eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 11/21

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2008
1121 Dronsch Strecker Vogel

Erlesenes Verstehen

2008
Matthias Klinghardt
Matthias Klinghardt Erlesenes Verstehen Leserlenkung und implizites Lesen in den Evangelien Zum Thema die im Begriff »Rezeptionsästhetik« miteinander verbunden sind: Auf der Seite der Textproduktion lässt sich die intendierte Lesestrategie an den ästhetischen Signalen des Textes ablesen; dafür stehen typische Parameter zur Verfügung, z.B. Lokalisierung (Zeit und Ort des Geschehens), Erzählstil, Charaktere, das Verhältnis von Erzählstimme (Diegesis) und Figurenrede (Mimesis), Erzählzeit und -tempo, Perspektive und vieles andere mehr. Auf der Rezeptionsseite geht es um den Prozess des Lesens selbst, also um die Frage, auf welche Weise aus diesen Signalen beim Lesen Sinn entsteht, welche Aktivitäten die Leser für diese Sinnkonstitution aufbringen müssen und wie sie ihre eigene Rolle in diesem Prozess bestimmen. »Verstehen« umfasst in rezeptionsästhetischer Hinsicht also sowohl das Wahrnehmen von Sachverhalten als auch ein Sich-Selbst-Verstehen der Leser - also genau die beiden Pole, die Bildung ausmachen: Lesen bildet. Es liegt auf der Hand, dass eine rezeptionsästhetische Beschreibung der Didaktik der Evangelien bei den (intendierten oder faktischen) Textsignalen einsetzen muss, die die Lektüre steuern, und klar ist auch, dass zwar erst die Summe aller Signale dieses Konzept konstituiert, aber nicht alle in derselben Weise dafür wichtig sind. Ich konzentriere mich daher auf besonders charakteristische Passagen, in denen das Verstehen und die Rolle der Leser selbst thematisiert werden. Und ich beschränke mich (aus Raumgründen) auf zwei Evangelien (Mt und Mk), die sehr verschiedene rezeptionsästhetische Konzepte erkennen lassen. Dass dies für Mk eine größere Ausführlichkeit erfordert als für Mt, ist sachlich durch die höhere Komplexität des mk literarischen Konzepts begründet. 2. Explizite Leser als Hörer Jesu: Mt Wie in den meisten Erzählungen ist auch in Mt gerade das Ende aufschlussreich für das literarische Konzept des Ganzen. Der sog. Tauf- und 1. Wie Lesen bildet Lesen bildet. Die Lektüre vermittelt zunächst Informationen, die selbst dann innovativ sein können, wenn sie das schon immer Gewusste aufs Neue bestätigen oder an Altbekanntem neue Aspekte zeigen. Aber Bildung ist mehr als die Mehrung eines Wissensbestandes. Bildung entsteht, wenn die Leser sich nicht nur irgendwelche Sachverhalte aneignen, sondern sich zu dem, was sie lesen, auch selbst in ein Verhältnis setzen. Für das Verstehen der Evangelien war dieser zweite Aspekt immer gegeben, wie die breite Wirkungsgeschichte zeigt. Die folgenden Überlegungen zur Leserlenkung der Evangelien gehen davon aus, dass dieser Aspekt von »erlesener Bildung« nicht nur eine gegenüber den Ausgangstexten beliebige Leistung kreativer Applikation darstellt, sondern von den Autoren intendiert war: Sie wollten nicht nur archivarisch Informationen (über Jesus, seine Geschichte usw.) sicherstellen, sondern auch das Selbstverständnis ihrer Leser verändern. Wenn die Auslegung damit rechnet, dass die Evangelien mit ihren Lesern rechnen, muss sie nach der impliziten Didaktik der Evangelien fragen, also nach den Wirkweisen, durch die sie bei ihren Lesern ein umfassendes Verstehen erzielen wollen. Nun ist die Antwort auf die Frage, auf welche Weise die Evangelien bei ihren Lesern Verstehen erzielen wollen, banal: Natürlich dadurch, dass sie ihre Geschichte gerade so erzählen, wie sie sie erzählen. Für die Beschreibung dieses »Wie« sind die grundlegenden Differenzierungen der Erzählanalyse, die in den letzten 20 Jahren in der Exegese Bedeutung gewonnen haben, ausgesprochen hilfreich. 1 Zunächst ist zwischen dem realen und dem impliziten Autor bzw. den realen und den impliziten Lesern zu unterscheiden: Über die Kommunikation zwischen dem realen Autor und den realen Lesern wissen wir so gut wie nichts, über die implizite Kommunikation dagegen eine ganze Menge, weil sie sich durch eine rezeptionsästhetische Analyse aus dem Text erheben lässt. Dabei sind die beiden Aspekte zu unterscheiden, ZNT 21 (11. Jg. 2008) 27 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 27 unmittelbar zusammen: Neben den (elf) Jüngern der Erzählung werden alle Völker genannt, die zu Jüngern gemacht werden sollen. Mt unterscheidet also die primären Apostel-Jünger, die Jesus berufen und ausgesandt hat - zuerst zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel (10,6), dann zu allen Völkern (28,19) - von den sekundären Jüngern, die erst durch diese Apostel zu Jüngern gemacht werden. Diese sekundären Jünger besitzen kein Referenzobjekt im Text; vielmehr weist die Aussendung der Elf über den Zeithorizont der Erzählung hinaus in die Zukunft und damit in die Gegenwart der Rezipienten: Diese »sekundären« Jünger sind die impliziten Leser des Mt. Unabhängig von der theologisch nicht unwichtigen Frage, ob panta ta ethne in Bezug auf das Volk Israel inklusiv oder exklusiv gemeint ist, 5 ist deutlich, dass Mt sich die Leserschaft seines Textes unter diesen Jüngern aus den Völkern denkt. Das Verhältnis dieser beiden Jüngergruppen ist komplex, aber deutlich reflektiert: Auf der einen Seite differenziert Mt genau zwischen diesen beiden Gruppen. Die Zwölf (Elf) begegnen nur in sehr bestimmten Situationen des Lebens Jesu und haben da ihren singulären, quasi historischen Ort: Im Rahmen der Aussendung zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel (10,1; 11,1), 6 im Zusammenhang der einmaligen, unwiederholbaren Konstellation der Passionsgeschichte (Einzug in Jerusalem, letztes Mahl und Verrat durch Judas) sowie in der abschließenden Sendung. Die Zwölf (Elf) sind eine unverwechselbare Gruppe, die aus der Perspektive der Leser unwiderruflich der Vergangenheit angehört. Daneben erwähnt Mt über 50 Mal die Jünger, ohne sie weiter zu spezifizieren; diese Belege schließen in der Regel die Zwölf mit ein, sind aber auf die impliziten Leser-Jünger hin transparent: Sie heißen alle unterschiedslos mathetai. Mt hat dadurch die impliziten Leser als Adressaten der Lehre Jesu mit einbezogen. 7 Ein Paradebeispiel für diese Inklusion ist die literarische Anlage der Bergpredigt: In ihr werden die Adressaten - nach dem Rahmen sind es seine Jünger (5,1) - wieder und wieder angesprochen; allerdings werden sie nicht direkt genannt, sondern nur durch Pronomina bzw. flektierte Verbformen aktualisiert. Die große Länge der Bergpredigt - hinsichtlich der dramatischen Erzählanlage ein schwerer Qualitätsmakel! 8 - erweist sich rezeptionsästhetisch als Missionsbefehl (Mt 28,16-20) fasst, wie die hier besonders dicht begegnenden Kohäsionssignale zeigen, wichtige Erzählstränge zusammen und vergegenwärtigt bei den Lesern die entscheidenden Elemente der ganzen Erzählung. Die Lokalisierung des Geschehens auf dem Berg in Galiläa verweist auf den Berg der Versuchung (4,8), den Ort der Bergpredigt (5,1) und der zweiten Speisung (15,29) sowie auf den Verklärungsberg (17,1.9) und etabliert eine theologische Höhenlinie, die die Zusammengehörigkeit dieser Elemente erweist. Wichtig ist ferner der Umstand, dass hier nicht von den Jüngern im Allgemeinen die Rede ist, sondern von den elf Jüngern: Die genaue Zahlenangabe reflektiert auf die Passionsgeschichte mit dem Verrat und dem Tod des Judas (26,14ff.; 27,1-10), der aus dem Kreis der Zwölf Apostel ausgeschieden ist. Das Vollmachtswort (28,18) bestätigt, dass Jesus die universale exousia nicht durch Proskynese vor dem Teufel (4,8), sondern durch die gehorsame Erfüllung aller Gerechtigkeit einschließlich seines Todes erlangt hat; zugleich werden die Leser daran erinnert, dass der Grundkonflikt, der dem Plot der mt Erzählung Spannung verleiht, vom Anfang bis zum Ende eine Geschichte konkurrierender Machtansprüche ist (Mt 2; 27,11ff.), die durch die Bestreitung der Vollmacht Jesu mehrfach aktualisiert wird (7,29; 9,6; 21,23-27). Die abschließende Zusage, dass Jesus alle Tage bis zur Vollendung des Äons mit den Jüngern ist (28,20), nimmt dagegen die grundlegende Bestimmung Jesu als des Immanuel nach 1,22f. wieder auf. Diese hier nur angedeuteten Kohäsionsmerkmale machen deutlich, dass »Matthäi am Letzten« die literarische Anlage und das theologische Profil des ganzen Evangeliums sehr reflektiert zusammenfasst. Erst in dieser Perspektive erhalten zwei weitere Beobachtungen Gewicht, die sich direkt auf die Frage der Leserlenkung und der Didaktik des Mt beziehen. Wichtig ist zunächst, dass Mt - im Unterschied zu den anderen Evangelien - nicht dem Erzähler (narrative voice), sondern Jesus selbst das letzte Wort gibt. Das ist insofern charakteristisch, als Mt der Figurenrede Jesu (Mimesis) im Vergleich zu den Berichten über ihn (Diegesis) deutlich mehr Raum gibt als die anderen Evangelien. Mt präsentiert Jesus in erster Linie als Lehrer, dessen Lehre in verbaler Instruktion besteht. Die zweite Beobachtung hängt damit 28 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 28 Matthias Klinghardt Prof. Dr. Matthias Klinghardt, Jahrgang 1957, 1986 Promotion und 1993 Habilitation (Neues Testament) in Heidelberg, 1988/ 89 Rice University, Houston (Tx), 1989 bis 1998 Assistent an der Universität Augsburg, seit 1998 Professor für Biblische Theologie an der TU Dresden. Missionsbefehl also ihrerseits zu Mission und Belehrung autorisiert. So gesehen ist das rezeptionsästhetische Konzept des Mt ebenso genial wie schlicht: Der erzählte Jesus belehrt nicht nur die erzählten Jünger, sondern auch die impliziten Leser: Seine Lehre ist für beide identisch. Das hat vor allem zwei Konsequenzen. Zunächst sind die intendierten Leser des Mt genau genommen keine impliziten, sondern explizite Leser. Denn Mt weist ihnen durch die Zuordnung zu den erzählten Jüngern eine explizite Rolle zu und macht deutlich, dass sie die gesamte Lehre des mt Jesus direkt auf sich applizieren können und sollen. Damit hängt ein Zweites zusammen: Die Normen, die die mt Erzählung mit der Lehre Jesu transportiert, sind mit den Normen identisch, die bei den intendierten Lesern in Geltung stehen sollen: Sie sollen als Regulative rezipiert werden, nicht aber die Normativität als solche thematisieren. Aufgrund der Identität der erzählten Jünger mit den »explizit implizierten« Lesern dürfen diese bei ihrer Lektüre auch keinen eigenen Sinn konstituieren, dessen Zielrichtung sich von dem der Erzählung abkehren würde. Dieser Eindeutigkeit, mit der die Rolle der Leser festgeschrieben ist, entspricht die Eindeutigkeit der Lehre Jesu: Indem der mt Jesus über die Jünger der Erzählung hinaus auch die Leser direkt anspricht und belehrt, muss seine Lehre auch verständlich, klar und unmissverständlich sein. Diese systembedingte Eindeutigkeit macht jene gewisse Humorlosigkeit unvermeidlich, mit der Mt auch noch die kleinste Pointe »weg-erklärt«, deren eigenständige Entschlüsselung dem Leser möglicherweise Vergnügen bereitet hätte. 9 Aber diese Eigenständigkeit hätte eine interpretatorische Freiheit sowohl vorausgesetzt als auch vermittelt: Sie würde den Leser dazu nötigen, seine eigenen Fähigkeiten gegenüber dem Text zu aktivieren und könnte ihn auf diese Weise den Restriktionen seiner Lebenswelt entheben. Aber diese Freiheit, die eigene Rolle im Prozess des Lesens selbst zu definieren oder gar zu verändern, überlässt Mt dem Leser nicht. Mt ist, unbeschadet der Fiktionalität des narrativen Gesamtcharakters, als Lehrbuch konzipiert. Sein Vorteil und als wichtiges Element des literarischen Konzepts: Die fehlende dramatische Rückbindung der Bergpredigt an die erzählte Situation bewirkt eine Entkontextualisierung, die zur Folge hat, dass die impliziten Leser-Jünger die Anrede »ihr« direkt auf sich beziehen müssen. Damit erklärt sich auch die Nivellierung des Autoritätsgefälles, das zwischen den beiden Gruppen von Jüngern besteht: Der Missionsbefehl verbindet sie nicht nur genealogisch miteinander, sondern setzt sie auch in eine Autoritätsbeziehung, indem die einen die anderen belehren sollen. Gleichwohl gilt für alle das Verbot, sich selbst Rabbi nennen zu lassen, denn nur einer ist euer Lehrer, ihr aber seid alle Brüder (23,8). Durch diese beiden Pole wird die Rezeption erkennbar gesteuert. Auf der einen Seite sind die Leser als direkte Adressaten der Lehre Jesu mit den erzählten Jüngern gleichursprünglich; da Jesus aber der einzige Lehrer ist, sind sie auch nicht von der Autorität ihrer missionarischen Lehrer abhängig. Auf der anderen Seite können und sollen die Rezipienten alles, was zu den Jüngern der Erzählung gesagt ist, auf sich selbst beziehen: Die Rezipienten-Jünger werden im Tauf- und ZNT 21 (11. Jg. 2008) 29 Matthias Klinghardt Erlesenes Verstehen »Aber diese Freiheit, die eigene Rolle im Prozess des Lesens selbst zu definieren oder gar zu verändern, überlässt Mt dem Leser nicht. ... Ihre Lese-Leistung besteht im gehorsamen Hören.« 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 29 ren und Lesehilfen vorenthalten: Um dem Text einen Sinn abzugewinnen, müssen sie selbst Zusammenhänge herstellen, innere Bezüge zwischen den Textsegmenten aufspüren, Mehrdeutigkeiten beseitigen und symbolische Konnotationen entschlüsseln. Gleichwohl sind die Sinnkonstitution und die Rolle, die die impliziten Leser in diesem Prozess einnehmen müssen, nicht beliebig, sondern durch eine narrative Strategie genau bestimmt, die sich anhand einer Reihe von Erzählsignalen auch nachzeichnen lässt. Als Beispiel wähle ich die Aussagen über das Nicht-Verstehen der Jünger, die ja schon seit W. Wrede als Angelpunkte der mk Darstellung erkannt sind. Unter diesen Texten ragen zwei besonders heraus (Mk 6,52; 8,17-21), die aufgrund einer Reihe von Gemeinsamkeiten deutlich aufeinander bezogen sind: An beiden Stellen werden die Jünger für ihr Nicht-Verstehen heftig getadelt (einmal durch den Erzähler, einmal durch Jesus), beide Male in Verbindung mit dem Vorwurf der Herzenshärte. In beiden Fällen bezieht sich das Nicht-Verstehen auf das Brot bzw. die Brote. Und in beiden Fällen lässt die Erzählung offen, was genau die Jünger eigentlich hätten verstehen sollen - ein erkennbarer Appell an den Leser, sich selbst einen Reim auf diesen Vorwurf zu machen. Da ich die Zusammenhänge an anderer Stelle ausführlicher begründet habe, 11 beschränke ich mich auf einige zusammenfassende Bemerkungen, die jedoch gleichwohl den Erzählfortschritt deutlich machen sollen. Diese beiden Unverständnistexte gehören zu der großen Erzähleinheit Mk 3,7-8,21, die rund um den See Genezareth spielt und durch die Berufung bzw. Aussendung der Jünger strukturiert ist. Der Erzähler erklärt (3,14), dass das Jünger- Sein durch die beiden Aspekte »Mit ihm sein« und »Aussendung (zu Verkündigung und Exorzismus)« bestimmt sei. Die Erzählung von der Aussendung der Jünger (6,6ff.) greift die Elemente der zweiten Bestimmung auf, so dass die ganze Einheit als narrative Einweisung in die Jüngerschaft zu verstehen ist. In diesem Rahmen sind die Jünger zunächst mit ihm. Die enge Gemeinschaft mit Jesus ist zunächst räumlich gefasst (3,20-35: im Haus; 4,1-34: im Boot) und unterscheidet die, die mit ihm sind, von denen draußen und qualifiziert sie als Adressaten seiner Lehre (3,31-35; 4,11): Sie sind zum Verstehen ausersehen, das ihrezeptionsästhetisches Konzept spielt nicht mit dem Imaginationsvermögen der Leser, sondern weist ihnen eine eindeutige und eng begrenzte Funktion bei der Sinnkonstitution zu: Ihre Lese- Leistung besteht im gehorsamen Hören. 3. Implizites Lesen und Verstehen: Mk Dass Mt dieses literarische Konzept der Eindeutigkeit bewusst gewählt hat, zeigt der Vergleich mit Mk, auf dem Mt ja zu einem guten Teil beruht. Denn das mk Konzept zur Leserlenkung ist in mancherlei Hinsicht ein genaues Gegenstück zu Mt. Das fängt am Ende an: Während Mt das letzte, gewichtige und die Leserrolle explizierende Wort seinem Jesus in den Mund legt, gehört bei Mk das letzte Wort der Erzählstimme. Charakteristischerweise erklärt diese Stimme nicht nur nichts, sondern wirft aufgrund der Abruptheit des Endes - Die Frauen sagten niemandem etwas, sie fürchteten sich nämlich (16,8) - Fragen über Fragen auf: Wie haben die Jünger der Erzählung, die ja wiederholt durch Unverständnis und Unvermögen aufgefallen waren, am Ende von der Auferstehung Jesu Kenntnis erhalten? Und: Wie gelangt die Botschaft von der Auferstehung zu den Lesern, wenn Petrus und die anderen Jünger sie ihnen nicht weitergeben konnten? Diese Fragen drängen sich auf, wenn man Mk von den Erscheinungsberichten bei Mt und den anderen Evangelien her liest. Liest man Mk für sich, dann bleibt hier bezüglich der impliziten Leser nur eine Unbestimmtheitsstelle, die darauf aufmerksam macht, dass der »implizite Leser« weniger eine Typologie der möglichen Leser bezeichnet als vielmehr den im Text vorgezeichneten Akt des Lesens selbst, der die Aufgabe der Sinnkonstitution in hohem Maß dem Leser zuweist. In der Tat ist Mk ein Paradebeispiel dafür, wie der Verzicht auf eindeutige Leserlenkung dazu führt, dass die Leser in dem offenen Prozess der Lektüre eine aktive Rolle einnehmen. Das zeigt bereits die fragmentarische Erzählweise des Mk: In sehr viel höherem Maß als die anderen Evangelien reiht Mk autarke Einzelepisoden durch einfache Parataxe aneinander, ohne sie durch den narrativen Rahmen oder andere Elemente erkennbar miteinander zu verbinden. 10 Auf diese Weise bleiben den Lesern offensichtliche Deutungsstruktu- 30 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 30 lich, dass der Umgang mit der Speise ein Problem der Überlieferung der Menschen 13 darstellt, an der die Kritisierten gegen Gottes Gebot festhalten: sie vertreten eine falsche Lehre. Sodann wird deutlich, dass nicht die Speisen einen Menschen verunreinigen, sondern das, was aus dem Menschen herausgeht (7,15). Im Zusammenhang mit dem vorangehenden Pharisäergespräch heißt das: Nicht Speise, sondern falsche Lehre verunreinigt; dass Jesus mit diesem Wort alle Speisen für rein erklärte (7,19b), ist eine Verstehenshilfe des Erzählers, die sich auf der Rezipientenebene erkennbar auf die Probleme der Heidenmission bezieht. Der entscheidende, hier nur angedeutete Sachverhalt wird im Folgenden narrativ entfaltet und von der syrophönizischen Frau metaphorisch auf den Punkt gebracht: Kindlein und Hündlein leben von demselben Brot (7,28). Die Frau hat ihr richtiges Verstehen gut formuliert: Jesus sieht sich wegen dieses Wortes zum Exorzismus veranlasst und befreit das Kindlein vom Dämon (7,29). Dass es hier tatsächlich um das richtige Verstehen und seine Formulierung geht (und nicht undifferenziert um Glauben wie in Mt 15,28), zeigt die anschließende Heilung des Taubstummen aus der Dekapolis, dem die Ohren geöffnet werden und der dann richtig redet (7,35): Diese Heilung verbindet die beiden Elemente, die in der Aufforderung Hört und versteht! (7,14) 14 bzw. in dem Wort (7,29) der Syrophönizierin noch getrennt benannt sind. Die Jünger hinken jedoch dieser Einsicht noch hinterher - und scheitern erneut bei der Sättigung der Menge (8,1-9). Allerdings sind sie nicht einfach unbelehrbar, sondern nur von der neuen Situation überfordert: Im Unterschied zur ersten Speisung wissen sie, dass es an ihnen ist, die Menge zu sättigen, und sie haben inzwischen auch verstanden, dass sie dazu nicht von Jesus weggehen müssen. Aber sie verstehen nicht, von wo her jemand diese hier in der Wüste mit Broten sättigen kann (8,4): Nach der Lokalisierung von 7,31 sind diese hier in der Wüste am ehesten Heiden in der Dekapolis. Der kompetente Leser ist den Jüngern hier einen Schritt voraus und weiß, dass Juden wie Heiden von ein und demselben Brot satt werden, wie denn auch der Fortgang der Geschichte erweist: Die Brote der Jünger reichen zur Sättigung auch dieser Menge aus. Die beiden folgenden Bootsfahrten (8,10- 13.14-21) verschieben das Lernziel für die Jünger nen durch die Belehrung Jesu zuteil wird. Nach dieser Belehrung folgt eine Art Hospitationsphase (4,35-6,6a): Die Jünger begleiten Jesus (und sind auf diese Weise mit ihm) quer über den See und zurück, sie beobachten ihn bei Exorzismen, Heilungen und Verkündigung - also bei genau den Tätigkeiten, zu denen sie später selbst ausgesandt werden -, nehmen aber zunächst selbst keine aktive Rolle ein. Was die Jünger an ihrem Vorbild Jesus lernen, ist auch, dass er trotz großer und unbezweifelbarer Machttaten abgelehnt wird (5,17; 6,1-6a). Nach dieser Hospitationsphase sendet Jesus die Jünger zu ihren ersten eigenen Missionsversuchen aus (6,6ff.), und in diesem Zusammenhang wird das erste Scheitern vermerkt. Es bezieht sich charakteristischerweise nicht auf die Fähigkeit zu Exorzismen und Heilungen (die nach 6,12f.30 kein Problem darstellen), sondern auf die Sättigung der großen Menge, unter der man sich nach dem Bericht 6,30f. die Adressaten der erfolgreichen Mission der Jünger vorstellt: Als Jesus die Jünger auffordert, die Menge zu sättigen, sehen sie nur die Möglichkeit, von Jesus wegzugehen, um … Brote zu kaufen und sie ihnen zu essen zu geben (6,37), was die Preisgabe der ersten Bestimmung des Jünger-Seins bedeuten würde. Erst als sie der Aufforderung Jesu nachkommen und ihre eigenen Brote austeilen, merken sie, dass diese für die Sättigung der großen Menge ausreichen. Spätestens von hier an wird die verbreitete Metaphorik Brot / Speise für Lehre 12 vorausgesetzt: Die Jünger lernen, dass ihre Verkündigung einer großen Menge Orientierung geben kann. Aber es ist nicht diese symbolische Konnotation der Brote, die die Jünger nicht verstehen. Der Tadel des Erzählers bezieht sich auf ihr Erschrecken, als Jesus plötzlich bei ihnen im Boot ist (6,45ff.): Hätten die Jünger bei den Broten verstanden (6,51f.), wären sie nicht über seine plötzliche Gegenwart im Boot erschrocken. Für die Leser bleibt zunächst unklar, was genau es bei den Broten zu verstehen gab. Anstelle einer Erklärung entwickelt Mk die Metaphorik des Brotes weiter: Die große Belehrung über Rein und Unrein (7,1-23), deren entscheidende Passage sich wieder an die Jünger allein richtet (7,17ff.), erhellt den Zusammenhang von Speise und Lehre auf komplexe Weise, an der zwei Aspekte wichtig sind: In der einleitenden Auseinandersetzung mit den Pharisäern und Schriftgelehrten wird deut- ZNT 21 (11. Jg. 2008) 31 Matthias Klinghardt Erlesenes Verstehen 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 31 Ende in sein Haus zurückschickt (8,26). Die Heilung des blinden Bartimäus führt dagegen sofort zu völliger Klarheit, die darin ihren Ausdruck findet, dass er Jesus auf dem Weg nach Jerusalem nachfolgt (10,52). Zwischen diesen beiden Blindenheilungen liegen die Belehrungen Jesu über die Notwendigkeit seines Leidens und über die Konsequenzen, die sich aus der Abfolge von Niedrigkeit und Herrlichkeit für die Jünger ergeben. Wie schon zuvor ist das, was Jesus sagt, nur im Kontext dessen verständlich, was über ihn erzählt wird (vor allem 9,1-8). Im Vergleich zu dem vorangehenden großen Abschnitt verschieben sich jedoch mit dem Gesamtthema auch die Topographie und die Basismetaphorik: Jesus ist nicht mehr am See als dem Ort der Jüngerberufungen (1,16-20; 2,13f.; 3,7-19), sondern auf dem Weg, 16 der ihn nach Jerusalem in die Passion führt und auf dem ihm die Jünger nachfolgen; auch in diesem Abschnitt begegnet das Unverständnis der Jünger (wenn auch in anderer Terminologie), aber es bezieht sich jetzt auf andere Sachverhalte. Wenn man die Leseerfahrungen aus Mk 3-8 auf diesen Abschnitt übertragen darf, dann liegt nahe, dass sich auch hier Unverständnis und Verstehen der Jünger weiter dynamisch entwickeln. 4. Metaphernspiel und Konsistenzbildung: Leseleistungen Diese Beschreibung der Textsignale erlaubt es, jetzt auch schärfer die für die Sinnkonstitution von den Rezipienten geforderten Lese-Aktivitäten ins Auge zu fassen. Im Grunde sind zwei voneinander unterschiedene, gleichwohl eng miteinander verbundene Leseleistungen erforderlich: Die Wahrnehmung des übergreifenden Erzählzusammenhangs hinter der fragmentierten Darstellungsweise und die Entschlüsselung der symbolischen Polysemie des gesamten Geschehens. Beide Aspekte sind im Verstehen der grundlegenden Leitmetaphern miteinander verknüpft: Für den vorgestellten Abschnitt sind dies neben dem Boot und später dem Weg vor allem das Brot. Allerdings besitzen diese Leitmetaphern neben der denotativen mehr als nur eine konnotative Bedeutung. So steht z.B. das Boot nicht nur - analog zum Haus in 3,20ff. - für den Ort der engen Gemeinschaft und der Belehrung, sondern auch für ein weiteres Mal: Die erste Fahrt konfrontiert sie mit der Forderung der Pharisäer nach einem Legitimationszeichen, was nach der Speisung der Heiden insofern nachvollziehbar ist, als es ihre schon als falsch erwiesene Position von 7,1ff. bestätigt: Im Unterschied zu den Jüngern haben die Pharisäer nichts dazugelernt, Jesus verweigert ein Zeichen. Die zweite Fahrt mit dem Gespräch zwischen Jesus und den Jüngern zeigt jedoch, dass das daraus resultierende Konfliktpotential dadurch noch nicht beseitigt ist: Während sich die Jünger darüber Gedanken machen, dass sie keine Brote außer dem Einen Brot bei sich im Boot hatten (8,14.16), warnt Jesus sie vor dem Sauerteig der Pharisäer und des Herodes (8,15). Die Abfolge der Äußerungen erweckt den Anschein, als würden Jesus und die Jünger aneinander vorbeireden. Tatsächlich aber thematisieren alle Äußerungen die Implikation des einen Brotes für Juden und Heiden. Obwohl die Jünger doch gelernt hatten, dass ihre eigenen Brote auch für die Sättigung von Heiden ausreichen und dass es also nur ein einziges Brot geben kann, hat die pharisäische Legitimationsforderung eine neue Dimension ins Spiel gebracht: Es ist für die Jünger gefährlich, für Juden und Heiden ein und dasselbe Brot zu haben. Deswegen warnt Jesus vor dem (ansteckenden und verunreinigenden) Sauerteig(brot) 15 der Pharisäer und des Herodes, der hier (nach 3,6 und 6,14-29! ) als Konkretisierung der Gefährdung zu verstehen ist. Die Jünger haben zwar die Lehre Jesu (7,17ff) gehört und seine Taten gesehen (8,1- 9), aber sie verstehen nicht (8,17), weil sie sich nicht an die beiden Speisungen erinnern (8,18), an denen sie hätten lernen können, dass es nur ein einziges Brot gibt: Das, das sie bei sich haben. Die abschließende Frage »Versteht ihr immer noch nicht? « (8,21) ist ein vorausweisendes Signal: Das Verstehen, das (den Jüngern? den Lesern? ) an dieser Stelle noch fehlt, bezieht sich nicht so sehr darauf, dass es nur ein einziges Brot gibt, als vielmehr auf die Frage, wie diese Einsicht angesichts der Bedrohung durch die Pharisäer realisiert werden kann. Der Lernprozess, der diese Einsicht vermittelt, ist durch die beiden Blindenheilungen (8,21-26; 10,46-52) gerahmt. Die erste Heilung, markiert den Anfang des Verstehensprozesses: Der Blinde von Bethsaida kann zunächst nur undeutlich sehen, die Heilung ist ein Prozess, in dem Jesus nachbessern muss - und den Geheilten am 32 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 32 sie in der Lage sind, eine große Menge zu sättigen = zu belehren, die Jünger vor dem Erschrecken über die plötzliche Gegenwart Jesu bei ihnen im Boot bewahren sollen? Das Verstehen, das die Leser für den Zusammenhang bei den Broten von 6,35-44 erlangen müssten, ist höchst spezifisch und lässt sich aus dem vorangehenden Kontext allein nicht erheben, sondern muss mehrere Aspekte berücksichtigen: Aus dem vorangehenden Kontext ist zu erinnern, dass im ersten Fall von Seenot (4,35ff.) Jesus bei den Jüngern im Boot war. Wenn die Leser diese Information mit der Einsicht aus der letzten Bootsfahrt verbinden, dass die Jünger ein einziges Brot bei sich im Boot haben und deshalb keine Furcht vor den Anfeindungen der Pharisäer zu haben brauchen (8,14ff.), dann wird erkennbar, dass dieses Brot ihre Verkündigung repräsentiert, die Jesus selbst zum Inhalt hat - eine Einsicht, die im Bericht vom letzten Mahl noch einmal aufgegriffen wird: Jesus selbst ist das eine Brot (14,22). Wenn Jesus selbst das Brot ist, mit dem die Jünger Juden wie Heiden sättigen, dann ist damit natürlich der Bericht über ihn gemeint - also nichts anderes als die Erzählung des Mk selbst. Aus diesen Überlegungen zur Entschlüsselung der enkodierten Metaphorik ergeben sich zwei Folgerungen. Zunächst ist klar geworden, dass die Leitmetapher Brot ihre komplexe Polysemie erst im Verlauf der Erzählung erhält: Das metaphorische Verstehen setzt die Wahrnehmung übergreifender Textstrukturen hinter der fragmentierten Textgestaltung voraus. Oder umgekehrt: Die Vielschichtigkeit der Metaphorik nötigt den Leser zur Konsistenzbildung. Beide Leseleistungen gehen Hand in Hand und etablieren die Sinngestalt des Textes. Vor allem aber ist deutlich, dass eine Erstlektüre diese Bedeutungsfülle gar nicht erschließen kann: Mk rechnet mit Mehrfachlesern, die zurückblättern bzw. noch einmal von vorne zu lesen beginnen. 18 Das aber heißt, dass bei der wiederholten Lektüre desselben Textes unterschiedliche Sinngestalten entworfen werden, die natürlich nie gleichzeitig realisiert werden können, wobei in der ästhetischen Strategie des Mk bereits eine Nötigung zur Mehrfachlektüre angelegt ist. Denn der zweimalige Hinweis, dass Jesus seinen Jüngern in die Gefährdung bei der Fahrt über den See im Rahmen der Aussendung (4,35ff.; 6,45ff.; 8,14ff.). Oder: Mit Brot ist durch die traditionelle Metaphorik Lehre konnotiert. Aber sowohl die Verzweigung des Wortfelds und seine Verbindung mit benachbarten Wortfeldern als auch die Dynamik der Erzählung machen eine einfache Dechiffrierung unmöglich und zeigen, dass die Bedeutungsebenen nicht einfach allegorisch aufeinander bezogen sind. Zunächst bestimmt die Leitmetapher Brot ein ganzes Wortfeld, 17 das seine Komplexität dadurch erhält, dass es durch - ebenfalls metaphorisch gebrauchte - benachbarte Begriffe erweitert ist: Diese beziehen sich beispielsweise auf die Subjekte des Essens (Kinder / Hunde) oder auf die unterschiedliche Qualität der Speise, wobei der metaphorische Gehalt von Sauerteig(brot) in zwei verschiedene Richtungen entfaltet werden muss (»durchdringen / anstecken«; »rein / unrein«). Ein einfaches Lexikon symbolischer Konnotationen wäre hier rasch überfordert. Sodann ist die metaphorische Bedeutungsebene in der kommentierenden Erläuterung des Erzählers in 7,19b verlassen: Der Hinweis, dass Jesus alle Speisen für rein erklärte, darf nicht als Metapher für Lehre verstanden werden, soll nicht der gesamte Zusammenhang ad absurdum geführt werden. Vielmehr müssen die Leser hier die denotative Bedeutung von Speisen substituieren und die Erläuterung - etwa im Sinn von Apg 10f. - auf das Problem der Tischgemeinschaft in gemischten Gemeinden beziehen. Immerhin sind der überraschende Wechsel zur denotativen Bedeutung der Leitmetapher sowie der Umstand, dass die Erklärung unvermittelt der Erzählstimme in den Mund gelegt wird, deutliche Signale, die die Leser auf die Spur einer textexternen Referenz führen können. Und schließlich verändern sich die konnotierten Bedeutungsaspekte von Brot mit dem Fortgang der Erzählung, und zwar auch dann, wenn die Basismetaphorik »Brot für Lehre« aktualisiert wird. So lässt sich der Vorwurf des Erzählers denn sie hatten bei den Broten nicht verstanden (6,52) allein mit dieser Basismetapher gar nicht verstehen: Denn inwiefern hätte das Wissen, dass ZNT 21 (11. Jg. 2008) 33 Matthias Klinghardt Erlesenes Verstehen »Mk rechnet mit Mehrfachlesern, die zurückblättern bzw. noch einmal von vorne zu lesen beginnen.« 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 33 daraus folgend, der implizierten Leseakte behandelt die beiden Evangelien als eigenständige und jeweils komplette Texte. Diese Annahme ist jedoch eine wissenschaftliche Fiktion, die zwar unter dem diachronen Gesichtspunkt der Textproduktion eine sinnvolle Annahme darstellt, die aber durch keinerlei Spuren in der Handschriftenüberlieferung erhärtet werden kann und der überlieferten Textgestalt nicht entspricht. Wichtiger ist: Für eine rezeptionsästhetische Fragestellung würde die Annahme, dass »Mt« und »Mk« eigenständige Texte seien, entscheidende Gesichtspunkte ausblenden. Denn tatsächlich »gibt« es beide Evangelien nur als Teiltexte des gesamten NT, in dessen Rahmen sie seit dem 2. Jh. auch ausschließlich gelesen werden: Die unterschiedlichen literarischen Konzepte begegnen also immer schon als komplementäre Modelle, von denen keines exklusive Geltung beanspruchen kann. Dieses Nebeneinander ist aber nicht das zufällige Produkt eines ungesteuerten Wachstums- oder Sammlungsprozesses, sondern wiederum Teil einer literarischen Strategie, in diesem Fall der Kanonischen Ausgabe des NT, die ihrerseits rezeptionsästhetisch beschrieben werden kann. 20 Die Wirkungsgeschichte des NT zeigt, dass die innerkanonischen Bezüge zwischen den einzelnen Schriften schon immer gesehen und interpretiert wurden. Erst die kritische Exegese hat mit ihrer »historischen« Herauslösung der einzelnen Schriften aus diesem Referenzrahmen diese Zusammengehörigkeit aus dem Blickfeld verschwinden lassen. 21 Um dem Vorwurf des Rückfalls in eine vorkritische Interpretation zu wehren, beschränke ich mich für die rezeptionsästhetische Würdigung des redaktionellen Konzepts der Kanonischen Ausgabe daher auf diejenigen Signale, die nachweislich von der Edition intendiert waren und führe nur drei Beispiele für die Leserlenkung durch das editorische Konzept an. Eine der wichtigsten Lesehilfen, die die Herausgeber ihren Texten beigegeben haben, sind die Titel, die ja in den Evangelien auch die Autoren - »Matthäus« und »Markus« - nennen. Beide Angaben sind fiktiv, und beide sind gut gewählt, weil sie die jeweiligen rezeptionsästhetischen Modelle stützen. Die Autorenangabe in Mt verweist bekanntlich auf den Jünger »Matthäus«, der zu den Zwölfen gehört (Mt 9,9; 10,3): Aus der Leserperspektive ist es ein wichtiges Element, dass ein Galiläa 19 vorausgeht (14,28; 16,7) und sie ihn dort sehen werden, ist eine Referenz, die durch die Erzählung ja gerade nicht eingelöst wird: Sie verweist, ähnlich dem Missionsbefehl bei Mt, über den Zeithorizont des Evangeliums hinaus in die Gegenwart der Leser, die diese Aufforderung auf sich selbst beziehen sollen. Die Leser müssen nur zum Anfang des Buches zurückblättern, der in Galiläa spielt (1,14ff.) - auf diese Weise werden sie selbst Jesus sehen und können ihm, wenn er ihnen vorausgeht, nachfolgen: nämich im Vollzug der wiederholten Lektüre und im immer komplexer werdenden Verstehen. 5. Kanonisches Lesen und Verstehen Diese Skizze hat die Unterschiede zwischen den literarischen Konzepten des Mt und des Mk deutlich werden lassen: Mt begrenzt die Interpretationsspielräume, expliziert die intendierte Rezeption, ist auf Eindeutigkeit bedacht und begründet den Anspruch des Textes gegenüber den Lesern mit maximaler Autorität: Mt lässt seinen Jesus direkt zu den Lesern sprechen. Der Text weist ihnen einen genau definierten Platz zu: Das Verhältnis zwischen beiden lässt sich als Kontrolle und Unterwerfung beschreiben. Mk steuert den Lesevorgang auf ganz andere Weise, ist aber nicht weniger effektiv: Sein literarisches Konzept ist durchaus elitär, weil es nur denen Zugang zum vollen Verstehen gewährt, die sich aktiv darum bemühen, die mehrfach lesen, die in der Lage sind, die Sinngestalt hinter der Textgestalt aufzuspüren und die Metaphern zu ergründen. Die Leser müssen ihren Platz gegenüber dem Text selbst finden und interpretierend erarbeiten. Aber wenn sie ihn gefunden haben, werden sie den Anspruch des Textes von sich aus bekräftigen, weil er sie durch seine ästhetischen Signale auf die Spur des Verstehens gelockt und im Entdeckungsprozess Freiheit gewährt hat. Der Text in ihrer Hand macht die Leser gleichursprünglich mit den Jüngern, sie hören nicht nur die Stimme Jesu, sondern sehen ihn selbst und folgen ihm verstehend nach. Die - zugestandenermaßen etwas holzschnittartig formulierten - Unterschiede zwischen diesen beiden Konzepten verweisen auf ein wichtiges Problem, das wenigstens noch angedeutet sei. Denn die Beschreibung der Textsignale und, 34 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 34 glementierende Lektüre-Strategie des Mt fungiert so als Propädeutik für die elitären Interpretationsaufgaben, die Mk den Lesern abverlangt. Umgekehrt aber - zweites Beispiel - wirkt der Schluss des Mk nach der Lektüre des mt Erscheinungsberichtes in der Tat höchst abrupt. Zwar wissen die Leser aus Mt 28 von der Erscheinung Jesu vor den Jüngern. Aber genau deswegen fällt das Fehlen einer Entsprechung bei Mk besonders ins Gewicht - und verstärkt die Wirkung der Erscheinungsankündigungen (Mk 14,28; 16,7) als Appelle an den Leser. Wie wirkungsvoll die Anordnung mit der Abfolge Mt --> Mk ist, könnte die Gegenprobe deutlich machen: die Auswirkung der Rezeptionssignale bei der Annahme einer Abfolge Mk --> Mt würde zeigen, dass die literarische Wirkung vor allem des Mk sehr deutlich leiden würde. Ein letzter Hinweis bezieht sich auf den Ausgleich von Unterschieden zwischen den Evangelien im Rahmen der Kanonischen Ausgabe. Denn auch wenn die kanonische Lektürefolge von Mt und Mk den jeweiligen literarischen Konzepten entspricht, so springen doch die inhaltlichen Unterschiede stärker ins Auge als die Gemeinsamkeiten. Die Frage, wieso es nur einen Jesus, aber vier unterschiedliche Berichte über ihn im NT gibt, wirft solange keine Fragen auf, als diese Berichte jeweils für sich als autarke Texte gelesen werden. Aber wenn die Evangelien Teile eines Gesamttextes sind, entsteht ein Problem, auf das die kanonische Redaktion mit dem Versuch reagiert hat, die Lektüre in eine bestimmte Richtung zu steuern. Besonders deutlich sind diese Signale im Lukasprolog (Lk 1,1-4) und im Johannesepilog (Joh 21,24f.). Wiederum gilt, dass diese Signale ihre Wirkung für die kanonische Lektüre auch dann entfalten, wenn sie nicht beabsichtigt waren, sondern nur ein zufälliges Sinnpotential eröffnen. In diesem Fall aber lässt sich die Nähe dieser beiden so entfernten Texte und ihre wechselseitige Beziehung auch literarhistorisch auf der Ebene der Kanonischen Redaktion wahrscheinlich machen; den entsprechenden Nachweis, dass Lk 1 (und 24) späte redaktionelle Texte sind, habe ich an anderer Stelle geführt und dort auch die Beziehung zwischen Lk 1 und Joh 21 erläutert. 23 Daher genügen hier nur Andeutungen. Kein anderer Text im NT macht die einzelnen Elemente, die den impliziten Lesevorgang konstituieren, in höherem Maß explizit als der Lukas- Begleiter Jesu, der fast ganz von Beginn an - nach der Berufung der beiden Brüderpaare (4,18ff.) ist Matthäus der fünfte namentlich Genannte - bei ihm war, als Gewährsmann die Richtigkeit dessen garantiert, was ich euch geboten habe (28,20). Das editorische Konzept der Kanonischen Ausgabe macht den impliziten Autor »Matthäus« explizit und zeigt ihn als einen der »primären« Jesusjünger, die am Ende im Missionsauftrag in ein Verhältnis zu den impliziten Lesern gesetzt werden. Im Unterschied zu »Matthäus« ist »Markus« kein Jünger Jesu und kommt auch im Text nicht selbst vor. Die Leser der Kanonischen Ausgabe können allerdings über ihn eine ganze Menge erfahren, wenn sie das ganze NT als einen kohärenten Text lesen, und ihn als Apostelschüler identifizieren, der sowohl mit Petrus als auch mit Paulus in Verbindung steht. 22 Die Distanz, die die Herausgeber auf diese Weise zwischen den Apostelschüler »Markus« als fingierten Autor und Jesus bringen, passt wiederum zum literarischen Konzept des Mk: Denn wie glaubwürdig - und: wie wirkungsvoll - hätte einer der erzählten Jünger Jesu (also etwa Petrus, Jakobus oder Johannes) als impliziter Autor des Mk das Nicht-Verstehen der Jünger formulieren können, ohne jeglichen Anspruch des Textes vollständig zu desavouieren? Mit der Zuweisung an den Apostelschüler Markus behalten die Unverständnistexte ihre Funktion für die implizite Lesestrategie, zugleich aber wird für die Leser deutlich, dass der »Verfasser« beste Verbindungen zu den ältesten und wichtigsten Aposteln besaß. Ein weiteres Element der Lesersteuerung der Kanonischen Ausgabe liegt in der Reihenfolge, in der sie die einzelnen Schriften anführt: Die Evangeliensammlung beginnt immer mit Mt, gefolgt von Mk. Dieses Element, das bei der Auslegung so gut wie nie gewürdigt wird, gibt den Lesern der gesamten Ausgabe wesentliche Verstehenshilfen, für die ich nur zwei Beispiele nenne. Das erste ist die Bändigung der mk Unverständnistexte und ihrer anarchischen Implikation: Bevor der Leser hier seine Fähigkeiten bei der Sinnkonstitution ausprobiert und in der Entschlüsselung des Metaphernspiels seine eigene Rolle entdeckt, ist er - vorausgesetzt, er hat das Buch von Anfang an gelesen - durch die Schule des Mt gegangen und hat dort in genau zugewiesener Hörerrolle gelernt, was Jesus »wirklich« gesagt hat: Die eng re- ZNT 21 (11. Jg. 2008) 35 Matthias Klinghardt Erlesenes Verstehen 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 35 tionsästhetisch verstehbaren Platz als Teile eines übergreifenden redaktionellen Konzeptes finden. Die ästhetischen Signale der Kanonischen Ausgabe intendieren eine komplementierende Lektüre, in der nicht nur die inhaltlichen Differenzen zwischen den einzelnen Evangelien aufgehoben sind, sondern auch die verschiedenen literarischen Konzepte als notwendige und sich ergänzende Leseweisen verstehbar werden. Wer die Evangelien auf diese Weise liest, wird nicht nur die unterschiedlichen Darstellungen Jesu kennen lernen und diverse Informationen über ihn aufnehmen und verarbeiten, er muss die Evangelien auch zueinander in Beziehung setzen und sich selbst in unterschiedlichen Leser-Rollen positionieren. Am Ende haben die Leserinnen und Leser im Verlauf ihrer Evangelienlektüre ganz neue Lese-Fähigkeiten erworben und stellen fest: Lesen - auch der Evangelien - bildet. l Anmerkungen 1 Zu den grundlegenden literaturwissenschaftlichen Arbeiten gehören S. Chatman, Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film, Ithaca (NY) 2 1980; G. Genette, Narrative Discourse Revisited, Ithaca (NY) 1988; W. Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung (UTB 636), München 3 1990; F. Kermode, Poetry, Narrative, History, Oxford 1990. Charakteristisch für die exegetische Rezeption in den Evangelien sind etwa: M.A. Powell, What Is Narrative Criticism? , Minneapolis 1990 (mit der älteren Lit. zum Narrative Criticism); R. Helms, Gospel Fictions, New York 1988; W.H. Kelber, Mark’s Story of Jesus, Philadelphia 5 1987; D. Rhoads / J. Dewey / D. Michie, Mark As Story. An Introduction to the Narrative of a Gospel, Minneapolis 2 1999; F. Kermode, The Genesis of Secrecy. On the Interpretation of Narrative, Cambridge (MA) / London 1979; J.D. Kingsbury, Conflict in Luke, Minneapolis 1991 E.S. Malbon, Narrative Space and Mythic Meaning in Mark, San Francisco u.a. 1986; Ch.H. Talbert, Reading Luke. A Literary and Theological Commentary, New York 1982. 3 Zum Redestoff bei MT gegenüber MK und Lk vgl. E.M. Boring (The Paucity of Sayings in Mark: A Hypothesis, SBL Seminar Papers 1977, Chico [Ca] 1977, 371-377: 377). 5 Vgl. dazu die Debatte zwischen H. Frankemölle (Die Sendung der Jünger »zu allen Völkern« [Mt 28,19]) und F. Wilk (Eingliederung von »Heiden« in die Gemeinschaft der Kinder Abrahams) in ZNT 15 (2005), 45-59. 6 Ausweislich dieser Differenzierung ist auch eindeutig, dass die Sendung zu Israel für Mt eine abgeschlossene Phase der Vergangenheit darstellt; vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26-28), EKK I/ 4, Neukirchen-Vluyn u.a. 2002, 451 zu 28,19. 7 U. Luz, Die Jesusgeschichte des Matthäus, Neukirprolog: Der implizite Autor, der als Apostelschüler »Lukas« fingiert wird und sich über das Querverweissystem der Kanonischen Ausgabe auch genau identifizieren lässt, spricht den impliziten Leser direkt mit dem sprechenden Namen Theophilos (»Gottesfreund«) an. 24 Der Prolog formuliert als Ziel der impliziten Kommunikation die Erkenntnis der Zuverlässigkeit des Wortes, in dem du unterrichtet wurdest (1,4), und untermauert seinen Geltungsanspruch durch die Versicherung, allem von Anfang an sorgfältig nachgegangen zu sein und es in der richtigen Reihenfolge aufgeschrieben zu haben (1,3). Der Grund für diesen markanten und die Zustimmung der Leser erheischenden Anspruch wird im allerersten Satz genannt, der die Existenz anderer Evangelienschriften - die dann wohl die Zweifel an der Zuverlässigkeit der eigenen Tradition geweckt haben - voraussetzt. Lk will als Text gegen diese »anderen Versuche«, hinter denen mit hoher Wahrscheinlichkeit das markionitische Evangelium steckt, verstanden werden und erklärt, dass es dazu eben eines weiteren, jetzt aber zuverlässigen Textes bedarf: Er begründet auf diese Weise die Vielfalt der kanonischen Evangeliensammlung. Der Johannesepilog dagegen begrenzt diese Vielfalt: Dass die ganze Welt die Bücher nicht fassen könnte, die man noch über Jesus schreiben müsste (21,25), bedeutet im Rahmen der Kanonischen Ausgabe: Vier sind aber wirklich genug! Diese Bemerkung erkennt daher einerseits die Vierfalt der kanonischen Evangelienüberlieferung an, schließt sie aber zugleich auch ab und reklamiert auf diese Weise, dass jetzt alles Entscheidende über Jesus selbst dann gesagt ist, wenn man noch endlos weiter schreiben könnte. So erklären diese beiden aufeinander bezogenen Texte, dass es zwar mehrere Evangelien in der Kanonischen Ausgabe gibt und geben muss, dass aber ihre Anzahl nicht beliebig, sondern abgeschlossen ist. Da beide Texte von einem Apostel und einem Apostelschüler stammen, bilden sie eine passende Ergänzung zu Mt und Mk. Die Kanonische Ausgabe hat also durch die typischen Zugaben zu den Texten (Titel mit Autorenangabe; Anordnung) sowie durch redaktionelle Bemerkungen innerhalb der einzelnen Texte (z.B. Lk 1; Joh 21) einen Referenzrahmen geschaffen, in dem die einzelnen Texte - in diesem Fall: die vier Evangelien - ihren sinnvollen, rezep- 36 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 36 mal mehr eine Andeutung durch Erklärung beseitigt; in diesem Fall wird die Ironie überspielt, dass gerade die auf Reinheit dringenden Pharisäer eine »verunreinigende« Lehre vertreten. 16 Mk 8,27; 9,33f; 10,17.32f.46.52. Zur Bedeutung des »Wegs« in 8,27-10,52 für die topographische Gliederung des Mk vgl. B.M.F. van Iersel, Locality, Structure, and Meaning in Mark, LingBibl 53 (1983), 45-54. 17 Außer Brot / die Brote gehören dazu etwa: essen; sättigen; Brocken; Speise; Sauerteig; Fische. 18 Vgl. W. Iser, Akt des Lesens, 53. 19 Zum diesem Verständnis von eis ten Galilaian vgl. B.M.F. van Iersel, Mark. A Reader-Response Commentary (JSNT.S 164), Sheffield 1998, z.St. 20 Der Terminus »Kanonische Ausgabe« verweist darauf, dass das NT in der heute bekannten Form in der Mitte des 2. Jh. von einem Herausgeber(kreis) ediert wurde, also ein redaktionelles Konzept besitzt. Vgl. dazu D. Trobisch, Die Endredaktion des Neuen Testaments (NTOA 31), Freiburg / Göttingen 1996; M. Klinghardt, Die Veröffentlichung der christlichen Bibel und der Kanon, ZNT 12 (2003), 52-57. 21 Das Phänomen wird an dem programmatischen Titel des für die historische Kritik grundlegenden Werkes von J.S. Semler deutlich: In seiner »Abhandlung von freier Untersuchung des Canon« (Halle 1771) besteht die »Freiheit« der Untersuchung darin, dass Semler die einzelnen Schriften aus der Verklammerung des kanonischen Konzepts herauslöste und historisch als autarke Einzeltexte verstand. Dass der redaktionelle Rahmen des Kanons nicht nur eine theologische Qualität darstellt (die für Semler und seine Zeitgenossen die historisch-individuelle Würdigung der einzelnen Schriften verhindert hat), sondern selbst einen eigenen, historischen Ort besitzt, ist darüber bis in die Gegenwart in Vergessenheit geraten. 22 Vgl. die kurze Zusammenfassung bei Klinghardt, Veröffentlichung, 60f. Wichtige Informationen über »Markus« gibt die Kanonische Ausgabe in Apg 12,12.25; 15,37ff.; Phlm 24; Kol 4,10; 2Tim 4,11; 1Petr 5,13. 23 M. Klinghardt, Markion vs. Lukas: Plädoyer für die Wiederaufnahme eines alten Falles, NTS 52 (2006), 484-513: 496-512; ders., »Gesetz« bei Markion und Lukas, in: D. Sänger / M. Konradt (Hgg.), Das Gesetz im frühen Judentum und im Neuen Testament. FS Chr. Burchard (NTOA 57), Göttingen / Fribourg 2006, 99- 128. 24 Die generalisierende, auf die impliziten Leser zielende Funktion von »Theophilos« ist schon früh erkannt worden, vgl. etwa Origenes, Hom. in Luc. 1,6 [FC 4/ 1, 69]: »Vielleicht meint jemand von euch, Lukas habe sein Evangelium für einen bestimmten Theophilus (Freund Gottes) geschrieben. Ihr alle jedoch, die ihr uns reden hört, seid ›Freunde Gottes‹, wenn ihr so seid, dass ihr von Gott geliebt werdet.« Ähnlich Ambrosius, Expos. Ev. Luc. 1,11 (CSEL 32, 4,18). chen-Vluyn 1993, 75ff., spricht deshalb von einer »inklusiven Geschichte«. 8 Eine derart lange (drei Kapitel! ), ununterbrochene Rede ist für dramatische Erzählformen ein non liquet. Eine Untersuchung der dramatischen Repräsentation der Bergpredigt im modernen Film hat ergeben, dass neben der Kürzung die Unterbrechung der Rede durch Handlungssequenzen das häufigste und wirksamste Mittel für eine dramatische Wiedergabe darstellt, vgl. M. Goodacre, The Synoptic Jesus and the Celluloid Christ: Solving the Synoptic Problem Through Film, JSNT 80 (2000), 31-44. 9 Neben den Reflexionszitaten gehören zu diesen Vereindeutigungen z.B. Mt 16,12 (Erklärung, dass mit dem Sauerteig der Pharisäer ihre Lehre gemeint sei); 17,13 (Erklärung, dass Eliah in Johannes dem Täufer gekommen sei); 22,46 (erklärender Abschluss der Davids-Sohn-Frage) oder die Beseitigung von Unbestimmtheiten in Mk, z.B. die Ersetzung von Mk 6,52 durch das Bekenntnis Mt 14,33; Umstellung von Mt 13,12 (par. Mk 4,25) zwischen 13,11.13 (par. Mk 4,11a.b) u.a.m. Zur hermeneutischen Bedeutung, die das ästhetische Vergnügen der Entdeckung bei der Lektüre besitzt, vgl. W. Iser, Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett (UTB 163), München 3 1994, 9. 10 Vgl. C. Breytenbach, Das Markusevangelium als episodische Erzählung. Mit Überlegungen zum »Aufbau« des zweiten Evangeliums, in: F. Hahn (Hg.), Der Erzähler des Evangeliums (SBS 118 / 119), Stuttgart 1985, 139-169. 11 M. Klinghardt, Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, BThZ 19 (2002), 183-202. 12 Am 8,1ff.; Jer 15,16; Jes 55,1ff.; Spr 9,2ff. (LXX); Sir 15,3; 24,21; Philo, LegAll II 86; III 175; Sacr 86; Joh 6; Did 10,2 u.v.ö. Vgl. P. Borgen, Bread from Heaven. An Exegetical Study of the Concept of Manna in the Gospel of John and the Writings of Philo, Leiden 2 1981, 99-146; M. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft (TANZ 13), Tübingen / Basel 1996, 433- 441. 13 Das Stichwort »Überlieferung« (paradosis / paradidomi) kommt gleich vier Mal vor: 7,5.8f.13. 14 Mit Blick auf die Bedeutung, die das Hören im Kontext des Verstehens in diesem Zusammenhang hat, habe ich erhebliche Zweifel, ob der »Weckruf« 7,16, der in einigen Textzeugen fehlt, tatsächlich eine sekundäre Eintragung ist: das Hören auf Jesus spielt hier wie in 4,9 in der Tat eine zentrale Rolle! 15 »Ansteckung« durch Sauerteig ist eine geläufige Metapher (vgl. Mt 13,33; Lk 13,21; 1Kor 5,6-8; Gal 5,9). Zum Aspekt der Verunreinigung durch Sauerteig vgl. Ex 12,15; 13,3-7; Lev 2,11; Dtn 16,3f. Dass der Sauerteig (zyme) mit dem daraus gebackenen Brot identisch ist und auf die Lehre (didache) der Pharisäer verweist, hat Mt durchaus richtig verstanden (16,11f) - und ein- ZNT 21 (11. Jg. 2008) 37 Matthias Klinghardt Erlesenes Verstehen 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 37