eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 11/21

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2008
1121 Dronsch Strecker Vogel

Antike Bildungssysteme im Verhältnis zum frühen Christentum

2008
Tor Vegge
Tor Vegge Antike Bildungssysteme im Verhältnis zum frühen Christentum Zum Thema verbunden: erstens als Vermittlung der etablierten Werte einer Gesellschaft. Eltern hatten den Wunsch, dass ihre Kinder die von der Gesellschaft durch Wissensentwicklung und Erfahrung etablierten Werte lernen sollten, und Lehrer konnten den Wunsch haben, gute Bürger auszubilden, was Vertrautheit mit den etablierten Werten der Gesellschaft voraussetzte. Zweitens unterrichteten die Lehrer, was sie selbst gelernt hatten und in der Weise, wie sie selbst unterrichtet worden waren. Damit etablierte sich eine Kontinuität in Schule und Ausbildung in den von der griechischen und später griechisch-römischen Kultur beeinflussten Bereichen. Lehrpläne und Didaktik konnten dadurch ziemlich ähnlich in den unterschiedlichen Stadtstaaten sein. Das System der hellenistischen Ausbildung muss darum in ihrem Curriculum gesucht werden, in den Bildungsinhalten und der Progression des Lernens. Das System konkretisierte (und personifizierte) sich in Lehrern und Schülern / Studenten und in Lernstoff und Unterricht. Im griechischen Sprachraum existierte das Ideal, dass alle Kinder eine Ausbildung erhalten sollten, jedoch war man weit von einer Verwirklichung dieses Ideals entfernt. William V. Harris hat die Verbreitung der Lese- und Schreibfähigkeit in der Antike untersucht, die in engem Zusammenhang mit der Ausbreitung von Schulen steht. Lese- und Schreibfähigkeit kann als diejenige Fertigkeit definiert werden, die einen in den Stand setzt, einen einfachen Text über das tägliche Leben mit Verständnis zu lesen und zu schreiben. Die Elementarausbildung fand, laut Harris, zu hellenistischer Zeit in den griechischen Städten eine wachsende Verbreitung. Im Großen und Ganzen dürfte allerdings zu hellenistischer Zeit kaum mehr als 10% der Gesamtbevölkerung über eine Lese- und Schreibfähigkeit verfügt haben. 2 Dieser Prozentsatz rekrutierte sich überwiegend aus der Elite - aber nicht aus- Das frühe Christentum entstand in der Zeit der Hellenisierung, in der griechisch-hellenistische Bildungselemente dominierend waren. Die literarischen Texte der Christen legen es deshalb nahe, die Beziehungen zu antiken Bildungssystemen zu untersuchen. Bildungssysteme Deshalb ist mit einer Übersicht über antike Bildungssysteme, wie sie sich in einer hellenistischen Polis materialisiert haben können, zu beginnen. 1 In einer hellenistischen Polis gab es Eltern, die Ausbildung für ihre Kinder gesucht haben, Hausväter, die für ihre Sklaven Ausbildung suchten -, häufig wohl eine spezialisierte Berufsausbildung -, es gab Männer und auch einige Frauen, die eine Schule hinsichtlich ihrer eigenen Bildung besuchen wollten. Ferner gab es Lehrer, die auf unterschiedlichen Niveaus Ausbildung gegeben sowie Rhetoren und Philosophen, die Bildung im Rahmen ihrer Schulen angeboten haben. Allerdings stellen diese Bildungseinrichtungen keine Parallelen zu unserem öffentlichen Schulwesen dar. Der durchschnittliche Polisbürger fand in seiner Umgebung keineswegs so etwas wie ein institutionalisiertes Schulsystem vor, wo er eine Ausbildung mit einem gesellschaftlich normativen Inhalt erhalten konnte. Bildung und Schulung erforderten persönliche Initiative und Planung und mussten auf allen Stufen eigenfinanziert werden. Wenn hier im Folgenden von Bildungssystemen geredet werden wird, so sind diese nicht mit unseren europäischen Bildungssystemen auf der Grundlage einer staatlichen öffentlichen Schulpolitik zu verwechseln. Trotzdem kann von einer allgemeinen Systematik im Sinne einer Institutionalisierung von Bildung geredet werden. Schule und Ausbildung sind mit einem gewissen Grad von Traditionalität ZNT 21 (11. Jg. 2008) 17 »Im Großen und Ganzen dürfte allerdings zu hellenistischer Zeit kaum mehr als 10% der Gesamtbevölkerung über eine Lese- und Schreibfähigkeit verfügt haben.« 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 17 der durchschnittliche Schüler sich mit den literarischen Werken nicht in ihrer Ganzheit vertraut machte. Es wurden zunächst einige Ausschnitte - bisweilen sehr kurze Ausschnitte - gelesen. In der Schule wurden die Texte laut gelesen, rezitiert und vermutlich zumeist auch auswendig gelernt. Schon das Lesen eines Textes hat also Vorbereitung beansprucht; eine ausdrucksvolle Deklamation konnte deshalb erst nach eingehender Vorbereitung gelingen (Quintilian, institutio oratoria I.8). Die Ausbildung zum guten Lesen hat bis zu zwei Jahre schulischer Übung erfordert. 8 Auf die Exegese wurde aber noch mehr Zeit verwandt. In den klassischen Texten haben die Schüler unbekannte, archaische und poetische Wörter vorgefunden, die einer Erklärung bedurften. Der Lehrer erklärte die Wörter und die Tropen. Danach folgte historikon, die Erklärung des Inhalts (Quintilian, inst. I.8.13-21). Der Lehrer gab eine Auslegung, die dem Schüler Wissen über Personen, Orte und Ereignisse vermitteln sollte. Dabei wurde dem Mythologischen größeres Interesse entgegengebracht als dem, was wir als Historisches betrachten. Die Zerlegung des Textes wurde durch die krisis, Beurteilung, gekrönt, wobei das Anliegen in erster Linie ein moralisches war: Literatur galt als Fundgrube heroischer Beispiele menschlicher Perfektion. Hellenistische Lehrer haben versucht, aus den Klassikern, besonders aus Homer, einen moralischen Kodex herzuleiten. Diese Art der Interpretation haben die stoischen Lehrer am weitesten entwickelt. Für sie war Homer der weiseste aller Poeten. In den Mythen verbirgt sich ein System von Doktrinen, das sich in einer allegorischen Lesart freilegen lässt. Nach dieser Lesart ist Odysseus der kluge Mann, der den Sirenen entkommt, und uns damit lehrt, physischen und psychischen Versuchungen zu entfliehen. 9 Die Progymnasmata 10 Die weitere Einübung von literarischer Textkompetenz geschah durch die Progymnasmata, die schulischen Übungen der Textgestaltung. Wenn auch einige Grammatiklehrer einige Progymnasmata in ihren einfachen Formen lehrten, so ist dies der klassiche Bereich des Rhetoriklehrers. Der Arbeit mit den Progymnasmata liegt schlicht die Überzeugung zugrunde, dass sie inschließlich. Auch Handwerker sowie Sklaven waren schreibkundig. Die selbstständige und freie Beherrschung literarischer Sprache war allerdings einem weit kleineren Teil der Bevölkerung vorbehalten. Hier soll zunächst die literarische Bildung besprochen werden: Grammatik, Rhetorik und Philosophie. Auch wenn andere Fächer wie Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik Bedeutung hatten, lag wohl das Hauptgewicht sowohl bei den Griechen als auch bei den Römern auf der literarischen Bildung. 3 Die Gymnastik hatte ihren Ort in den Gymnasien. Die ersten Stufen literarischer Bildung Es war die Aufgabe des Grammatistes (gr. grammatistes), den Kindern die Buchstaben des Alphabets und das elementare Lesen und Schreiben beizubringen. Nach den Buchstaben wurden Silben gelernt und dann Wörter. Teilweise begann man aber auch sehr früh mit Wörtern zu üben, die schwer verständlich und schwierig auszusprechen waren. Denn es wurde gemäß dem Motto gelernt: Wenn man das Schwierige meistern kann, würde das Übrige von selbst folgen. 4 Im Elementarunterricht wurde nur das elementare Lesen und Schreiben gelernt. In der Schule bei dem grammatikos wurden dann Texte gelesen und erklärt, und es wurden einfache Texte selbst geschrieben. 5 Den Hauptteil des Unterrichtsstoffes bildeten die klassischen Autoren Homer, Euripides und Menander. 6 Die Textarbeit inkludierte Lesen, Exegese und Beurteilung (gr. anagnosis, exegesis, krisis). Das Lesen der Texte hat erhebliche Anforderungen an die Schüler gestellt, 7 da die Texte fortlaufend und ohne Interpunktion geschrieben waren. Beim Lesen mussten Fragevon Aussagesätzen durch Intonation unterschieden werden und die poetischen Texte mussten in Verszeilen unterteilt und nach metrischen Gesetzen skandiert werden. Hinzu kam, dass die Aussprache sich seit der klassischen Zeit geändert hatte und viele grammatische Formen in der täglichen Sprache unbekannt geworden waren. Es scheinen immer wieder die gleichen Textabschnitte benutzt worden zu sein, doch die Variation in der Auswahl ist mit der Progression des literarischen Studiums immer größer geworden. Ferner kann man davon ausgehen, dass 18 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 18 Tor Vegge Dr. Tor Vegge, Jahrgang 1956, studierte Theologie in Oslo, arbeitete als Pfarrer 1986-1990, Promotion an der Universität Oslo in 2004, unterrichtet seit 1990 an der Universität Agder. Forschungsschwerpunkte: Schule und Bildung im Hellenismus, Paulus und frühes Christentum. Theons kann vermutet werden, dass die folgenden Progymnasmata in mehreren Schulen des ersten nachchristlichen Jahrhunderts im Gebrauch waren: Chrie, Gnome (sententia), Fabel (mythos), Erzählung (diegesis), Topos, Beschreibung (ekphrasis), Prosopopoiie, Lob und Tadel (enkomion und psogos), Vergleich (synkrisis), Thesis und Nomos. 12 Das Wort Chreia bezeichnete allgemein einen kurzen Text. Hier zwei Beispiele von Diogenes: »Auf die Frage, was das Schönste für die Menschen sei, antwortete er, ›Die Freiheit des Wortes! ‹ Als er eine Schule betrat (eis didaskalou) und viele Musenstandbilder, aber wenig Schüler sah, meinte er: ›Mit den Göttinnen, mein lieber Lehrer (didaskale), hast du viele Schüler.‹« (Diog. Laert. VI.69) Solche Chrien fanden vielfältige Anwendung, etwa in Unterhaltung und in philosophischem Unterricht; ebenso konnten Chrien in Reden als Beweis eingefügt sein. In der Schulübung desselben Namens wurden diese kurzen Texte nach bestimmten Regeln erweitert und bearbeitet. Die typische Disposition einer solchen Bearbeitung beinhaltete: 1) Rezitation, 2) Flexion (in Numerus und Kasus), 3) Kommentar (in Bezug auf Wahrheit, Wohlgestalt und Nutzen der Chrie), 4) Erweiterung (bei der die Person weiter beschrieben und die Aussage weiter gefasst wiedergegeben wird) und Kompression (in der eine erweiterte Chrie auf die ursprüngliche kurze Form zurückgestutzt wurde), 5) Widerlegung und Bestätigung. Ähnliches galt für die weiteren Übungen Gnome und Fabel. Gnome bezeichnete allgemein eine Sentenz oder einen Sinnspruch und Fabel einen Text wie die bekannten Fabeln des Äsop. In den Schulübungen wurden die Bearbeitungsschritte einer Chrie auch hier benutzt. Durch diese Progymnasmata übte man Textkompetenz: Grammatik, Textgliederung, die Ausarbeitung von Argumenten, die Schilderung von Menschen und Situationen und man wurde mit dem philosophischen Inhalt des kurzen Textes vertraut. Die Übung Erzählung scheint mehr auf bestimmte Teiltexte von Reden oder Schriften zugeschnitten. Die Erzählung sollte geschichtliche Ereignisse so wahrheitsgetreu wie möglich - laut Quintilian jedoch nicht zu trocken und nüchtern - nerhalb eines Ausbildungsverlaufes die unentbehrlichen, vorbereitenden Übungen für die spätere Ausarbeitung von längeren Texten wie Reden und Briefe bilden. Durch die Progymnasmata wurden Fähigkeiten in dispositio (Stoffgliederung), inventio (Stoffauffindung) und elocutio (Stilisierung) geübt. Diese Übungen waren stark von Wiederholung und Imitation geprägt, während Originalität und persönlicher Stil zurückzustehen hatten. Durch eine minutiöse und handwerkliche Einübung der Formen sollte die Grundlage für Freiheit und Kreativität bei der späteren Ausarbeitung von Texten des ausgebildeten Redners oder Schriftstellers geschaffen werden, 11 wofür eben die Progymnasmata das aus der griechischen Tradition stammende Gerüst für die Textproduzenten der Antike bildete. Die älteste uns zugängliche Beschreibung der Progymnasmata findet sich in der im 1. Jh. n.Chr. in Rom geschriebenen Institutio oratoria des Quintilian, wo Quintilian als Redelehrer arbeitete. Aus etwa derselben Zeit stammt vermutlich das Progymnasmata-Lehrbuch des Theon aus Alexandrien. Ein ähnliches Handbuch wurde von Hermogenes von Tarsos im 2. Jh. n.Chr. verfasst. Bezeichnet wurden die Übungen als Gymnasmata oder als Progymnasmata. Aus den Darstellungen Quintilians und ZNT 21 (11. Jg. 2008) 19 Tor Vegge Antike Bildungssysteme im Verhältnis zum frühen Christentum 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 19 Dinge verglichen. »Es sind Personen wie Ajas und Odysseus, Abstrakta wie Weisheit und Mut« (Theon, Prog. 112). Die Leitfrage solcher Texte ist, welche der vergleichbaren Qualitäten und Tugenden die vorzuziehenden seien. Thesis gehörte zu den eher avancierten Übungen. In Thesen wurden ethische Dilemmas und ideologische Streitfragen in einer allgemeinen Form erörtert. Als Beispiele nennt Theon: »ob man heiraten sollte«, »ob man Kinder zeugen sollte«, »ob es Götter gibt« (Prog. 120). Der Schüler / Student lernte eine Reihe von Argumentationstypen (Topoi), die angewandt werden konnten, z.B. dass die vorgezogene Alternative möglich ist, der Physis und dem allen Menschen gemeinsamen Ethos und den gemeinsamen Gesetzen entspricht, dass es sich ziemt, dass es gerecht, heilig, notwendig, allgemein anerkannt und vorteilhaft ist (Theon, Prog. 121f.). Hinsichtlich der rhetorischen Gattungen hat das Progymnasma »Thesis« die größte Relevanz für die deliberative Form. Literarische Vorbilder für Thesen lassen sich laut Theon bei Aristoteles und Theophrast finden (Prog. 69). Damit markiert er auch die philosophische Ausrichtung der Thesis. In Hermogenes’ Progymnasmata werden politische und nicht-politische Thesen unterschieden. Nicht-politische Thesen sind solche, die eine spezialisierte Kenntnis enthalten, »z. B. ob der Himmel kugelförmig ist, ob es mehrere Welten gibt, ob die Sonne Feuer ist. Solche Fragen sind für Philosophen bestimmt, während Rhetoren sich in den anderen üben sollten« (Hermog., Progymnasmata 11). Eine politische Thesis wird auch »praktisch« genannt, die nicht-politische »theoretisch«. Die praktischen Theseis zielen - nach Hermogenes - auf Handlung, die theoretischen auf Erkenntnis (Hermog., Prog. 11). Die Thesis als literarische Gattung mag darum eher in den Philosophenschulen als in den Rhetorenschulen gepflegt worden sein. Die Übung Nomos übte Sprachkomptenz in Bezug auf zwei verschiedene Situationen: zum einen auf Einführung und Verabschiedung der Gesetze, zum anderen auf bereits vorliegende Gesetze. Im letzteren Fall ging es um die Interpretation der Gesetze. In der letzten Phase der literarischen Ausbildung wurden vollständige Reden zum Übungszweck geschrieben und vorgetragen. wiedergeben (Quintilian, inst. II.4.2-3). Erzählungen konnten in allen drei rhetorischen Gattungen eingesetzt werden, unentbehrlich jedoch war die narratio in einer iudizialen Rede. Als Grundlage der Übung Topos können wir uns eine Reihe von Handlungen vorstellen, ja im Prinzip die Reihe all jener Handlungen, die sich in gut vs. böse unterteilen lassen. In dem Progymnasma »Topos« wurde die Zusammenstellung einer Argumentationsreihe geübt, die begründen sollte, warum eine Handlung gut oder böse ist. Durch Ekphrasis (Beschreibung), in der eine Person, eine Handlung oder ein Ort lebhaft beschrieben werden sollte, wurde wohl besonders Stilisierung (elocutio) geübt. In der Prosopopoiie übte man die Fähigkeit einen Text so zu gestalten, wie der Text von einer anderen Person in einer bestimmten Situation geformt werden sein konnte. Die Prosopopoiie erforderte eine schauspielerische Einfühlung in den Charakter einer anderen Person, um so eine diesen Charakter ausdrückende Rede in Bezug auf einen besonderen Sachverhalt ausformen zu können. Diese Übung stellte die Kommunikationssituation in den Mittelpunkt und verlangte besonders die Einfühlung in den Charakter und die Situation einer anderen Person. Bei Theon gelten Brieftexte als für diese Übung besonders relevante Textformen (Theon, Prog. 115). Zu den einzuübenden Fähigkeiten gehörte dann auch das sich Hineinversetzen in die Stimmungen, Haltungen und Werte der Rezipienten. Obwohl die Anpassung an die Zuhörer in jeder Rede zu beachten ist, wird sie doch in »Beratung« und in »Brief« besonders dringlich. Die Schulübung Enkomion (Lob und Tadel) deckt sich mit der demonstrativen Gattung. Die Form des Enkomions wurde schon mit recht jungen Schülern durchgenommen. Die Bedeutung des Enkomions in der ganzen Ausbildung sollte nicht verkannt werden. Nach Quintilian wurde bei den Aufgaben laudare / Lob und vituperare / Tadel der Geist geübt, die Gesinnung gerüstet und die Sachkenntnis bereichert (Quintilian, inst. II.4.20). Man hat sich in dieser Übung besonders mit den Tugenden und vorbildlichen Eigenschaften eines Menschen beschäftigt. Eben darum hat die Übung nicht nur zur literarischen, sondern auch zur moralischen Bildung der Schüler beigetragen. Durch eine Synkrisis wurden Personen oder 20 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 20 Und »gut« hat hier neben der ästhetischen auch eine ethische Bedeutungskomponente. Quintilian geht auf die ideale (Redner-)Persönlichkeit ein und nennt dabei Kennzeichen wie iustitia, fortitudo, abstinentia, temperantia und pietas (Gerechtigkeit, Tapferkeit, Enthaltsamkeit, Maßhalten [Besonnenheit] und Frömmigkeit) (inst. XII.2.17). An anderer Stelle spricht er vom weisen Menschen (vir sapiens) (inst. I.Pro.18) und vom guten Menschen (vir bonus) (inst. XII.1.3). Quintilians Ideal ist der Mensch, der diese Tugenden »nicht nur als Worte kennt, und sich diese Benennungen nicht nur als Ohrenschmaus zum Gebrauch mit seiner Zunge zu eigen gemacht hat, sondern der die Tugenden selbst in seinen Geist aufgenommen hat und wirklich so fühlt« (inst. XII.2.17). Quintilian hat zweifelsohne seine Studenten dazu angehalten, sich diese Tugenden anzueignen. Und da die gute Beherrschung der Redekunst impliziert, dass der Redner ein guter Mensch sei, sieht Quintilian die Redekunst als Gottesgabe: Durch diese Gabe habe Gott den Menschen von den anderen Lebewesen am deutlichsten unterschieden (inst. II.16.11f.). Die Redegabe sei eine Himmelskraft des Geistes (animus caelestis). Wir haben nichts Besseres von den Göttern erhalten und in keiner Kunst werde sich die Mühe guter Ausübung besser auszahlen, als in der Kunst der Rede (inst. II.16.17f.). Wie schon bei Isokrates wurden bei Cicero und Quintilian die Tugenden ins Zentrum des Interesses gerückt, womit sie sich in Übereinstimmung mit den Philosophen befanden, die sie auf diesem Gebiet durchaus als autoritativ anerkannten. Sie befanden sich jedoch in Opposition zu den Philosophen ihrer eigenen Zeit. Angeprangert wurde vor allem, dass die Philosophen sich vom öffentlichen Leben zurückzogen, dass sie ihren Studenten viel mehr versprachen, als sie halten konnten und dass ihre Diskussionskunst für das menschliche Leben in der Polis völlig ohne Nutzen war. Das Lernen der Tugenden war von öffentlichem Interesse: Es sollte dem Leben in der Polis dienen. Die Redekunst bildete ja die Grundlage der Zivilisation, deren Verkörperung das Nach Theon aus Alexandrien sind die »Gymnasmata« seiner Schule nicht nur für werdende Redner, sondern auch für künftige Dichter oder Geschichtsschreiber unbedingt erforderlich sowie für jene, die sich irgendwie sonst der Schriftstellerei widmen möchten. Denn die Übungen seien als Fundament für jede Form von Text zu betrachten (Theon, Prog. 70). Seine Beispiele und den Stoff seines Unterrichts bezieht er aus zahlreichen Texten der unterschiedlichen literarischen und rhetorischen Gattungen. Durch die Progymnasmata wurden formale Sprachkompentenz wie Textgliederung und Stil erlernt. Weiter forderte die Stoffauffindung (inventio) eine größtmögliche Kenntnis der Literatur und aktueller Wissensbereiche. Eine wirkungsvolle Anwendung in Texten forderte Vertrautheit mit Werten und Tugenden. Diese Momente sind dann zentrale Bestandteile einer literarischen Bildung. Rhetorik und Philosophie Rhetorik wurde nicht zuletzt durch Isokrates (436-338 v.Chr.) die populärste Form der höheren Ausbildung; die gängige Auffassung von Bildung und den Tugenden eines gebildeten Menschen wurde zuerst durch sie bestimmt. Der Rhetorik wurde eine humanisierende Funktion zugemessen. Die Rhetorik sei Kultur schlechthin, sie gewährleiste die Tradierung humaner Werte und scheide den Menschen vom Barbaren. Voraussetzung der Kultur und also des guten Lebens sei die Sprache. Isokrates betont einen Zusammenhang zwischen Rede, Gedanke und Leben, der gerade durch die Redekunst hergestellt und gewährleistet wird und der für ihn eigentliche Bildung ausmacht. Diese Ideale der Bildung wurden von Cicero und Quintilian weitergeführt. Bei Isokrates ergibt sich aus dem engen Zusammenhalt zwischen Gedanken und Leben mit der Beredsamkeit, dass er der Rhetorik die Kraft zuschreibt, sittliche Bildung zu vermitteln. Ähnliches gilt auch bei Cicero (Isokrates, antidosis 256f.; Cicero, de oratore I.31-33). Nach Quintilian muss der Redner zunächst ein guter Mensch sein. Darum sei »die Rhetorik die Wissenschaft, gut zu reden« (inst. II.15.34). ZNT 21 (11. Jg. 2008) 21 Tor Vegge Antike Bildungssysteme im Verhältnis zum frühen Christentum »Und da die gute Beherrschung der Redekunst impliziert, dass der Redner ein guter Mensch sei, sieht Quintilian die Redekunst als Gottesgabe.« 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 21 Besonders unter Philosophen wurde der Bildungsprozess selbst ergründet. Bildung bestand im Fortschreiten auf einem Bildungsweg, der die Vollkommenheit als Endziel hatte. Der Prozess der Bildung bestand in einem sich vollziehenden psychischen, moralischen und intellektuellen Fortschritt, der »Prokope«. In Bezug auf diesen Fortschritt in der Bildung befanden sich Menschen laut den Philosophen auf unterschiedlichen Niveaus, die auch nach Kriterien beschrieben werden konnten. Wichtiger als eine solche Einstufung erschienen jedoch die Zeichen des Fortschrittes, die der Fortschreitende im eigenen Leben erkennen konnte oder die ihm sein Lehrer nachweisen konnte. Der Vollkommene hat die Furcht vor Göttern und Menschen abgestreift, steht auf festem Grund und hat das nützliche und notwendige Wissen zusammengefasst und Harmonie mit der Natur erlangt (Seneca, benef. VII.1.7). Fortschritt (Prokope) erforderte Konzentration auf das Innere. Der eigene Charakter sollte bearbeitet werden; wodurch Bildung als Übung von Wille und Entschlusskraft sinnfällig wurde. Laut einigen Philosophen führte dieser Fortschritt keineswegs zu einem gesteigerten Beifall der Mitbürger. Nach Epiktet konnte der Fortschreitende damit rechnen, als einfältig oder töricht aufgefasst zu werden (Epiktet, Ench. 13). Der Philosophielehrer konnte seine Schule als Rahmen anbieten, in dem sich Fortschritt und Bildung mit der Zielrichtung auf Vollkommenheit abspielen konnte. Ein weiteres Merkmal der Philosphenschulen war die literarische Arbeit. Nach Michael Erler reicht das Spektrum der antiken philosophischen Literaturformen von Aphorismus und Gnome über Lehrgedicht und philosophische Hymnen bis zum Dialog, zur Symposion- und Memorabilien-Literatur, es umfasst Essay, Diatribe, Protreptik, Paränese und Konsolationsliteratur ebenso wie Lehrbuch, Traktat und Briefliteratur. 13 Stanley K. Stowers hält fest »the letter was one of the most characteristic means of expression for ancient philosophy.« 14 Philosophische Briefe waren öfters für einen größeren Leserkreis gedacht und nicht nur an die direkt Angesprochenen adressiert. Die umfassende Aktivität des Briefegeordnete Zusammenleben in der Gesellschaft war. Der Bildung durch Philosophie kam seit Isokrates eine untergeordnete Rolle zu. Die Philosophenschulen verstanden sich auch mehr oder weniger als Alternative zu der von der Mehrheit gesuchten Bildung und wurden in hellenistischer Zeit auch als alternative Bildungsinstitutionen aufgefasst (Cicero, de orat. I.233). Die berühmten philosophischen Gestalten der Vergangenheit waren weit bekannt und viele hatten vielleicht auch einen Idee von dem, was Sokrates, Platon, Aristoteles, Epikur, Zenon und Diogenes unterrichtet hatten. Persönlich konnte man der Philosophie in den Philosophenschulen der Stadtstaaten begegnen. Diese waren meist nicht große oder pompöse Institutionen. Ein Lehrer und ein paar Schüler machten schon eine Schule aus. Die Schulen konnten verschiedene philosophische Schulrichtungen repräsentieren. In einigen Schulen gab es Bibliotheken, wo philosophische Schriften studiert werden konnten, man konnte den Unterricht eines Philosophen in einer Säulenhalle anhören oder auch sich einer Schule als Schüler anschließen. Nach dem Stoiker Seneca gibt es ohne Kenntnis keine Bildung (epist. 90.46). Die Philosophie ist die Liebe zur Weisheit und das Streben danach. Laut Seneca hatte das Streben nach Weisheit einen göttlichen Anstoß und war von entsprechenden Tugenden begleitet (epist. 89.4-5 und 90.1-3). So führt nach Seneca der Weg zur Weisheit über die philosophische Bildung. Die Kultur der Menschen, also das Zusammenleben in Gesellschaften sowie die Künste und Wissenschaften, sind nach Isokrates und Cicero durch die Sprache hervorgebracht und durch die Kunst der Rede entwickelt und veredelt worden (Isokrates, antidosis 254f.; Cicero, de orat. I.31- 34). In ähnlicher Weise argumentiert Seneca für die Überlegenheit der Philosophie. Diese gehe über die von der Klugheit und Erfindungsgabe der Menschen entdeckten oder gestifteten Künste, Wissenschaften und Handwerke hinaus und bestehe ausschließlich in der Suche nach der Wahrheit göttlicher und menschlicher Dinge (epist. 90). 22 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema »Der Prozess der Bildung bestand in einem sich vollziehenden psychischen, moralischen und intellektuellen Fortschritt, der ›Prokope‹.« 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 22 ner entsprechenden kulturellen Intoleranz gepaart. Richard Klein zeichnet das größere Bild in folgender Weise: »Es ist bekannt, dass man auf christlicher Seite selbst bei zunehmender Gewinnung der höheren Schichten seit Konstantin d. Gr. auf die Entwicklung eines eigenen Schulwesens verzichtete und bis zum Ende des Altertums die eigenen Kinder in die heidnischen Bildungsstätten schickte.« 17 Es mag ferner eine richtige Erkenntnis sein, dass die Christusgläubigen der ersten Generationen sich als bunte, eher identitätslose und in den Augen ihrer Zeitgenossen der kulturell und politisch führenden Schicht als »aufsässige und undisziplinierte Haufen von Christen« und »als barbarische, verkommene und fanatische« 18 Abergläubige dargestellt haben und sich erst allmählich - analog den Philosophenschulen - zu einer anerkannten und moralisch akzeptierten Gemeinschaft entwickelt haben. Die ersten Christen können allerdings nicht ausschließlich lauter verkommene und ungebildete Leute gewesen sein. In diesem barbarischen Haufen entstanden ganz früh bemerkenswerte literarische griechische (also nicht-barbarische) Texte. Von Anfang an gab es Leute, mit der nötigen Fähigkeit und dem entsprechenden Interesse für die Formulierung der kognitiven Dimension des Glaubens und die Vermittlung durch Formen und Gattungen, die in der literarischen Bildung zu Hause waren. Unsere Quellen, die urchristlichen Schriften, repräsentieren einen kleinen Ausschnitt der Christusgläubigen. In den neutestamentlichen Schriften werden die Beziehungen zu antiken Bildungssystemen nicht thematisiert, die Schriften bezeugen aber indirekt solche Beziehungen für ihre Autoren und Leser. Dies ändert sich schon im zweiten Jahrhundert. Justin und Irenäus setzen sich mit griechisch-hellenistischer Religion, Literatur und Philosophie auseinander und Klemens von Alexandrien zeigt eine gediegene Kenntnis der griechisch-hellenistischen Bildung. Die Beziehungen zwischen den Bildungssystemen und dem frühen Christentum liefen zunächst über die einzelnen Personen. Einige wenige brachten eine Bildung mit, als sie sich einer Gruppe von Christusgläubigen anschlossen. Und schreibens der philosophischen Gruppen der Antike habe nach Stowers mit den Schülern des Sokrates angefangen. Davon sind nur die Briefe Platons erhalten. Darauf folgen die Briefe Epikurs, die Briefe der Stoiker, von denen die meisten verloren sind, die fiktiven kynischen Briefe, die Briefe Senecas und aus späterer Zeit die Briefe der Neuplatoniker und jene gebildeter Christen. 15 Gymnasien Zu jeder hellenistischen Polis gehörte ein Gymnasion, das neben Theater und Tempeln eine zentrale Funktion im kulturellen und religiösen Leben der Stadt hatte. Von zahlreichen Inschriften ausgehend kann man den Eindruck gewinnen, dass das Schulwesen auf die Gymnasien konzentriert war. Die Gymnasien sind jedoch in den Inschriften überrepräsentiert, wohl weil sie innerhalb der Poleis öffentliche, d.h. der Gemeinschaft gehörende Institutionen waren. Die Gymnasien spielten eine zentrale Rolle in den Kulten und Festen der Stadtstaaten, 16 und die Festivitäten konnten wohl ohne die Teilnahme der Jugendlichen nicht durchgeführt werden. Die Schulen der Grammatiker, Rhetoren und Philosophen waren meist private Stiftungen mit weit lockereren Bindungen an die Institutionen der Poleis und hatten vermutlich nicht die enge Verbindung zum kultischen Leben der Stadt. In jüdischen Schulen war der Bildungsinhalt durch die jüdische Tradition definiert. Hinsichtlich Didaktik und Lernmethoden gab es viele Ähnlichkeiten mit den griechischen und römischen Schulen. So gesehen gehörten die jüdischen Schulen zu den hellenistischen Ausbildungssystemen. Bildungssysteme und das frühe Christentum Im Laufe der ersten Jahrhunderte wurde das Christentum eine immer stärker werdende kulturelle Kraft. Vom Judentum erbte das Christentum eine gewisse Art von theologischer Intoleranz. Die Wirklichkeit bot keinen Platz für weitere Götter außer dem einen wahren Gott und jeder Ausdruck der Frömmigkeit sollte an diesen Gott gerichtet sein. Diese theologische Intoleranz war bei den meisten Juden und Christen nicht mit ei- ZNT 21 (11. Jg. 2008) 23 Tor Vegge Antike Bildungssysteme im Verhältnis zum frühen Christentum 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 23 traut. Wir kennen ja auch Leute, vielleicht ist Philon der überragendste unter ihnen, die mit jüdischer und griechischer literarischer Bildung gleichermaßen vertraut waren. Einige von diesen waren vermutlich für das erste Entstehen von christlicher Literatur verantwortlich. Sie haben Erzählungen und Chrien von Jesus gesammelt, geordnet und womöglich auch eine literarische Form gegeben oder sie in größere literarische Formen eingearbeitet ähnlich der Formen, in denen sie Chrien von Diogenes und anderen Philosophen vorfanden. Den Gleichnissen Jesu konnten ähnliche literarische Funktionen wie den Fabeln Äsops gegeben werden. Unter diesen literarisch Gebildeten dürften auch die zu finden sein, die die Jesustradition in die heute bekannte literarische Form gebracht haben. Und auch Jesus hat seinen Unterricht in literarisch gebildeter Form vermittelt, dass heißt: er hat literarische Formen benutzt und literarische Tradition bearbeitet. 19 Die späteren Christusgläubigen konnten es sich auch nicht anders vorstellen. Die oben besprochene literarische Bildung ist natürlich auch in Bezug auf die übrige neutestamentliche Literatur von Relevanz. Hier sollen schließlich einige Momente hinsichtlich der Briefe des Paulus kurz genannt werden. Durch Analysen von Form und Inhalt der Texte des Paulus lassen sich die Beziehungen zu antiken Bildungssystemen diskutieren. 20 Seine Briefe zeigen rhetorische Kompetenz in Bezug auf Stil (elocutio), 21 Stoffgliederung (dispositio) 22 und Bearbeitung von Argumenten. 23 Eine durch die Progymnasmata erlernte Sprachkompetenz lässt sich in den Briefen aufzeigen. 24 In 1Kor 7 hat Paulus literarische Verfahren einer Thesis zum Einsatz gebracht. Die behandelte Frage entspricht einer der beliebten Übungsfragen in der Schule: »ob man heiraten sollte« (siehe oben), und in der Argumentation nutzt Paulus Topoi, die durch das Progymnasma Thesis geübt wurden. Dies sei im Folgenden beispielhaft verdeutlicht: Paulus setzt voraus, dass die von ihm empfohlene Alternative, unverheiratet zu leben, möglich ist. Heiraten ziemt sich und ist gerecht, die von Paulus empfohlene Alternative sei jedoch die bessere (1Kor 7,36-38). Unverheiratet zu leben ist heilig (1Kor 7,34) und in der aktuellen Lage notwendig und vorteilhaft (1Kor 7,26.35). Diese Beispiele, die vermehrt werden können, zeigen, dass Paulus mit den für thetische später haben auch einige ihre Kinder in die Schule geschickt. Wir können annehmen, dass sich die soziale Gliederung dieser Gruppen nicht besonders von der übrigen Gesellschaft unterschieden hat, so dass davon auszugehen ist, dass auch nicht mehr als 10% der Christen über eine Lese- und Schreibfähigkeit verfügt haben. Vielleicht waren einige Sklaven literarisch gebildet und einige Christen mögen als Lehrer tätig gewesen sein. Einige, aber vermutlich sehr wenige, haben eine vollständige literarische Bildung durchgemacht und einige hatten sich in einer Philosophenschule aufgehalten. Schon im Sprachunterricht des Grammatikers begegneten den Schülern Abschnitte aus Homer, Euripides und Menander. Durch die Texte und die Auslegungen des Lehrers wurde der Schüler mit der Mythologie bekannt. Den Götterglaube sollte man sich natürlich nicht zu eigen machen und auch nicht die Handlungen der Götter und Gestalten der Mythen als moralisch nachahmenswert ansehen. Mit dieser Haltung waren allerdings die Juden und Christen nicht allein: ähnliche Vorbehalte wurden von Philosophen gemeldet. In Plutarchs De audiendis poetis wird der Unterricht poetischer Texte besprochen. Was den Texten der Poeten entnommen werden sollte, war keineswegs die faktische Nachahmung ihrer oftmals negativ zu beurteilenden Handlungsverläufe, sondern die Kunst, solche Handlungen in Texten nach- und abzubilden. Die Mythologie spielte auch eine Rolle in den Kulten der Stadt. Wie oben angedeutet haben vielleicht die Schulen der Sprachlehrer darin keine große Rolle gespielt und damit dürften auch nicht der Schulbesuch die Kinder und ihre Eltern in dieser Hinsicht vor größere Herausforderungen gestellt haben. Bemerkenswert ist die zentrale Stellung von literarischen Texten in den Gruppen von Christusgläubigen. Darin waren sie wohl am meisten den Synagogen und den Philosophenschulen gleich. Hier erhalten Texte und Bildung eine Bedeutung für die spezifische Gemeinschaft und ihre Identität. Zentral waren die heiligen Schriften der Juden und die neu geschaffenen christlichen Texte. Einige Christusgläubigen brachten eine literarische Bildung mit in die neue Gemeinschaft. Sie waren mit der literarischen Praxis der Synagogen oder auch der griechischen literarischen Bildung ver- 24 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 24 überraschen, dass in den Schriften des Paulus der jüdischen Literatur der Status zukommt, den die klassischen Texte der Antike bei den hellenistischen Autoren innehatten. Mit Blick auf die Schriften des Paulus ist davon auszugehen, dass die jüdische Literatur die griechische als die autoritative literarische Tradition ersetzen konnte. Dieser Gedanke plausibilisiert sich um so mehr, wenn beachtet wird, dass Paulus in seinen Schriften die jüdische literarische Tradition in derselben Weise behandelt, wie zeitgenössische griechische Autoren in ihren Schriften mit der klassischen griechischen Literatur umgehen. 30 Die Untersuchung von den Beziehungen zwischen antiken Bildungssystemen und dem frühen Christentum ist ein lohnendes Unternehmen, wo noch vieles untersucht werden kann. Literarische Texte bekamen sehr früh eine bemerkenswerte Funktion in den Gruppen der Christusgläubigen. Bald dürfte die intensive Verwendung von Literatur den Bedarf an literarischer Bildung die Zuwendung zu hellenistischen Bildungssystemen weiter gefördert haben. l Anmerkungen 1 Ausführliche Darstellungen finden sich u. a. in: H.-I . Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, Freiburg / München 1957; J. Christes / R. Klein / C. Lüth (Hgg.), Handbuch der Erziehung und Bildung in der Antike, Darmstadt 2006; T. Vegge Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus (BZNW 134), Berlin / New York 2006, 3-340. 2 W.V. Harris, Ancient Literacy, Cambridge 1989, 15-17, 137 und 329; T. Morgan, Literate Education in the Hellenistic and Roman Worlds, Cambridge 1998, 72- 73; Christes / Klein / Lüth, Handbuch, 17f. Zu Definitionen von Lese- und Schreibfähigkeit und den mit ihrer Formulierung verbundenen Schwierigkeiten vgl. Harris, Ancient Literacy, 3-8. Die Einschätzung wird auch durch moderne Vorverständnisse erschwert, wenn etwa ein hohes kulturelles Niveau vorbehaltlos mit Schrift (vgl. Harris, Ancient Literacy, 40-41) oder wenn Schrift und Schreibfähigkeit ebenso mit hohem Status verbunden wird. Ferner P.J.J. Botha, Greco-Roman Literacy as Setting for New Testament Writings, Neotestamentica 26 (1992), 195-215: bes. 196-199. 3 Christes / Klein / Lüth, Handbuch, 108. 4 Quintilian, inst. I 1,37; Marrou, Geschichte der Erziehung, 224. Zu den unterschiedlichen elementaren Schreibübungen vgl. besonders T. Morgan, Literate education. Zu Elementarunterricht vgl. ferner A.D. Booth, Elementary and Secondary Education in the Roman Empire, Florilegium 1, 1979, 1-14; R.F. Hock, Paul and Greco-Roman Education, in: J.P. Sampley Argumentationen geläufigen Topoi vertraut war. Das Progymnasma »Thesis« gehörte zu den letzten und komplexesten Übungen der Rhetorikschule und die Thesis fand als literarische Form in der Textproduktion der Philosophenschulen Verwendung. 25 Seine Briefe zeigen ferner Vertrautheit mit philosophisch gebildeter Redeweise wie der Diatribe. 26 In 2Kor 10-13 lassen sich elliptische Stilelemente aufzeigen, die dem verkürzten Stil des philosophischen Unterrichts vergleichbar sind. Dialogische Elemente wie rhetorische Fragen gehören zu den Charakteristika dieses Stils. In 2Kor 10-13 finden sich solche Elemente in 11,7; 11,11; 11,22-23; 11,29; 12,13; 12,15 und 12,17-18. Der Stil kann als elliptisch gelten, wenn die intendierte Meinung nicht Wort für Wort ausgesprochen ist. Der erzielte Effekt ist, dass der Hörer / Leser das Ausgelassene ausfüllen und das Intendierte, aber nicht Gesagte, verstehen soll. Das vollständig ausgeführte logisch aufgebaute Argument des Syllogismus besteht aus Behauptung (Vordersatz / propositio), Prämissen und Konklusion. In Rede und Unterricht konnten Elemente ausgelassen sein, z.B. die Konklusion, und es wurde dem Zuhörer überlassen, das nicht Ausgesagte selbst zu ergänzen. Solche kurzgefassten (elliptischen) Argumente (Enthymeme oder rhetorische Syllogismen genannt) finden sich in 2Kor 10-13 in 10,3-5 (Vordersatz: »Wir kämpfen nicht auf fleischlicher Weise«); 11,13-15 (Vordersatz: »Solche sind falsche Apostel«) und 13,3-4 (Vordersatz: »Christus redet in mir«). 27 Als Quelle solcher Argumentationskunst boten sich philosophenschulenähnliche Kreise an, in denen religiöse und philosophische Themen verhandelt wurden und thematische Beziehungen lassen sich ebenfalls aufzeigen. 28 Zu den beliebtesten literarischen Formen der Philosophenschulen gehörte der Brief und die Form des philosophischen Briefes scheint besonders interessant in Bezug auf die frühchristlichen Briefe. 29 Literarische Bildung bedeutet Vertrautheit mit der literarischen Tradition und bei hellenistischen Autoren zeigte sich ihre Bildung im Zitieren aus und durch Verweise auf klassische Texte. Bei Paulus fällt zwar auf, dass direkte inhaltliche Hinweise auf diese Tradition in seinen Schriften so gut wie nicht vorhanden sind. Aber es kann nicht ZNT 21 (11. Jg. 2008) 25 Tor Vegge Antike Bildungssysteme im Verhältnis zum frühen Christentum 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 25 Quintilian, institutio oratoria. 13 M. Erler, Art. Philosophische Literaturformen, DNP 9, 871-877: 871. 14 S.K. Stowers, Letter Writing in Greco-Roman Antiquity (Library of Early Christianity 5), Philadelphia 1986, 38. 15 Stowers, Letter Writing, 39-40. Vgl. ferner K. Berger, Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, ANRW 2.25/ 2, 1133, Anm. 87. 16 Zu Schule und Kulten vgl. M.P. Nilsson, Die hellenistische Schule, München 1955, 61f. 67-71; I. Hadort, Art. Gymnasion. Das hellenistische Gymnasion, DNP 5, 23-27: 24-25. 17 Christes / Klein / Lüth, Handbuch, 153. 18 R.L. Wilken, Kollegien, Philosophenschulen und Theologie, in: W.A. Meeks (Hg.), Zur Soziologie des Urchristentums, München 1979, 165-193: 167 und 169. 19 T. Vegge, The Literacy of Jesus the Carpenter´s Son. On the literary style in the words of Jesus, Studia Theologica 59 (2005), 19-37. 20 In vielen fachwissenschaftlichen Beiträgen, von denen hier in den Fußnoten nur eine kleine Auswahl berücksichtigt werden kann, sind Beziehungen zwischen Paulus’ Briefen und hellenistischer Bildung aufgezeigt und diskutiert worden. 21 J. Weiß, Beiträge zur Paulinischen Rhetorik, in: C.R. Gregory / A. Harnack u.a. (Hgg.), Theologische Studien, FS Bernhard Weiß, Göttingen 1897, 165-247. 22 H.D. Betz, Galatians (Hermeneia), Philadelphia 1979. 23 D. Hellholm, Enthymemic Argumentation in Paul: The Case of Romans 6, in: T. Engberg-Pedersen (Hg.), Paul in His Hellenistic Context, Minneapolis 1995, 119-179. 24 Siehe Hock, Paul and Greco-Roman Education. 25 Vegge, Schulwesen, 376-406. 26 Siehe S.K. Stowers, The Diatribe and Paul’s letter to the Romans (SBL.DS, Bd. 57), Chico 1981, und die Diskussion in T. Schmeller, Paulus und die »Diatribe«. Eine vergleichende Stilinterpretation. Münster 1987. 27 Siehe Vegge, Schulwesen, 406-423, wo auch Hinweise auf mehrere Forschungsbeiträge zu finden sind. 28 A.J. Malherbe, Paul and the Popular Philosophers, Minneapolis 1989; T. Engberg-Pedersen, Paul and the Stoics, Edinburgh 2000. 29 W.G. Müller, Art. Brief, HWdR 2, 60-76: 64; H. Görgemanns, Art. Epistolographie, DNP 3, 1166-1169: 1167; Stowers, Letter Writing, 36; Berger, Hellenistische Gattungen, 1133. 30 Vgl. C.D. Stanley, Paul and Homer: Greco-Roman Citation Practice in the First Century CE, NT 32 (1990), 48-78. (Hg.): Paul in the Greco-Roman World, Harrisburgh / London / New York 2003, 198-227: bes. 199-204. 5 Zum Schreibunterricht vgl. R. Cribiore, Writing, Teachers, and Students in Graeco-Roman Egypt, American Studies in Papyrology 36, Atlanta 1996; R.F. Hock, Homer in Greco-Roman Education, in: D.R. MacDonald (Hg.), Mimesis and Intertextuality in Antiquity and Christianity, Harrisburg 2001, 56-77: 59-63. 6 Quintilian, inst. I.8 und X. Vgl. besonders die Darstellung von Teresa Morgan, in der aufgrund von auf Papyri erhaltenen Schultexten die Verwendung der klassischen Autoren untersucht wird (Morgan, Literate Education). Ronald F. Hock weist auf die hervorragende Position von Homer in der literarischen Ausbildung sowohl im elementaren Lernen von Schreiben und Lesen als auch in den literarischen Übungen beim Grammatikos und in den Progymnasmata hin (Hock, Homer). 7 Zum Lesen im Unterricht des Grammatikers: Quintilian, inst. I.8. Quintilian gibt auch Empfehlungen zum Auswahl von geeigneter Literatur. 8 Vgl. W. Raible, Zur Entwicklung von Alphabetschrift- Systemen. Is fecit cui prodest (SHAW.PH, Jg. 1991, Bericht 1), Heidelberg 1991, 10; und J. Balogh, Voces Paginarum, Philologus 82 (1927), 84-109 und 202-240, der auf einen auf Papyrus erhaltenen Vertrag verweist, in dem ein zweijähriger Schulaufenthalt für einen Sklaven verabredet ist, damit er tadelloses Lesen lernen soll. 9 Plutarch schreibt von moralischer Exegese der Poeten und Homers in mor. (de audiendis poetis) 27A-B. 10 Zu Progymnasmata siehe D.L. Clark, Rhetoric in Greco-Roman Education, New York 1957, 177-212; S.F. Bonner, Education in Ancient Rome. From the Elder Cato to the younger Pliny, London 1977, 250-276; R.F. Hock / E.N. O´Neil, The Chreia in Ancient Rhetoric. Volume 1: The Progymnasmata (SBLTT, Bd. 27, Graeco-Roman Religion Series, Bd. 9), Atlanta 1986; G.A. Kennedy, Progymnasmata. Greek Textbooks of Prose Composition and Rhetoric, Translated with Introductions and Notes by George A. Kennedy (Writings from the Greco-Roman World, Bd. 10), Atlanta 2003; T. Vegge, Schulwesen, 121-185. 11 Vgl. D. Hellholm, Paulus fra Tarsos. Til spørsmålet om Paulus´ hellenistiske utdannelse, i T. Eide / T. Hägg (Hgg.), Dionysos og Apollon, Bergen 1989, 259-282: 262. 12 Eine ausführlichere Darstellung der einzelnen Progymnasmata findet sich in T. Vegge, Schulwesen, 137- 173. Quellen der folgenden Besprechung und Definitionen sind zunächst Theon, Progymnasmata und 26 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 26