anderen. Johannes der Zeuge handelt im Auftrag eines anderen. Er spricht mit fremder Stimme, wie es in Joh 1,23 heißt: »›Ich bin die Stimme eines Rufenden in der Wüste: Macht gerade den Weg des Herrn‹, wie Jesaja der Prophet gesagt hat«. Seine Zeugenschaft untersteht einer göttlichen Urheberschaft und Legitimation. Somit ist Johannes ein Mittler zwischen der göttlichen Sphäre und der menschlichen Sphäre. Diese Funktion wird noch unterstrichen durch die Beobachtung, dass es die Figur des Johannes ist, die den Prolog (Joh 1,1-18) mit dem narrativen Teil des Evangeliums verbindet. »Über diese Figur gelingt die Verbindung von kosmischen und irdischen Szenario«. 13 Diese Verbindung ist eine durch die Zeugenschaft des Johannes gewährleistete, denn schon gleich in dem das Evangelium eröffnenden Prolog wird das Motiv vom Zeugnisgeben greifbar und paradigmatisch mit der johanneischen Figur Johannes verbunden: »Es war ein Mensch, von Gott gesandt, sein Name Johannes. Dieser kam zum Zeugnis, dass er zeuge von dem Licht, damit alle glaubten durch ihn. Nicht jener war das Licht, sondern damit er über das Licht Zeugnis ablegt.« (Joh 1,6-8) Erst Johannes als »wissender Zeuge« erschließt den »unwissenden AdressatInnen« die göttliche Dimension seines Zeugnisses. Johannes’ göttliche Legitimation wird auch hier wieder betont über sein Gesandtsein. Diese göttliche Legitimation macht ihn zum ersten und grundlegenden Zeugen des Evangeliums und ist mit einer speziellen Aufgabe verbunden. Die Aufgabe von Johannes Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 41 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 41 Kristina Dronsch Prekäres Wissen ist es, Zeugnis zu geben über das Licht mit dem Ziel, dass »alle« (gr. pantes) durch sein Zeugnis glauben. Als Zeuge ist es die Funktion von Johannes, sein Wissen von dem Licht zu übermitteln an die AdressatInnen. Der mit »damit« (gr. hina) eingeleitete Satzteil gibt Ziel und Zweck des Zeugnisgebens von Johannes an: »damit alle durch ihn glauben«. Damit tritt eine weitere Dimension johanneischer Zeugenschaft auf den Plan: Zeugenschaft schafft eine soziale Beziehung zwischen dem, der zeugt, und vor denen bzw. für die bezeugt wird. Diese soziale Beziehung ist a) nicht begrenzt, sie gilt »allen« und b) sie wird in ihrer praktischen Konsequenz benannt als »glauben« (Aor. pisteusōsin). Dass das übertragene und übermittelte Wissen des Johannes in der Erzählung des Johannesevangeliums nichts Defizitäres ist, wird auch in der Geistbegabung Jesu deutlich. So heißt es in Joh 1,32-34: »Und Johannes legte Zeugnis ab und sagte: Ich sah den Geist wie eine Taube vom Himmel herabschweben und auf ihm bleiben. Und auch ich kannte ihn ja nicht, aber der mich dazu gesandt hat, mit Wasser zu taufen, der hatte zu mir gesagt: Der, auf den du den Geist herabkommen und auf ihm bleiben siehst, der ist es, der mit dem Heiligen Geist taufen wird. Und eben das habe ich gesehen und habe Zeugnis abgelegt: Dieser ist Gottes Sohn.« Ganz im Gegensatz zu der synoptischen Darstellung findet sich im Johannesevangelium kein Hinweis auf die Taufe Jesu, vielmehr wird-- wie Stefan Alkier formuliert-- die »Geistbegabung Jesu […] retrospektiv aus der Sicht des Täufers geschildert und als gültige und beständige Markierung benutzt, die die Identifikation Jesu als des erwarteten Messias und als ›Sohn Gottes‹ (1,34b) durch Johannes den Täufer begründet«. 14 Dies impliziert, dass nach der johanneischen Konzeption der Geistempfang nicht im Sinne eines »christologischen Gründungsgeschehens« 15 zu begreifen ist, sondern ausschließlich als ein Identifizierungszeichen gelten kann. Der Geist hat die Funktion eines identity markers, der von Gott kommt und der es dem Täufer ermöglicht, Jesus als den Geistträger und Geistspender erst zu identifizieren. Hier ist nun von Interesse, dass dieses Wissen um Jesus ein auf Vermittlung und Zeugenschaft gründendes Wissen ist. Die Erzählung bestätigt, dass Johannes Jesus nicht kannte (V. 33 bestätigt dieses Nichtwissen durch die Worte »Und auch ich kannte ihn ja nicht«, siehe auch V. 31). In der johanneischen Erzählung wird also betont hervorgehoben, dass Johannes nicht das Wissen über Jesus selbstständig ermittelt hat, dass er der mit heiligem Geist taufende Sohn Gottes ist, sondern es wurde ihm- - durch den, der ihn gesandt hat-- übermittelt. Als Zeuge, der das Wissen von Jesus als dem Sohn Gottes übermittelt, ist Johannes selbst schon eingebunden in die sein Zeugnisgeben erst ermöglichenden Übertragungs- und Vermittlungsprozesse. In der narrativen Figur des Johannes tritt somit deutlich hervor, dass übermitteltes Wissen kein defizitäres ist, sondern notwendiges Wissen in Situationen, wo Abstand, Differenz und Entfernung vorherrschen. Als Zeuge übermittelt Johannes Wissen für diejenigen, die nicht über dieses Wissen verfügen (können), und schafft eine Verbindung zwischen der urhebenden Instanz des übermittelten Wissens sowie den AdressatInnen. In Kongruenz zur Konzeption der Zeugenschaft von Johannes charakterisiert John Durham Peters den Zeugen als »the paradigm case of a medium: that means by which experience is supplied to others who lack the original«. 16 Ganz in diesem Sinn überbrückt Johannes als Zeuge Abstände für die anderen, denen-- wie Peters es nennt-- das Original fehlt. Der Zeuge übermittelt in den Fällen ein Wissen, wo Wissen nicht einfach ermittelt werden kann. Zeugenwissen hebt den Abstand zwischen dem Original und denen, denen das Original fehlt, nicht auf, sondern schafft eine Verbindung trotz der Ferne voneinander. Notwendig wird Zeugenschaft also immer dort, wo Abstand und Differenz vorherrschen. Alexander García Düttmann hält deshalb fest: »Man wird nur dort zum Zeugen, wo man sich auf kein Wissen mehr verlassen kann […] und man sich dennoch zu einem Geschehen verhalten muß, das in sich un-eins ist«. 17 Genau diese Funktion als Zeuge wird durch Johannes im Verlauf des Johannesevangeliums weiter exemplifiziert. In Joh 3,22-4,3 wird die Notwendigkeit der Zeugenschaft des Johannes als des göttlichen Gesandten noch einmal deutlich hervorgehoben und qualifiziert. Das Un-eins-Sein wird hier geradezu zur Signatur der »Zeugenschaft schafft eine soziale Beziehung zwischen dem, der zeugt, und vor denen bzw. für die bezeugt wird. Diese soziale Beziehung ist a) nicht begrenzt, sie gilt ›allen‹ und b) sie wird in ihrer praktischen Konsequenz benannt als ›glauben‹« »Als Zeuge übermittelt Johannes Wissen für diejenigen, die nicht über dieses Wissen verfügen (können), und schafft eine Verbindung zwischen der urhebenden Instanz des übermittelten Wissens sowie den AdressatInnen.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 42 - 2. Korrektur 42 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema Zeugenschaft des Johannes (bes. Joh 3,31-36) erhoben. Denn es fällt auf, »dass sich das Motiv martyria gehäuft in zentraler Position findet, genau dort nämlich, wo die Wahrnehmung der Diskrepanz zwischen Himmel und Erde zum Entscheidungskriterium für die Zugehörigkeit zum Kreis der Wissenden avanciert« 18 . Beim nächsten Auftreten von Johannes als Zeugen tritt eine weitere Signatur der johanneischen Zeugenschaft hervor. In Joh 5,33-44 tritt das Zeugnis des Johannes in einem groß angelegten Diskurs narrativ exponiert in Erscheinung, denn Johannes’ Zeugnis ist ein Zeugnis »für die Wahrheit« (Joh 5,33). Die seltene Wendung martyria tē alētheia begegnet nur hier im Johannesevangelium und nicht im Munde von Johannes, sondern von Jesus. Johannes’ Zeugnis für die Wahrheit ist im Munde von Jesus ein Zeugnis, dass nicht mehr von anderen Instanzen akkreditiert werden muss. Als Zeugnis für die Wahrheit gibt es die Qualität an, in der es steht. Johannes Zeugnis ist deshalb nicht einfach ein Erkenntnismittel, welches durch einen Anerkennungsakt in Kraft gesetzt wird, sondern als »Zeugnis für die Wahrheit« ist es in seinem unverbrüchlichen Zeugnischarakter schon in seiner Qualität festgelegt und bedarf keiner weiteren Autorisierung-- und deshalb hat sein Zeugnis auch eine soteriologische Funktion (vgl. Joh 5,34). Ein letztes Mal zeigt das Johannesevangelium die Wirkung von Johannes’ Zeugenwissen in Joh 10,40-42 auf. Auch diesmal spricht Johannes wieder nicht selbst, sondern es wird über sein Zeugnis gesprochen von den »vielen«, wenn es in Joh 10,41 f. heißt: »Es kamen viele zu ihm [sc. Jesus] und sagten: Johannes hat zwar keine Zeichen gewirkt, doch alles, was Johannes über diesen gesagt hat, war wahr. Darum fanden dort viele zum Glauben an ihn« Mit diesen Sätzen wird nicht nur in grundlegender Weise noch einmal das Zeugnis von Johannes aus dem Prolog des Johannesevangeliums bestätigt, sondern einmal direkt in positiver Konsequenz und einmal indirekt in negativer Konsequenz ein weiteres Merkmal von Zeugenschaft ausgeführt, welches schon einmal im Prolog im Rahmen des Zeugnisses von Johannes thematisiert wurde. Sowohl im Prolog wie auch in Joh 10,41 f. wird noch einmal bestätigt, dass die Wahrhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit des Zeugen Johannes von grundlegender Qualität ist für sein Zeugenwissen. Wahrhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit sind die tragenden Grundlagen des Zeugenwissens, welches durch Johannes verfügbar gemacht wird. Als Zeuge gründet die Wahrhaftigkeit seines Sagens in der Wahrhaftigkeit seiner Person. Johannes überzeugt, weil ihm vertraut wird, denn sein Zeugnis ist wahr. Hier tritt nun eine Qualität von Zeugenschaft hervor, die nicht mehr mit einer reinen Informationsübermittlung erfasst werden kann: Wahrhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit setzen deswegen immer auch eine Anerkennungspraxis derer voraus, denen das Zeugnis von Johannes übermittelt wurde. Es muss ein soziales Band zwischen dem, der bezeugt, und den AdressatInnen existieren. Wenn dieses soziale Band existiert, dann tritt die kreative Seite von Zeugenschaft im Johannesevangelium zutage. Denn das durch den Zeugen Johannes übermittelte Wissen vom Licht, welches den AdressatInnen übermittelt wird, weist-- wenn diesem Zeugen vertraut wird und seine Wahrhaftigkeit anerkannt wird-- auf eine poietische Struktur von Zeugenschaft im Johannesevangelium hin: Der Zeuge Johannes, der in der Heteronomie seines Gesandtseins den AdressatInnen das Wissen über das Licht übermittelt, ermöglicht durch seine Zeugenschaft das Entstehen von Neuem bei den AdressatInnen: Dieses Neue wird im Johannesevangelium als »Glauben« zum Ausdruck gebracht. Doch ohne Vertrauen wird nicht nur diese poietische, wirklichkeitsschaffende Seite eines Zeugnisses für die Anderen nicht greifbar, sondern wo immer die ethische Gabe des Vertrauenschenkens, welche im Johannesevangelium den Nukleus des Bezeugens bildet, unterlaufen wird, wird das Fundament der johanneischen Wissenspraxis verfehlt, die im Kern in einer sozialen Epistemologie gründet. Wenn in Joh 10,41 im Tempus der Vergangenheit die Glaubwürdigkeit des Zeugen Johannes (»alles, was Johannes über diesen gesagt hat, war wahr«) narrativ eingespielt wird, so wird nicht nur sein erzählter gewaltsamer Tod in Erinnerung gerufen, sondern auch und vor allem verdeutlicht, dass diese soziale Epistemologie, für die das Wissen durch die Worte anderer paradigmatisch ist, immer auf die Gabe des Vertrauenschenkens durch die AdressatInnen angewiesen bleibt. 3. Zeugenschaft als Lebensform Im letzten Abschnitt wurde als grundlegende Signatur des Zeugeseins anhand der Figur Johannes herausgearbeitet, dass er als Mittler für all jene fungiert, denen »das Original« fehlt, all jene, die keine Autopsie vornehmen können. Das von ihm bezeugte Wissen wird somit denen zugänglich gemacht, die in einer unüberbrückbaren Distanz zum Bezeugten stehen. Zugleich setzt das Zeugnisgeben immer eine Instanz voraus, vor der oder für die bezeugt wird. Damit steht sein Zeugenwissen bzw. seine Zeugenschaft nicht für eine bestimmte Information, sondern für eine Lebensform. Johannes ist als Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 43 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 43 Kristina Dronsch Prekäres Wissen Zeuge fundamental daran beteiligt, Orientierungswissen für jemanden bereitzustellen und ermöglicht durch seine Zeugenschaft eine epistemische Sozialität, die sich keineswegs in der Beweisfunktion seines Zeugnisses erschöpft. Zugleich wird mit dem Netz des Zeugenwissens, welches sich durch das gesamte Johannesevangelium spannt, die Wissenskonzeption, für die die narrative Figur des Thomas steht, düpiert. Ein Alleingängertum im Erkenntnishandeln verfehlt die wirklichkeitsschaffende Kraft durch Akte des Zeugnisempfangs, die auf Seiten der Rezipierenden ermöglicht wird: zu glauben, ohne zu sehen (Joh 20,29). Zu glauben, ohne zu sehen, wird besonders für die Zeit der Abwesenheit von Jesus vonnöten. Und Zeugenschaft nimmt ihren Ausgangspunkt dort, wo Unwissenheit und Unsicherheit aufgrund von Distanz und Entfernung vorherrschen, wie an der narrativen Figur von Johannes schon aufgezeigt wurde. In einer gegenüber den übrigen Evangelien sehr eigenständigen Weise legt das Evangelium über die Problematik der Abwesenheit Jesu intensiv Rechenschaft ab in den Abschiedsreden (vgl. Joh 13,31-16,33). 19 Es sind die Abschiedsworte des scheidenden Jesus, wobei zu betonen ist, dass das hier dominierende Zeitverhältnis ein paradoxes ist. Denn es handelt sich um eine »als prospektive Verhältnisgabe Jesu erzählte retrospektive Verhältnisnahme« 20 der durch das Evangelium Angesprochenen. Was auf der textinternen Ebene als zukünftig angekündigt wird, ist für den AdressatInnenkreis- - also auf textexterner Ebene-- bereits eingetreten. Innerhalb der Abschiedsreden kommt der Figur des Parakleten eine zentrale Rolle zu, denn an dieser johanneischen Figur konkretisiert sich einmal mehr, was Zeugenschaft als Lebensform bedeutet. Sein Zeugesein ist in einer Situation von Unsicherheit und Unwissenheit gefragt und er macht durch sein Zeugnis eine Erfahrung bzw. Erinnerung anderen verfügbar, denen das Bezeugte nicht mehr direkt zugänglich ist. In nur fünf knappen Textstellen weisen die Abschiedsreden auf den Parakleten hin: Joh 14,16; 14,26; 15,26; 16,7b-11; 16,16 f. 21 Der Paraklet, von dem es ausdrücklich heißt, dass er nicht kommen könne, wenn Jesus noch anwesend ist (vgl. Joh 16,7), übernimmt seine Funktion erst mit der Abwesenheit Jesu. Seine Aktivität beginnt erst, wenn es für die Angesprochenen keine Möglichkeit mehr gibt »auf das Original zurückzugreifen«. Trotz der überaus komplexen Begriffsbestimmung des Lexems paraklētos lässt sich dennoch eine Grundfunktion herausarbeiten. Etymologisch ist paraklētos ein aus dem Passiv parakleisthai gebildetes Verbaladjektiv, »das einen als Beistand oder Zeugen zur Hilfe Herbeigerufenen bezeichnet.« 22 Der Parakletbegriff erschließt sich dementsprechend über seine Funktion, die er ausübt. Sehr allgemein kann man den Parakleten als den zugunsten eines anderen Tätigen verstehen. 23 Seine Funktion ist es, zugunsten des abwesenden Jesus tätig zu sein, indem er zwischen dem abwesenden Jesus und den angesprochenen AdressatInnen vermittelt. Seine Funktion ist die eines bezeugenden Mittlers. Somit ist auch die schon bei Johannes dem Täufer festgestellte Heteronomie als Kennzeichen der Zeugenschaft des Parakleten zu finden. Er ist der Gesandte des abwesenden Jesus (»ich werde ihn zu euch senden« in Joh 16,7 bzw. der Paraklet wird »gesendet vom Vater in Jesu Namen« in Joh 14,26). Als derjenige, der von Jesus zeugen wird-- wie es in 15,27 heißt-- spricht auch der Paraklet nicht mit eigener Stimme, sondern spricht für den abwesenden Jesus. Der Paraklet verbürgt in vollkommener Transparenz den Sinn, die Qualität des von ihm Bezeugten (vgl. Joh 16,13-15). In seiner Bezogenheit auf Jesus wird er nichts anderes lehren als das, »was Jesus gesagt hat« (Joh 14,26), und er wird »nicht aus sich selbst reden, sondern was er hören wird, wird er reden« (Joh 16,13). Auch der johanneische Paraklet ist eine Figur, die Wissen in Form von Zeugenwissen für die AdressatInnen verfügbar macht. In Joh 14,16 wird festgehalten, dass das Wirken des Parakleten nicht zeitlich-- bzw. lebenszeitlich-- determiniert, sondern-- ganz im Duktus biblischen Sprache-- »bis in Ewigkeit« (gr. eis ton aiōna in Joh 14,16) zeitlich entfristet ist, so dass durch die Qualifizierung einmal mehr unterstrichen wird, dass es im Johannesevangelium kein bleibendes Wissen jenseits von Übermittlung gibt und dass dieses Wissen ein durch Übertragung und Übermittlung gesichertes ist und als solches qualifiziert auch Wissen bleibt. Wenn es in Joh 15,26 nun heißt, dass der Paraklet der Zeuge Jesu sein wird, dann wird einmal mehr betont, dass der Paraklet in vollkommener Transparenz den Sinn, die Qualität des von ihm Bezeugten (vgl. Joh 16,13-15) verbürgt und so die Erinnerung ermöglicht. Da der Paraklet nicht nur als Gabe gegeben wird (vgl. das Verb dōsei in Joh 14,16) und als solche Gabe erkannt werden kann (vgl. das Verb gignōskete in Joh 14,17), sondern bleibt (vgl. das Verb menei in Joh 14,17) und in ihnen sein wird (vgl. en hymin estai in Joh 14,17), wird »Auch der johanneische Paraklet ist eine Figur, die Wissen in Form von Zeugenwissen für die AdressatInnen verfügbar macht.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 44 - 2. Korrektur 44 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema ein Ermöglichungsgrund des Zeugnisablegens gegeben: Die Gabe, die bleibt, ermöglicht das Zeugnisablegen. Der Sinn der Aussagen, die vom Bleiben, In-Sein und Mit-Sein des Parakleten sprechen, liegt in zwei Aspekten: Damit es Gabe gibt, ist es zum einen nötig, dass der Gabenempfänger nicht zurückgibt. Durch das Bleiben, In-Sein und Mit-Sein der Gabe wird die Möglichkeit der GabenempfängerInnen markiert, nicht zurückzugeben, denn die Gabe erscheint nicht mehr als Gabe. Zum anderen wird durch die Rede vom Bleiben, In-Sein und Mit-Sein des Parakleten zum Ausdruck gebracht, dass trotz aller bleibenden Differenz Gemeinschaft ermöglicht wird. In Form eines vom johanneischen Jesus ausgesprochenen Versprechens, das unlösbar mit der Figur des Parakleten verbunden ist, wird in Joh 14,18 festgehalten: »Ich lasse euch nicht als Waisen zurück, ich komme zu euch! « Die Qualität der Zeugenschaft trägt immer gemeinschaftskonstitutive Züge! Mit der Gestalt des Parakleten wird verdeutlicht, »dass Erinnerung nicht bloss die menschliche Fähigkeit ist, sich Dinge wieder ins Bewusstsein zu rufen«, 24 sondern eingebunden ist in eine Lebensform, die als Zeugenschaft sich aktualisiert und die es nicht jenseits von Gemeinschaft gibt. Der Paraklet ist der Ermöglichungsgrund für den Prozess der Erinnerung an den abwesenden Jesus, er ist die »Kraft der Erinnerung« für die AdressatInnen. 25 Deshalb ist dieses »Erinnern« keineswegs ein rein passives Tradieren oder Archivieren, sondern entspricht einem eminent kreativen Erkenntnisvorgang, der auf Übermittlung und Übertragung gründet. Dieses durch den Parakleten übermittelte Wissen an die AdressatInnen ist zu beschreiben als erinnernde Vergegenwärtigung, die sich ebenfalls nur in Gemeinschaft vollziehen kann. 26 Der Paraklet verbürgt nicht die faktische Wahrheit von archivierbaren Aussagen, sondern deren Unarchivierbarkeit, die auf Seiten der RezipientInnen im Prozess der Erinnerung eingebunden ist. Erinnerung meint nicht die faktische Vergegenwärtigung des Vergangenen, sondern das Lehren und Erinnern des Parakleten weisen darauf hin, dass es um »alles« geht (vgl. das zweimalige panta in Joh 14,26; 27 siehe auch Joh 16,13). Dieses »alles« bezieht sich keineswegs nur auf die im Johannesevangelium gesprochenen Jesusworte, sondern ist deutlich entgrenzter zu verstehen und somit eine Größe, die jenseits von Tradierung und Archivierung einsetzt. Durch das betonte »alles« wird im Johannesevangelium klargestellt, dass sich Erinnerung nicht auf mitgeteilte Botschaften beschränken lässt, die durch die so Erinnerten bewahrt werden. Dass das kreative Potential der Erinnerung gerade die Abwesenheit Jesu voraussetzt, zeigen auch die signifikanten »Erinnerungsstellen« bezüglich der Jünger in Joh 2,17.22 und 12,16. Beide Stellen betonen, dass die Jünger nach der Auferweckung Jesu (also mit Beginn seiner Abwesenheit) erinnert wurden. Die im griechischen Text zu findende Formulierung emnēsthēsan ist zu lesen als ein Aorist Passiv des Verbs mimnēskō. 28 Das Passiv weist darauf hin, dass die Erinnerung ihnen übermittelt wurde. Damit sind alle Leserinnen und Leser des Evangeliums in der gleichen Situation, da die Kraft der Erinnerung auch für sie zugänglich ist und mittels dieser Kraft ihnen zugemutet wird, Zeugnis ablegen zu können. Wobei Zeugnis ablegen konkret in der Perspektive der Parakletstellen des Evangeliums bedeutet, die eigene Stimme durch die Kraft der Erinnerung für denjenigen zu erheben, der gegenwärtig nicht anwesend ist. Aus diesem Grund betont Joh 15,27, dass die Zeugen »ursprunghaft«-- im Sinne einer qualitativen Bestimmung-- mit dem Abwesenden verbunden sind. 29 Die Figuren der Zeugen im Johannesevangelium übernehmen die Funktion, Wissen für die AdressatInnen in einer Situation der Unwissenheit zu übermitteln. Das Wissen, welches die Figuren der Zeugen übermitteln, geht über das Wissen einer Information hinaus, denn die Akte der Zeugenschaft im Johannesevangelium tragen in sich eine eminent soziale Komponente: sie verlangen nach einer sozialen Epistemologie. Als narrative Ermöglichungsfiguren in Zeiten der Entzogenheit stiften sie Verbindungen und sind eine Antwort auf die Frage, wie die an Jesus Glaubenden in der Zeit seiner Abwesenheit als Gemeinschaft zu existieren vermögen-- nämlich über die Lebensform Zeugenschaft. Anmerkungen 1 U. Eco, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München 3 1998, 65. 2 H. Thyen, Das Johannesevangelium als literarisches Werk, in: D. Neuhaus (Hg.), Teufelskinder oder Heilsbringer-- die Juden im Johannesevangelium, Frankfurt a. M. 1993, 112-132: 119. 3 Vgl. U. Eco, Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur, München 1996, 112. Auch W. Iser stellt die Interdependenz zwischen realer und fiktionaler Welt heraus, wenn er schreibt: »Indem das Lesen den Text als Prozeß der Realisierung entfaltet, konstituiert es den Text als Wirklichkeit, denn was immer Wirklichkeit sein mag, sie ist, indem sie geschieht« (W. Iser, Die Wirklichkeit der Fiktion. Elemente eines funktionsgeschichtlichen Textmodells der Literatur, in: R. Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 4 1994, 277-324: 297). 4 Vgl. dazu T. van Dijk/ W. Kintsch, Strategies of Discourse Comprehension, New York 1983, 11 ff., die die Funktion der Inferenzbildung von der linguistischen Ebene hin zur Ebene der mentalen Modellbildung vollziehen. Vgl. zu Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 45 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 45 Kristina Dronsch Prekäres Wissen W. Iser, Der Akt des Leses. Theorie ästhetischer Wirkung, München 4 1994, 284. 5 München 2007. 6 Dass die Abwesenheit nicht nur eine grundlegende Erfahrung des frühen Christentums war, äußert Nehemia Polen mit Blick auf das Judentum des Zweiten Tempels. Dieses war nach seiner Meinung »consciously constructed as a religion of absence«. (N. Polen, God’s Memory, in: Obliged by Memory. Literature, Religion, Ethics. A Collection of Essays Honoring Elie Wiesel’s Seventieth Birthday, hg. v. St.T. Katz/ A. Rosen, New York 2006, 139-153: 145). 7 Chr. Dietzfelbinger, »Die größeren Werke (Joh 14,12 f.)«, in: NTS 35 (1989), 27-47: 34. 8 Vgl. dazu J. Hartenstein, Charakterisierung im Dialog. Maria Magdalene, Petrus, Thomas und die Mutter Jesu im Johannesevangelium (NTOA 64), Göttingen 2007, 216. 9 J. Zumstein, L évangile selon Saint John (13-21), Commentaire du Nouveau Testament IVb, Genf 2007, 67. 10 K. Löning, Als Anfang schuf Gott. Biblische Schöpfungstheologien, Düsseldorf 1997, 117. 11 Vgl. L. Schenke, Johannes. Kommentar, Düsseldorf 1998, 380: »Jeder Leser soll sich fragen, ob der Auferstandene in dieser Seligpreisung ihn mitgemeint hat. Genügt ihm das erzählte Zeichen, das Zeugnis der Augenzeugen und die Darstellung des JohEv, um zu glauben? « 12 Der Hauptanteil aller neutestamentlichen Belege der Wurzel matyrfindet sich im Johannesevangelium, so dass auch aufgrund dieser wortstatistischen Erhebung die Relevanz des Wortfeldes »Zeuge/ Zeugnis« deutlich wird. 13 A. Leinhäupl-Wilke, Rettendes Wissen im Johannesevangelium. Ein Zugang über die narrativen Rahmenteile (Joh 1,19-2,12- - 20,1-21,25) (Neutestamentliche Abhandlungen N.F. 45), Münster 2003, 50. 14 S. Alkier, Realität der Auferweckung in, nach und mit den Schriften Neuen Testaments (NET 12), Tübingen 2009, 152. 15 H.-Chr. Kammler, »Jesus Christus und der Geistparaklet. Eine Studie zur johanneischen Verhältnisbestimmung von Pneumatologie und Christologie«, in: O. Hofius/ H.-Chr. Kammler, Johannesstudien. Untersuchungen zur Theologie des vierten Evangeliums (WUNT 88), Tübingen 1996, 87-190: 156 16 J. Durham Peters, Witnessing, in: Media, Culture and Society 23 (2001), 707-723: 709. 17 A.G. Düttmann, Uneins mit Aids. Wie über einen Virus nachgedacht und geredet wird, Frankfurt/ M. 1993, 99. 18 A. Leinhäupl-Wilke, Rettendes Wissen im Johannesevangelium. Ein Zugang über die narrativen Rahmenteile (Joh 1,19-2,12- - 20,1-21,25) (Neutestamentliche Abhandlungen N.F. 45), Münster 2003, 50. 19 Vgl. A. Dettwiler, Die Gegenwart des Erhöhten. Eine exegetische Studie zu den johanneischen Abschiedsreden (Joh 13,31-16,33) (FRLANT 169), Göttingen 1995, 299: »Die Grundfrage der johanneischen Abschiedsreden ist ›die nach der Abwesenheit Jesu‹«. 20 J. Rahner, »Vergegenwärtigende Erinnerung. Die Abschiedsreden, der Geist-Paraklet und die Retrospektive des Johannesevangeliums«, in: ZNW 91 (2000), 72-90: 74. 21 Darüber hinaus ist im Neuen Testament nur noch in 1 Joh 2,1 die Rede vom Parakleten. 22 H. Thyen, Der Heilige Geist als paraklētos, in: H. Thyen, Studien zum Corpus Iohanneum (WUNT 214), Tübingen 2007, 663-688: 664. 23 Mit H. Thyen, Der Heilige Geist als paraklētos, in: H. Thyen, Studien zum Corpus Iohanneum (WUNT 214), Tübingen 2007, 663-688: 668 f., ist die Rede vom »anderen Parakleten« in Joh 14,16 so zu verstehen, dass der scheidende Jesus in der Welt selbst als Paraklet gewirkt hat und dass Jesu Abwesenheit die Bedingung für die Möglichkeit für das Kommen des anderen Parakleten ist. 24 H. Weder, Evangelische Erinnerung. Neutestamentliche Überlegungen zur Gegenwart des Vergangenen, in: Ders., Einblicke in das Evangelium, Göttingen 1992, 183-200: 198. 25 H. Weder, Evangelische Erinnerung. Neutestamentliche Überlegungen zur Gegenwart des Vergangenen, in: Ders., Einblicke in das Evangelium, Göttingen 1992, 183-200: 196 f. 26 Dieses aktive Erinnerungsverständnis wird in der gegenwärtigen Johannes-Forschung von vielen betont. 27 Nicht nur das erinnernde Wirken des Parakleten, sondern auch das lehrende Wirken sind auf »alles« bezogen, was Jesus sagte. Zur Argumentation vgl. Chr. Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium (WUNT II/ 84), Tübingen 1996, 115. 28 Vgl. zu dieser Möglichkeit O. Schwankl, Recordati sunt. Erinnerungsarbeit in den Evangelien, in: »Für alle Zeiten zur Erinnerung« (Jos 4,7). Beiträge zu einer biblischen Gedächtniskultur (FS F. Mußner), hg. v. M. Theobald/ R. Hoppe, SBS 209, Stuttgart 2006, 53-94: 84. 29 Zu diesem Verständnis von ap‘ archēs vgl. H.-Chr. Kammler, Jesus Christus und der Geistparaklet. Eine Studie zur johanneischen Verhältnisbestimmung von Pneumatologie und Christologie, in: O. Hofius/ H.-Chr. Kammler, Johannesstudien. Untersuchungen zur Theologie des vierten Evangeliums (WUNT 88), Tübingen 1996, 87-190: 121 f..