eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 17/34

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2014
1734 Dronsch Strecker Vogel

Verwehrtes Personsein

2014
Judith Perkins
Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 25 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 25 Vor einigen Jahren bin ich in Texten aus unterschiedlichen Bereichen der römischen Kaiserzeit auf ein neues kulturelles »Subjekt« gestoßen, in medizinischen Schriften, paganen kultischen Quellen, in der neu entstehenden Romanliteratur, und ebenso in zeitgenössischen philosophischen und christlichen Schriften. 1 In Quellen aus unterschiedlichen sozialen Kontexten ging man dazu über, eine besondere Repräsentation des menschlichen Selbst in Gestalt des für Schmerz und Leid anfälligen Körpers zu entwerfen. Bis zu dieser Entdeckung las ich diese literarischen Bezüge auf körperliches Leiden als zusammenhanglose Beschreibungen unspezifischer Ereignisse. Als ich mir aber klarmachte, wie etwa Apuleius, ein afrikanischer Philosoph und Prosaschriftsteller des 2. Jhs., in einer öffentlichen Rede seine von einem gezerrten Knöchel herrührende Übelkeit beschreibt (Florida 16), wurde mir deutlich, dass dasjenige, was ich einfach als realistische Beschreibung gelesen hatte, eigentlich Teil der umfassenden Artikulation einer neuen kulturellen Subjektivität war, nämlich, das Selbst als ein Leidendes zu begreifen, und dass damit die vorherrschende Konzeptualisierung des Selbst als einer mit Seele bzw. Verstand identischen Kontrollinstanz über den Körper infrage gestellt wurde. Mir wurde auch klar, dass es jene neue Artikulation des »Subjekts« als leidendes Selbst war, aufgrund derer das Christentum als soziale und politische Größe seine institutionelle Macht gestaltete und erlangte. Dass mir dies nicht früher aufgefallen war, illustriert die inhärente Magie kultureller Diskurse (verstanden als ein Ensemble von Ideen, Bildern und Überzeugungen, die in einer bestimmten Gesellschaft zirkulieren): Sie schläfert die Leute ein und lässt sie vergessen, hinter ihre Projektionen der Realität zu schauen und etwa zu fragen: Warum kommt dieses und jenes Thema gerade jetzt auf? Warum in dieser besonderen Weise? Welchen Zwecken dienen diese Arten kultureller Repräsentation bei Autoren und Rezipienten? Die Macht eines kulturellen Diskurses besteht eben in seiner bemerkenswerten Fähigkeit, den Ton anzugeben und zugleich die eigenen Voraussetzungen dadurch unsichtbar zu machen, dass er sie mit dem Schein des Alternativlosen umgibt. Dabei ist doch jede Repräsentation einseitig und unvollständig. Jede Repräsentation der »Realität« lässt etwas aus, wenn sie etwas anderes integriert. Deshalb kann ein kultureller Diskurs niemals die »reale« Welt repräsentieren, sondern immer nur eine Welt, die durch in der jeweiligen Kultur wirkende soziale Kategorien, Beziehungen und Institutionen vermittelt ist. Was im Raum der Kultur »Realität« heißt, ist immer gemacht und immer veränderbar. Kulturelle Repräsentationen reflektieren stets die besonderen Voraussetzungen und Ziele ihrer Kultur. Und wenn kulturelle Diskurse auch nicht »die Realität« repräsentieren, so haben sie doch sehr reale Auswirkungen. Individuen bilden ihr Selbstverständnis, ihre sozialen Rollen und ihre Welt durch die Linse ihrer spezifischen kulturellen Schwerpunkte, und die »Realität« dieser Praktiken verhilft zur Aneignung eines kulturellen Bewusstseins. Wenn aber Wahrnehmungen der Realität stets durch kulturell vorgegebene Kategorien gefiltert werden, dann ist die Wahrnehmung überall dort eingeschränkt, wo keine passende Beschreibungskategorie vorhanden ist. In der Folge bleiben Dinge dem kulturellen Bewusstsein verborgen. Man kann sich das anhand eines einfachen Beispiels klarmachen: Lernt man ein neues Wort, so begegnet es einem plötzlich auf Schritt und Tritt. Diese gängige Erfahrung nötigt zu der schaurigen Anerkenntnis der Tatsache, dass die bisherige Unkenntnis dieses Wort vor dem eigenen Bewusstsein verborgen hat, obwohl man ihm möglicherweise oftmals begegnet ist. Das Beispiel illustriert, wie es geschehen kann, dass man keine Wahrnehmung von etwas hat, obwohl es einem buchstäblich vor Augen steht. Ein Beispiel von größerer Tragweite ist die kopernikanische Wende: Vorkopernikanisch haben westliche Beobachter Phänomene, die ihrer geozentrischen Kosmologie widersprachen, entweder schlicht nicht gesehen oder aber außer Acht gelassen, etwa die planetarischen Umlaufbahnen. Im Paradigma des operativen Wissens enthielten diese Phänomene keinen Sinn und blieben deshalb unbemerkt. 2 Judith Perkins Verwehrtes Personsein Zum Thema »Wenn [...] Wahrnehmungen der Realität stets durch kulturell vorgegebene Kategorien gefiltert werden, dann ist die Wahrnehmung überall dort eingeschränkt, wo keine passende Beschreibungskategorie vorhanden ist. In der Folge bleiben Dinge dem kulturellen Bewusstsein verborgen.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 26 - 2. Korrektur 26 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema (le souci de soi) betonte. Individuen begannen, sich selbst als »Erkenntnisgegenstand und Handlungsbereich« zu sehen. 3 Foucault zeigt, dass in dieser Zeit »die Kunst der Existenz-- die téchne tû bíu in ihren unterschiedlichen Formen-- von dem Prinzip beherrscht wird, wonach man ›für sich selbst sorgen‹ muß«. 4 Er stellt in Rechnung, dass diese »Sorge des Selbst« ein permanentes Thema bereits der klassischen Philosophie war, sah aber in der frühen römischen Kaiserzeit deren Zenit: »In der langen Entwicklung der Lebenskunst im Zeichen der Sorge um sich können die beiden ersten Jahrhunderte der Kaiserzeit als Scheitelpunkt einer Kurve angesehen werden: eine Art Goldenes Zeitalter in der Kultur seiner selber, ein Phänomen, das freilich nur jene zahlenmäßig geringen sozialen Gruppen betraf, die Kulturträger waren und für die eine téchne tû bíu einen Sinn und eine Realität haben konnte.« 5 Mit seinem Schwerpunkt auf Lebensformen der kulturtragenden Elite bewegt sich Foucault freilich ganz im Fahrwasser antiker philosophischer Konvention. Die Praxis philosophischer enkrateia (Enthaltsamkeit, Selbstbeherrschung) diente dazu, »sich darauf vorzubereiten, Beziehungen der Dominierung Untergebener aufrecht zu erhalten […]. Es handelte sich vorrangig um die moralische Möglichkeitsbedingung der Herrschaft über andere« 6 . Tatsächlich bezieht sich Foucault in seiner Analyse der epistemologischen Dynamik jener Zeit und der »Sorge um sich« (epimeleisthai heautou)-- jener Neubelebung der sokratischen Maxime, die dem »erkenne dich selbst« (gnōthi sauton) Platons voraus ging- - hauptsächlich auf die Oberschicht. Foucault verfolgt das Motiv der Selbstsorge bis in Platons frühe Dialoge zurück und verweist auf Sokrates’ letzte Worte, mit denen er Kriton daran erinnert, den Hahn für Asklepios nicht zu vergessen: »Vergesst dieses Opfer nicht! « (mē amelēsēte; Phaidon 118a) 7 . Die finale Aufforderung »nicht zu vergessen« deckt sich mit dem Insistieren des Sokrates der Frühdialoge auf der »Sorge um sich«, in verwandter Formulierung (heautou epimeleisthai). Mit seinen letzten Worten erinnert sich Sokrates an seine Schulden an Asklepios für seine Heilung: Für ihn ist sein Tod eine Freilassung, kein Übel. Für Sokrates beinhaltet philosophisches Denken das Ablegen des Körpers und das Vertrauen auf die Seele. Der Körper (gr.: sōma) ist ein Hindernis für das philosophische Denken. Er ist ein »Grab«, sēma (Kratylos 400c). Die Unterscheidung zwischen Verstand/ Seele und Körper war traditionell dafür da, soziale Hierarchien zu fundieren. Platon behauptet in der Politeia, dass körperliche Arbeit entwürdigend ist und es Sklaven und Arbeitern verwehrt sei, sich selbst zu beherrschen oder die eigenen Denker des 20. Jhs. wie Hans-Georg Gadamer, Thomas Kuhn und Michel Foucault mit ihren verwandten Begriffen des »Erwartungshorizonts«, des wissenschaftlichen »Paradigmas« und der historischen Episteme haben herausgearbeitet, in welchem Maße die historische Situation die ontologischen Annahmen und die Wahrnehmungen einer Kultur beeinflusst. Für Foucault ist Episteme das »historische Apriori«, die Annahmen und Weisen des Verstehens, die Ideen in einem bestimmten historischen Zeitraum vernünftig erscheinen lassen, während sie unter anderen historischen Bedingungen als ungerechtfertigt und unhaltbar gelten müssen. Foucault hat in seinen Schriften historische Momente untersucht, in denen »epistemische Brüche« bzw. diskursive Verschiebungen auftraten und das bisher Undenkbare und Absurde auf einmal als offensichtlich, vernünftig und erwartbar galt. Foucault beobachtete in den ersten Jahrhunderten der römischen Kaiserzeit solch einen Moment der epistemischen Verschiebung, als das klassische »Subjekt« einer neuen Subjektivität Platz machte, die die »Selbstsorge« Judith Perkins ist emeritierte Professorin an der University of Saint Joseph, West Haftford, Ct. 1972 Ph.D. für Classical Studies University of Toronto; 1967 M.A. Classical Studies. Zu Ihren wichtigsten Veröffentlichungen zählen: Roman Imperial Identities in the Early Christian Era. (2009); The Suffering Self: Pain and Narrative Representation in the Early Christian Era, (1995). Judith Perkins ist Mitherausgeberin von: Dies./ R. Hock/ J.B. Chance (Hgg.), Ancient Fiction and Early Christian Narrative (1998); Dies./ M.F. Pinheiro/ R.I. Pervo (Hgg.), The Ancient Novel and Early Christian and Jewish Narrative: Fictional Intersections, (2012); Dies./ D. Lateiner/ B.K. Gold, Roman Literature, Gender, and Reception: 2013; Dies./ I.Ramelli, Early Christian and Jewish Narrative: Role of Religion in Shaping Narrative Forms, (im Erscheinen) Prof. Dr. Judith Perkins Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 27 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 27 Judith Perkins Verwehrtes Personsein natürlichen Instinkte zu kontrollieren. Die Ideologie der griechisch-römischen Eliten hielt daran fest, dass für Menschen, die zu körperlicher Arbeit gezwungen waren oder körperlichen Bedürfnissen abzuhelfen hatten, ein wirklich ehrenhaftes menschliches Leben nicht möglich war. Platon erklärt im Phaidon, »seinem [des Körpers] Unterhalt als Knechte dienend […] finden wir seinetwegen keine Muße für die Philosophie« (66d). »Solange wir nämlich einen Leib haben und solange unsere Seele mit einem solchen Übel vermengt ist, werden wir niemals besitzen, wonach wir streben, […] das Wahre« (66b). 8 Es galt als ausgemacht, dass die niederen Tätigkeiten von Arbeitern, Handwerkern, Händlern und dergleichen mit naturhafter Notwendigkeit niedere Menschen hervorbringen. In der frühen Kaiserzeit war es die Stoa, die sich die sokratische Präferenz der Selbstsorge am stärksten zu eigen gemacht hat. Die Stoiker Seneca (4 v. Chr.-- 65 n. Chr.), Epiktet (ca. 55-135 n. Chr.) und Marc Aurel (121-180 n. Chr.) verstanden die stoische Ethik als Anleitung zur Kunst eines guten Lebens. Dies wird am Werk Epiktets besonders deutlich. Zwar hat er selbst nichts schriftlich hinterlassen, doch hat sein Schüler Arrian erklärtermaßen Epiktets Lehrvorträge wörtlich mitgeschrieben und sie in den Dissertationes sowie zusammenfassend im Handbuch veröffentlicht. Arrians Texte sind der Niederschlag einer philosophischen Ausbildung, wie sie wohlgeborene junge Männer jener Zeit genossen. Als freigelassener Sklave hatte Epiktet bei dem römischen Stoiker Musonius Rufus studiert. Nach der Vertreibung der Philosophen aus Rom unter Domitian setzte Epiktet seine Lehrtätigkeit in Nikopolis im Nordwesten Griechenlands fort, wo Arrian um 108 sein Schüler wurde. Seine Schüler, allem Anschein nach sämtlich aus gutem Hause, erhielten in Vorbereitung auf ihre Pflichten als Angehörige der städtischen Eliten eine philosophische Ausbildung. Die Texte Epiktets sind eine wichtige Quelle für Ansichten und Selbstverständnis dieser jungen Leute in Vorbereitung auf ihre privilegierte Rolle in der Gesellschaft. Die Stoiker waren der Ansicht, dass die Welt in allen ihren Teilen einer kosmischen Ordnung untersteht, die »von einem Prinzip unter den mannigfachen Namen Zeus, Gott, Vernunft, Ursache, Verstand und Schicksal« konstituiert wird. 9 Alles, was passiert, ist eine Auswirkung dieses einen Prinzips. Emotionale Selbstkontrolle war ein zentraler stoischer Grundsatz. Das Ziel der tugendhaften Person, des stoischen »Weisen« (lat.: sapiens), war ein Leben ohne Leidenschaften, die als gewaltsame Regungen der Seele verstanden wurden. Um diesen Zustand zu erreichen, musste man zu der Auffassung gelangen, dass Tugend das einzig Gute ist und Untugend das einzige Übel. Alles andere ist gleichgültig. Gemäß diesem stoischen Paradigma bedeutet Tugend ein Leben in Übereinstimmung mit der Natur. Gemeint ist eine Konformität mit dem jeweiligen Gang der Dinge. Epiktet formuliert es bündig so: »Verlange nicht, daß alles so geschieht, wie du es willst, sondern wolle, daß alles so geschieht, wie es geschieht, und du wirst in Frieden leben« (Handbuch 8). 10 Der stoische Diskurs konstruiert Subjekte, die ihre ganze Kraft darauf verwenden, nur dasjenige zu kontrollieren, was in ihrer Macht steht, dasjenige, wie Epiktet sagt, das »uns angeht« (gr.: eph' hēmin), nicht aber die äußeren Umstände. Epiktet stellt diejenigen Gegenstände zusammen, die der individuellen Kontrolle unterliegen: »In unserer Gewalt steht unser Denken, unser Tun, unser Begehren, unsere Abneigung, kurz: alles, was von uns selber kommt. Nicht in unserer Gewalt (gr.: ouk eph' hemin) steht unser Leib, unsere Habe, unser Ansehen, unsere äußere Stellung-- mit einem Wort, alles, was nicht von uns selber kommt (Handbuch 1). 11 Tugend ist mithin eine Sache der Selbstbeherrschung. Diese wird erreicht durch eine strenge Selbstkontrolle im Blick auf die eigenen Einstellungen und Wünsche. Dieser Vorrang der Selbstbeherrschung kommt in zwei Worten zum Ausdruck, die Epiktet nach dem Zeugnis des Aulus Gellius verwendet hat, um die Grundlage für ein gutes Leben zusammen zu fassen. Diese Worte werden üblicherweise übersetzt mit »leide« (anechou) und »meide« (apechou). Treffender ist vielleicht »Ertrage und entsage«. Für Epiktet besteht die Tugend in der Entsagung ohne Klage über äußere Umstände, wie hart diese auch sein mögen, und in der Absage an Übertretungen, wie verführerisch sie sich auch geben. Allein Tugend und Untugend zählen. Schmerz gehört zum großen Bereich der Dinge, die jenseits der individuellen Kontrolle liegen und deshalb »gleichgültig« sind. Für Epiktet besteht das Selbst aus zwei Teilen, erstens der prohairesis, der moralischen Wahl, die bei Epiktet geradezu persönliche Züge trägt, wie ein »Selbst«, ein »Ich«, das innere ordnende Vermögen. Der »Die Unterscheidung zwischen Verstand/ Seele und Körper war traditionell dafür da, soziale Hierarchien zu fundieren. Platon behauptet in der Politeia, dass körperliche Arbeit entwürdigend ist und es Sklaven und Arbeitern verwehrt sei, sich selbst zu beherrschen oder die eigenen natürlichen Instinkte zu kontrollieren.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 28 - 2. Korrektur 28 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema andere Teil ist das prosōpon, eine persona, ein objektives Selbst, das oft mit dem Körper assoziiert wird. Es ist das »mich«, das andere wahrnehmen. 12 Epiktet betont immer wieder, dass Menschen äußere Ereignisse nicht kontrollieren können, Tod oder Schiffbruch beispielsweise. Menschen haben aber ihre Einstellungen zu diesen äußeren Ereignissen durchaus unter ihrer Kontrolle, und diese Einstellungen müssen sie für ein tugendhaftes Leben beherrschen. Da der Tod ein äußeres Ereignis ist, ist er für Epiktet per definitionem gleichgültig. Das Urteil, der Tod sei ein widriges Ereignis, ist ein Übel, denn es befindet sich nicht im Einklang mit den Dingen, wie sie sind, d. h. mit der Natur. Epiktet wiederholt diese Lektion von der Gleichgültigkeit der äußeren Dinge wieder und wieder in seinen Dissertationes. Er hält seine Schüler dazu an, bei Tagesanbruch das Haus zu verlassen und sich bei allem, was ihnen begegnet, zu fragen, ob das nun gut oder gleichgültig ist. Alles, was nicht unter die Kontrolle des moralischen Vorsatzes fällt (prohairesis), sollen sie als bedeutungslos ansehen: Was hast du gesehen? Einen, der über den Tod seines Kindes trauert. Nimm die Regel her: Der Tod steht nicht in unserer Macht. Weg mit der Trauer! Es ist dir ein Konsul begegnet, die Regel her: Ist das Konsulat unser oder nicht? Nicht in unserer Gewalt; also laß auch das, es geht dich nichts an. (Diss 3. 3. 15). 13 Seine Schüler müssen dahin kommen, dass sie eine hohe gesellschaftliche Position und Reichtum nicht als Güter ansehen und Schmerz und Armut nicht als Übel. Einmal vermerkt er, dass seine Schüler diese Lektion noch nicht gelernt haben. Sie sehen einen Konsul und denken: Ein glücklicher Mann! Sie sehen gramgebeugte, verbannte oder arme Menschen und denken: Wie jämmerlich sie sind! Aber solche Gedanken sollte man, sagt Epiktet, ablegen: »Was ist denn Weinen und Wehklagen? Die Folgen eines Grundsatzes; und Unglück? Ebenfalls. […] Das sind alles Folgerungen von Grundsätzen und nichts anderes, und zwar Grundsätze über uns fremde Dinge, als wären diese gut oder böse. Das sollte man lieber bei Dingen tun, die in unserer Gewalt stehen, und ich gebe dir meine Hand darauf, du wirst unerschütterlich sein, wie es auch immer um dich bestellt sein mag.« (Diss. 3. 3. 18-19). 14 Epiktet wiederholt diesen Punkt oft: Gut und Böse sind niemals Eigenschaften äußerer Dinge, sondern immer nur Eigenschaften individueller Urteile über äußere Dinge. Er besteht darauf, dass es nicht ein Zeichen göttlicher Ungunst ist, wenn einzelnen Menschen Armut, Krankheit, Exil oder gesellschaftlicher Abstieg widerfährt. Vielmehr setzt Gott diese Menschen als Zeugen (im Griechischen: »Märtyrer«) ein, dass nichts außerhalb des moralischen Urteils Schaden zufügen kann. Schmerz, Armut, Verbannung, Gefängnis und Ähnliches ist gleichgültig und kann das wirkliche Selbst nicht affizieren. Es geht Epiktet allein darum, die eigene Haltung zu kontrollieren, indem man sie in Einklang bringt mit dem, was der Fall ist. Das ist das Reich der Tugend. Äußerliches ist gleichgültig. Entscheidend ist die individuelle Reaktion darauf. Epiktet vergleicht wiederholt den Menschen mit einem Schauspieler, der seine Rolle spielt. Um welche Rolle es sich handelt, ist gleichgültig. Entscheidend ist, wie man sie spielt: »Merke: du hast eine Rolle zu spielen in einem Schauspiel, das der Direktor bestimmt. Du mußt sie spielen, ob das Stück lang oder kurz ist. Gibt er dir die Rolle eines Bettlers, so mußt du diese dem Charakter der Rolle entsprechend durchführen; ebenso, wenn du einen Krüppel, einen Herrscher oder einen Philister spielen sollst. Deine Aufgabe ist einzig und allein, die zugeteilte Rolle gut durchzuführen; die Rolle auszuwählen, steht dir nicht zu.« (Handbuch 17). 15 Demzufolge ist es jedermanns Pflicht, die je eigene Rolle gut zu spielen, ganz gleich unter welchen Umständen. Außerdem ist es unerheblich, welche Rolle jemand zugewiesen bekommt. Ein Schauspieler spielt Ödipus den König nicht mit schönerer Stimme oder größerem Vergnügen als Ödipus den Bettler in der Verbannung. Ebenso sollte es dem Einzelnen gleichgültig sein, welche Rolle ihm zugewiesen wurde, nicht aber, wie er ihr gerecht wird: »So ist auch das Leben etwas Gleichgültiges […], was man aber für einen Gebrauch davon macht, ist nicht gleichgültig« (2.6.1) 16 . Es gibt keine schlechten Rollen. Menschen können wie Schauspieler in jeder Rolle glänzen, als Krüppel ebenso wie als König. Sie tun das, wenn sie ihren Gleichmut und ihre Seelenruhe angesichts äußerer Umstände vorführen. Für Epiktet ist »Fest« bzw. »Feiertag« der passende Ausdruck aller menschlicher Existenz (3,5,10; 4,4,24). Man müsse sich nur klarmachen, dass jedes Leben einem göttlichen Plan folgt und dass nichts äußeres einem schaden kann, dann würde man alles, was einem widerfährt, willkommen heißen. Weil Schmerz das eigentliche Selbst nicht affizieren oder belästigen kann, gibt es niemals eine Ursache für Kummer. An denen, die jammern, hält sich Epiktet nicht auf. Beispielweise tadelt er jemanden, der sich grämt, der Tod könne ihm seine Familie entreißen: »Willst du dem Stärkeren nicht nachgeben? Warum hat er mich unter diesen Bedingungen in die Welt gesetzt? -- Wenn es dir nicht paßt, dann geh doch fort. Gott braucht keinen unzufriedenen und streitsüchtigen Zuschauer.« (Diss. 4. 1. 107-9). 17 Epiktet prägt seinen Schülern ein, dass sie die Dinge so akzep- Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 29 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 29 Judith Perkins Verwehrtes Personsein tieren sollen, wie sie sind, und nur so lange in diesem Leben zu verweilen, wie sie das Fest des Lebens zu genießen vermögen. Der Freitod ist eine vernünftige Antwort auf unerwünschte Umstände. Es scheint, dass sich nur derjenige, der keine eigene Anschauung von bitterer Armut hat, zu der Behauptung versteigen kann, es mache keinen Unterschied, ob man die Rolle eines Königs oder eines Bettlers spielt. Epiktet verrät seine bestenfalls oberflächliche Kenntnis von den tatsächlichen Lebensumständen eines Bettlers, wenn er räsoniert, Armut sei einem langen Leben förderlich: »Man sieht ja nicht bald einen Bettler, der nicht alt, der nicht steinalt sei. Sie stehen Tag und Nacht Frost aus; sie liegen auf der bloßen Erde, haben gerade nur so viel zu essen, als unbedingt nötig ist, und bringen es doch beinahe so weit, dass sie nicht sterben können.« (Diss.3.26.6) 18 . Epiktets Einschätzung scheint von den Auswirkungen eines Lebens in Armut auf die, die sie ertragen müssen, doch sehr weit entfernt zu sein. Hungersnöte waren in seiner Zeit an der Tagesordnung. 19 Es kommt ihm nicht in den Sinn, dass eine Existenz wie die von ihm beschriebene jeden, der sie führt, vorzeitig altern und deshalb alt aussehen lässt. Epiktets Lehre über das Innere, über Selbstbeherrschung und Selbstbildung, wie auch seine Leugnung jeglicher Bedeutung äußerer Dinge, war geeignet, die Aufmerksamkeit seiner Schüler von den sozialen und materiellen Gegebenheiten ihrer Umwelt abzulenken. Epiktet notiert ausdrücklich, dass Probleme und Belange anderer Leute das eigene Wohlbefinden niemals beeinträchtigen sollen. Er rügt einen Schüler, der der sich um den Kummer seiner Mutter Gedanken macht, die ihren Sohn nicht sehen kann: »Warum hat sie sich nicht auch diese Lehren angeeignet? Ich will damit nicht sagen, daß du dich nicht darum kümmern sollst, daß sie aufhört zu seufzen; sondern man soll sich um das uns Fremde nicht kümmern; und die Trauer eines anderen ist etwas Fremdes, nur die meinige Trauer geht mich etwas an.« (Diss. 3. 24. 20). 20 Epiktet macht geltend, dass die Mutter wissen sollte, dass ihr Kummer unerwünscht ist. Und der Sohn sollte nicht seinen Gleichmut für den Fehler der Mutter aufs Spiel setzen. Er muss sich klarmachen: »Man soll sich um das uns Fremde nicht kümmern«. Epiktets Auffassung, dass Krankheit, Armut, soziale Stellung und alle anderen äußerlichen Dinge dieser Art keine Bedeutung haben, arbeitet ganz offensichtlich den Eliten in die Hände, nicht den Rechtlosen. Sein Rat, allein wichtig sei, wie gut man mit Armut, Gefangenschaft oder politischer Bedeutungslosigkeit sich arrangiere, und dass man sich verbieten solle, sich von derlei Umständen stören zu lassen, legitimiert den sozialen gesellschaftlichen status quo und damit die sozialen und politischen Machtverhältnisse. »Die Stoa erhob die Aufrechterhaltung der vorherrschenden sozialen und politischen Ordnung zu einem Gebot der Vernunft und der Natur und gab ihr die höchsten philosophischen Weihen« 21 . Es ist unschwer zu erkennen, inwiefern die von Epiktet und anderen zeitgenössischen Philosophen vertretenen Grundsätze maßgeblich zum sozialen »Schleier der Macht« beitragen, zu jenem ideologischen Schleier, der dazu da ist, die Fakten der sozialen Realität von den Eliten selbst wie auch von anderen gesellschaftlichen Gruppen zu verbergen. Richard Gordon verwendet diesen Ausdruck, um die soziale und religiöse Funktion antiker Religionen zu beschreiben. Diese erzeugten nach Gordon die Struktur der »Reziprozität zwischen Ungleichen: schicksalhafte Gunst und Unveränderlichkeit«, und sie verliehen den Beziehungen zwischen den Eliten und den anderen Schichten im Bewusstsein aller Beteiligten den Schein der Normalität. 22 Gordon arbeitet präzis heraus, dass Eliten nicht bewusst religiöse und andere Institutionen zur Verschleierung der wahren gesellschaftlichen Machtverhältnisse gebrauchten, dass sie also nicht etwa ein groß angelegtes soziales Betrugsmanöver vollführten. Eine soziale Ideologie funktioniert vielmehr so, dass sie »einen unbewussten Schleier erzeugt, der das Bild der sozialen Realität verzerrt […] und die ihr zugrunde liegenden Interessen vergeistigt« 23 , und zwar auch gegenüber denjenigen, die davon am meisten profitieren.Ein Effekt dieses Schleiers ist eine verzerrte Sicht auf die Situation der Unterschicht. Epiktets Lehren waren offensichtlich ein Beitrag hierzu. Seine Behauptung, das Leben eines Bettlers sei kein Nachteil, solange der Betreffende seine Rolle gut spielt, schließt jedes Mitleid mit denjenigen, die in bitterer Armut leben, aus und behindert Versuche, die Situation der Armen zu verbessern. Denn es ist ja Sache der Anderen, ihr eigenes Elend dadurch zu bewältigen, dass sie es als Teil eines göttlichen Planes erkennen. Jedes Unterfangen, sich der Not anderer anzunehmen, wird dann gegenstandslos. »Es ist unschwer zu erkennen, inwiefern die von Epiktet und anderen zeitgenössischen Philosophen vertretenen Grundsätze maßgeblich zum sozialen ›Schleier der Macht‹ beitragen, zu jenem ideologischen Schleier, der dazu da ist, die Fakten der ›sozialen Realität von den Eliten selbst wie auch von anderen gesellschaftlichen Gruppen zu verbergen.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 30 - 2. Korrektur 30 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema In der Zeit Epiktets kam eine neue Literaturgattung auf: Der griechische Roman. Diese Romane haben fast ausnahmslos denselben plot: Die Liebe eines jungen Paares, die Trennung, Reisen, Prüfungen und Beschwernisse, schließlich das Wiedersehen und der Beginn eines gemeinsamen glücklichen Lebens. Diese Erzählungen beschreiben Heldinnen und Helden, die Epiktets philosophischem Ideal sehr nahe kommen, Menschen, die Bedrängnisse überstehen, sich jeglicher Übertretungen enthalten, und für die Schmerz und Leiden keine dauerhafte Rolle spielen. An einem Punkt in diesen Romanen verlieren die Oberschicht-Protagonisten ihre privilegierte Stellung und sehen sich Gefahren, Notlagen und dem Verlust von Ansehen ausgesetzt. Am Ende erlangen sie jedoch ihre soziale Position zurück, dazu Ehre und Reichtum. Die Forschung hat in diesen thematischen Gemeinsamkeiten den Niederschlag des Geschicks griechischsprachiger Provinz-Eliten gesehen, die sich in römischer Zeit behauptet haben und zu bedeutendem Wohlstand gelangt sind. Epiktets Lehren nicht unähnlich betonen diese Romane den Anspruch griechischer Eliten der Kaiserzeit auf Prosperität und Wohlergehen, und sie verschleiern zugleich, dass dieses Leben nur sehr wenigen offen steht. Die Romane werben für das, was Max Weber die »Theodizee des Glücks« genannt hat, den Glauben, dass die Eliten verdientermaßen dazu bestimmt waren, genau dort zu leben, wo sie lebten: ganz oben. 24 Fast ausnahmslos beginnen diese Romane mit einer Beschreibung des Reichtums und der Oberschicht-Existenz der Protagonisten. Das überrascht insofern nicht, als die antike Literatur sich ganz überwiegend mit den privilegierten Schichten befasst. Kennzeichnend für die Romane ist aber, dass ihre Protagonisten trotz aller Katastrophen ihren Reichtum und ihren sozialen Status mit erstaunlicher Leichtigkeit und Regelmäßigkeit wiedererlangen. Schiffbrüchig, von Piraten entführt, in fremden Ländern gestrandet, ist es doch für die Romanheldinnen und -helden am Ende nur ein kleiner Schritt zurück in ihr privilegiertes Leben. Solch mühelos wiedererlangter Reichtum transportiert die Botschaft, dass diejenigen, die ihn genießen, ihn auch verdient haben, und wiederum wird die harte Realität, die die meisten in einer ganz anderen und mühseligen Existenz gefangen hält, verschleiert. Dieser Anspruch ist bereits bei Xenophon, dem Verfasser des wahrscheinlich frühesten Romans, prägend. Habrokomas und seine wunderschöne Braut Anthia, die Hauptpersonen des Romans, werden nach der Hochzeit von Piraten entführt und getrennt. Zunächst erleidet Habrokomas Folter und Gefangenschaft, weil die Tochter des Anführers der Piraten ihn fälschlich der Vergewaltigung bezichtigt, nachdem er ihre Avancen nicht erwidert. Der Anführer findet jedoch bald die Wahrheit heraus, holt ihn aus dem Kerker und setzt ihn über seinen gesamten Haushalt. Er bietet ihm sogar eine freigeborene Frau an (2.10.2). Habrokomas vermisst jedoch seine geliebte Anthia und flieht. Der Erzähler notiert seine Gedanken: »Was soll mir die Freiheit? Was nützen mir die Reichtümer? « (4.10.3). 25 Die Erzählung hat freilich bereits gezeigt, wie einfach Habrokomas wieder in den Besitz seines Reichtums gelangt, der für den Großteil der damaligen Gesellschaft für immer unerreichbar war. Später braucht der Präfekt von Ägypten nur Habrokomas’ Geschichte zu hören, und schon überhäuft er ihn mit Geld und Geschenken (4.4.1). Als er später erneut mittellos dasteht, versucht er sich als Arbeiter in einem Steinbruch. Die Arbeit ist jedoch zu anstrengend, und so macht er sich auf nach Rhodos. Dort begegnet er seinen früheren Sklaven, die ihm sofort alles geben, was sie besitzen, und sich um ihn kümmern (5. 10. 12). Dieser Teil der Geschichte suggeriert, dass sogar die Sklaven ihren Part in der Theodizee des Glücks spielen. Es stellt sich nämlich heraus, dass sie von Piraten an einen alten Mann verkauft worden waren, der sie wie eigene Kinder behandelt und ihnen sein großes Anwesen hinterlassen hat (5.6.3). Dieses überschreiben sie nun Habrokomas. Der Schleier der Macht erzeugt wiederum den Eindruck, als sei es für Leute wie Habrokomas, dem sogar seine Sklaven Geld überlassen, keine große Sache, zu Reichtum und Ansehen zu gelangen. Am Ende dieser Abenteuerromane sind alle Oberschicht-Paare wieder glücklich vereint und leben ein glückliches Leben. Die Romane vermitteln den Eindruck, dass es mit dem unausrottbaren Glück dieser Leute schon seine Richtigkeit hat. Liest man die Romane auf dem Hintergrund der Lehren Epiktets, ist auffällig, dass sie mehrheitlich als Erzählungen von ertragenem und überwundenem Leid konzipiert sind. Achilles Tatius etwa lässt die Handlung mit der Antwort des Helden auf die Frage beginnen: »Was hast du erlitten? « (1.2.2). Seine Leiden sind solche, die ihm von Eros auferlegt wurden. Ebenso führt Chariton seinen Roman als eine Geschichte von Leiden ein. Am Schluss stattet die Heldin Kallirhoë nach ihrer glücklichen Rückkehr nach Syrakus ihren Dank im Tempel der Aphrodite ab. Sie betet: »Ich danke dir, Aphrodite! Du hast mir meinen Chaireas wieder in Syrakus gezeigt, wo ich ihn nach deinem Willen auch als junges Mädchen gesehen habe. Ich bin dir nicht böse, Herrin, für das, was ich erlitten habe. Das war mir eben vom Schicksal bestimmt. Ich bitte dich, trenne mich nie Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 31 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 31 Judith Perkins Verwehrtes Personsein mehr von Chaireas, sondern gewähre uns ein glückliches Leben und einen gemeinsamen Tod.« (8. 8. 16). 26 Damit endet die Erzählung. Auch Xenophons Roman endet mit einem Dank für glücklich überstandene Leiden. Als das liebende Paar nach Ephesus zurückkehrt, besuchen sie zuerst den Tempel der Artemis und errichten eine Inschrift für die Göttin, die alles auflistet, was sie erlitten und überstanden haben (5.15.4). Bei Heliodor klagt die Heldin gegen Ende der Handlung nach einer abermaligen Verschleppung durch Banditen dem Gott Apollo ihr Leid: »Apollon […], deine Strafe ist schwerer als unsere Schuld. Haben wir noch nicht genug gebüßt mit unserem bisherigen Leid? Trennung von den Unsrigen, Gefangenschaft bei Piraten, das Meer mit seinen unendlichen Gefahren und nun zu Lande ein zweites Mal in der Hand von Räubern! Und dunkler noch liegt die Zukunft vor uns« (1.8.2). 27 Diese Romane präsentieren sich als Erzählungen von ertragenem Leiden vor dem glücklichen Ende, an dem das Oberschicht-Paar wieder seine rechtmäßige gesellschaftliche Stellung einnimmt. Diese Elite-Literatur hebt wie auch Epiktet Personen lobend hervor, die imstande sind, ihre emotionalen Reaktionen zu kontrollieren und im Leiden treu ihre Pflicht zu tun, und sie verschleiern ebenso die sozialen Barrieren und Bedingungen, die die meisten Menschen in weitaus schlimmere Lebensverhältnisse einschließen. In der Weltsicht der griechisch-römischen Antike hatte die in Armut und Krankheit lebende Unterschicht vor dem Aufkommen der christlichen Bewegung eine nur sehr geringe kulturelle Präsenz. Das heißt selbstredend nicht, dass in dieser Zeit nicht zahllose Menschen Schmerzen und Leid ausgeliefert waren. Tatsächlich war die frühe Kaiserzeit von »atemberaubender« 28 Ungleichheit geprägt. In vorchristlicher Zeit wurden, wie Paul Veyne notiert, »die Armen, Kranken und Alten ohne größere Skrupel sich selbst überlassen« 29 . Neue Studien haben versucht, Veynes Urteil etwas abzumildern, aber ohne großen Erfolg. Anneliese Parkin hat in ihrer Arbeit über Almosen 30 einige Belege für pagane Wohltätigkeit gefunden, meint aber, dass die meisten Gaben an die Notleidenden nicht von den Eliten kamen. Die Oberschicht kam mit den wirklich Bedürftigen selten in Kontakt. Sie waren von diesen Gruppen durch ihre Sklaven und ihr Gefolge zuverlässig abgeschirmt. Die Armen und andere Leidtragende verfügten über eine nur sehr geringe soziale Sichtbarkeit im kulturellen Raum dieser Zeit. Sie waren in der Episteme ihrer Zeit kaum präsent und kamen im sozialen »Diskurs« so gut wie gar nicht vor. Allerdings haben Texte wie die Epiktets oder die Romanliteratur der Oberschicht durch die Darstellung des Ertragens körperlichen Leids als Tugend und Zeichen moralischer Stärke den sozialen Raum für neue Stimmen aus neuen sozialen Lagen geöffnet. Diese Stimmen haben sich den kulturellen Diskurs des Leidens angeeignet und ihm eine neue Richtung gegeben. Gemeint sind die Stimmen christlicher Autoren. In Gesellschaften haben nicht alle Gruppen die gleichen Möglichkeiten, ihren Standpunkt zu artikulieren. Ökonomische, politische und genderspezifische Standpunkte bestimmen die Möglichkeiten und Spielräume sozialer Selbstdarstellung. In kulturgeschichtlichen Untersuchungen muss immer gefragt werden: Wer hat von wo aus die Möglichkeit sich zu äußern? In den Romanen verwendeten die griechischsprachigen Eliten das Bild des gequälten und seiner Freiheit beraubten Körpers zur Erzeugung sozialen Zusammenhalts und zur Darstellung ihrer Selbstbehauptung unter den Bedingungen des römischen Imperiums. Dagegen macht sich in den frühen apokryphen Apostelakten (Paulus-, Petrus-, Johannes-, Andreas- und Thomasakten) eine neue christliche Identität bemerkbar. Diese Texte haben viele Motive der Romane übernommen, diese jedoch im Sinne abweichender Auffassungen über das Göttliche und die Gemeinschaft verändert, mit dem Ziel, einen neuen sozialen Körper zu formen und zu stärken, die christliche Gemeinde, die Paulus als »Leib des Christus« bezeichnet (1Kor 12,27). Wie die Romane lassen auch die Apostelakten eine spezifische Grundausstattung an Personen und Handlungen erkennen: Der Apostel predigt, tut Wunder, ist erfolgreich bei Eliten und Nicht-Eliten und gliedert die Bekehrten in sozial integrierte solidarische Gemeinden ein. Außer den Johannesakten endet jede mit dem Martyrium des Apostels, nachdem er die Frau eines hohen Würdenträgers zum christlichen Leben in strenger Askese bekehrt hat (alle Apostelakten sind rigoros asketisch). Ungeachtet ihrer späteren Ablehnung durch die Kirche aus dogmatischen Gründen sind die Apostelakten eine wertvolle Quelle über das Denken und die Belange früher Christen aus dem einfachen Volk. 31 Die Thomasakten, die als einzige vollständig erhalten sind, illustrieren die für die Apostelakten überhaupt »Die Armen und andere Leidtragende verfügten über eine nur sehr geringe soziale Sichtbarkeit im kulturellen Raum dieser Zeit. Sie waren in der Episteme ihrer Zeit kaum präsent und kamen im sozialen ›Diskurs‹ so gut wie gar nicht vor.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 32 - 2. Korrektur 32 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema kennzeichnende inklusive soziale Mission. 32 Die Erzählung beginnt in Jerusalem, wo die Apostel ihre Missionsgebiete auslosen. Indien fällt an Thomas, der dieses Gebiet aber unter Verweis auf seine schwache körperliche Konstitution und seine fehlenden Sprachkenntnisse sogleich ablehnt. Des Nachts erscheint ihm Jesus und versichert ihn seiner Gnade und Hilfe für seinen Auftrag in Indien (1/ 100). Thomas lehnt dennoch ab. Daraufhin lässt Jesus einen Kaufmann namens Abban auftreten, der für den indischen König einen Zimmermann sucht. Der Herr bietet ihm seinen Sklaven, einen Zimmermann, zum Kauf an und deutet auf Thomas. Als sie sich auf einen Preis geeinigt haben, setzt Jesus einen Kaufvertrag mit folgendem Text auf: »Ich, Jesus, der Sohn des Zimmermanns Joseph, bestätige, einen Sklaven von mir, namens Judas […] verkauft zu haben« (2/ 102). 33 Dieses Dokument bestätigt, dass beide, Herr und Apostel, nicht der Elite angehören und über keinen gesellschaftlichen Einfluss verfügen: Jesus, der Sohn eines Zimmermanns, und Thomas, ein Zimmermann und Sklave. Der Herr führt Thomas zu Abban, der ihn fragt: »Ist dieser dein Meister (despotēs)? «, und Thomas antwortet: »Ja, er ist mein Herr (kyrios)« (2/ 102). Am nächsten Morgen fügt sich Thomas schließlich mit den Worten »Dein Wille geschehe« und schließt sich Abban an in Richtung Indien. Er trägt nichts bei sich als allein den für ihn gezahlten Kaufpreis, den Jesus ihm überlässt. Jennifer Glancy 34 stellt die Drastik dieser Szene heraus, die die Metapher der Gläubigen als Sklaven Gottes reifiziert, und die Leser mit der Verwundbarkeit der realen Sklaven in den Reihen ihrer Gemeinden konfrontiert, die jederzeit verkauft und aus allem Vertrauten herausgerissen werden konnten. Obwohl Thomas während der gesamten Erzählung ein Sklave bleibt, wird seine missionarische Aktivität dadurch nicht eingeschränkt. Auf dem Weg nach Indien bekehrt er als erstes die frisch verheiratete Tochter eines Königs und seinen Schwiegersohn zu einem christlichen Leben in Enthaltsamkeit. Am nächsten Morgen erklärt die Tochter ihren Eltern, warum sie die Ehe nicht vollzogen hat. Der König lässt sofort nach dem »Zauberer« (pharmakos) suchen, doch Thomas und Abban sind bereits mit dem Schiff abgereist. Schließlich werden auch der König und viele andere für den Glauben gewonnen und schließen sich der christlichen Gemeinde an. Hier stoßen wir auf ein Handlungsmuster, das im Laufe der Erzählung noch mehrfach verwendet wird, dass nämlich Angehörige der Oberschicht sich bekehren und in der Rolle von Wohltätern ihren Platz in der christlichen Gemeinde finden. 35 Beim nächsten Aufenthalt ihrer Reise spielt sich eine ähnliche Episode ab, als Thomas seinem neuen Eigentümer König Gundafor übergeben wird. Der König erklärt Thomas, dass er einen Palast zu bauen gedenkt und stattet ihn mit den Mitteln für die Durchführung aus. Thomas verteilt das Geld des Königs sofort unter die Armen und Notleidenden (19/ 128). Schon bald erbittet er weitere Summen, angeblich für die Fertigstellung des Daches, und verwendet auch dieses Geld für die Unterstützung der Bedürftigen. Schließlich wird Gundafor hinterbracht, dass Thomas bisher noch überhaupt nichts gebaut hat. Stattdessen »gibt er alles den Armen und lehrt einen neuen Gott und pflegt Kranke und treibt Dämonen aus und tut viele Wunder« (20/ 131). Gundafor ist außer sich und verurteilt Thomas und Abban sofort zum Tode. In jener Nacht stirbt jedoch Gad, der Bruder des Königs, und kommt in den Himmel, wo die Engel ihm einen prächtigen Palast zeigen, den Thomas, sagen sie, für Gads Bruder erbaut habe. Gad erhält von den Engeln die Erlaubnis, in sein irdisches Leben zurückzukehren, um dem König den Palast abzukaufen. Der König erkennt daraufhin, dass Thomas ihm einen ewigen Palast erbaut hat. Er holt Thomas aus dem Gefängnis und schließt sich zusammen mit seinem Bruder der christlichen Gemeinde an und unterstützt hinfort Thomas bei seiner wohltätigen Arbeit. Sie »wichen niemals von ihm [sc. Thomas] und halfen den Bedürftigen, gaben allen und erquickten alle« (26/ 141). Anders als Epiktet, der empfiehlt, ein Bettler solle lernen, sein Elend zu ertragen, rufen die Thomasakten die Reichen dazu auf, Armut zu lindern. Die Thomasakten enthalten wie andere Apostelakten auch Szenen mit sprechenden Tieren. 36 Diese Szenen artikulieren ein inklusives Verständnis von Erlösung, das sogar Tiere umfasst, und betont damit die Würde all derer, denen die gesellschaftliche Geltung als Menschen abgesprochen wurde. Platon, Epiktet und andere lassen erkennen, dass in der antiken Kultur viele Menschen in die Nähe von Tieren gerückt wurden. Dies klingt auch in einer Stelle der Thomasakten an: Mygdonia, die Frau des Charisios, eines nahen Verwandten des Königs, sucht Thomas auf, um ihn predigen zu hören: »Sie wurde aber von ihren eigenen Sklaven getragen, aber wegen des vielen Volks und des engen Raumes konnten sie sie nicht zu ihm hinführen. Sie schickte aber zu ihrem Manne, er solle ihr mehr von ihren Dienern schicken. Sie kamen nun und gingen vor ihr her, dabei die Leute drängend und schlagend« (82/ 197). Zeitgenössische Quellen zeigen, dass Mygdonias Gewalt gegen die Volksmenge für die Frau eines hohen Würdenträgers durchaus üblich war. Thomas tadelt jedoch die Diener dafür, dass sie die Leute treten und schlagen. Er zitiert Mt 11,28: »Kommt Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 33 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 33 Judith Perkins Verwehrtes Personsein her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken« und wendet sich den Trägern der Mygdonia zu und erklärt ihnen, dass diese Worte nun ihnen gelten, denn »obwohl ihr Menschen seid, legt man euch, wie unvernünftigen Tieren (hōsper tois alogois zōois), Lasten auf, indem eure Machthaber glauben, dass ihr nicht Menschen seid wie sie selbst« (83/ 198-99). Der Apostel greift damit die zeitgenössische Auffassung an, die Sklaven und andere, die körperlich arbeiten, Tieren gleichstellt. Im Gegensatz dazu erkennt er an, dass Sklaven Menschen sind und ermutigt sie. Die Episode führt die harten Realitäten antiker hierarchischer Gesellschaften vor Augen. Die Elite stellte unverfroren und öffentlich ihre willkürliche Gewalttätigkeit gegenüber den unteren Schichten zur Schau, genauso wie die Bediensteten der reichen Frau die Volksmenge stoßen und schlagen. Die Worte des Thomas formulieren bündig die Basis für Gewalt in jeder Gesellschaft, nämlich die Leugnung der Menschlichkeit der Anderen: »Eure Machthaber glauben, dass ihr nicht Menschen seid wie sie selbst«. Die Wahrnehmung der anderen als nicht eigentlich menschlich hat weitreichende Auswirkungen, die verwundbare Menschen derselben Missachtung und Grausamkeit ausliefert, die oft gegen Tiere angewendet wird. Durch das Motiv der sprechenden Tiere invertieren die Thomasakten die traditionellen Hierarchien und konstatieren, dass die christliche Botschaft denen eine Stimme verleiht, denen sie in ihrer jeweiligen Kultur verweigert wird. Unter den sprechenden Tieren der Thomasakten ist eine Schlange (30-33/ 147-150), ein Eselsfohlen, das den sprechenden Esel Bileams aus dem Buch Numeri und jenen Esel, auf dem der Herr in Jerusalem eingezogen war, zu seinen Vorfahren zählt (40-41/ 158), und ein Wildesel (onagros, 68-80/ 186- 196). Der Wildesel tritt unmittelbar vor der Begegnung des Thomas mit den Trägern der Mygdonia auf. Beide Episoden reklamieren Personalität für Menschen, die aus Sicht der Hochkultur ihrer Zeit traditionell Tieren gleichgestellt wurden. Auf dem Weg zu einer Dämonenaustreibung an einer Mutter und ihrer Tochter vollführt Thomas ein von ihm so bezeichnetes »großes Wunder« (69/ 186). Er fordert vier wilde Esel auf, seinen Wagen zu ziehen. Am Ziel seiner Fahrt beauftragt er eines der Tiere, zu den Dämonen zu gehen und sie aufzufordern, dass sie sich zeigen und sich ihm stellen sollen. Der Wildesel gehorcht, wobei der Text seine Sprachfähigkeit herausstellt, indem das Tier die Dämonen viermal mit dem Satz »Euch sage ich« (hymin legō) anredet. Als Thomas die Dämonen austreibt, fallen beide, Mutter und Tochter, sofort tot um. Nach einigem Zögern tadelt der Wildesel, »dem durch die Kraft des Herrn die Rede verliehen war«, den Apostel viermal und drängt ihn, die Frauen aufzuerwecken: »Was stehst du müßig, Apostel Christi, des Höchsten […], was zögerst du? « (78/ 193- 94). Er beendet seine Rede mit einem Lobpreis des Apostels und mit einer Warnung vor falschen Lehrern. Diese Darstellung eines Wildesels, der den Apostel berät und mit Schriftverweisen gespickte Predigten hält, spricht solche Fähigkeiten all jenen Menschen zu, die von der Gesellschaft nicht höher geachtet werden als Tiere. Dass diese wilden Tiere die Unterprivilegierten symbolisieren, wird durch die Reaktion des Thomas auf die Rede des Wildesels bestätigt. Thomas sieht in diesem Schauspiel eines sprechenden Esels nicht nur ein Lehrstück dafür, dass Christus Mitleid mit allen Menschen hat, sondern auch für seine eigene Selbsterniedrigung. Thomas antwortet auf die Rede des Esels mit einem Lobpreis Christi: »Preis sei deiner Majestät, die sich um unseretwillen herabgelassen hat; Preis sei deinem höchsten Reiche, das sich um unseretwillen erniedrigt hat; Preis sei deiner Stärke, die um unseretwillen schwach wurde; Preis sei deiner Gottheit, die um unseretwillen in einem Menschenbilde erschien (doxa tē theotēti sou hē di’ hēmas eis apeikasian anthrōpōn); Preis sei deiner Menschheit, die um unseretwillen starb, um uns lebendig zu machen; Preis sei deiner Auferstehung von den Toten, denn durch sie wird unsern Seelen Auferstehung und Ruhe zuteil« (80/ 196-97). Die Worte des Thomas erinnern daran, dass Jesus sich selbst erniedrigt und einen entehrenden Statusverlust auf sich genommen hat um der Menschlichkeit der Menschen willen. Sein Beispiel zeigt, dass niemand das Recht hat, Menschen mit niedrigem Status ihrer Würde zu berauben. Indem Jesus Mensch wurde, blieb er Gott. Menschen, die wie Tiere behandelt werden, sind Menschen. Dafür steht der gläubige Wildesel. Die Thomasakten wenden sich gegen die gesellschaftlichen Hierarchien ihrer Zeit und entwerfen ein christliches Gegenmodell. Nach der Wildesel-Szene, als Thomas den Trägern der Mygdonia angesichts ihrer Behandlung wie unvernünftige und der Sprache nicht mächtige Tiere (alogois zōois) Mut zuspricht, springt Mygdonia, kaum dass er seine Rede beendet hat, von »Anders als Epiktet, der empfiehlt, ein Bettler solle lernen, sein Elend zu ertragen, rufen die Thomasakten die Reichen dazu auf, Armut zu lindern.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 34 - 2. Korrektur 34 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema ihrer Sänfte herunter, wirft sich vor Thomas auf den Boden und bittet ihn, sich ihm anschließen zu dürfen, denn sie und die Ihren »[gleichen] durch ihren Wandel vernunftlosen Tieren« (87/ 202). Mygdonia verwendet also dieselbe Formulierung, derer sich Thomas bedient hat, um die Geringschätzung der Träger durch ihre Herrin zu beschreiben. Sie ändert aber das Paradigma: Nicht »Status« sondern »Verhalten« macht Menschen den Tieren gleich. In seiner Antwort an Mygdonia stellt Thomas nochmals heraus, dass ein hoher sozialer Status vor Gott nichts gilt: »[Z]u nichts wird dir dieser angelegte Schmuck nützen noch die Schönheit deines Körpers noch deiner Kleider. Weder der Ruf von dem dich umgebenden Ansehen noch die Macht dieser Welt noch dieser schmutzige Verkehr mit deinem Mann wird dir nützen, wenn du dem wahren Verkehr beraubt bist«. All dies, erklärt Thomas, wird vergehen, aber »Jesus allein bleibt immer und die, so auf ihn hoffen« (88/ 203). Thomas’ Auflistung-- Schmuck, Schönheit, Kleider, Ehre, Einfluss-- benennt die geläufigen Statusausstattungen, die aber zugunsten der Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde aufgegeben werden müssen. Der Aufruf des Wildesels »Glaubt an Jesus! Glaubt an Christus, der geboren wurde, damit die Geborenen durch sein Leben das Leben hätten« (79/ 194), bringt diese besondere Hoffnung zur Sprache. Als der Wildesel und seine Gefährten nach Hause aufbrechen, lässt ihnen Thomas seine Fürsorge zuteil werden: »Der Apostel aber stand und achtete auf sie, damit ihnen nicht von jemand ein Unrecht zugefügt würde, bis sie, weit weg, unsichtbar wurden« (81/ 197). Die Darstellung wilder Tiere, die predigen und den Apostel beraten, fordert die Wertschätzung all derer, die in der Gesellschaft gleich Tieren verachtet werden, und Thomas’ Fürsorge für die Wildesel bildet das geforderte Mitgefühl mit genau diesen Leuten ab, die so oft Opfer von Gewalt werden. Die frühen apokryphen Apostelakten und viele andere frühchristliche Quellen inszenieren soziale Sichtbarkeit (öffnen die kulturelle Linse, erweitern den kulturellen Diskurs), um die Armen, Leidenden und Bedürftigen zu inkludieren. Es war dieses neue kulturelle Subjekt, das das Christentum groß gemacht hat. Wie die meisten Apostelakten enden auch die Thomasakten mit dem Tod des Apostels. Thomas erleidet das Martyrium, als er die gesamte Familie des indischen Königs Misdai zum christlichen Glauben bekehrt hat. Mit ihrer Bereitschaft, für ihre Überzeugungen zu sterben, empfahlen sich die frühen Christen ihrer Zeit als philosophische Charaktere. 37 Clemens von Alexandrien formuliert dies gegen Ende des 2. Jhs. so: »Voll ist nun die ganze Kirche von solchen, die ihr ganzes Leben hindurch all ihr Denken auf den lebenbringenden Tod, der sie zu Christus führt, gerichtet haben, wie von sittsamen Männern so auch von sittsamen Frauen. Denn wer sein Leben nach unseren Grundsätzen führt, der kann auch ohne wissenschaftliche Bildung philosophieren, mag er ein Barbar sein oder ein Grieche, ein Sklave, ein Greis oder ein Kind oder eine Frau. Denn die kluge Mäßigung seiner selbst (sōphrosynē) ist für alle Menschen, die sich für sie entscheiden, in gleicher Weise zugänglich« (Stromateis 4,8,58). 38 Clemens gibt damit dem philosophischen Ideal einer todesmutigen Selbstbeherrschung ein christliches Gepräge: Menschen gleich welchen Alters, Geschlechts, gleich welcher sozialen Herkunft können in der Nachahmung Christi und im Bedenken seines Todes zu philosophischer Erkenntnis gelangen. Dies ist ein Kerngedanke der frühchristlichen Literatur insgesamt. Christliche Schriftsteller wenden sich immer wieder gegen die Annahme, Gotteserkenntnis sei ein Vorrecht der Gebildeten. Justin bezeichnet Märtyrer als Philosophen: »Denn dem Sokrates hat niemand so weit geglaubt, dass er für diese Lehre in den Tod gegangen wäre; dem Christus aber […] haben nicht allein Philosophen und Gelehrte geglaubt, sondern auch Handwerker und ganz gewöhnliche Leute, und zwar mit Hintansetzung von Ehre, Furcht und Tod« (Zweite Apologie 10,8). 39 Wie Clemens beharrt Justin darauf, dass Christen, obwohl sie aus einfachen Verhältnissen stammen und über keinerlei Bildung verfügen, durch ihre Todesverachtung mit Sokrates auf Augenhöhe stehen. Tertullian geht noch weiter: Während Sokrates »den Tod fast mit Genuss aus einem Becher trank«, übertreffen ihn die Christen, die »an Kreuzen und auf Scheiterhaufen jede Art der Grausamkeit ertragen« (De anima 1). 40 Die christlichen Quellen haben sich in den kulturellen Diskurs des Leidens eingeschaltet und auf diese Weise einen kulturellen Raum für die Nicht-Eliten, die Armen und Leidenden eröffnet, ihnen einen Platz in der Weltauffassung ihrer Zeit verschafft und dem frühen Christentum zu kultureller Identität und institutioneller Präsenz verholfen. Im Hinblick auf die Fähigkeit sich fremden Leides anzunehmen, bleiben freilich Grenzen. In ihrer nuancierten und einfühlsamen Interpretation der Thomasakten kritisiert Jennifer Glancy das Versäumnis, Sklaverei in derselben Entschiedenheit zu verurteilen, wie sie für Enthaltsamkeit eintreten: »Anders als die Verurteilung der Sexualität, die einen radikalen Verzicht auf jegliche sexuelle Aktivität fordert, entspricht der gleichfalls geäußerten Kritik an der Sklaverei keine entsprechende Forderung, in christlichen Kreisen auf die Haltung von Sklaven zu verzichten« 41 . Glancy bezieht sich auf Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 35 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 35 Judith Perkins Verwehrtes Personsein die Szene, in der Thomas die Träger der Mygdonia anspricht (83/ 198). Der Apostel schließt mit der goldenen Regel in ihrer negativen Form: »[W]ir haben das Gebot vom Herrn empfangen, dass wir das, was uns nicht gefällt, wenn es uns von einem andern geschieht, keinem andern zufügen« (83/ 199). Für moderne Leser schreit dies geradezu nach einer Abschaffung der Sklaverei oder doch zumindest danach, sie entschieden anzuprangern. An dieser Stelle schwenkt die Erzählung, wie Glancy notiert, jedoch auf das Thema Sexualität um. Der Apostel ermahnt die Träger und die umgebende Menge: »Enthaltet euch nun zuerst des Ehebruchs, denn dieser ist Veranlassung zu allem Bösen« (84/ 199), und er beschließt den dann folgenden Lasterkatalog mit einem weiteren Hinweis auf das »Lager der Unreinheit«, das »Verdammnis« nach sich zieht (84/ 200). Dann ermahnt der Apostel sein Publikum, dass sie in Heiligkeit, Freundlichkeit und Frieden wandeln, dass sie den Armen helfen und dem Mangel der Bedürftigen abhelfen sollen (85/ 200-01). Er bezeichnet die Heiligkeit (hagiosynē) als höchste Tugend: »[D]ie Heiligkeit erscheint von Gott her, die Hurerei vernichtend, den Feind bezwingend, Gott wohlgefällig […] [W]enn jemand sie erwirbt, so bleibt er ohne Sorge, indem er dem Herrn gefällt und die Zeit der Erlösung erwartet« (85/ 201). Für die Thomasakten ist Sexualität weitaus schrecklicher als Sklavenhaltung. Sexualität ist das schlechthin Abzulehnende, wogegen das Halten von Sklaven eine bedauerliche soziale Praxis darstellt. Nach den ersten Kapiteln ist von Thomas’ Sklavenstand kaum mehr die Rede. Glancys kritische Beobachtungen treffen zweifellos zu. Darin bleiben Verfasser und Gemeinde der Thomasakten Kinder ihrer Zeit. Glancy sieht dies selbst, wenn sie abschließend notiert, dass die Thomasakten schlicht von der Unentrinnbarkeit der Skalverei ausgehen. Die Thomasakten bewegen sich in einer Episteme, die von der unseren sehr verschieden ist: Man konnte sich eher eine Welt ohne Sexualität vorstellen als eine Welt ohne Sklaverei. Ungeachtet vereinzelter christlicher Stimmen gegen die Sklaverei bilanziert eine neuere Darstellung: »Soweit wir sehen, bleibt es ein Faktum, dass es in der gesamten Antike keine Bewegung gegeben hat, die für die Abschaffung der Sklaverei eingetreten ist« 42 . Weder die Thomasakten noch andere christliche Texte haben ihren kulturellen Horizont so weit für die Bürde des Sklavenstandes geöffnet, dass sie sich einer Abschaffung dieser Praxis verschrieben hätten-- ein epistemischer blinder Fleck, der noch Jahrhunderte andauern wird. Solche blinden Flecken mahnen heutige Leserinnen und Leser zur Vorsicht. In ihrer Studie über körperlichen Schmerz stellt Elaine Scarry eine für historisches Verstehen grundlegend wichtige Frage: »Welcher Wahrnehmungsprozess führt dazu, dass ein Mensch neben einem anderen Menschen stehen kann, der qualvolle Schmerzen erleidet, ohne davon eine Kenntnis zu haben, die ihn zu dem Punkt führt, wo er selbst es ist, der diese Schmerzen zufügt? « 43 . In seiner Rede an Mygdonias Träger gibt Thomas eine Antwort auf diese Frage: »[E]ure Machthaber glauben, dass ihr nicht Menschen seid wie sie selbst« (83/ 199). Menschen wissen nichts vom Schmerz der anderen, sei es physischer, sozialer oder psychischer Schmerz, weil ihr durch ideologische oder diskursive Kategorien gesteuerter Wahrnehmungsprozess dies ausschließt. Römische Autoritäten sahen in den verfolgten Christen nicht Menschen in Schmerzen, sondern Kriminelle, die den Staat destabilisieren. Christliche Inquisitoren sahen nicht Menschen in Schmerzen, sondern Häretiker, die auf Linie gebracht werden mussten. Eine Lektion, die man aus historischer Forschung lernen kann, ist die Notwendigkeit einer dauernden Aufmerksamkeit sich selbst gegenüber, damit wir nicht anderen, die wir gar nicht wahrnehmen, Schmerzen zufügen, über die die Geschichte dereinst urteilen wird, dass sie unsere Opfer waren. Anmerkungen 1 J. Perkins, The suffering self. Pain and narrative representation in the early Christian era, London 1995. 2 Vgl.T. S. Kuhn, The Copernican Revolution: Planetary astronomy in the development of Western thought. New York 1959. 3 M. Foucault, Die Sorge um sich, in: Ders., Die Hauptwerke, übers. von U. Raulff/ W. Seitter, Franfurt a. M. 2008, 1408 4 A. a. O., 1409 5 A. a. O., 1410. Foucault notiert in aller Kürze, dass das »christliche Asketentum […] extrem starke Betonung der Selbstbeziehungen« (a. a. O., 1408) darstellt. Hier spricht er allerdings von Asketen einer späteren Zeit, nicht von christlichen Texten aus der Zeit eines Seneca, Artemidor, Plutarch, Galen oder anderer in seinem Buch untersuchter paganer Autoren. 6 J. Oksala, Foucault on freedom, Cambridge 2005, 195. »Darin bleiben Verfasser und Gemeinde der Thomasakten Kinder ihrer Zeit. [...] Die Thomasakten bewegen sich in einer Episteme, die von der unseren sehr verschieden ist: Man konnte sich eher eine Welt ohne Sexualität vorstellen als eine Welt ohne Sklaverei.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 36 - 2. Korrektur 36 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema 7 Platon Werke I.4: Phaidon, Übersetzung und Kommentar v.T. Ebert, Göttingen 2004, 84. 8 A. a. O. 24. 9 A.A. Long, Epictetus: A Stoic guide to life, Oxford 2002. 10 Übersetzung: Epiktet, Handbüchlein der Moral und Unterredungen, hrsg. v. Heinrich Schmidt, Stuttgart 1984, 25. 11 A. a. O., 21. 12 Epictetus, Discourses, Book 1, translated and with an introduction and commentary by R. Dobbin, Oxford 1998, XV. 13 Übersetzung: Epiktet, Handbüchlein der Moral und Unterredungen, hrsg. v. Heinrich Schmidt, Stuttgart 1984, 80. 14 A. a. O., 80 f. 15 A. a. O., 29. 16 Übersetzung: R. Mücke (Hg.), Epiktet. Was von ihm erhalten ist, Heidelberg 1926, 101. 17 Übersetzung: Epiktet, Teles, Musonius, Ausgewählte Schriften, hg. u. übers. von R. Nickel, Zürich 1994, 267. 18 Übersetzung: R. Mücke (Hg.), Epiktet. Was von ihm erhalten ist, Heidelberg 1926, 256 (mit Änderungen). 19 P. Garnsey, Food and society in classical antiquity Cambridge 1999. 20 Übersetzung: Epiktet, Handbüchlein der Moral und Unterredungen, hrsg. v. Heinrich Schmidt, Stuttgart 1984, 112. 21 J. Francis, Subversive Virtue: Asceticism and Authority in the Pagan World of the Second Century C.E, Pennsylvannia 1995, 19 . 22 R. Gordon, »From Republic to Principate: Priesthood, Religion and Ideology«, in: M. Beard/ J. North, Pagan priests: Religion and power in the ancient world, Ithaca 1990, 177-255: 229. 23 A. a. O., 192. 24 A. a. O., 238. 25 Xenophon, Abromokes und Anthia. Die Liebenden von Ephesos, übers. v. Bernhard Kytzler, Leipzig 1981, 32. 26 Chariton von Aphrodisias, Kallirhoe, eingel., übers. und erläutert v. Karl Plepelits, Stuttgart 1976, 156 f. 27 Heliodor, Die Äthiopischen Abenteuer von Theagenes und Charikleia, übers. v. H. Gasse, Leipzig 1957, 13 28 A. Zuiderhoek, The politics of munificence in the Roman Empire. Citizens, elites and benefactors in Asia Minor, Cambridge 2009, 4. 29 P. Veyne,1990. Bread and Circuses: Historical Sociology and Political Pluralism, Translated by B. Pearce, London 1990, 33. 30 A. Parkin, »You do him no service: An exploration of pagan almsgiving«, in: E.M. Atkins/ R.Osborne (Hgg.), Poverty in the Roman world, Cambridge 2006, 60-82. 31 F. Bovon, »Canonical and Apocryphal Acts of the Apostles«, in: Journal of Early Christian Studies 11 (2003): 165- 94, 194. 32 J. Perkins, »Reimagining Community in Christian Fictions«, in: E.P. Cueva/ Sh. N. Bryne (Hgg.), Companion to the Ancient Novel, Chichester, West Sussex 2013, 535- 551. 33 Deutsche Übs. aus E. Hennecke/ W. Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen II: Apostolisches Apokalyptisches und Verwandtes, Tübingen 5 1989, 303-367. 34 J.A. Glancy, »Slavery in the Acts of Thomas«, Journal of Early Christian History 2,2 (2012), 3-21: 7-8. 35 Vgl. ActThom, 26f: König Gundafor, Gad und seine Untergebenen; 121: Mygdonia; 157f: die Familie von König Misdai außer dem König selbst, der vermögende General Sifor und seine Familie. 36 Vgl. dazu: J. Perkins, »Animal Voices«, in: Religion and Theology 12 (2005), 385-396. 37 Vgl. hierzu J. Perkins 2012 »Jesus was no Sophist: Education in Christian Fiction.«, in: M. P. F. Pinheiro/ J. Perkins/ R.Pervo (Hgg.), The Ancient Novel and Early Christian and Jewish Narrative: Fictional Intersections, Groningen 2012, 109-131. 38 Übersetzung: Clemens von Alexandrien, Teppiche (BKV 2/ 19) München 1936-1938, 45, mit Änderungen. 39 Übersetzung: Frühchristliche Apologeten und Märtyrerakten Band I. (Bibliothek der Kirchenväter, 1/ 12) München 1913, 150 f. 40 Eigene Übersetzung. 41 J.A.Glancy, »Slavery in the Acts of Thomas«, in: Journal of Early Christian History 2/ 2 (2012), 3-21: 14. 42 K.R. Bradley/ P. Cartledge u. a.(Hgg.) 2011. The Cambridge World History of Slavery, 4 Bde., Cambridge 2011, 2. 43 E. Scarry, The Body in Pain. The Making and Unmaking of the World, Oxford 1985, 2