eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 11/21

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2008
1121 Dronsch Strecker Vogel

Erziehung und Bildung von Frauen im antiken Judentum

2008
Tal Ilan
Spricht man von Bildung, 1 dann spielt eine Vielzahl von Themen eine Rolle. Zum einen beginnt die Ausbildung eines Menschen bereits mit dessen Geburt und der Erziehung eines Kindes, und setzt sich im Grunde ein Leben lang fort. Fast jede Handlung beruht auf Erlerntem, und Lernen ist Teil dessen, was wir als Bildung bezeichnen. Zu diesen erlernten Dingen gehört das Verhalten gegenüber anderen ebenso wie die Fähigkeit, auf sich selbst zu achten, die Einstellung zu Arbeit und zu Glaube, außerdem praktische Fähigkeiten wie Lesen und Schreiben. Ein in diesem Sinne gebildeter Mensch wird für fähig erachtet, als verantwortliches Mitglied in einer Gesellschaft zu leben. Zum anderen meinen wir mit Bildung aber die institutionalisierte Ausbildung und denken dabei an staatliche und religiöse Einrichtungen, in denen junge Leute in spezifischer Weise ausgebildet werden sollen. Diese Art der Ausbildung erfordert die Idee eines Curriculums und eines Corpus von Wissen, das es zu erlernen gilt - man könnte von einem »heiligen Kanon« sprechen. Dieser Aufsatz beschäftigt sich mit Erziehung und Bildung von jüdischen Frauen in der Antike, und wir werden bald sehen, dass dies vor allen Dingen den ersten der genannten Aspekte von Bildung betrifft, da von einem institutionalisierten Erziehungssystem und einem Curriculum für Mädchen praktisch keine Rede sein kann. Einige einführende Bemerkungen und Differenzierungen in der Geschlechterfrage scheinen hier angebracht. Obwohl in der Genderforschung selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass Frauen und Männer, von sexuellen Unterschieden abgesehen, grundsätzlich ähnlich sind, und die meisten Unterschiede der Geschlechter kulturell bedingt sind, scheint es doch hinsichtlich dieser geschlechtsspezifischen Unterschiede und Erwartungen eine Übereinstimmung in vielen, wenn nicht in den meisten Gesellschaften zu geben. Dies hängt mit der Beobachtung zusammen, dass fast alle Gesellschaften patriarchalisch und hierarchisch aufgebaut sind. An der Spitze der gesellschaftlichen Pyramide steht ein männlicher Patriarch, von dem seine Frau, seine Kinder und alle Mitglieder des Haushalts abhängig sind. Dieses Modell folgt immer einer geschlechtsabhängigen Hierarchie, in der Frauen eine dienende, den Männern untergeordnete Funktion einnehmen. Sie sind zur Passivität verurteilt. Untersuchen wir also in einer patriarchalischen Gesellschaft die Bildungsformen für Männer, so werden sich diese offensichtlich von der für Frauen vorgesehenen Ausbildung unterscheiden. Von einem Mann wird erwartet, dass er die Tradition und die Werte der Gesellschaft, der er angehört, gut kennt, und ihr so dienen und sie gestalten kann. Von der Frau wird erwartet, dem Mann zu dienen. Sie am selben Wissen teilhaben zu lassen, könnte sogar als gefährlich gelten. Wissen, so heißt es oft, ist Macht. Damit Frauen machtlos bleiben, müssen sie also in gewissem Maß unwissend gehalten werden. Andererseits muss einer guten Dienerin eine gute Ausbildung zuteil werden. Eine andere Art der Ausbildung ist hier gefragt. Die meisten Gesellschaften fordern von Frauen Fähigkeiten wie Kochen, Backen, Haushaltsführung, Waschen, Weben, Schneidern und Kinderbetreuung. Wie wir gleich sehen werden, unterscheidet sich die jüdische Gesellschaft der Antike in dieser Hinsicht nicht von ihren Nachbarn. Unsere Quellen für die Bildung von Frauen (und Männern) in der Antike sind vielfältig, doch die normativen Aspekte finden sich am deutlichsten in den Schriften, die in den jüdischen Kanon Eingang gefunden haben: in der Hebräischen Bibel und der rabbinischen Literatur, in erster Linie in der Mischna und im Babylonischen Talmud. Wir können hier diese Literatur angesichts ihrer Fülle nicht umfassend behandeln. Es genügt vorerst festzuhalten, dass diese Texte aus nachbiblischer Zeit stammen, juristischen und oft exegetischen, auf die Hebräische Bibel Bezug nehmenden Charakters sind, und aus zwei Zentren jüdischen Lebens stammen, dem Land Israel und Babylonien. Bedenken müssen wir außerdem, dass der Talmud ein Kommentar zur Mischna ist und Zum Thema Tal Ilan Erziehung und Bildung von Frauen im antiken Judentum 38 ZNT 21 (11. Jg. 2008) 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 38 also nach ihr entstanden ist. Die Mischna wird im Allgemeinen auf das Ende des 2. Jahrhunderts der Zeitrechnung, der Talmud auf das 6. Jahrhundert datiert. Informelle Bildung Als Ausgangspunkt der Beschreibung dessen, was auf einer allgemeinen Ebene von Frauen an Kenntnissen im häuslichen Bereich erwartet wurde, kann uns die Wendung von der Eschet Chajil, der »tüchtigen Frau« aus Spr 31 dienen. Sie ist die ideale Beschreibung der guten Frau, an der sich das Herz ihres Ehemanns erfreut, der seinerseits mit den Ältesten vor den Toren der Stadt sitzen kann, während sie der Arbeit nachgeht (Spr 31,2.23). Zu ihren Fertigkeiten sollten die folgenden Elemente gehören: Spr 31 13 »Sie geht mit Wolle und Flachs um und arbeitet gerne mit ihren Händen. 14 Sie ist wie ein Kaufmannsschiff; ihren Unterhalt bringt sie von ferne. 15 Sie steht vor Tage auf, und gibt Speise ihrem Hause und dem Gesinde, was ihm zukommt. 16 Sie trachtet nach einem Acker und kauft ihn und pflanzt einen Weinberg vom Ertrag ihrer Hände. [...] 18 … ihr Licht verlischt des Nachts nicht. 19 Sie streckt ihre Hand nach dem Rocken und ihre Finger fassen die Spindel. [...] 21 … Ihr ganzes Haus hat wollene Kleider. 22 Sie macht sich selbst Decken; feine Leinwand und Purpur ist ihr Kleid. [...] 24 Sie macht einen Rock und verkauft ihn, einen Gürtel gibt sie dem Händler. [...] 27 Sie schaut, wie es in ihrem Hause zugeht, und isst ihr Brot nicht mit Faulheit.« (nach der Übersetzung Martin Luthers) Aus diesem Text wird deutlich, dass die allgemeine Bildung einer Frau zunächst das Herstellen von Textilien und darüber hinaus das für die Ernährung ihrer Familie notwendige Wissen umfasst. Sie sollte ständig arbeiten, und es trägt zum Ansehen ihrer Bildung bei, wenn sie auch mit einem Sinn für Hauswirtschaft und Geschäft ausgestattet ist. Die Ansprüche an eine ausgebildete Frau, wie sie fast ein Jahrtausend später in der Mischna formuliert werden, haben sich nicht entscheidend verändert. Der maßgebliche Text für diese Ansprüche findet sich in einem juristischen Absatz, der die vertraglichen Verpflichtungen einer Frau gegenüber ihrem Ehemann aufzählt: »Dies sind die Arbeiten, die die Frau für ihren Mann zu tun hat: sie muss mahlen, backen, waschen, kochen, ihr Kind säugen, ihm das Bett machen und in Wolle arbeiten. Hat sie ihm eine Magd mit (in die Ehe) gebracht, so braucht sie nicht zu mahlen, zu backen und zu waschen; (hat sie ihm) zwei (Mägde mitgebracht), so braucht sie nicht zu kochen und ihr Kind zu säugen; (hat sie ihm) drei (mitgebracht), so braucht sie ihm nicht das Bett zu machen und nicht in Wolle zu arbeiten; (hat sie ihm) vier (mitgebracht), so kann sie im Lehnstuhl sitzen. R. Elieser sagt: wenn sie ihm auch 100 Mägde mitgebracht, so kann er sie doch zwingen in Wolle zu arbeiten, denn der Müßiggang führt zur Unzucht.« (Mischna, Ketubot 5,5) Dieser Text behandelt die rechtlichen Ansprüche des Ehemanns an seine zukünftige Frau, die dieser vor der Hochzeit stellen kann. Dem biblischen Bild von der »tüchtigen Frau« folgend, wird von einer Frau, die von der Familie ihres Vaters zur Heirat vorgesehen ist, die Fähigkeit erwartet zu kochen, zu backen, zu putzen, zu waschen und Kleidung herzustellen. Man kann vermuten, dass diese Art informeller und allgemeiner Bildung für Frauen allein reserviert war, denn wir kennen keine analoge Beschreibung, in der vom Mann derlei Kenntnisse erwartet würden. Dies bedeutet nicht, dass jüdische Männer diese Tätigkeiten nicht ausgeübt haben. So ist beispielsweise der Beruf des Bäckers denselben jüdischen Quellen zufolge ein männlicher Beruf. Das hebräische Wort für Bäcker (nachtom) ist ausdrücklich maskulin und hat keine feminine Entsprechung. Weber werden in den rabbinischen Texten sowohl in der maskulinen Form (orgim, siehe beispielsweise Mischna Sawim 3,2) als auch in der femininen Form erwähnt (orgot, beispielsweise Tosefta Schekalim 2,6). Beim Mann lag diesen Arbeiten jedoch eine Berufsausbildung zu Grunde, sie verdankten sich nicht, wie bei der Frau, der alltäglichen Routine. Dies können wir einem weiteren normativen Text der Mischna entnehmen, der die Pflichten eines ZNT 21 (11. Jg. 2008) 39 Tal Ilan Erziehung und Bildung von Frauen im antiken Judentum 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 39 Vaters gegenüber seinem Sohn benennt: »Was sind die Pflichten eines Vaters gegenüber seinem Sohn? Er sollte ihn beschneiden … ihm die Tora lehren, einen Beruf beibringen, und ihm eine Frau finden… Rabbi Juda sagt: Wer seinem Sohn keinen Beruf lehrt, der lehrt ihm das Rauben.« (Tosefta Kidduschin 1,11) Diese Überlieferung handelt von formaler Ausbildung. Hier ist nicht von Kindern im Allgemeinen die Rede - nicht nur, weil die maskuline Form »Sohn« (ben) verwendet wird, sondern auch, weil ausdrücklich die Beschneidung und das Finden einer Frau erwähnt werden. Die Art formaler Ausbildung, die ein Vater verpflichtet ist, seinem Sohn zu gewährleisten, wird hier genau benannt. Eine entsprechende Überlieferung für eine Tochter existiert nicht. Daher können wir schließen, dass eine Tochter, von der erwartet wird, dass sie bei ihrer Heirat kochen, waschen und nähen kann, ihre Fähigkeiten nicht in einem wie auch immer gearteten Rahmen erwarb. Ein Sohn hingegen erlernt - beispielsweise - das Backen stets als Teil einer beruflichen Ausbildung. Die oben erwähnte Beschreibung führt zu einer Art Zweiteilung zwischen männlichen Gewerbetreibenden und weiblichen Laien: was für erstere der Broterwerb ist, bleibt für Letztere auf den häuslichen Bereich beschränkt. Dieses zweigeteilte Bild wollen uns unsere normativen Quellen vermitteln, doch in Wirklichkeit lagen die Dinge nicht eindeutig. Frauen konnten in ihrer Eigenschaft als Herstellerinnen von Nahrungsmitteln und Textilien auch professionell arbeiten, wie es bereits die »tüchtige Frau« der Bibel vormacht. Sie produziert einen Überschuss von Textilprodukten und verkauft diesen an einen Händler. Mit dem Gewinn ist sie in der Lage, Land zu kaufen und Weinberge anzulegen, ganz zu schweigen von der Einstellung von Mägden. Oft werden in der rabbinischen Literatur Frauen erwähnt, die als Ladenbesitzerinnen arbeiten (z.B. Mischna Ketubbot 9,4) und ihre eigenen eingelegten Oliven oder selbst hergestellten Kleidungsstücke vor ihrer Haustür oder auf dem Markt verkaufen (z.B. Mischna Bava Qama 10,9). Institutionalisierte Ausbildung In der einflussreichen Reihe The Jewish People in the First Century (1976) findet sich ein Kapitel zur Bildung und Erziehung, das mit »Education and Torah Study« überschrieben ist. Der Autor Shmuel Safrai beginnt mit den Worten: »The main component of Jewish education in the first century C.E. is the study of Torah.« (S. 945). Wie wir oben gesehen haben, zählt der Toraunterricht zu den wichtigen Pflichten des jüdischen Vaters gegenüber seinem Sohn, und daher lässt sich Safrais Aussage leicht durch biblische und rabbinische Quellen unterstreichen. Doch wie sich zeigen lässt, dachte Safrai bei seinen Ausführungen zur Bildung nur an die der Männer. So schreibt er: »During the Second Temple period and even more after the destruction of the Temple in 70 C . E . the entire Jewish community, from its public institutions to the individual families, developed into an education-centered society which paid particular attention to the education of children. An illustration of this is found in the Passover seder, in which questions for the Tal Ilan, Jahrgang 1956, ist seit 2003 Professorin für Judaistik an der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Geschichte des antiken Judentums; Rabbinische Literatur; jüdische Onomastik der postbiblischen Zeit; Gender Studies. Zahlreiche Publikationen zu diesen Themengebieten. Weitere Informationen unter: www.geschkult.fu-berlin.de/ e/ judaistik/ mitarbeiter/ 01ProfessorInnen/ ilan.html Tal Ilan »Die Tora gehörte zu den Dingen, die ein Vater seinen Sohn lehrte, nicht seine Tochter.« 40 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 40 children are incorporated into the service to encourage their interest and participation. It states that ›Here the son asks his father and if the son lacks intelligence his father instructs him‹ (Mishnah Pesahim 10: 4)« (Safrai, S. 946). Der von Safrai zitierte Text veranschaulicht deutlich, dass wir nicht von Kindern im Allgemeinen, sondern nur von Jungen, von Söhnen sprechen. Der Sohn fragt und der Vater antwortet. Tatsächlich sind es zwei Verse aus dem Buch Deuteronomium, die die biblische Grundlage des rituellen Fragens durch den Sohn beim Pessachmahl bilden. Es heißt dort ausdrücklich: »Wenn dich nun dein Sohn (bincha) morgen fragen wird: was sind das für Vermahnungen, Gebote und Rechte, die euch der Herr, unser Gott, geboten hat? So sollst du deinem Sohn (le-bincha) sagen: Wir waren Knechte des Pharao in Ägypten, und der Herr führte uns aus Ägypten mit starker Hand« (Dtn 6,20-21). Moderne Übersetzungen dieser Verse neigen dazu, »Kind« statt »Sohn« zu übersetzen, doch die Rabbinen, die später das Buch Deuteronomium interpretierten, waren in dieser Frage sehr genau. Mit Bezug auf einen weiteren Vers in dem Buch, »und lehre sie (d.h. die Gesetze der Tora) deinen Söhnen (bnechem)«, erklärt einer der rabbinischen Texte mit Bestimmtheit: »es heißt: ›deine Söhne‹, nicht: ›deine Töchter‹« (Sifre Deuteronomium 46). Die Tora gehörte zu den Dingen, die ein Vater seinen Sohn lehrte, nicht seine Tochter. Die Fragen an Pessach werden vom Sohn gestellt, nicht von der Tochter. Und was taten die Frauen (Mütter und Töchter), wenn Vater und Sohn das Ritual für die Pessachfeier studierten, die drängende Pflicht erfüllend, die Tora zu studieren und zu halten? Vermutlich kochten und servierten sie das Essen. Die Bibel, so wird deutlich, sieht ein System vor, in dem der Vater dem Sohn seine Religion und seine religiösen Pflichten lehrt, wobei keine entsprechenden Anweisungen die Töchter betreffend gegeben werden. Deren Erziehung wird als private und innerfamiliäre Angelegenheit gesehen. Die Bibel selbst unterweist nicht das jüdische Volk als Ganzes, ein öffentliches Bildungssystem zu errichten, das die Einhaltung der jüdischen Lebensweise derer gewährleisten soll, die an ihm teilhaben. Interessanterweise werden an der einzigen Stelle in Deuteronomium, wo eine öffentliche Toralesung für das ganze jüdische Volk angesetzt wird, die Frauen ausdrücklich eingeschlossen: »Und Mose gebot ihnen und sprach: Jeweils nach sieben Jahren, zur Zeit des Erlaßjahrs, am Laubhüttenfest, wenn ganz Israel kommt, zu erscheinen vor dem Angesicht des Herrn, deines Gottes, an der Stätte, die er erwählen wird, sollst du dies Gesetz vor ganz Israel ausrufen lassen vor ihren Ohren. Versammle das Volk, die Männer, Frauen und Kinder und den Fremdling, der in deinen Stätten lebt, damit sie es hören und lernen und den Herrn, euren Gott, fürchten und alle Worte dieses Gesetzes halten und tun« (Dtn 31,10-12). Dieses Ereignis wird nur an einer weiteren Bibelstelle berichtet, im Buch Nehemia, das die Festlichkeiten nach der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil beschreibt. Auch dort wird die Anwesenheit von Frauen explizit erwähnt: »Als nun der siebente Monat herangekommen war und die Kinder Israel in ihren Städten waren, versammelte sich das ganze Volk wie ein Mann auf dem Platz vor dem Wassertor, und sie sprachen zu Esra, dem Schriftgelehrten, er solle das Buch des Gesetzes des Mose holen, das der Herr Israel geboten hat. Und Esra, der Priester, brachte das Gesetz vor die Gemeinde, Männer und Frauen und alle, die es verstehen konnten, am ersten Tage des siebenten Monats und las daraus auf dem Platz vor dem Wassertor vom lichten Morgen an bis zum Mittag vor Männern und Frauen und wer’s verstehen konnte. Und die Ohren des ganzen Volkes waren dem Gesetzbuch zugekehrt« (Neh 8,1-3). Diese biblischen Texte hätten als Vorlage für die Errichtung eines gleichberechtigten Bildungssystems für Jungen und Mädchen dienen können. Doch die Frage, ob das Torastudium überhaupt erstrebenswert für Mädchen sei, wurde in den rabbinischen Akademien der Spätantike heiß diskutiert. Die Stelle im Buch Deuteronomium, wo Moses ganz Israel, Männer und Frauen zugleich, anweist, die Tora zu studieren, wird von einem Rabbi mit den Worten kommentiert: »die Männer kommen, um zu lernen, die Frauen, um zu hören« (Babylonischer Talmud, Chagiga 3a). Dieser Interpretation zufolge sind die Erwartungen an Männer und Frauen nicht die gleichen, obwohl die Bibel die Anwesenheit beider fordert. Männer versenken sich in ihr Studium, sie verstehen das ZNT 21 (11. Jg. 2008) 41 Tal Ilan Erziehung und Bildung von Frauen im antiken Judentum 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 41 Gelernte und verinnerlichen es. Frauen, so die Ansicht, sind lediglich zur Schau anwesend. Sie hören zu, sind aber nicht aktiv in ihrem Lernprozess. Die Mischna berichtet von einer Debatte zweier Rabbis darüber, ob ein Vater nicht auch seine Tochter in der Tora unterrichten solle. Während einer der beiden meint, der Vater sei dazu verpflichtet, lehnt der andere es rundweg mit der Begründung ab, dies bedeutete, ihr Unsinn beizubringen (Mischna, Sota 3,4). Spätere Quellen nehmen diese Meinung als selbstverständlich an. Im Talmud Jeruschalmi werden wir unterrichtet, dass Töchtern im Gegensatz zu Söhnen erlaubt wird, griechische Weisheiten zu lernen, da die Söhne dafür schlicht keine Zeit haben. Sie sind angehalten, jede wache Stunde über der Tora zu brüten (Jeruschalmi Sota 9,15 u. 24c). Töchter hingegen, die nicht zum Torastudium verpflichtet sind, können es halten, wie sie möchten. Im Babylonischen Talmud steht das Torastudium an der Spitze einer Liste von Geboten, von denen Frauen befreit sind (Babylonischer Talmud Kidduschin 34a). Was haben Frauen wirklich gelernt? Alle bislang besprochenen Texte sind normativ. Sie lehren die Juden, wie sie sich zu verhalten haben. Diesen Texten zufolge sollen Frauen im Haus unterrichtet werden, um gute Hausfrauen zu werden. Ein formales Bildungs- und Erziehungssystem, sei es zu Hause oder in der Schule, ist den Jungen vorbehalten. Trotzdem haben wir eine Fülle von Dokumenten und Texten, die darauf hinweisen, dass das Leben nicht immer so aussah, wie die Gesetzesbücher es vorsahen. Im folgenden Abschnitt möchte ich eine Reihe von weisungsbasierten Unternehmungen darstellen, bei denen jüdische Frauen der Antike eine Rolle spielten, und die weit über das Aufziehen von Kindern und die Sorge um den Haushalt hinaus gehen. Zu allererst sollten wir festhalten, dass drei der meistgefeierten biblischen Gedichte mutmaßlich von Frauen verfasst wurden: das Lied der Debora (Ri 5), das Gebet Hannas (1Sam 2) und vielleicht auch das Loblied nach dem Durchqueren des Roten Meeres, als Miriam mit ihrem Bruder Mose am Jubel teilhatte. Die Frauen, die voranzogen, um den Sieg Davids über Goliath zu feiern, sollen auch ein Lied verfasst haben (1Sam 18,7). Das Hohelied Salomos hat die Form eines Dialogs zwischen Mann und Frau. All diese Beispiele zeigen, dass zumindest in biblischer Zeit Frauen als seriöse Dichterinnen angesehen waren. Einen ebenso starken Eindruck hinterlassen die Aussagen des Buches der Sprüche, wo die Mutter in gleichem Maße wie der Vater einen erzieherischen Part übernimmt. An zwei Stellen werden die Belehrungen der Mutter ausdrücklich als »Tora« bezeichnet (Spr 1,8 und 6,20), und das Kapitel 31 (das die Eigenschaften der bereits erwähnten »tüchtigen Frau« aufzählt) wird uns als eine Anweisung an König Lemuel (wer immer das ist) durch seine Mutter vorgestellt. Dies sind alles Anhaltspunkte dafür, dass Frauen nicht prinzipiell für ignorant und ungebildet erachtet wurden. Die rabbinische Literatur hat, als Fundgrube von Volksweisheit und -praktiken, oft als Quelle der Volksmedizin gedient, die manchmal fälschlich mit Magie identifiziert wurde. Dort werden mehrere (vermutlich jüdische) Frauen erwähnt, die ausgesprochene Expertinnen auf diesem Feld sind. Im Talmud Jeruschalmi hören wir von einer Frau namens Timtinis, deren medizinische Expertise so groß ist, dass der Weise Rabbi Jochanan sich ihrer heilenden Kräfte bedient (Jeruschalmi Schabbat 14,4 u. 14d). Im babylonischen Talmud wird von einer Frau namens Martha berichtet, die Literatur zum Weiterlesen • B. Brooten, Women Leaders in the Ancient Synagogue. Inscriptional Evidence and Background Issues (BJSt 36),Chicago 1982. • C. Hezser, Jewish Literacy in Roman Palestine (TCAJ 81), Tübingen 2001. • M. Peskowitz, Spinning Fantasies. Rabbis, Gender and History, Berkley 1997. • H. Cotton, Subscription and Signitures in the Papyri from the Judaean Desert: the Cheirochrestes, Journal of Juristic Papyrology 25 (1995), 23-40. • T. Ilan, Silencing the Queen. The Literary Histories of Shelamzion and Other Jewish Women (TSAJ 115), Tübingen 2006. • T. Ilan, Integrating Women into Second Temple History (TSAJ 76), Tübingen 1999. • T. Ilan, Mine and Yours are Hers. Retrieving Women's History from Rabbinic Literature (Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums 41), Leiden 1997. 42 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 42 ein Amulett hergestellt haben soll, um ihren Sohn vor der Tollwut zu beschützen (Babylon. Talmud Joma 84a). Doch am meisten beeindruckt die umfangreiche Sammlung von Volksmedizin wie sie im Babylonischen Talmud erhalten ist. Sie wird mit einer als Em bezeichneten Frau in Verbindung gebracht, die den Weisen Abbayye bei der Anwendung dieser Medizin eingewiesen haben soll (siehe insbesondere Babylon. Talmud Schabbat 133b-134a). Das medizinische Rezept einer jüdischen Frau, Salome, schaffte es gar, in die Schriften der griechischen ärztlichen Autorität Galen aufgenommen zu werden (Composition Medicamentorum 2,7). Sie alle waren professionell ausgebildete Frauen. Irgendwie wurde diese Art von Wissen weitergegeben, vielleicht von einer Frau zur anderen. Hierbei handelte es sich nicht um das, was üblicherweise unter Torastudium verstanden wurde, doch mit Sicherheit erforderte diese Art medizinischer Praxis eine höhere Bildung. Dies führt uns zur Frage, ob jüdische Frauen im Allgemeinen lese- und schreibkundig waren, oder ob es überhaupt lese- und schreibkundige jüdische Frauen gab. Die meisten Untersuchungen zur Lese- und Schreibfähigkeit in der Antike behaupten, dass die große Mehrheit der Bevölkerung analphabetisch war - auch Frauen werden in der Forschung dieser Mehrheit zugerechnet. Es sollte jedoch festgehalten werden, dass dieser universale Allgemeinplatz in der rabbinischen Literatur nicht vorausgesetzt werden kann. An keiner Stelle wird gesagt, dass Männer lesen lernen sollten, Frauen jedoch nicht. In einem Text heißt es beispielsweise, dass »alle in der Lage sind, eine Scheidungsurkunde zu schreiben…eine Frau schreibt ihre eigene Scheidungsurkunde« (Mischna Gittin 2,5). Ein anderer Abschnitt der Mischna betont, dass »eine Frau keine Schreiber unterrichten darf« (Mischna Kidduschin 4,13). Diese juristische Beschränkung, die den Wirkungsbereich von Frauen begrenzen soll, setzt voraus, dass Frauen so gut schreiben konnten, dass sie als professionelle Schreiberinnen hätten arbeiten und andere in dieser Fähigkeit hätten ausbilden können. Dies bedeutet, da die Kunst des Lesens und Schreibens in jedem Fall nur eine Beschäftigung der Oberschicht war, dass zumindest dort die Geschlechterfrage nicht notwendigerweise ein trennender Faktor war. In diesem Zusammenhang können wir zur oben diskutierten Stelle zurückkehren, derzufolge wenigstens einem Rabbi gemäß den Frauen das Studium griechischer Weisheiten gewährt wurde. Ich nehme an, dass diese Form der Wissenserlangung auch auf die Elite der jüdischen Gesellschaft beschränkt war, sei sie männlich oder weiblich. Daher schließe ich diese kurze Bestandsaufnahme, indem ich versuche, mich dem rabbinischen Allerheiligsten zu nähern: dem Studium der Tora. Waren jüdische Frauen nicht immer schon an Tätigkeiten beteiligt, die direkt damit im Zusammenhang standen? Betrachten wir zunächst ein Beispiel jenseits des Spektrums rabbinischer Literatur. Der jüdische Philosoph Philo von Alexandria aus dem 1. Jahrhundert, ein Philosoph der Allegorie, erwähnt einen seiner Lehrer namentlich - es handelt sich um eine Frau, die er Skepsis nennt. Viele haben Zweifel über die Historizität dieser Frau wegen ihres Namens, der in sich allegorisch ist. Doch ungeachtet der Tatsache, ob sie wirklich existierte, berichtet Philo, wie sie ihm bei der Lektüre eines Bibelverses anleitete (Fug. 55-58). Die Idee, dass eine Frau ihm die Tora lehrte, war für ihn nicht unmöglich. Diese Art von beiläufiger Bemerkung erlaubt es uns, jenseits normativer Äußerungen, die monolithische, ideologische Sicht zu durchbrechen, die Frauen das Recht die Tora zu studieren verweigert, und das helle Licht der Realität zu betreten, in dem die Dinge vielfältiger und überraschender liegen. Philo war kein großer Frauenfreund. Dass er zugibt, von einer Frau unterrichtet worden zu sein, ist bei ihm ein echter ideologischer Ausrutscher. Damit steht er aber nicht allein. Auch die Rabbinen sprechen in unachtsamen Momenten von Frauen, die ins Torastudium involviert waren. Von ihnen wird gesagt, dass sie Bibelverse zitierten, um zu tadeln (wie im Midrasch Lamentationes Rabba 1,19), um die Unwissenden zu belehren (wie im Babylon. Talmud Sanhedrin 39a) oder um Märtyrertum zu rechtfertigen (Midrasch Sifre zu Deuteronomium »... obwohl Frauen nach ideologischer Maßgabe unwissend bleiben sollten und obwohl institutionelle Bildung Männern vorbehalten blieb, erreichten einige jüdische Frauen auf informellem Wege ... eine jüdische Bildung ...« ZNT 21 (11. Jg. 2008) 43 Tal Ilan Erziehung und Bildung von Frauen im antiken Judentum 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 43 307). Häufige Erwähnung findet eine Frau namens Matrona, die Rabbi Jose zum Inhalt des Buches Genesis befragt (z.B. Midrasch Genesis Rabba 4,6; 17,7; 25,1 usw.). Dabei hat sie die Funktion eines Toragelehrten. In der Rabbinischen Literatur findet sich sogar eine Frau mit Namen Bruria, die selbst eine versierte Toralehrerin war. Eine ihrer Auskünfte zur rabbinischen Gesetzgebung hat überlebt (Tosefta Kelim Bava Mezia 1,6). Spätere rabbinische Gelehrte wussten nicht, was sie von ihr halten sollten. Der Babylonische Talmud erklärt sie zur größtmöglichen Toragelehrten (Babylon. Talmud Psachim 62b) und zur Toralehrerin, eine Art Rabbi (wie in Berachot 10a oder Eruvin 53b). Diese Textstellen ergeben, liest man sie zusammen, folgendes Bild: obwohl Frauen nach ideolo- 44 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema Renate Banschbach-Eggen Gleichnis, Allegorie, Metapher Zur Theorie und Praxis der Gleichnisauslegung Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, Band 47 2007, XII, 312 Seiten, ca. [D] 68,00/ SFr 102,00 ISBN 978-3-7720-8238-2 Auf der Grundlage einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Adolf Jülichers Gleichnistheorie widerspricht die Autorin dem Allegorisierungsverbot und hinterfragt die Rolle des Allegoriebegriffs in der Gleichnisforschung. In einem zweiten Teil setzt sie sich mit dem ebenfalls von Jülicher eingebrachten Begriff der Metapher und seiner Anwendung in unterschiedlichen Entwürfen zur Gleichnistheorie kritisch auseinander. A. Francke Verlag · Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen · www.francke.de Neue Fachbücher Stefan Scholz Ideologien des Verstehens Eine Diskurskritik der neutestamentlichen Hermeneutiken von Klaus Berger, Elisabeth Schüssler Fiorenza, Peter Stuhlmacher und Hans Weder Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie, Band 13 2007, 396 Seiten, [D] 58,00/ SFr 91,50 ISBN 978-3-7720-8246-7 Die Studie untersucht die Ansätze von Berger, Schüssler Fiorenza, Stuhlmacher und Weder, befragt sie nach den diskursiven Triebfedern (Ideologien) ihrer Themenauswahl und Argumentationsweisen und stellt die Ergebnisse vergleichend nebeneinander. Dadurch entsteht ein kulturwissenschaftlich orientiertes Gesamtbild des jüngeren Diskurses zur Bibelhermeneutik. gischer Maßgabe unwissend bleiben sollten und obwohl institutionelle Bildung Männern vorbehalten blieb, erreichten einige jüdische Frauen auf informellem Wege, vielleicht zu Hause und vermutlich in elitären Kreisen, eine jüdische Bildung, und die Erinnerung an einen kleinen Teil dieser Frauen ist auf uns gekommen. (Der Beitrag wurde aus dem Englischen übersetzt von Johannes Gockeler) l Anmerkungen 1 Der Titel des Aufsatzes im englischen Original lautet Women’s Education in Ancient Judaism, wobei das Bedeutungsspektrum des Wortes education sowohl Erziehung als auch Bildung und Schulbildung umfasst (A. d. Ü.) 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 44