eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 11/21

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2008
1121 Dronsch Strecker Vogel

Kinder als Exeget / innen der Heiligen Schrift

2008
Gerhard Büttner
46 ZNT 21 (11. Jg. 2008) 1. Kinder machen sich ihren Reim auf die Sache (wie Erwachsene auch) Die Neutestamentler Peter Müller und Ruben Zimmermann haben sich im Zusammenhang des kindertheologischen Diskurses als erste Gedanken darüber gemacht, wie die unbestreitbare Fähigkeit der Kinder, sich mit biblischen Texten auseinanderzusetzen, zu bewerten sei. 1 Es ging dabei letztlich um den Titel »Exeget«, den Müller einem bestimmten methodischen Procedere vorbehalten möchte, wohingegen Zimmermann angesichts der nachvollziehbaren eigenen Erkenntnisse am Text bereit ist, auch Kinder als Exegeten anzusehen. Die Frage der Bezeichnung ergibt sich letztlich aus der Beobachterperspektive. Wenn ich den Standard und das Methodenrepertoire der Universitätstheologie als Ausgangspunkt meiner Überlegungen zur Exegese für bestimmend halte, dann geraten letztlich alle Auslegungsversuche von Lai / innen und Kindern in den Status zwar eigenständiger, aber letztlich defizitärer Zugänge. Die Religionspädagogik hat sich übrigens über Jahre hinweg genau diese Sichtweise zu Eigen gemacht und versucht, den historisch-kritischen Zugang zu Bibeltexten möglichst bis in die Grundschulen hinein unterrichtlich zu verankern. Dies führte dann zu Überlegungen, dass es für einen Großteil der biblischen Texte problematisch sei, wenn Kinder sich mit ihnen beschäftigten und damit zu »falschen«, weil wörtlich genommenen Deutungen kommen (z.B. bei Wundergeschichten oder den Texten zur Weltschöpfung). Besonders die Studien von Anton Bucher zu Gleichnissen und von Heike Bee-Schroeter zu Wundergeschichten machten aus entwicklungspsychologischer Perspektive klar, dass es offenbar Verstehensschemata gibt, in die hinein die Textinhalte interpretiert werden. 2 So lässt sich erklären, warum Grundschüler / innen eine Wundergeschichte Jesu problemlos wörtlich verstehen, während spätere Altersstufen sie als unhistorisch ablehnen oder versuchen, eine symbolische Deutung zu gewinnen. Lässt man nun aber diese Perspektive zu, dann drängt sich der Gedanke förmlich auf, die Bemühungen der wissenschaftlichen Exegese nicht bloß nach ihren Resultaten zu beurteilen, sondern auch sie nach dort bestimmenden Verstehensschemata einzuordnen. Schließt man sich dieser Sichtweise an, dann sind »wissenschaftliche Exeget / innen« kein »Sonderfall« mehr, sondern eine Variante des Zugangs zu Bibeltexten. Dabei handelt es sich beim dahinter liegenden Weltbild, bei Grundannahmen des Zugangs und bei den Ergebnissen der Auslegung meist nicht um exklusive Modi der »Exegeten«, sondern diese mischen sich weitgehend mit denen der »Nicht- Exegeten«. Von daher ist die Reservierung dieses Titels auf den universitären Zugriff zumindest fragwürdig und die Vorstellung von »Kindern als Exegeten« gut zu rechtfertigen. 2. Kindertheologie als »kontextuelle Theologie« Wenn Kindern bei der Auslegung des Ich-bin- Wortes vom Brot die Konnotation »Lutscher des Lebens« kommt, 3 dann mag dies zunächst befremden. Doch zeigt eine nähere Betrachtung, mit welchem Geschick sie sich dieser Metapher annehmen und für ihr eigenes Leben verstehbar machen. Es ist der Verdienst der kontextuellen Theologien (der Frauen, der Befreiung etc.), deutlich gemacht zu haben, dass die biblische Botschaft nur dort bedeutsam wird, wo sie in den konkreten Horizont der Menschen eindringen kann. Von dieser Perspektive aus verliert die akademische Exegese den Nimbus der Universalität und wird hingewiesen auf ihren spezifischen »Sitz im Leben«. Da nun Jesus selber die Perspektive der Kinder mehrfach in ihrer Bedeutung herausge- Kontroverse Gerhard Büttner Kinder als Exeget / innen der Heiligen Schrift 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 46 stellt hat, wird man gut daran tun, deren Verstehen der biblischen Texte nicht gering zu schätzen. So verweisen Theologen aus gutem Grund auf die Notwendigkeit, die Perspektive der Kinder stark zu machen. In der Diskussion um das Philosophieren mit Kindern wurde immer wieder auf das »Staunen« als besondere Qualität des kindlichen Weltzugangs verwiesen. Und wenn die Kinder in ihrer Begegnung nur dieses Staunen als Beitrag in den theologischen Diskurs einzubringen hätten, dann lohnte bereits dies, um den Stellenwert der kindlichen »Exegese« hochzuschätzen. Kindertheologische Exegese gehört als kontextuelle Theologie in den theologischen und kirchlichen Diskurs, der ohne sie zweifellos ärmer wäre. 4 Dies ist keine Aussage allein der Haltung, sondern erweist sich im Detail als fruchtbar, wo es Kindern manchmal gelingt, wirklich originelle, auch die Erwachsenentheologie irritierende oder inspirierende Einsichten zutage zu fördern. 3. Rehabilitierung existenzieller Lesarten; Metaphysik statt Geschichte Grundlegend für wissenschaftliche Herangehensweisen an die Bibel ist der Vergleich. Die Entdeckung zahlreicher außerbiblischer Quellen gehörte zu den Schlüsselerfahrungen der historisch-kritischen Forschung. Auch Überlieferungs- und Redaktionsgeschichte machen deutlich, dass der biblische Text (bzw. sein Inhalt) sich offenbar in verschiedenen Zeiten in einem unterschiedlichen Zustand befand. Beide Beobachtungen führen zu seiner Relativierung, nämlich dazu, dass ein bestimmter Status des Textes in Beziehung gesetzt wird zu anderen Möglichkeiten. So gesehen könnte man das exegetische Arbeiten als einen Diskurs auf der Metaebene beschreiben: Wir reden darüber, wie andere mit dem Text oder Teilen von ihm umgegangen sind. Um dem Text wieder existenzielle Bedeutung abzugewinnen, bedarf es dann wieder so etwas wie einer »zweiten Naivität« (Ricoeur). Im Lichte dieser Überlegungen sind dann die kindlichen Zugänge zu bedenken. Kinder betrachten Texte auf der Objekt-Ebene und sind in der Regel nicht in der Lage zu Operationen auf der Meta-Ebene. Von daher befragen sie die Texte anders. Sie wollen wissen, »wie« etwas ist! Von daher sind sie geborene Metaphysiker. 5 Sie sind durchaus in der Lage, Spannungen innerhalb einer Perikope zu erkennen. Sie vergleichen auch Texte und prüfen kritisch, ob sich der Protagonist »bibelgemäß« verhält. Exegeten neigen dazu, Anstößiges als sekundär wegzuinterpretieren, Kinder müssen gleichsam »immanente« Interpretationen finden und sie tun dies auch. Von daher verwundert es nicht, dass der biblische Text dann näher bei ihnen und ihrer Lebenswelt bleibt, als dies bei den erwachsenen Exeget / innen zwangsläufig der Fall sein muss. Während die klassische Bibelexegese immer diachron angelegt war und die synchrone Perspektive erst allmählich wieder Raum gewinnt, ist der Zugang der Kinder von ihrem Denken her immer schon eher synchron. 4. Die Regelhaftigkeit des kindlichen Procedere Wir sind es gewohnt, Wissenschaft zu allererst durch ihre Methoden zu definieren. Nun lassen sich wissenschaftliche Methoden in gewisser Weise als Extensionen von Zugangsweisen der Alltagswelt deuten. Auch dort wird beobachtet, verglichen, sortiert etc., nur geschieht dies eher pragmatisch und weniger regelbewusst. Nun kann man den Gedanken in der Weise weiterführen, dass man zeigt, dass auch Wissenskonstruktionen von großer Prägnanz außerhalb des wissenschaftlichen Denkens möglich sind. So besticht etwa das Werk von Claude Lévi-Strauss durch den Aufweis höchst komplexer Denkoperationen bei der Konstruktion der Mythenwelt etwa südamerikanischer Indianervölker. D.h., dass auch das sog. »Wilde Denken« nicht ohne System und Regel ist. 6 Geht man von dieser Prämisse aus, dann ist es legitim, auch das kindliche Operieren mit biblischen Texten nach solchen impliziten Regelhaftigkeiten zu befragen. Dabei ließ sich zeigen, dass Kinder bei ihrer Konstruktion der Christologie »Kindertheologische Exegese gehört als kontextuelle Theologie in den theologischen und kirchlichen Diskurs, der ohne sie zweifellos ärmer wäre.« ZNT 21 (11. Jg. 2008) 47 Gerhard Büttner Kinder als Exeget / innen der Heiligen Schrift 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 47 Kontroverse 48 ZNT 21 (11. Jg. 2008) auf bestimmte typische Merkmale zurückgreifen wie Verwandtschaftsmodi (Vater-Sohn) oder auf Oben-unten-Metaphern oder beim Nachdenken über Dubletten im Text auf ähnliche Hypothesen stoßen wie die Bibelwissenschaft. 7 Die Frage von Differenz und Gemeinsamkeit zwischen »kindlicher Methodik« und der der Wissenschaft ist also eine Frage der Beobachterperspektive. Für konstruktivistische Wissenssoziologen sind die Gemeinsamkeiten wohl größer als die Unterschiede. Ansonsten lässt sich zeigen, dass es möglich ist, auf der Basis von Unterrichtsexperimenten, sukzessive Muster zu skizzieren, die bei der Wiederholung der Gespräche mit altersgleichen Kindern zu sehr ähnlichen Antwortmustern führen werden. Wir haben dies zeigen können im Hinblick auf das Bild von »Gott als Marionettenspieler« mit Affinität zu der Frage nach dem freien bzw. unfreien Willen und zur Frage der Christologie, wo die Schüler / innen selbst zu der Fragestellung von Chalzedon gefunden haben. 8 Zumindest für systematisch-theologische Fragestellungen lässt sich zeigen, dass die Lösungen der theologischen Tradition einen Antwortpool bilden, dem auch ein Großteil der Kinderantworten entspricht. 5. Die empirische Dimension In der neueren exegetischen Diskussion ist es durchaus üblich, rezeptionsästhetische Aspekte im Sinne der Literaturwissenschaft zu berücksichtigen. Dabei verbindet beide Wissenschaften zumindest im deutschsprachigen Raum eine große Scheu vor der Empirie. Zwar wird die Bedeutung der Rezeption eines Textes erkannt, doch eher theoretisch behandelt. Kindertheologie ist dem gegenüber eine zutiefst empiriegestützte Angelegenheit. Das bedeutet zunächst einmal, dass die Sammlung und Veröffentlichung zahlreicher Äußerungen von Kindern so etwas wie die materielle Basis der Kindertheologie darstellt. Das hat den unschätzbaren Vorteil, dass es möglich wird, implizite Annahmen über das, was Kinder können oder können sollten, anhand der vorliegenden empirischen Daten zu prüfen. So hat sich inzwischen die begründete Einsicht verbreitet, dass es sinnvoll und möglich ist, einfache Gleichnisse Jesu bereits im Grundschulalter zu behandeln, wenn dabei eine kindgemäße Unterrichtsstrategie gewählt wird. 9 Selbst Daten, die unter - wissenschaftlich gesehen - fragwürdigen Bedingungen erhoben wurden, können immer wieder als Hypothesen für weitere Untersuchungen dienen. Viele Daten zur Kindertheologie sind relativ praxisnah erhoben worden. Das relativiert vielleicht ihren - wissenschaftlich gesehen - objektiven Charakter, andererseits geschieht die Datengewinnung in der Regel ja mit der Absicht, das Gesprächsmaterial gewissermaßen im selben Kontext wieder einzusetzen. Wenn ich mit Kindern im Religionsunterricht über eine Jesusgeschichte spreche, dann ist damit ein Rahmen vorgegeben, innerhalb dessen das Gespräch abläuft. Es ist dann durchaus anzunehmen, dass das Religionsstunden-Ich die Antworten »frömmer« ausfallen lässt als in einem Gespräch in einem ganz anderen Setting. Dies enthebt die kindertheologische For- Prof. Dr. Gerhard Büttner, Jahrgang 1948, lehrt Ev. Theologie mit dem Schwerpunkt Religionspädagogik und Didaktik des RU an der Fakultät für Humanwissenschaften und Theologie der Technischen Universität Dortmund. Arbeitsschwerpunkte: Kindertheologie, Konstruktivistische Religionsdidaktik, Religionspädagogik und Entwicklungspsychologie, Religionsdidaktik und Allg. Didaktik. Gerhard Büttner »Indem rezeptionstheoretische Ansätze in der Exegese Eingang finden, werden empirisch arbeitende Zugänge wie die Kindertheologie auch für die wissenschaftliche Theologie interessant.« 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 48 schung nicht von der Notwendigkeit, sich an den üblichen sozialwissenschaftlichen Standards zu orientieren. 10 Zu bedenken ist allerdings, dass wir den Diskurs im Rahmen der biblischen Exegese führen, die in diesem Feld noch nicht einmal bis zum Problembewusstsein vorgedrungen ist. 6. Annäherungen und Erleichterungen anhand der neueren Exegese Martin Schreiner und ich haben in einem Sammelwerk, in dem Bibelwissenschaftler und Religionspädagogen biblische Perikopen exegesiert haben und ihre Auslegung mit der von Kindern verglichen haben, darüber nachgedacht, wieso es überhaupt möglich ist, dass Kindertheologie und Exegese in einen Diskurs eintreten können. 11 Wir haben dabei vier Tendenzen in der Exegese ausgemacht, die dem Unternehmen zugute kommen: a.) In der Bibelwissenschaft gibt es eine Tendenz zur Letztgestalt. Solange die Exegese letztlich nur an herauspräparierten Einheiten arbeitete, hatte der laienhafte Ausleger keine wirkliche Chance, seine eigenen Beobachtungen und Überlegungen ins Spiel mit den wissenschaftlich gewonnenen Auslegungen zu bringen. Dies wird beim gemeinsamen Blick auf die Letztgestalt der Texte einfacher. b.) Indem rezeptionstheoretische Ansätze in der Exegese Eingang finden, werden empirisch arbeitende Zugänge wie die Kindertheologie auch für die wissenschaftliche Theologie interessant. c.) Vereinzelt arbeiten Exegeten mit konstruktivistischen Ansätzen (Peter Lampe). Von einer solchen Prämisse her ist eine Integration des kindertheologischen Zugangs in das exegetische Setting zumindest sehr nahe liegend. d.) Mit der Einbeziehung dekonstruktivistischer Formen der Auslegung ist es nun fast zwingend, auch die Lesarten der Kinder als legitim gelten zu lassen. Nur unter der impliziten oder expliziten Annahme zumindest einzelner der hier genannten Aspekte ist ein Gespräch zwischen Exegese und Kindertheologie sinnvoll und möglich. l Anmerkungen 1 P. Müller, »Da mussten die Leute erst nachdenken …« Kinder als Exegeten - Kinder als Interpreten biblischer Texte, JaBuKi 2 (2003), 19-30; R. Zimmermann, Jakobs Begegnung am Jabbok (Gen 32,23-33). Der ›Kampf‹ der Exegeten und die Auslegungskunst der Kinder, JaBuKi 2 (2003), 31-45. 2 A.A. Bucher, Gleichnisse verstehen lernen. Strukturgenetische Untersuchungen zur Rezeption biblischer Parabeln (PTD 5), Freiburg / Schweiz 1990; H. Bee- Schroeter, Neutestamentliche Wundergeschichten im Spiegel vergangener und gegenwärtiger Rezeption (SBB 39), Stuttgart 1998. 3 M. Zimmermann / R. Zimmermann, Lutscher des Lebens? Kindertheologische Zugänge zu Johannes 6, KatBl 132 (2007), 336-340. 4 W. Härle, Was haben Kinder in der Theologie verloren? Systematisch-theologische Überlegungen zum Projekt einer Kindertheologie, JaBuKi 3 (2004), 11-27. 5 P. Harris, On Not Falling Down to Earth: Children’s Metaphysical Questions, in: K.S. Rosengren / C.N. Johnson / P. Harris (Hgg.), Imagining the Impossible, Cambridge / UK, 157-178. 6 C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken (stw 13), Frankfurt a.M 1973. 7 G. Büttner, »Halb Mensch, halb nicht, das weiß man nicht so sehr, denn Jesus ist ja eigentlich Gottes Sohn! «. Kindliche Versuche, die Paradoxien der Christologie bildhaft auszudrücken, in: J. Frey / J. Rohls / R. Zimmermann (Hgg.), Metaphorik und Christologie (TBT 120), 399-416; G. Büttner / J. Thierfelder, Handwerkszeuge kindlicher Bibeldeutung, Loccumer Pelikan 3/ 2005, 106-110. 8 G. Büttner, How theologizing with children can work, BJRE 29 (2007), 127-139; P. Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Kindern. Untersuchungen zur Professionalisierung Studierender und Anstöße zu forschendem Lernen im Religionsunterricht, Stuttgart 2007, 188ff. 9 Freudenberger-Lötz, Gespräche, 146ff. 10 M. Zimmermann, Methoden der Kindertheologie. Zur Präzisierung von Forschungsdesigns im kindertheologischen Diskurs, Theo-Web 5 (1/ 2006), 99-125. 11 G. Büttner / M. Schreiner, Im Spannungsfeld exegetischer Wissenschaft und kindlicher Intuition: Mit Kindern biblische Geschichten deuten, in: dies. (Hgg.), »Man hat immer ein Stück Gott in sich«. Bd. 1 AT (JaBuKi SB), Stuttgart 2004, 7-16. ZNT 21 (11. Jg. 2008) 49 Gerhard Büttner Kinder als Exeget / innen der Heiligen Schrift 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 49