eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 17/34

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2014
1734 Dronsch Strecker Vogel

Jesus – ein kynischer Philosoph

2014
Bernhard Lang
Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 15 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 15 In Jesus fließen zwei Kulturen zusammen: die traditionelle jüdische Kultur und die praktische Philosophie der hellenistischen Welt. Seine historische Gestalt lässt sich am besten verstehen, wenn wir Jesus als Exponenten sowohl der prophetischen Überlieferung seines Volkes als auch der philosophischen Überlieferung der hellenistischen Welt begreifen. Vielen ist »Jesus der Prophet« vertrauter als »Jesus der Philosoph«. Dieses Essay will Jesu philosophisches Gedankengut hervorheben und von seiner Verwurzelung in der Schule der Kyniker-- der Schule des Diogenes-- her beleuchten. 1 Schon der um 1900 lebenden Gelehrtengeneration stand der griechische Charakter des Neuen Testaments klar vor Augen: »Das Neue Testament ist wirklich ein griechisches Buch.« 2 Machen wir mit dieser Einsicht ernst, ergeben sich mannigfache Korrekturen an traditionellen Jesusbildern. Wichtiger noch scheint mir ein anderer Gewinn: Der philosophische Jesus vermag uns anzusprechen und zu neuem Denken und anderem Verhalten zu bewegen. »Kein Zweifel also«, schreibt der klassische Philologe John Moles, »wie im ersten, so ist auch im einundzwanzigsten Jahrhundert der Kynismus der Ort der Wahl. […] Von allen heidnischen Philosophien der Antike hat Gott nur eine so gut wie bejaht-- den Kynismus.« 3 1. Wer waren die Kyniker? Wir kennen die Philosophie der Kyniker zu einem guten Teil aus einem spätantiken Buch mit dem Titel Leben und Lehre der Philosophen von Diogenes Laërtios (3. Jh. n. Chr.). Dieses Werk überliefert biographische Anekdoten über die Philosophen des klassischen Griechenland. Die Geschichten über Diogenes nehmen einen breiten Raum ein. Sie erzählen von einem Sonderling, der, auf jeden Besitz verzichtend, in Athen und Korinth vom Bettel lebte. Des Nachts soll er sich mangels einer besseren Unterkunft in ein großes Fass-- eine Tonne-- zurückgezogen haben (Abbildung 1). Der Philosoph Diogenes in seiner Tonne (aus: Johann Joachim Winckelmann, Monumenti antichi inediti, Rom 1767, Bd. 2.) Das Bild vereinigt zwei Anekdoten, die von dem griechischen Philosophen Diogenes (403-323 v. Chr.) überliefert werden: (1) Um seine Bedürfnislosigkeit zu demonstrieren, habe er in einer Tonne gehaust, einem riesigen Fass, wie es sonst für die Aufbewahrung von Wein dient. (2) Als ihm der Feldherr Alexander der Große-- der mächtigste Mann der damaligen Welt-- einen Wunsch freistellte, soll der sich in der Sonne ausruhende Philosoph geantwortet haben: »Geh mir aus der Sonne.« Das will besagen: An den Reichtümern, die ein Feldherr zur Verfügung stellen kann, liegt mir nichts. Der Philosoph stellt sich dem Mächtigen als ebenbürtig gegenüber. Der Adel des Geistes gilt nicht weniger als der Adel der Waffe. Diogenes ist eine historische Gestalt, deren Lebensdaten wir kennen (ca. 403-323 v. Chr.). »Der Hund« (gr.: kyōn) genannt, gilt er als die emblematische Gründergestalt der kynischen Philosophie. Deren Lehre fasst die spätantike Schrift wie folgt zusammen: Die Kyniker befassten sich nicht mit Wissenschaften wie Logik, Naturphilosophie (Physik), Geometrie und Musik, sondern nur mit Ethik; ein Leben gemäß der Tugend gelte als das höchste Ziel des Menschen; Tugend sei lernbar und, einmal begriffen, unverlierbar; der Weise solle liebenswert, fehlerlos und anderen Weisen ein Freund sein. Kyniker, so heißt es weiter, führten eine einfache, bescheidene Bernhard Lang Jesus-- ein kynischer Philosoph Philosophische Lebensweise und griechisches Denken in den Evangelien Georg Luck (1926-2013), dem Erforscher der Quellen kynischer Philosophie, in memoriam. Zum Thema Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 16 - 2. Korrektur 16 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema Epiktet hat keinen Zweifel an solcher Sendung: »Der wahre Kyniker muss dies wissen: Als Bote ist er von Zeus zu den Menschen gesandt, um ihnen zu zeigen, dass sie, was Gut und Böse anlangt, vom Wege abgekommen sind. Sie suchen das Wesen von gut und böse dort, wo es nicht ist.« 5 Der Philosoph weiß sich von Gott (Zeus) berufen und mit einer Mission beauftragt-- eine stolze, bemerkenswerte Selbsteinschätzung der Kyniker. Die kynische Bewegung hat eine andere Entwicklung genommen als die übrigen antiken philosophischen Schulen. Schulen wie die Stoa und die Akademie Platons haben den Philosophenberuf professionalisiert, ihre Schulen zu festen Institutionen gemacht, ihren Lehrstoff zum Bildungsgut erklärt und ihn durch Vorlesungen an zahlende Studenten vermittelt. Dieser Entwicklung hat sich die kynische Bewegung verweigert. Ihre Vertreter bleiben Einzelgänger-- und die kynische Philosophie insgesamt eine von der gewöhnlichen Kultur abgesetzte Gegenkultur. Die Kyniker legen keinen Wert auf systematische und regelmäßige Vermittlung philosophischen Grundwissens an Studenten; stattdessen treten sie als moralische Volksprediger auf, die durch ihre Reden, aber auch ihr persönliches Vorbild das moralische Klima der antiken Gesellschaft zu heben versuchen. In der hellenistisch-römischen Welt des 3. Jh.s v. Chr. bis ins 4. Jh n. Chr. finden sie großen Anklang, wenn sie auch nur wenige zu einem philosophischen Leben nach der Art des Diogenes bekehren können. 2. Kynische Philosophie im antiken Judentum Zu den Schülern der Kyniker gehören auch Juden. Eine erste Spur des jüdischen Kynismus finden wir im biblischen Buch Prediger oder Kohelet (ca. 200 v. Chr.). Grundlegend für Kohelet ist die Abwendung vom Reichtum, da dieser keine Befriedigung zu bieten vermag-- ein geläufiges kynisches Thema. Noch ein weiterer Zug der Philosophie Kohelets lässt sich auf kynisches Gedankengut zurückführen: seine Mahnung nämlich, Leben und Besitz zu genießen, wenn das Schicksal es erlaubt und solange das Schicksal es erlaubt. »Dies ist eine Art opportunistischer Haltung zum Leben: mit beiden Händen nehmen, wenn es etwas zu nehmen gibt; sich nicht beklagen, wenn die Zeiten mager ausfallen; das Leben genießen, wenn es genossen werden kann; aber die Launen des Schicksals mit Gleichmut anzunehmen.« 6 Bertrand Russell kennzeichnet die kynische Philosophie mit diesen Worten; ihren besten Beleg aber findet diese Auffassung im Buch Kohelet. Lebensweise, trügen nur einen Mantel und verachteten Reichtum, Ruhm und edle Abkunft; sie seien mit bescheidener Kost zufrieden, und manche lebten nur von pflanzlicher Nahrung, würden nur Wasser trinken und begnügten sich mit dem einfachsten Obdach, wofür die Tonne des Diogenes ein Beispiel sei; ihre Bedürfnislosigkeit mache sie den Göttern ähnlich. In dieser Charakterisierung fehlt nur ein Element, das in mehreren Zeugnissen deutlich hervortritt: der Gottesglaube der Kyniker. Mögen einige Vertreter dieser Philosophie vom Götterglauben auch nicht viel gehalten haben, so ist dies jedoch nicht die vorherrschende Meinung. In den Kynikerbriefen-- einem philosophischen Briefroman-- bekennt Diogenes, er lebe so, wie er lebe, »um in Freiheit umherzuwandern unter Zeus, dem Vater, auf der ganzen Erde, und von den großen Herren keinen zu fürchten«. 4 Wollen wir die Sprache späterer christlicher Tradition gebrauchen- - und wir haben keine andere--, dürfen wir vom Bewusstsein der Gotteskindschaft reden. Dabei wird von Gott zumeist im Singular gesprochen, vom einen Gott, nämlich Zeus. Bernhard Lang, geb. 1946, Dr. theol. habil., Dr. theol. h.c., Elève titulaire de l’Ecole biblique, war Professor für Altes Testament und Religionswissenschaft in Tübingen, Mainz, Paderborn und St. Andrews (Schottland). Gast- und Vertretungsprofessuren in Paris, Philadelphia und Aarhus. Drei Jahrzehnte lang erschien die »Internationale Zeitschriftenschau für Bibelwissenschaft und Grenzgebiete« unter seiner Herausgeberschaft. Zu seinen Arbeitsgebieten gehört neben der Bibel die Geschichte des christlichen Glaubens von den Anfängen bis zur Gegenwart. Neuere Veröffentlichungen: Joseph in Egypt. A Cultural Icon from Grotius to Goethe, London 2009; Jesus der Hund. Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers, München 2010; Buch der Kriege - Buch des Himmels. Kleine Schriften zur Exegese und Theologie, Leuven 2011; Die 101 wichtigsten Fragen - Die Bibel, München 2013. Für weitere Informationen siehe: http: / / kw.uni-paderborn.de/ institute-einrichtungen/ institut-fuer-katholische-theologie. Prof. Dr. Bernhard Lang Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 17 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 17 Bernhard Lang Jesus-- ein kynischer Philosoph In einem Spruch dieser Schrift begegnen wir auch dem Hund, dem emblematischen Tier der Kyniker: »Ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe« (Koh 9,4). Der lebende Hund ist kein anderer als der Philosoph! Auch im Motto des Koheletbuches lässt sich ein bekanntes Kynikerwort finden. In der Übersetzung Luthers lautet der Spruch: »Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel« (Koh 1,2). Die Einheitsübersetzung gibt den hebräischen Wortlaut genauer wieder: »Windhauch, Windhauch, sagte Kohelet, Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch.« Abgelauscht ist der Spruch einem Wort des Monimos, der uns als Hexameter überliefert ist: »Was immer ist, ist Dunst und eitles Wahngebilde.« 7 Monimos von Syrakus war unmittelbarer Schüler des Diogenes. 3. Jesus und Johannes der Täufer als Kyniker: Gib deinen Besitz auf! Nicht nur im Buch Kohelet, auch in den Evangelien treten kynisches Gedankengut und Verhalten immer wieder deutlich hervor. Vor allem Jesus und Johannes der Täufer lassen sich unschwer als Männer verstehen, die kynisches Ideal zu verwirklichen trachten. An erster Stelle ist ihre freiwillige Armut zu nennen, die der kynischen Selbstgenügsamkeit überraschend genau entspricht. Hat sich der Schüler zur kynischen Existenz entschlossen, muss er als erstes seinen Besitz aufgeben-- eine Herausforderung, der nicht jeder gewachsen ist. Jesus empfiehlt dem reichen Jüngling den Verkauf seines Besitzes und die Verteilung des Erlöses an die Armen: »Willst du vollkommen sein, so geh, verkaufe dein Hab und Gut und gib an Arme. So wirst du einen Schatz im Himmel haben. Dann auf, folge mir« (Mt 19,21). 8 Der Jüngling ist von dem Vorschlag überrascht; unfähig sich zur philosophischen Lebensweise zu bekehren, geht er traurig von dannen. Wir können nicht wissen, was den Jüngling im Innersten bewegt hat. Vermutlich hat er den Rat erwartet, den die Mehrheitskultur den Reichen seiner Zeit gegeben hat. Er lautet nämlich: »Nimm von deinem Besitz und geh in deine Vaterstadt. Dort stifte ein öffentliches Bad oder einen Sportplatz oder eine Synagoge. So erwirbst du dir Ehre und Ansehen.« Einen vergleichbaren Rat gab der römische Staatsmann und Philosoph Cicero seinem Sohn Marcus, dem er sein Buch De officiis- - Vom pflichtgemäßen Handeln widmete. Wer es sich leisten kann, rät der Vater, soll dem Gemeinwohl dienen durch »den Bau von Stadtmauern, die Anlage von Werften, Häfen und Wasserleitungen«. Wer eine solche Baumaßnahme finanziert »ohne dass sie ihn sein Vermögen kostet, der hat von seinem Geld zweifellos den größten Genuss«, nämlich den Gewinn von Ansehen. 9 Am gestifteten Bauwerk pflegt eine gut lesbare Inschrift den Namen des »Wohltäters«-- so der Fachausdruck (gr.: euergetēs)-- bekanntzugeben und ihn auf diese Weise zu ehren. 10 Cicero rät zu Wohltätigkeit, die in Bauten auf Dauer sichtbar bleibt, Jesus zum Verschenken des ganzen Besitzes an die Armen, was nach Cicero nichts anderes als nutzlose Verschwendung bedeutet. Doch Jesus wollte den Jüngling nicht zu einem Wohltäter der Stadt machen. Als Vertreter der philosophischen Minderheitskultur wollte er ihn aus seiner Existenz herausreißen, ihn entwurzeln, ihn zum Philosophen machen. »Willst du vollkommen sein, so geh, verkaufe dein Hab und Gut und gib an Arme.« Darauf aber hatte der junge Mann keine Lust. Mit der Minderheitskultur Jesu und anderer Philosophen konnte er sich nicht anfreunden. An dieser Stelle noch ein Wort zur sozialen Herkunft Jesu! Die uns geläufige Tradition ist von der lukanischen Kindheitserzählung geprägt: Jesus ist in einem Stall zur Welt gekommen, er stammt aus einfachsten Verhältnissen. Sein Vater Josef ist einfacher Handwerker gewesen, vielleicht Holzarbeiter, der Pflüge hergestellt und repariert hat, auch Hütten der Bauern gebaut und Ähnliches. Als Beleg dient nicht zuletzt ein angeblicher archäologischer Befund: Nazaret war ein einfaches Dorf, dort lebten im 1. Jh. nur Kleinbauern. Diesem Befund widersprechen neuere Forschungen und Überlegungen in mehrfacher Weise. Woher hatte Jesus seine Bildung? Muss man annehmen, die Familie habe einen wohlhabenden Gönner gehabt, vielleicht einen reichen Verwandten, der Jesu Schulbesuch und höhere Bildung ermöglichte? Liegt es nicht näher, sich Jesu Familie als wohlhabend vorzustellen? Das Matthäusevangelium weiß nichts von Jesu niederer Herkunft; es lässt Jesus in einem Haus in Betlehem geboren sein, nicht in einem Stall (Mt 2,11). Tatsächlich gibt es auch in Galiläa einen Ort namens Betlehem; dieser Ort ist im Buch Josua im Alten Testament erwähnt und könnte Jesu wirklicher Geburtsort sein (Jos 19,15). Jesu Vater könnte es zu Wohlstand gebracht haben. Unweit von Nazaret liegt die Stadt Sepphoris (etwa 7 km entfernt); sie ist zu Beginn des 1. Jh.s von Jesu Landesvater Herodes Antipas zum Schmuckstück Galiläas ausgebaut worden. Hat Josef bei den Bauarbeiten Arbeit gefunden? Vielleicht sogar als Unternehmer? Auch die Spezialisten der Galiläa-Archäologie räumen inzwischen ein, Galiläa sei nicht das ärmliche Land gewesen, als das es bisher gezeichnet worden ist. 11 Schließlich gibt es noch einen Hinweis bei Paulus: »Er, der reich war, wurde euretwegen arm« (2Kor 8,9). Der Kontext handelt vom Geld; schon 1964 hat der amerikanische Exeget George Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 18 - 2. Korrektur 18 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema Wesley Buchanan daraus den plausiblen Schluss auf Jesu Herkunft aus einer wohlsituierten Familie gezogen. 12 Als Philosoph habe er jedoch dem Besitz den Rücken gekehrt-- eine erwägenswerte und realistische Annahme. Diogenes als nackter Bettler (aus Johann Joachim Winckelmann, Monumenti antichi inediti, Rom 1767, Bd. 2.) So hat sich ein antiker Künstler den Philosophen vorgestellt. Der Diogenes beigefügte Hund ist nicht als Kamerad des Philosophen zu verstehen, sondern dient nur als Hinweis auf die kynische Philosophie, die Philosophie »der Hunde«. Von einigen seiner Zeitgenossen wurde Diogenes als streunender Hund bezeichnet. Davon leitet sich die Bezeichnung »kynische Philosophie« (wörtlich: Hundephilosophie) ab. Die Nacktheit weist auf Armut, aber auch auf Heldentum, denn der Antike wurden vor allem Helden (Halbgötter wie Herakles) nackt dargestellt. Die Armut des Bettlers paart sich mit der Anmut des Gottes. Nur wenigen gelingt es, sich der Herausforderung des Satzes zu stellen: »Ihr könnt nicht Gottes und des Mammons Knechte sein« (Mt 6,24). Doch einigen gelingt es, die Fesseln des Mammons abzulegen. Einfachste Kleidung ist nun ihr Kennzeichen. Johannes der Täufer, wie Jesus von kynischer Philosophie beeinflusst, trägt in Anlehnung an die Tracht der Philosophen und die Kleidung des alttestamentlichen Propheten Elija »ein Gewand aus Kamelhaar und einen ledernen Gürtel um die Hüfte« (Mt 3,4); er erscheint nicht als »Mann in feiner Kleidung« (Mt 11,8). Der »Gürtel um die Hüfte« mag nichts anderes sein als ein lederner Lendenschurz, wie ihn die Arbeiter im alten Ägypten trugen und wovon ein Exemplar im Britischen Museum zeugt. Deutlich kynischen Klang hat die Ausrüstungsregel, die Jesus seinen engsten Schülern vorschreibt: »Er wies sie an, nichts auf den Weg mitzunehmen, außer einem Stock: kein Brot, keinen Ranzen, kein Kupfergeld im Gurt, nur Sandalen untergebunden. Zieht auch nicht zwei Leibröcke an« (Mk 6,8-9). Noch etwas strenger fällt die Reiseregel in einer anderen überlieferten Fassung aus: »Verschafft euch kein Gold, kein Silber, kein Kupfergeld für den Gürtel, keinen Ranzen für den Weg, keine zwei Leibröcke, keine Sandalen, keinen Stock« (Mt 10,9-10). Keinen Ranzen, keine Sandalen-- das erinnert an eine kleine Statue im Antikenmuseum von Neapel (Abbildung 2): Nackt und barfuß, besitzt der Bettler nichts als einen Stock; der ihn begleitende Hund dient lediglich der Verdeutlichung-- das ist Diogenes, der Kyniker. Rainer Maria Rilke hat in seinem bekannten Gedicht »Archaischer Torso Apollos« die Rollen von Betrachter und Statue vertauscht; nicht der Betrachter erblickt die antike Statue, sondern die Statue erblickt den Betrachter: … denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern. Die Diogenes-Statue predigt Bedürfnislosigkeit, Verachtung von Körper, Schönheit und bürgerlicher Konvention. Wovon leben die Kyniker? In der Regel nicht von ihrer Hände Arbeit, sondern vom Bettel- - und nicht zuletzt von dem, was sie in der Natur finden. Von der Selbstversorgung jüdischer Kyniker berichten Anekdoten und beiläufige Mitteilungen. »Als Nahrung holte er sich nur, was von alleine wuchs«, nämlich in der freien Natur, schreibt der jüdische Historiker Josephus über den von ihm oft besuchten kynischen Asketen Bannus, den er als den Lehrer seiner Jugend bezeichnet. 13 Von Hunger geplagt, mustert Jesus einen Feigenbaum auf der Suche nach Früchten; er ist enttäuscht, als er nichts findet und stößt einen Fluch aus (Mt 21,18-19). Jesu Jünger streifen durch die Getreidefelder der Bauern, zupfen reife Ähren und stillen ihren Hunger durch die Körner (Mk 2,23). Als Reisende dürfen sie sich nach antikem Brauch auch an den Feldern bedienen; die entsprechende Regel ist im Alten Testament überliefert: »Wenn du in den Weinberg eines anderen kommst, darfst du so viel Trauben essen, wie du magst, bis du satt bist, nur darfst du nichts in ein Gefäß tun. Wenn du durch das Kornfeld eines anderen kommst, darfst du mit der Hand Ähren abreißen, aber die Sichel darfst du auf dem Kornfeld eines anderen nicht Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 19 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 19 Bernhard Lang Jesus-- ein kynischer Philosoph schwingen« (Dtn 23,25-26). Ohne eine solche Regel hätte niemand in der alten Welt reisen können! wird ständig eingeladen; offenbar ist er ein beliebter Gast. Er kehrt bei dem reichen Pharisäer Simon ein, auch bei der vermutlich ebenfalls reichen Frau Martha (Lk 7,36; 10,38). Wohlhabende Frauen, so heißt es in den Evangelien, seien Jesus nachgefolgt und hätten ihm »gedient« (Mk 15,41); »sie unterstützten Jesus und die Jünger mit dem, was sie besaßen« (Lk 8,4). Einer der Jünger Jesu, der Zöllner Levi, besitzt ein Haus, in dem er Jesus und seine Gefährten bewirtet (Mk 2,15). Eine solche Versorgung durch andere mag uns als unsicher und prekär erscheinen; den Kyniker hat das aber gewiss nicht gestört. Die Lebensweise der Kyniker kann als parasitär, wirtschaftsfeindlich und außenseiterisch bezeichnet werden. 4. Sei sorglos wie die Tiere! In den Anekdoten und Aussprüchen der Kyniker spielen Tiere als nachzuahmende Vorbilder eine beachtliche Rolle. So nimmt sich Diogenes-- nach einer bei Plutarch überlieferten Anekdote 15 -- eine Maus zum Vorbild; er ist davon beeindruckt, wie das von ihm beobachtete kleine Tier sorglos umherläuft und sich mit Brotkrümeln beschäftigt: So sorglos muss auch der Philosoph sein! In der Kynikerrede des Dion von Prusa ist von den Beschwernissen die Rede, die der Besitz-- zum Beispiel an Sklaven-- einem Menschen bereitet. Besser als die Menschen handeln die Tiere: »Sieh doch, wie viel sorgloser als die Menschen die Tiere und Vögel hier leben, wie viel glücklicher! Gesünder und kräftiger, lebt jedes, solange es kann, und hat doch keine Hände und keinen menschlichen Verstand. Und dennoch haben sie als Ausgleich für alle die Mängel das beste Los: Eigentum ist ihnen unbekannt.« 16 Auch Jesus kennt das Glück der Tiere. Es wurzelt in ihrer für den Menschen vorbildlichen Freiheit und Sorglosigkeit. »Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen oder was ihr trinken, noch um euren Leib, womit ihr euch kleiden sollt. Ist nicht das Leben mehr als die Zehr und der Leib mehr als das Kleid? Blickt auf die Vögel des Himmels: Sie säen nicht und ernten nicht und heimsen nicht in Speicher-- und doch: Euer himmlischer Vater nährt sie. Geltet ihr nicht mehr als sie? Wer von euch aber kann- - mag er sich noch so sorgen-- seiner Lebenszeit nur eine Elle zulegen? « (Mt 6,25-26) Bemerkenswert ist die enge Entsprechung zu dem soeben angeführten Dion von Prusa, der seinen Kyniker ebenfalls im Kontext der Lebenserwartung von der Sorglosigkeit der Vögel sprechen lässt. Offenbar handelt es sich um einen kynischen Topos, Gebet eines kynischen Philosophen Edle Töchter der Mnemosyne und des olympischen Zeus, Musen Pieriens, erhört mein Gebet: Gebt meinem Bauch das tägliche Futter, und gebt, dass ich frei von Sklaverei bin, die das Leben elend macht. Macht mich den Freunden nützlich, aber nicht gefällig. Fabelhaften Reichtum will ich nicht anhäufen, mich gelüstet nicht nach dem Glück des Mistkäfers, dem Besitz der Ameise. Sondern an der Gerechtigkeit will ich teilhaben, und harmlosen Reichtum, leicht zu tragen, ehrlich erworben, wertvoll für die Tugend will ich. Wenn ich das bekomme, will ich Hermes und die keuschen Musen segnen, nicht mit üppigen Opfergaben, sondern durch Frömmigkeit und Tugend. Dem Kyniker Krates (365-285 v. Chr.) zugeschrieben, ist dieses Gebet überliefert von Kaiser Julian, Rede VII: Gegen den Kyniker Herakleios; übersetzt in: G. Luck, Die Weisheit der Hunde. Texte der antiken Kyniker, Stuttgart 1997, 437-438. Erläuterungen: Mnemosyne: Gattin des Zeus, Mutter der Musen. Pierien: Landschaft in Makedonien, Heimat der Musen. Futter: der Kyniker spielt an auf sein »Hundsein«. Mistkäfer, Ameise: der Mistkäfer galt als glücklich, die Ameise als reich; der Kyniker ist mit wenig zufrieden. Hermes: Götterbote, Schutzgott der Reisenden. Mag die Natur auch ihre Früchte spenden, sie kann den Kyniker nicht vollständig ernähren; es bleibt eine Versorgungslücke. Diese Lücke schließen jene, die dem Kyniker Achtung entgegenbringen und ihn materiell unterstützen. Diogenes berichtet: »Einige brachten mir Geld, andere brachten Dinge, die Geldwert hatten, und viele luden mich zum Essen ein.« 14 Auch Jesus Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 20 - 2. Korrektur 20 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema der auch jüdische Kyniker erreichte. Innerhalb der jüdischen Weisheit-- der des Alten Testaments und der nachbiblischen rabbinischen Überlieferung-- gibt es keine einzige Parallele zu diesem Ausspruch Jesu; die Herleitung aus der kynischen Tradition ist nicht zuletzt deshalb plausibel. Die Betonung der Sorglosigkeit und des Vertrauens auf Gottes väterliche Fürsorge lässt den optimistischen Grundzug der kynischen Philosophie, gleich ob von Griechen oder Juden vertreten, in aller Deutlichkeit hervortreten. Überlegene, heitere Ruhe ist ihr Kennzeichen. Für das Verständnis der kynischen Weltauffassung ist die neue Bewertung des Tieres von größter Bedeutung. Das herkömmliche griechische Denken ordnet die Lebewesen in eine hierarchische Stufenfolge ein: An unterster Stelle steht das Tier, dann folgt der Mensch als höheres Wesen, gefolgt von den Halbgöttern wie Herakles; an höchster Stelle, den Abschluss bildend, rangieren die Götter. Zugrunde gelegt ist die nach oben zunehmende Intelligenz: die Menschen sind intelligenter als die Tiere und die Götter sind am intelligentesten und verfügen gleichzeitig über die größte Macht. Die uns als natürlich erscheinende Abfolge Tier Mensch Halbgott Gott wird von den Kynikern umgestoßen. Nach ihrer Meinung dürfen Intelligenz und Macht nicht der Maßstab der Bewertung sein, vielmehr ist die Frage nach dem Glück zu stellen. Deshalb die von ihnen vorgeschlagene Rangfolge: Mensch Tier Halbgott Gott Denn ihnen gilt der Mensch als das am wenigsten glückliche Wesen; Tiere sind glücklicher, die Götter am glücklichsten. Diese Neubewertung des Tieres enthält eine Lehre, ja einen Aufruf an den Menschen: Nur wenn du zu deinem ursprünglichen, von der Zivilisation unverdorbenen Tiersein zurückkehrst, indem du die Tiere nachahmst, kannst du das Glück wiedererlangen. Tatsächlich gehört die Lehre vom Glück der Tiere zu den ältesten und grundlegenden Überzeugungen der Kyniker. Der Erwerb des Glücks erfordert als Preis das Aufgeben von typisch menschlichen Institutionen, besonders des Eigentums, aber auch der Ehe. Nur durch solchen Verzicht lassen sich die großen Glücksgüter Freiheit und Sorglosigkeit gewinnen. 5. Die »Diatribe«-- unterhaltsame Laienbelehrung Bekannt sind die kynischen Philosophen für ihre »Diatribe«. Sie lässt sich definieren als Laienbelehrung und Gesellschaftskritik in unterhaltsamer Form. In der Regel zielt sie nicht auf Rekrutierung von Menschen für die philosophische Lebensweise, sondern auf moralische Besserung aller Zuhörer oder Leser. Jeder soll sich angesprochen fühlen, jeder etwas lernen. Zwar dient die Diatribe oft dringlicher Ermahnung, aber trotz pädagogischer Absicht herrscht häufig ein munterer Plauderton, der gerne Vergleiche gebraucht und allerlei Zitate einflicht. Typische Themen sind der Vergleich von Reichtum und Armut (der stets zugunsten der Armut ausfällt, da Reichtum nur Sorgen mit sich bringt), die Empfehlung von Selbstgenügsamkeit als Lebensideal, der Kampf gegen die das Leben erschwerenden Leidenschaften, die Aussöhnung mit der Verbannung aus der Heimatstadt durch politische Gegner, die Warnung vor der Lust, die zu Unrecht als das höchste Gut gilt. Die Bewältigung von Schwierigkeiten im mitmenschlichen Umgang kommt ebenso zur Sprache wie die Aussöhnung mit Alter, Krankheit und Tod. Immer geht es um die Weitergabe einer hilfreichen, von Leid befreienden Sicht der Wirklichkeit. Später haben sich volkstümliche christliche Moralprediger der meisten dieser Themen bedient, so dass sie uns bekannt erscheinen. Auch die jüdischen Kyniker bedienen sich der Diatribe. Von Johannes dem Täufer wird eine zur Solidarität rufende Standespredigt überliefert: »Wer zwei Leibröcke hat, teile mit dem, der keinen hat. Und wer zu essen hat, der tue desgleichen. Es kamen auch Zöllner, um sich taufen zu lassen. Und sie sprachen zu ihm: Lehrer, was sollen wir tun? Er sprach zu ihnen: Treibt nicht mehr ein, als euch angeordnet. Aber auch Kampfsoldaten fragten ihn: Und wir, was sollen wir tun? Und er sprach zu ihnen: Keinen schindet, keinen erpresst, und lasst euch euren Sold genügen! « (Lk 3,11-14)-- eine Ermahnung also zum Teilen und zur Selbstbeschränkung; eine Rede gegen Habgier. Der Diatribenstil ist auch für Jesu Lehrart charakteristisch; darauf verweisen die Gleichnisse und Beispielerzählungen ebenso wie das Einflechten alttestamentlicher Zitate und Anspielungen. Schon in der Antike wurde die Nähe von Jesu Lehrart und der kynischen Diat- Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 21 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 21 Bernhard Lang Jesus-- ein kynischer Philosoph ribe bemerkt: Der Kirchenvater Origenes zählt auf, was Jesus mit Epiktet gemeinsam hat: Beide sprechen eine Sprache, die auch den gemeinen Mann erreicht. Das schwer verständliche Idiom der Platoniker, meint Origenes, habe nur wenigen genützt; »dagegen hat die Redeweise der Männer, die zugleich einfacher und sachlich und mit Berücksichtigung der großen Menge gelehrt und geschrieben haben, einer viel größeren Anzahl von Menschen Nutzen gebracht.« 17 Solche Männer, sagt Origenes, sind Jesus und der dem Kynismus verpflichtete Stoiker Epiktet! Die bei Lukas überlieferte jesuanische Parabel vom reichen Prasser und armen Lazarus ist ein Glanzstück aus dem Repertoire der Diatribe: Der Reiche gewährt dem vor der Tür seines Hauses darbenden Armen von seiner opulent gedeckten Tafel keinen einzigen Bissen; er hat kein Herz für den Armen. Als der Tod beide ereilt, kehrt sich ihr Schicksal um: Nun ruht Lazarus im Himmel, während der Reiche in der Hölle schmachtet, von schrecklichem Durst gequält (Lk 16,19-31). Diese Geschichte findet ihre nächste Entsprechung in der Erzählung vom reichen Tyrannen Megapenthes und dem armen Schuster Mikyllos. Lukians Erzählung 18 gehört zur Gattung der menippeischen Satire, einem Typ von Literatur, den der Kyniker Menippos begründet hat. Die Erzählung spielt in der Unterwelt. Sie berichtet von der Ankunft dreier gerade verstorbener Menschen im Totenreich- - dem Philosophen Kyniskos, dem Tyrannen Megapenthes und dem Schuster Mikyllos. Sie kommen vor den Totenrichter. Dieser schickt den Schuhmacher Mikyllos zusammen mit dem Philosophen Kyniskos (d. h., dem Kyniker) zu den Inseln der Seligen. Was den Reichen angeht, so zögert der Richter: Soll er ihn in den brennenden Feuersee werfen oder dem Kerberos zum Fraß überlassen? Auf den Vorschlag von Kyniskos wird eine andere Strafe verhängt: Gefesselt muss er auf ewig neben Tantalos stehen, Durst erleiden und sich an sein vergangenes Leben erinnern. Kein Leser der jesuanischen Parabel, der die hellenistische Tradition kennt, wird an ihrem kynischen Charakter zweifeln. Der Schuhmacher (bei Lukian) und der Bettler (bei Jesus) verkörpern den armen Philosophen, den ein gutes Schicksal im Jenseits erwartet. Die eigentliche Pointe der Geschichte vom armen Kyniker und vom reichen Prasser ist jedoch nicht die Jenseitslehre. Es geht vielmehr um die Aufforderung an die Reichen, den kynischen Philosophen gastfreundlich aufzunehmen. Darauf weist auch ein leicht übersehbarer Zug der lukanischen Fassung der Parabel: Lazarus kommt in Abrahams Schoß; griechisch betrachtet bedeutet das: Er ist ein Gastfreund des Abraham. Und Abraham ist jener, der nach einer Genesiserzählung fremde Reisende als Gäste empfängt und reichlich bewirtet (Gen 18). Kynische Philosophen wie der Lazarus der Parabel wären natürlich auch schon mit den Brotkrumen zufrieden, die bei einem Gastmahl zur Seite fallen. Eine von Jesus abgewiesene Frau sagt zum Meister: »Ja, du hast recht, Herr. Aber selbst die Hunde bekommen von den Brotresten, die vom Tisch ihrer Herren fallen« (Mt 15,27). Vielleicht hat die Frau Jesus auf seine kynische Philosophie angesprochen, wie ja Jesus selbst in der Parabel vom reichen Prasser darauf anspielt. Soweit zu einem jesuanischen Stück aus dem Repertoire der kynischen Diatribe! 6. Liebe deine Feinde! Wer sich zur philosophischen Lebensweise bekehrt, wird oft ausgelacht, mit Spott überschüttet und verhöhnt. 19 Erst recht, wer bettelt oder als öffentlicher Redner andere belehren will. Wer sich in anderer Leute Angelegenheiten einmischt, erfährt nicht selten schroffe Zurückweisung. Der Kyniker wird abgewiesen, beschimpft und sogar tätlich angegriffen. Wie soll der Philosoph reagieren? Die Antwort ist fester Bestandteil der kynischen Ethik: Misshandlung ist geduldig zu ertragen; der Kyniker soll sich keinesfalls zu nutzlosem Wortgefecht, Balgerei und Händel provozieren lassen. Der in sich gefestigte Philosoph hat gegenüber Angriffen immun zu sein. Das Ertragen von Misshandlung gilt als eine Art Initiationsprüfung für jene, die sich der kynischen Lebensweise anschließen. Laut Epiktet hat jeder, der sich auf den Beruf des Kynikers vorbereitet, viele Hiebe zu gewärtigen. »Auch dies ist ein außerordentlich feiner Faden im Gewebe des Kynikerberufs: Schinden lassen muss er sich wie ein Esel, und geschunden noch seine Schinder lieben-- ist er doch Vater und Bruder von allen.« 20 Trotz der Misshandlung hat der Kyniker die Rolle zu wahren, die er anderen gegenüber einnehmen muss: die eines Vaters und Bruders, der sich zu Nachsicht und Liebe verpflichtet weiß. Zumindest in der römischen Kaiserzeit empfehlen die Kyniker und ihre Anhänger Feindesliebe. Ein Beispiel gibt Seneca in seiner Abhandlung De clementia (Über die Milde, 55/ 56 n. Chr.), die er dem ungestümen Nero zum achtzehnten Geburtstag widmet. Milde und Menschlichkeit werden anhand eines eindrücklichen, wenngleich historisch zweifelhaften Beispiels geschildert: Nach einem gescheiterten Anschlag auf sein Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 22 - 2. Korrektur 22 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema Leben lässt Kaiser Augustus seinen Gegner Cinna zu sich rufen. Dem Rat seiner Frau Livia folgend, bietet ihm der Kaiser Freundschaft an und ein hohes Amt in der Regierung: »Mit dem heutigen Tag soll abermals Freundschaft zwischen uns beginnen« (lat.: ex hodierno die inter nos iterum amicitia incipiat). 21 Der Feind soll zum Freund werden. Kein wahrhaft philosophisches Leben ohne Feindesliebe! Damit wird altes aristokratisches Ethos verlassen, dem zufolge galt: Kein wahrhaft heldenhaftes Leben ohne Rache am Gegner! Odysseus, in seine Heimat heimgekehrt, richtet-- pflichtgemäß-- ein Blutbad unter den Freiern seiner Gemahlin an. Die Philosophen verlassen dieses aristokratische Erbe: Odysseus ist zur Rache verpflichtet, Augustus zur Milde. Solche Milde findet ihr Vorbild im Handeln der Götter, die ihre Wohltaten ohne Rücksicht auf die Würdigkeit der Empfänger ausspenden: »Wenn du die Götter nachahmen willst, erweise auch undankbaren Menschen Wohltaten, denn auch Verbrechern geht die Sonne auf, und auch Seeräubern stehen die Meere offen.« 22 Um einen letzten Beleg anzuführen: »Der wahre Kyniker hat niemanden zum Feind, selbst den nicht, der seinen armseligen Körper schlägt oder seinen Namen in den Dreck zieht, ihn beschimpft und beleidigt, denn Hass empfindet man nur für einen [ebenbürtigen] Gegner, während der Überlegene den Konflikt mit einem anderen mit Wohlwollen zu würdigen pflegt.« 23 Mit diesen Worten empfiehlt Kaiser Julian die Feindesliebe, ein unverwechselbares Merkmal kynischer Ethik. Der jüdische Kyniker lehrt: »Liebt eure Feinde, betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters werdet«, denn auch er liebt seine Feinde, lässt er doch »seine Sonne aufgehen über Schlechte und Gute, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte« (Mt 5,44-45; Lk 6,27). So der Wortlaut von Jesu Gebot, das sich wie die Zusammenfassung einer Diatribe liest, die, der Gattung gemäß, eine Begründung und Erläuterung der ethischen Ermahnung bietet. Nur bei Lukas und Matthäus überliefert, entstammt der Spruch der Logienquelle, der ältesten Sammlung der Aussprüche Jesu. Nirgendwo im Alten Testament und auch nirgendwo mehr im Neuen Testament, auch nicht bei anderen jüdisch-hellenistischen Schriftstellern wie Philon oder Josephus, findet sich eine vergleichbare Aufforderung. 24 Nur wo kynischer Geist herrscht, kann Feindesliebe gelehrt und praktiziert werden. 7. Wo ist Jesus der kynischen Philosophie begegnet? Der jüdische Kynismus beruht auf der Begegnung von Judentum und Griechentum im Zeitalter des Hellenismus. Als erstes Zeugnis eines jüdischen Kynismus darf das um 200 v. Chr. entstandene Buch Kohelet gelten. Im ersten Jh. n. Chr. kommt es zu einer erneuten Begegnung von Judentum und kynischer Philosophie, und nun entsteht eine viele Menschen in ihren Bann ziehende soziale Bewegung-- der jüdische Kynismus. Zu ihm gehört auch Jesus. Wo ist Jesus der Philosophie des Diogenes- - der »Weisheit der Hunde«- - begegnet? Im stark hellenisierten Milieu seiner galiläischen Heimat. Schon seine ursprüngliche, von ihm aufgegebene berufliche Tätigkeit als Bauhandwerker erfordert, wie jede Tätigkeit in Handwerk und Handel, gewisse Grundkenntnisse des Griechischen. Sepphoris, die wichtigste Stadt seiner galiläischen Heimat, besitzt eine aus Juden und Heiden gemischte Bewohnerschaft; das offenbar zu Beginn des 1. Jh.s n. Chr. errichtete römische Theater besteht bis in die Spätantike. »Warum soll Jesus, aufgewachsen in der Umgebung von Sepphoris, nicht vereinzelte Aussprüche kynischer Wanderprediger gehört haben, zumal er wahrscheinlich selbst etwas Griechisch sprach? «, fragt Martin Hengel in seiner Studie über das enorme Ausmaß der Hellenisierung Palästinas in jener Zeit. 25 Ohne Griechischkenntnisse, ohne Kontakt zu kynischem Gedankengut, ohne die hellenistische Kultur Galiläas sind Jesus und seine ersten Anhänger nicht zu verstehen. Im Evangelium wird uns eine Frau als »Griechin, Syrophönizierin der Abstammung nach« (Mk 7,26) vorgestellt, also als eine hellenisierte Syrerin. Gerne würden wir wissen, wie diese Frau Jesus eingeschätzt hätte-- möglicherweise als »Grieche, der Herkunft nach ein Jude«. Wir kennen mehrere markante Persönlichkeiten des 1. Jh.s, auf die eine solche Charakterisierung zutrifft: Paulus von Tarsus, Philon von Alexandrien, Titus Flavius Josephus (so der vollständige Name des Historikers) und Justus von Tiberias. Wenn wir auch den Umfang der Griechischkenntnisse Jesu kaum mehr bestimmen können, so ist die Annahme, er habe nur die aramäische Volkssprache beherrscht, kaum glaubhaft; zu viel weist auf Jesu Zweisprachigkeit hin: Er muss neben der aramäischen auch der griechischen Sprache mächtig gewesen sein. 26 Tom Wright, Neutestamentler an der University of St. Andrews in Schottland, ist von der Mehrsprachigkeit Jesu überzeugt. In einem kürzlich veröffentlichten Zeitungsbeitrag verweist er auf die selbstverständliche Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 23 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 23 Bernhard Lang Jesus-- ein kynischer Philosoph Mehrsprachigkeit vieler, auch einfacher Menschen im heutigen Nahen Osten. Mühelos verständigen sie sich auf Arabisch, Griechisch und Englisch. 27 8. Abschließende Überlegung Am Ende angelangt, will ich noch einmal drei Fakten nennen, welche die These von »Jesus dem Hund«-- oder »Jesus als Diogenes«, oder jedenfalls »Jesus der Philosoph«-- unterstützen, ja unausweichlich machen: Erstens: Jüdische Volksprediger sind aus der Zeit Jesu nicht belegt; wohl aber durchwanderten kynische Volksprediger die ganze damalige Welt. Jesus ist kynischer Volksprediger. Zweitens: Begegnung mit einem kynischen Philosophen führte bei vielen Menschen zu spontaner Lebensänderung, zum Beispiel auch zur Aufgabe des gesamten Besitzes; Erzählungen davon gibt es viele; sie finden sich auch im Neuen Testament-- aber sonst nicht im jüdischen Milieu. Drittens: Die Aufforderung zur Feindesliebe ist typisch für Kynismus und Jesus, nicht aber für das traditionelle Judentum. Wir dürfen uns Johannes den Täufer und Jesus als junge Männer vorstellen. Von kynischem Gedankengut berührt, haben sie sich für diese Philosophie begeistert und auch anderen ihren Enthusiasmus zu vermitteln gewusst. Wir können Jesus als eine Diogenesgestalt sehen. Er verdient einen Platz unter den Philosophen der antiken Welt. Anmerkungen 1 B. Lang, Jesus der Hund. Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers, München 2010. Zu diesem Thema vgl. auch folgende neuere Beiträge: L.E. Vaage, Q and Cynicism: On Comparison and Social Identity, in: ders., Columbus, Q and Rome: Reframing Interpretation of the Christian Bible (SBAB 52), Stuttgart 2011, 143-169; F. G. Dowing, Jesus and Cynicism, in: Tom Holmén/ Stanley E. Porter (Hgg.), Handbook for the Study of the Historical Jesus, Leiden 2011, Bd. 2, 1105-1136. 2 H. Gunkel, Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments (FRLANT 1), Göttingen 1903, 6. 3 J. Moles, Cynic Influence upon First-Century Judaism and Early Christianity, in: B. McGing/ J. Mossman (Hgg.), The Limits of Ancient Biography, Swansea 2006, 89-116, hier: 104. 4 Kynikerbrief Diogenes Nr. 34,3; vgl. E. Müseler, Die Kynikerbriefe. Kritische Ausgabe mit deutscher Übersetzung, Paderborn 1994, 51. 5 Epiktet, Vorträge III, 22,23; vgl. G. Luck, Die Weisheit der Hunde. Texte der antiken Kyniker in deutscher Übersetzung, Stuttgart 1997, 347. 6 B. Russell, Wisdom of the West: A Historical Survey of Western Philosophy in Its Social and Political Setting, London 1959, 106. Das Thema »Lebensfreude und Lebensgenuss« fehlte offenbar in der ältesten kynischen Tradition, doch im 1. Jahrhundert n. Chr. war es fest verwurzelt, denn der dem Genuss zugewandte Aristippos von Kyrene wurde nun zu den Kynikern gezählt, vgl. Lang, Jesus der Hund, 59-61. 7 Überliefert von Diogenes Laërtios, Leben und Lehre der Philosophen VI, 83; vgl. ders., Leben und Lehre der Philosophen. Übersetzt von F. Jürß, Stuttgart 1998, 286 (Übersetzung modifiziert). 8 Nach der Übersetzung von Fridolin Stier. 9 Cicero, De officiis II, 60 und 64; vgl. ders., Vom pflichtgemäßen Handeln. Übersetzt von K. Atzert, München 1959, 91 und 92. 10 Ein Beispiel bietet die Stifterinschrift einer griechischsprachigen Synagoge in Jerusalem, 1. Jahrhundert; sie ist als Theodotos-Inschrift bekannt: J. Schröter/ J.K. Zangenberg (Hg.), Texte zur Umwelt des Neuen Testaments, Tübingen 2012, 483. 11 D. Fiensy/ R.K. Hawkins (Hg.), The Galilean Economy in the Time of Jesus, Atlanta, Ga. 2013. 12 G. W. Buchanan, Jesus and the Upper Class, NovT 8 (1964), 195-209. 13 Josephus Flavius, Vita 11; vgl. ders., Aus meinem Leben (Vita). Besorgt von F. Siegert u. a., Tübingen 2001, 26-27. 14 Kynikerbriefe Diogenes Nr. 38, 3; vgl. Luck, Die Weisheit der Hunde, 188. 15 Plutarch, Moralia/ De profectibus in virtutem 77 E; vgl. Luck, Die Weisheit der Hunde, 129-130. 16 Dion Chrysostomos, Rede X, 16; vgl. ders., Sämtliche Reden. Übersetzt von Winfried Elliger, Zürich 1967, 167. 17 Origenes, Contra Celsum VI, 2; vgl. ders., Acht Bücher gegen Celsus. Übersetzt von P. Koetschau (Bibliothek der Kirchenväter), München 1927, Bd. 2, 95. 18 Lukian, Die Reise in die Unterwelt oder der Tyrann, gewöhnlich zitiert als Cataplus ; vgl. Lukian von Samosata,Werke in drei Bänden. Übersetzt von C.M. Wieland, Berlin 1974, Bd. 1, 422-440 unter dem Titel »Die Überfahrt oder Der Tyrann«. Vgl. dazu N. Neumann, Armut und Reichtum im Lukasevangelium und in der kynischen Philosophie (SBS 220), Stuttgart 2010. 19 Epiktet, Encheiridion 22; vgl. ders., Handbüchlein der Moral. Griechisch/ deutsch. Übersetzt von K. Steinmann, Stuttgart 1992, 28-29. 20 Epiktet, Vorträge III, 22, 54; vgl. Luck, Die Weisheit der Hunde, 352. 21 Seneca, De clementia III, 7,11; vgl. L. Annaeus Seneca, De Clementia-- De Beneficiis. Über die Milde-- Über die Wohltaten. Übersetzt von M. Rosenbach (Seneca, Philosophische Schriften, Bd. 5), Darmstadt 1989, 52-53. 22 Seneca, De beneficiis IV, 26,1; vgl. ders., De Clementia-- De Beneficiis, 340-341. 23 Julian, Gegen den Kyniker Herakleios 214 D; vgl. Luck, Die Weisheit der Hunde, 439. Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 24 - 2. Korrektur 24 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema 24 Das ist das Ergebnis der Untersuchung von J.P. Meier, A Marginal Jew: Rethinking the Historical Jesus, London 2009, Bd. 4, 532-551.-- Die kynische und jesuanische Feindesliebe gehört zum Ethos philosophischer Menschen, die in der Stadt von Unbekannten ob ihres Auftretens und ihrer Botschaft misshandelt werden. Das ist ein neues Ethos; wir dürfen es nicht verwechseln mit dem weltweit verbreiteten Ethos der Unterstützung der persönlichen Feinde im dörflichen Kontext. Das dörfliche Ethos lässt sich neben der Bibel (Spr 25,21; Ex 23,4-5) z. B. auch aus der altägyptischen »Lehre des Ani« belegen: »Man gibt Brot auch dem, den man nicht mag« (H. Brunner, Die Weisheitsbücher der Ägypter, Düsseldorf 1998, 209). Zum Unterschied zwischen dem dörflichen und dem städtischen Typ der Feindesliebe vgl. B. Lang, Die 101 wichtigsten Fragen-- Die Bibel, München 2013, 97-98. 25 M. Hengel, Judaica et Hellenistica. Kleine Schriften I, Tübingen 1996, 72. 26 S.E. Porter, Did Jesus ever Teach in Greek? , Tyndale Bulletin 44 (1993), 199-235. 27 T. Wright, In Israel’s Scriptures, Times Literary Supplement 5672 (December 16, 2011), 10-12, hier: 12. Martin H. Jung Kirchengeschichte UTB basics 2014, X, 292 Seiten, 30 s/ w Abb., €[D] 24,99 / SFr 34,70 ISBN 978-3-8252-4021-9 Eine Kirchengeschichte kann heute nur als Geschichte des Christentums geschrieben wer den, die das Christentum als Religion unte Religionen ansieht und behandelt, dabei auch die außerkirchlichen Vernetzungen und Wir kungen berücksichtigend. Dieses Lehrbuch vermittelt verständlich und übersichtlich das Basiswissen dazu und erläu tert historische Zusammenhänge ebenso wie theologische Ideen und Grundeinsichten in ihren geschichtlichen Kontexten. Martin H. Jung Kirchengeschichte UTB basics 2014, X, 292 Seiten, 30 s/ w Abb., €[D] 24,99 / SFr 34,70 ISBN 978-3-8252-4021-9 Eine Kirchengeschichte kann heute nur als Geschichte des Christentums geschrieben wer den, die das Christentum als Religion unte Religionen ansieht und behandelt, dabei auch die außerkirchlichen Vernetzungen und Wir kungen berücksichtigend. Dieses Lehrbuch vermittelt verständlich und übersichtlich das Basiswissen dazu und erläu tert historische Zusammenhänge ebenso wie theologische Ideen und Grundeinsichten in ihren geschichtlichen Kontexten. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de