eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 11/22

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2008
1122 Dronsch Strecker Vogel

Die Lebenspraxis Jesu am Anfang seiner Theologie und der Theologie seiner Jünger

2008
Mauro Pesce
I. Das Problem 1. Ernst Käsemann stellte sich in seinem berühmten Aufsatz aus dem Jahre 1960 und im folgenden von 1962 1 das Problem des Ursprungs der christlichen Theologie. Seiner Meinung nach war die These Albert Schweitzers zurückzuweisen, »die älteste Geschichte der Dogmen von der Parusieverzögerung ausgehend zu erklären«. Nach Schweitzer wurde die Kontinuität mit der eschatologischen Sichtweise Jesu (der das bevorstehende Ende der Zeit erwartete) im frühen Christentum gebrochen, als sich die Parusie zu verzögern begann. Käsemann zufolge liegt das Zentrum der Erfahrung Jesu jedoch nicht in der Erwartung des bevorstehenden Kommens des Gottesreiches, sondern in der Erfahrung der »Unmittelbarkeit des nahen Gottes«. 2 Die Predigt Johannes des Täufers war apokalyptisch, so aber nicht die Predigt Jesu, der die Verkündigung nicht in zeitlicher Dimension las. »Apokalyptisch« ist dagegen die älteste christliche Theologie, die sich genau darin von Jesus entfernt: Durch ihr apokalyptisches Wesen. Diese interpretiert nämlich die österliche Erfahrung, d.h. die Auferstehung Jesu, mit verschiedenen zeitlichen Kategorien jüdischer Eschatologie: Sie wendet auf Jesus die Kategorie des »Menschensohnes« an (was Jesus nicht tat) und erwartet seine Wiederkehr, sie erwartet die Wiederaufrichtung des Volkes Israel und in dieser Erwartung versteht sie sich selbst als die Gemeinschaft der letzten Zeiten, als den heiligen Rest. Die christliche Theologie ist somit Nachfolgerin der jüdischen Apokalyptik, während Jesus dies nicht war. Im Gegenteil, die Predigt Jesu kann nach Käsemann nicht einmal unter die Kategorie »Theologie« gerechnet werden. Er betont ausdrücklich: »Man kann die Predigt Jesu nicht im eigentlichen Sinne als Theologie definieren.« Einige Aspekte der Analyse Käsemanns sind eindeutig veraltet: (a) Käsemann arbeitet ausschließlich mit kanonischen Texten des Neuen Testaments (auch wenn er die Didache in Betracht zieht) und dies ist heute historisch unmöglich. Man kann unter Auslassung des Thomasevangeliums, der Himmelfahrt des Jesaja, der Papiasfragmente, der judenchristlichen Evangelien und vieler anderer Texte des 2. Jh.s, die auf Strömungen schließen lassen, die in den ersten Jahrzehnten der Geschichte der Jesusbewegung wurzeln, nicht über die Zeit der ersten christlichen Theologien sprechen. (b) Die Entstehung der christlichen Theologie ist Teil des größeren Problemfeldes der Entstehung des Christentums, das im Zentrum der aktuellen exegetischen und historischen Debatte steht. Die historischen Hypothesen, die mir am überzeugendsten scheinen, begreifen die Gestalt Jesu innerhalb der jüdischen Kultur und Religion; viel mehr als dies Käsemann macht, der dagegen meint, Jesus habe einen Bruch mit seinem jüdischen Umfeld bewirkt. Ferner setzt die aktuelle Forschung die Entstehung des Christentums zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt an als Käsemann dies tat. Das in den Thesen Käsemanns implizite Hauptproblem ist jedoch fundamental und noch immer höchst aktuell: Es ist das Problem der Kontinuität oder Diskontinuität zwischen Jesus und der ersten christlichen Theologie. Die Entstehung der christlichen Theologie ist für Käsemann eine beträchtliche Neuheit im Bezug auf Jesus, die dazu zwingt, sich dem historischen Problem der Diskontinuität zwischen den ersten christlichen Gemeinden und Jesus zu stellen. Eine erste notwendige Beobachtung ist terminologischen Charakters. Käsemann definiert »apokalyptisch« auf eine Weise, die den Definitionen der aktuellen Forschung (und auch der Forschung zu seiner Zeit) entgegensteht. F. Garçia Martinez hat auf überzeugende Weise gezeigt, dass das, wovon Käsemann spricht, nicht »apokalyptisch« ist. 3 Allison hat zu Recht festgestellt, dass man heute nicht mehr von Apokalyptik spre- Kontroverse Mauro Pesce Die Lebenspraxis Jesu am Anfang seiner Theologie und der Theologie seiner Jünger 52 ZNT 22 (12. Jg. 2008) 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 52 ZNT 22 (12. Jg. 2008) 53 Mauro Pesce Die Lebenspraxis Jesu am Anfang seiner Theologie und der Theologie seiner Jünger chen kann, wie dies Käsemann tat, denn »die Forschung [ist] bis heute nicht einig darüber, was ›apokalyptisch‹ bedeutet«. Schon Bultmann bemerkte, dass es besser gewesen wäre, einfach von jüdischer Eschatologie zu sprechen. 4 Eigentlich meint Käsemann mit christlicher Apokalyptik nicht einfach die verschiedenen jüdisch-eschatologischen Konzeptionen, sondern das Abhängigmachen des christlichen Glaubens von der Tatsache, dass die eschatologischen Ereignisse sich in zeitlich bestimmten Momenten ereignen. Es ist die untrennbare Verknüpfung einer eschatologischen Konzeption mit ihrem zeitlich präzisen Eintreten, die Käsemann als »apokalyptisch« definiert. Die Tatsache, dass die Forschung diese Konzeption nicht als Apokalyptik anerkennt, ist im Grunde zweitrangig. Der Hauptpunkt der These Käsemanns besteht nämlich nicht im Gebrauch des Begriffes »Apokalyptik«, sondern in drei wesentlichen Aussagen: 1. dass Jesus nicht Theologe war; 2. dass die christliche Theologie nach dem Tode Jesu in Verbindung mit dem Osterereignis und der Auferstehung Jesu ihren Anfang nimmt; 3. dass die Mutter dieser ersten christlichen Theologie die Idee ist, dass die Auferstehung Jesu im Lichte verschiedener jüdischeschatologischer Erwartungen zu interpretieren ist, die sich in determinierten Zeiten, Gelegenheiten und Personen ereignen würden. 2. Ich bekräftige mein Einvernehmen mit Allison, wenn er schreibt, dass »die Forschung bis heute nicht einig darüber [ist], was ›apokalyptisch‹ bedeutet«. Ich füge hinzu, dass der Begriff »Apokalyptik« Ende des 19. Jahrhunderts entstand und dass er auf den Text der Apokalypse des Johannes ausgerichtet ist. Begriffe können entstehen, aber glücklicherweise können sie auch aussterben. Ich glaube, dass es dringend nötig wäre, für immer darauf zu verzichten, von Apokalyptik zu sprechen. Auf jeden Fall ist es immer vonnöten, wenn man diesen Ausdruck dennoch benutzen möchte, genau zu definieren, was man darunter versteht. Für eine Definition sind bei wissenschaftlicher Vorgehensweise einige wesentliche Unterscheidungen notwendig. Im Bereich verschiedener Strömungen des Judentums des 1. Jh.s ist es immer nötig zu unterscheiden, ob man (a) von einer literarischen Gattung oder (b) einer religiösen Gruppierung oder Gemeinschaft sprechen möchte, oder ob man (c) an einen Begriff oder an ein theologisches »Motiv« denkt, oder schließlich ob es sich (d) um eine religiöse Praxis handelt. Die Existenz von theologischen Motiven oder von Begriffen, die einige »apokalyptisch« definieren, bedeutet allerdings nicht, dass Gruppen oder Gemeinschaften, die als apokalyptisch definiert werden können, tatsächlich existiert haben. Denn verschiedene religiöse Gruppierungen können einige Ideen teilen, sich in anderen jedoch unterscheiden. Die Tatsache, dass sich in einer religiösen Gruppierung eine Praxis findet, berechtigt durchaus nicht dazu, diese Praxis als Charakteristikum allein dieser Gruppe zu definieren. Das Gebet ist eine religiöse Praxis, die sich bei den Pharisäern, den Täufern und bei allen nicht-jüdischen Religionen des 1. Jh.s findet. Die Praxis der »Himmelreise« findet sich weit verstreut in vielen Religionen und religiösen Gruppierungen von Rom nach Griechenland, nach Israel, bis in den Mittleren Osten der Antike: sie ist keine »jüdi- Mauro Pesce, Jahrgang 1941, ist Professor für die Geschichte des Christentums an der geschichtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bologna/ Italien. Gegenwärtige Forschungsschwerpunkte sind: Historischer Jesus; in Zusammenarbeit mit der Anthropologin Adriana Destro die Erarbeitung einer Kulturanthropologie des frühen Christentums; die biblische Hermeneutik von Galileo Galilei. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählen: Le parole dimenticate de Gesù, Mailand 2004; L‘ermeneutica biblica di Galileo e le due strade della teologia cristiana, Rom 2005; Gemeinsam mit Adriana Destro: Forme culturali del cristianesimo nascente, 2. Aufl., Brescia 2008; L’Uomo Gesù, Mailand 2008. Weitere Informationen siehe unter: http: / / www.mauropesce.net. Mauro Pesce 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 53 Kontroverse 54 ZNT 22 (12. Jg. 2008) sche« Praxis. Käsemann spricht überwiegend von theologischen Begriffen. Theologische Begriffe sind aber kulturelle Produkte, die in verschiedenen religiösen Gruppierungen benutzt werden können und die schwerlich eine Strömung, eine soziale Gruppierung oder Gemeinschaft charakterisieren. Allison kommt der Verdienst zu, die eschatologischen Begriffe, die einige für apokalyptisch halten, auch in prophetischen Texten der hebräischen Bibel wiedergefunden zu haben und dies zeigt deutlich, dass es sich vielmehr um ein mythologisch-eschatologisches, in verschiedenen religiösen Gruppierungen des 1. Jh.s weit verbreitetes Erbe handelt. 3. Nach Käsemann wird im Matthäusevangelium ein »gar nicht anders als konfessionell zu bezeichnender Streit der ältesten Christenheit« 5 zwischen zwei Parteien, die sich »zweifellos auf die vom Pneuma ihnen geschenkte Einsicht« berufen, sichtbar. Zum ersten Mal in der Kirchengeschichte steht »Geist wider Geist«. 6 Die einen bemängeln bei den anderen die Aufgabe des Gesetzes, die anderen beanstanden an den ersteren die Errichtung kirchlicher Autoritäten, die Gott ersetzen. Für die einen ist die Konversion der Heiden allein Gottes Werk und darum muss die Mission sich auf die »verlorenen Schafe des Hauses Israel« beschränken, für die anderen ist seit »der Geistbegabung der Gemeinde das Ende der Welt angebrochen [...], die Heidenmission insofern den Charakter eines eschatologischen Wahrzeichens trage«. 7 Die beiden sich gegenüberstehenden Gruppen sind die liberale hellenistische Tendenz und das palästinische Judenchristentum. Ihre Eschatologie ist unterschiedlich. Sie haben jedoch (a) den Enthusiasmus, d.h. den Besitz des Geistes und (b) »die glühende Naherwartung« 8 gemein. Käsemann schließt daraus, dass der »Enthusiasmus und die apokalyptische Theologie sich bei ihr darum mit innerer Notwendigkeit vereinen« 9 in diesen beiden Strömungen. Für Käsemann - sei es sowohl in der christlich-palästinischen Apokalyptik, als auch in der hellenistisch-mysterischen Version des Glaubens - garantiert »die Gabe des Geistes die Wirklichkeit des eschatologischen Ereignisses«. 10 Der Punkt, auf den ich in dieser These Käsemanns meine Aufmerksamkeit richte, betrifft vor allem die Funktion des Geistes. II. Mein Widerspruch an der These Käsemanns 1. Wir betrachten nun die These Käsemanns näher, zumindest was die apokalyptische Theologie der ersten judenchristlichen Gemeinschaft in Pälästina betrifft. Wir haben gesehen, dass für Käsemann »Apokalyptik« eigentlich die Überzeugung der Nähe oder des Kommens des Endes der Zeiten und den Glauben in alle Phänomene, die sich in Verbindung mit dem Ende ereignen sollen, bedeutet. Die Apokalyptik ist die erste Form christlicher Theologie, weil sie die erste Interpretation der Auferstehung Jesu - verstanden »als Anbruch der allgemeinen Totenauferweckung, also apokalyptisch gedeutet« 11 - ist. Die Jünger wenden nach Ostern auf Jesus den Titel des Menschensohnes an und erwarten seine Wiederkehr. Im Grunde genommen verstehen sie die Auferstehung Jesu, indem sie denken, dass er der Menschsohn sei und folglich seine Wiederkehr als Richter erwarten, und darum teilen sie ihm eine göttliche Funktion zu (was im Laufe der Zeit zur dogmatischen Definition von Chalkedon führen wird). Die allgemeine Auferstehung wird beginnen, wenn der Menschensohn wiederkehrt. 12 Die Zwischenzeit, die Geschichte, ist bestimmt durch die kosmische Funktion Jesu vor dem finalen Moment. Die christliche Gemeinde versteht sich selbst als Mittlerin zwischen dem alten Bund und der Wiederaufrichtung des Volkes der zwölf Stämme. »Sie repräsentiert auf der Erde den neuen eschatologischen Bund«. Die Gegenwart des Geistes verleiht den Propheten, die »die Gemeinden kraft himmlischen Rechts« 13 leiten, eine richtungsweisende Funktion. Die eschatologische Mission ist zentrale Aufgabe der Kirche und bringt sie dazu, die Worte Jesu im Bezug auf seine eschatologische Mission der »verlorenen Schafe des Hauses Israels« (Mt 10,5; 15,24) neu zu interpretieren. Es bildet sich auch eine neue Beziehung zum Gesetz 14 aufgrund des Erfolgs der Predigt unter den Völkern, nicht als Reflexion über die Predigt Jesu. Diese Gemeinschaft bleibt im Innern der »religiösen jüdischen Gemeinschaft«. Sie verhält sich nicht exklusivistisch wie die Qumrangruppe, aber sie bricht auch nicht mit dem Gesetz des Mose. Und darin folgt sie dem historischen Verhalten Jesu. 15 Allein die Hellenisten werden von der jüdischen Gemeinschaft zurückgewiesen, weil sie mit Gesetz und Kult brechen. 16 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 54 Mauro Pesce Die Lebenspraxis Jesu am Anfang seiner Theologie und der Theologie seiner Jünger ZNT 22 (12. Jg. 2008) 55 2. Meine Uneinigkeit mit Käsemann betrifft drei Punkte: (a) Ich glaube nicht, dass für Jesus der zeitliche Aspekt des nahen Bevorstehens des Gottesreiches zweitrangig war. (b) Ich glaube, dass die Theologie nicht nur in Gruppen von Jüngern Jesu nach seinem Tode entstand, denn schon Jesus interpretiert die eigene Erfahrung im Lichte typischer Konzeptionen seiner jüdischen Kultur. Er hatte sich in gewisser Weise schon mit der Figur des Menschensohnes aus dem Danielbuch identifiziert und erwartete von Seiten Gottes die Wiederaufrichtung des Reiches Israels über allen Völker. (c) Es ist der Verdienst Käsemanns erkannt zu haben, dass die Funktion des Geistes und der Propheten in den ersten christlichen Gemeinden der Jünger Jesu nach seinem Tod absolut zentral war. Aber dies stellt keine Neuigkeit im Bezug auf Jesus dar. Die Kontaktpraktiken mit dem Übernatürlichen sind schon typisch für Jesus und sie stellen ein Element der Kontinuität zwischen Jesus und seinen Jüngern dar. Die Kontinuität besteht jedoch in der Praxis und nicht so sehr in ihren Inhalten. III. Antwort an Dale C. Allison 1. Ich sage sogleich, dass ich mit Allison in vielem übereinstimme. Dennoch sind meine Gesichtspunkte von seinen verschieden und dies lässt mich andere Aspekte sehen als diejenigen, die er beleuchtet hat, und andere Schlüsse ziehen. (a) Ich werde mir nicht die Frage nach dem Ursprung der Theologie des Neuen Testaments stellen, denn das Neue Testament existiert sicher nicht vor Ende des zweiten Jahrhunderts. Von einer neutestamentlichen Theologie im ersten und zweiten Jh. zu sprechen, ist ein Anachronismus. In den ersten zweihundert Jahren besaß nicht jede einzelne Gruppierung von Nachfolgern Jesu alle vier Evangelien, die später kanonisch werden sollten, sondern meistens nur ein einziges Evangelium und oft war dieses Evangelium nicht eines der Vieren. Eine große Zahl von Gemeinden benutzte das Thomasevangelium, andere das Petrusevangelium, andere das Hebräer- oder Nazaräerevangelium usw. Keines der später kanonisch gewordenen Evangelien genoss eine normativere Geltung als die anderen. Die Paulusbriefe waren nur in einem begrenzten Teil der Gruppierungen und Gemeinden bekannt, die jedoch keine anderen Schriften lasen, die später kanonisch werden sollten. Das gilt ebenso für die Apokalypse, für den Hebräerbrief und für den Jakobusbrief etc. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Wir kennen nicht einmal den Gebrauch, den die einzelnen Gruppierungen von diesen Schriften machten. Einige der Gemeinden der Jünger Jesu lasen nach seinem Tod als normative Schriften die heiligen hebräischen Schriften und manchmal auch jüdische nichtkanonische Werke. Zu rekonstruieren, welche Schriften in einer jeden der vielen Gemeinden der Jünger Jesu im Mittelmeerraum und im Mittleren Orient im ersten und zweiten Jh. in Gebrauch waren, wäre von höchstem Interesse für die Historiker, aber ich glaube, es wird ein unbefriedigtes Bedürfnis bleiben. Was wir jedoch mit Sicherheit wissen können, ist, dass es methodologisch falsch ist, die Schriften des Neuen Testaments zu benutzen, um einige wesentliche Elemente der Theologie der ersten Gruppen von Jüngern Jesu zu rekonstruieren, als gäbe es einen gemeinsamen urchristlichen Nenner. (b) Ich stimme mit Allison in zwei seiner Punkte zu Anfangs seines Aufsatzes überein: Nämlich seiner Aussage: »Die neutestamentlichen Schriften sind theologisch überaus vielgestaltig. Bestimmte frühchristliche Kreise mögen einer wie auch immer zu definierenden ›Apokalyptik‹ viel verdankt haben, während andere sich in eine ganz andere Richtung orientierten.« Sowie mit seiner Aussage: »Auch der Singular ›Mutter‹ ist problematisch. Historische Bewegungen sind nie monokausal auf eine einzige Ursache zurückzuführen«. Bei diesen beiden Aussagen geht Allison von der Anerkennung der Pluralität, die die Jesusbewegung von Anfang an charakterisiert, aus: es gibt viele neutestamentlche Theologien und viele Mütter der christlichen Theologie. »Ich glaube, dass die Theologie nicht nur in Gruppen von Jüngern Jesu nach seinem Tode entstand, denn schon Jesus interpretiert die eigene Erfahrung im Lichte typischer Konzeptionen seiner jüdischen Kultur.« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 55 Kontroverse 56 ZNT 22 (12. Jg. 2008) Damit stimme ich überein. Allison kommt allerdings, nachdem er die Pluralität anerkannt hat, darauf zurück, beinahe ausschließlich singularisch von einer christlichen Theologie zu sprechen, von einer Eschatologie, von einer einzigen Mutter der christlichen Theologie. Nach Allison existiert »ein ganzes Bündel an Themen und Erwartungen [...], die im nachexilischen Judentum bestimmend waren und die auf ältere Traditionen der hebräischen Bibel zurückzuführen sind: Eine bald oder unmittelbar bevorstehende Zeit nie dagewesener Not, das dramatische Erscheinen und Eingreifen Gottes und / oder eines ›messianischen‹ Mittlers, die Auferstehung der Toten, das göttliche Gericht über die Menschheit und die Erneuerung oder die Neuschöpfung der Welt«. Allison korrigiert Käsemann, indem er vertritt, dass dieses »Bündel an Themen« nicht »die Apokalyptik« ist, sondern vielmehr als »apokalyptische Eschatologie« definiert werden muss. Ich stimme mit ihm überein, den Akzent von der Apokalyptik auf die Eschatologie zu verlagern. Aber der Ausdruck »apokalyptische Eschatologie« ist nicht klar. Er scheint vorauszusetzen, dass im Judentum des ersten Jh.s auch eine nicht apokalyptische Eschatologie existiert habe, er beschreibt jedoch nie diese anderen, nicht-apokalyptischen Eschatologien und er benennt nicht die Gruppen, die diese andere Eschatologie geteilt hätten. Weil Allison festhält, dass »sich die Forschung bis heute nicht einig darüber ist, was apokalyptisch bedeutet«, scheint es mir daher merkwürdig, dass er den Ausdruck »Apokalyptik« benutzt, ohne zu erklären, in welchem Sinn. Akzeptiert Allison die Theorie von Gröningen? Oder die These G. Boccacinis? Oder die morphologische Klassifizierung J.J. Collins’? Er sagt uns nicht, wie die anderen nicht-apokalyptischen Eschatologien »Mütter« verschiedener christlicher Theologien geworden sind. Denn Allison behauptet, dass alle vier Elemente der »apokalyptischen Eschatologie« im Neuen Testament vorhanden seien. 17 Die Anerkennung der Pluralität jüdischer und christlicher Theologien ist wichtig, aber dem entspricht kein bestimmter Inhalt. Beispielsweise behauptet Allison: »Das heißt natürlich nicht, dass sich die Anfänge christlicher Theologie monokausal allein auf diesen Impuls zurückführen lassen. Vieles ist von apokalyptischer Eschatologie unberührt, etwa die prominente Stellung des Liebesgebotes. Überhaupt wird man nicht sagen können, dass frühchristliche Ethik von Eschatologie gespeist wurde«. Aber diesem Thema widmet Allison nur wenige Zeilen. Die reductio ad unum manifestiert sich deutlich in der Schlussfolgerung Allisons: In Analogie zu der Vorstellung einer originären Symmetrie des Urknalls »dürfte die nahezu flächendeckende Omnipräsenz apokalyptisch-eschatologischer Elemente in den frühchristlichen Quellen auf einen gemeinsamen apokalyptischen 18 Ursprung bei Jesus und seinen ersten Nachfolgerinnen und Nachfolgern zurückgehen«. Am Ende wird der Begriff Eschatologie totgeschwiegen und es bleibt nur die Apokalyptik. Im frühen Christentum gibt es einen apokalyptischen Ursprung und dieser apokalyptische Ursprung ist Jesus selbst. Hier stimme ich nicht überein mit Allison, wie ich später zeigen werde. Ich meine im Gegensatz zu Allison, dass die vier eingangs seines Beitrages angesprochenen Punkte, die er im »Neuen Testament« und in verschiedenen anderen frühchristlichen Schriften findet, nicht typisch oder ausschließlich apokalyptisch sind. Das Thema der Auferstehung ist nicht in besonderer Weise apokalyptisch. Der Glaube an die Auferstehung wurde tatsächlich auch von den Pharisäern geteilt. Aber dieser Umstand macht die Pharisäer nicht zu Apokalyptikern. Wenn es so wäre, würde der Ausdruck »apokalyptisch« tendenziell synonym zu »jüdisch«. Das Thema des Messias ist vielen Gruppierungen gemein. Auch das Thema des Endes der Zeiten ist nicht ausschließlich apokalyptisch und so auch die Tendenz, in bestimmten Ereignissen die Erfüllung der biblischen Prophezeiungen zu sehen. Ich bin mit vielen Aussagen Allisons einverstanden unter der Bedingung, das Adjektiv »apokalyptisch« vom Substantiv »Eschatologie« zu entfernen und den verschiedenen jüdischen und frühchristlichen Strömungen in ihrer Vielfalt größere Bedeutung zu verleihen. Anstelle von »apo- »Anstelle von ›apokalyptischer Eschatologie‹ halte ich es für nötig, von jüdischer Eschatologie zu sprechen.« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 56 Mauro Pesce Die Lebenspraxis Jesu am Anfang seiner Theologie und der Theologie seiner Jünger ZNT 22 (12. Jg. 2008) 57 kalyptischer Eschatologie« halte ich es für nötig, von jüdischer Eschatologie zu sprechen. Des Weiteren habe ich den Eindruck, dass Allison selbst bereits entschieden in diesem Sinn davon spricht, sei es, weil er in seinem ganzen Artikel (außer am Schluss) den Akzent von der Apokalyptik auf die Eschatologie verlagert, sei es, weil er hauptsächlich Texte der hebräischen Bibel zitiert, mehr als Texte der sogenannten apokalyptischen Tradition. Die christlichen Gruppierungen des ersten und zweiten Jahrhunderts waren nicht alle überzeugt vom Kommen des Endes. Wie bekannt ist, gab es eine große Debatte darüber. Der zweite Thessalonicherbrief (2Thess 2,1-4) präsentiert eine andere Sichtweise als diejenige, die Paulus in 1Thess 4,15-17 vertritt, ein Text, in dem die vierte von Allison für apokalyptisch gehaltene Thematik scheinbar völlig fehlt: »die Erneuerung oder die Neuschöpfung der Welt«. Die Auferstandenen gelangen nämlich direkt in den Himmel, um dort für immer mit dem Herrn zu leben, während das Schicksal der Welt, in der sie bis dahin gelebt hatten, nicht erwähnt wird. Das Markusevangelium schreibt Jesus selbst einen Satz zu, demgemäß nicht einmal der Sohn weiß, wann das Ende kommen wird (Mk 13,32). Die Widersacher in der Himmelfahrt des Jesaja scheinen die Erwartung des Endes ebenfalls zu übersehen. Das Thomasevangelium scheint den Begriff des Gottesreiches, mit dem das Thema des Endes eng verbunden ist, auf radikale Weise zu enthistorisieren und zu entzeitlichen. Das Johannesevangelium bezeugt eine Strömung, in der die zeitliche Gegenüberstellung »vorher-nachher« ersetzt wird durch die räumlich-kosmologische Gegenüberstellung »obenunten«. Das Thema des Messias ist eines der kontroversesten. Wir wissen nicht, ob Jesus sich je als Messias betrachtet hat, Paulus nennt Jesus freilich christós, Messias, aber dann wird kyrios der christologische Haupttitel. Die Nachfolger Jesu waren geteilter Meinung, ob Jesus als Prophet zu verstehen ist (z.B. die Tradition, die hinter den pseudoclementinischen Schriften steht), als Messias, als Menschensohn oder als Gottessohn. Wir kön nen Rabbi Akiba nicht als Apokalyptiker betrachten, nur weil er dachte, Bar Kochba sei der Messias. Allison zieht in seinem Artikel nicht die bei Käsemann fundamentale These in Betracht, nach welcher die christliche Theologie erst nach Jesus entsteht, während man bei Jesus nicht von Theologie sprechen könne. Für mich jedoch ist es vorrangig, vor allem dieses Problem zu diskutieren. Der Grund, weswegen Allison dieses Problem nicht diskutiert, hängt wahrscheinlich mit seiner anderen Sichtweise zusammen, die andere Aspekte betont. Doch am Ende seines Beitrags scheint Allison mehr die Kontinuität zwischen christlicher Theologie und Jesus zu betonen als deren Diskontinuität und scheint deshalb mit Käsemann nicht einig zu sein. IV. Ist der Vorschlag von E. Käsemann noch brauchbar? 1. Um die Entstehung der verschiedenen Theologien der Jünger Jesu nach seinem Tod zu verstehen, ist es notwendig, eine Interpretation der historischen Figur Jesu vorzunehmen. Die ganze Theorie Käsemanns ruht auf seiner Interpretation der Figur Jesu. Meiner Meinung nach war Jesus nicht vorrangig Theologe oder Denker, sondern ein religiöser Mensch, der in der Lebenspraxis und in den religiösen Praktiken das zu verwirklichen versuchte, was er für seine Pflicht und Aufgabe hielt. Im Fall des frühen Christentums war die Theologie Übersetzung und Bearbeitung, in kulturell anerkannten Begriffen, einer religiösen Erfahrung und / oder einer religiösen Praxis. Ich will hier nicht in die Frage einsteigen, ob die Praxis immer die Theorie bestimmt oder umgekehrt. Denn die Antwort auf die Frage hängt von den konkreten Fällen ab. Oftmals bestimmt das begriffliche System die Praxis und führt dazu, bestimmte Erfahrungen zu machen. Dies geschieht, wenn eine begriffliche Struktur einer starken institutionellen und breit anerkannten Struktur entspricht. In anderen Fällen jedoch sind es Praxis und Erfahrung, die die Bildung eines theoretisch-begrifflichen Systems bestimmen. Im Fall von Jesus stehen wir vor einer starken innovativen Erfahrung und vor ungewöhnlichen religiösen Praktiken, die auf einige eine starke Anziehung haben und bei anderen zu heftiger Ablehnung führen. Es handelt sich dabei um seine Wundertätigkeit, um seinen durch Nichtsesshaftigkeit gekennzeichneten Lebensstil, um den Kontrast zwischen der Jüngergruppe und den 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 57 58 ZNT 22 (12. Jg. 2008) Kontroverse verwandtschaftlichen Strukturen, um die Handlungen in der Synagoge und im Tempel. Hierbei handelt es sich um einen typischen Fall, bei dem die Praxis und die Erfahrung eine theologische Bearbeitung bewirken. 2. Die Lebenspraxis Jesu 19 kann im Wesentlichen wie folgt beschrieben werden: a.) Der erste Aspekt wird konstituiert durch eine Reihe religiöser Praktiken: das einsame und lange Gebet, Visionen, Offenbarungen und verschiedene Arten des Kontakts mit dem Übernatürlichen (wie in der Taufe, in den Versuchungen, in der Verklärung). b.) Der zweite Aspekt seiner Lebenspraxis ist die Heil- und Wundertätigkeit. c.) Ein anderer Aspekt seiner Lebenspraxis ist die Aufgabe der Familie, der Arbeit und eines jeden Besitzes, um ein Wanderleben ohne festen Wohnsitz zu führen. Jesus ist ohne Unterlass unterwegs, er wohnt in den Häusern der Anderen und besitzt nichts, außer den Dingen, die er am Körper trägt. d.) Schließlich ist die Praxis der bedingungslosen Tischgemeinschaft mit einem jeden charakteristisch für Jesus. Die Offenbarungen und Visionen auf der einen und die Heil- und Wundermacht (gr. dynamis), die in seinem Körper ansässig war, auf der anderen Seite zwangen Jesus eine Erklärung zu suchen. Und hier hat die theologische Reflexion Jesu ihren Ursprung. Er verwendete einige jüdische eschatologische Konzeptionen: diejenigen des Gottesreiches, der Sündenvergebung und des Menschensohnes. Für Jesus war das Reich Gottes das fünfte Reich, das im Danielbuch erwartet wird. Das Reich Gottes ist das abschließende Reich, das Gott selbst anbrechen lassen wird und das kein Ende haben wird. Es ist die Herrschaft Israels über die ganze Menschheit. Es handelt sich dabei um ein universales und ewiges Reich. In der Errichtung dieses Reiches kommt einer besonderen Figur - nämlich dem Menschensohn - eine bestimmende Funktion zu. Unter den Stellen in den Evangelien, in denen vom Menschensohn die Rede ist (30-mal in Mt, 13-mal in Mk, 24-mal in Lk, 12-mal in Joh und 1-mal in Apg 7,56) gibt es viele, in denen Jesus sich auf den Menschensohn bezieht, so als identifiziere er sich mit ihm oder als habe er eine enge Beziehung zu ihm. Es ist schwierig sich der geschichtlichen Gewissheit zu entziehen, dass Jesus in dieser geheimnisvollen Beziehung mit der Figur des Menschensohns den Sinn seiner Mission, seiner Aufgabe gesehen habe. In dieser Konzeption von Gottesherrschaft bildet die Idee, dass nach der Herrschaft der Völker endlich die Herrschaft Israels kommen werde, die wesentlich mit der Herrschaft Gottes selbst zusammenfällt, das Zentrum. Nach dieser Auffassung sind mit dem zentralen Ereignis des Kommens des Reiches Gottes (und Israels) andere Ereignisse eng verbunden: das Endgericht über Israel und die ganze Menschheit, die Hinwendung aller Völker zu dem einzig wahren Gott, ein irdisches Reich mit schwerlich zu definierender Dauer, die Auferstehung der Körper aller Menschen der Vergangenheit. Meine Zusammenfassung der »Theologie« Jesu unterscheidet sich gewiss von derjenigen Allisons, auch von derjenigen M. Hengels 20 oder F. Garçia Martinez’ in ihrer Kritik an Käsemann. Aber das ist vollkommen zweitrangig. Wie es für mich zweitrangig ist, diesen Ideenkomplex als apokalyptisch oder einfach eschatologisch zu definieren. Ich bin nämlich nicht mit Käsemanns Vorstellung einverstanden, dass Jesus keine Naherwartung des Reiches Gottes hatte. 21 Und deshalb unterstreiche ich den eschatologischen Aspekt der Theologie Jesu so sehr. Jedoch sind, wie ich später genauer erklären werde, nicht alle Begriffe der Theologie Jesu eschatologische oder ausschließlich solche. Sogar im Begriff des Gottesreiches Jesu konvergieren mindestens zwei Aspekte: der für die orientalische Souveränität typische, der die Überlegenheit der Gerechtigkeit gegenüber dem Gesetz festlegt (vor allem durch Schuldenerlass zu Beginn der Herrschaft) und der des levitischen Ideals des Jubeljahres. Gewiss, es existierte eine eschatologische Interpretation des Jubeljahres verbunden mit dem Erlass der Sünden (vgl. 11QMelch), aber dies geht eher zu Gunsten der Fähigkeit zur Synthese verschiedener theologischer Elemente als zu Gunsten einer unilateralen »apokalyptischen« Bewertung jedes Elements. 22 Aber die Herkunft dieser theologischen Ideen, dieser traditionellen Konzeptionen, dieser Aspekte jüdischer Mythologie erklärt nicht, warum Jesus sich vom bevorstehenden Ende und von seiner zentralen Funktion im Kommen des Gottesreiches überzeugen ließ. Die Herkunft 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 58 Mauro Pesce Die Lebenspraxis Jesu am Anfang seiner Theologie und der Theologie seiner Jünger ZNT 22 (12. Jg. 2008) 59 dieser Ideen erklärt ebenso wenig, warum die Jünger Jesu nach seinem Tod die Sache Jesu weiterführten, ohne sich durch sein Scheitern aufhalten zu lassen. Meine Hauptthese ist, dass die Erklärung des Handelns Jesu und seiner Jünger nicht in ihrer Theologie zu finden ist, sondern in ihrer Erfahrung, für welche die verschiedenen Theologien nicht mehr waren, als ein Erklärungsversuch. Vor allem erklärt der Ideenkomplex, den ich soeben zusammengefasst habe, nicht alle Aspekte der Praxis Jesu. Der Bruch mit der Familie, mit der Arbeit, dem Besitz und dem eigenen Haus, wie auch seine Worte über die Unvereinbarkeit von Gott und Mammon haben ihre Wurzel in einer konfliktgeladenen Sichtweise menschlicher Beziehungen und der Existenz, die nicht zwangsläufig mit der Eschatologie verbunden ist. Die Wahrnehmung des Körpers, die Jesus hat, seine Suche nach Einsamkeit, die ihn zeitweise von den Menschen und selbst den Jüngern isoliert (Mk 1,35; 6,46) sind nicht in erster Linie mit der Eschatologie in Verbindung zu bringen. Ebenso sein Bedürfnis ausschließlich direkte, persönliche Beziehungen mit den Menschen zu führen, sein Bemühen Zusammenkünfte in der Intimität der Häuser, in der Teilhabe der Tischgemeinschaft stattfinden zu lassen, haben wohl eine Wurzel in der Wahrnehmung, dass sein Charisma sich nur durch eine direkte Beziehung entfalten konnte, in der die körperliche Gegenwart unersetzbar war. 23 Die Wahrnehmung der dynamis seines Körpers, die in seiner ganzen Erfahrung zentral war, hat keine eschatologische Wurzel. Im jüdischen Umfeld Jesu gab es nur die Möglichkeit einer religiösen Erklärung: Die Heilmacht konnte nur von Gott kommen. Aber diese »theologische« Erklärung hat nichts Eschatologisches an sich. Viele Unterweisungen Jesu zeigen eine rationale und weisheitliche Tendenz, die nicht eschatologisch ist. In Jesus selbst gab es also unterschiedliche »theologische« Erklärungen der eigenen Erfahrung und verschiedene theologische Tendenzen, von denen einige eschatologisch waren und andere nicht. Die Pluralität der Theologien ist schon in Jesus. 3. Jesus wies der Theorie und der Theologie nie erstrangige Wichtigkeit zu. Das beweist die Tatsache, dass er seine Gesprächspartner nie dazu aufforderte, bestimmten Ideen zuzustimmen. Jesus verlangte jedoch Gehorsam gegenüber seinen radikalen Forderungen in der Lebenspraxis: die Arbeit aufzugeben, die Familie, das Hab und Gut. Jesus lud dazu ein, Vergebung zu praktizieren. Er verlangte von niemandem, an bestimmte Konzeptionen zu glauben. Es ist das Johannesevangelium, das wesentliche Änderungen einführte: Es lässt die radikalen Forderungen Jesu an die Jünger in der Lebenspraxis komplett aus und führt erste Formen eines Glaubensbekenntnisses in theoretisch-abstrakter Form ein (vgl. z.B. Joh 11,25-26). Bei Jesus hatte die Praxis entschieden Vorrang vor der theologischen Theorie. Die Theorie diente dazu, Erklärungen zu liefern für das, was in ihm geschah. Er fand die Antwort - wie bereits gesagt - im Kommen des Reiches Gottes, das sich in der dynamis seines Körpers und vielleicht in der mysteriösen Beziehung mit der Figur des Menschensohnes äußert. Vorrangig ist nicht, dass Jesus an das Reich Gottes des Danielbuches und an den Menschensohn Daniels glaubte (und deshalb Apokalyptiker war), sondern dass er Erfahrungen als Heiler und Wundertäter hatte sowie Erfahrungen im Kontakt mit dem Übernatürlichen, die er aufgrund von Konzeptionen interpretierte, die ihm seine Kultur bot. Das vorrangige Problem ist nicht, zu wissen von welcher theologischen Strömung des Judentums seiner Zeit er Gebrauch machte, sondern welche konkrete religiöse Erfahrung er gelebt hat. Dass dies die vorrangige Frage ist, beweist die Tatsache, dass Jesus seinen Jüngern keine theologischen Theorien gelehrt hat, sondern zu befolgende Praktiken: 1. die schon genannte Aufgabe von Familie-Arbeit-Haus-Besitz, 2. das Gebet, 3. wie man Heilungen vollbringt, 4. wie man mit dem Übernatürlichen in Kontakt tritt, 5. mit welchem konkreten Lebensstil man das Reich verkündigt. Die Hauptprobleme, um den Ursprung der verschiedenen christlichen Theologien zu verste- »Meine Hauptthese ist, dass die Erklärung des Handelns Jesu und seiner Jünger nicht in ihrer Theologie zu finden ist, sondern in ihrer Erfahrung, für welche die verschiedenen Theologien nicht mehr waren, als ein Erklärungsversuch.« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 59 Kontroverse 60 ZNT 22 (12. Jg. 2008) hen, sind folglich diejenigen der Diskontinuität / Kontinuität mit Jesus, des Warums der Pluralität der theologischen Antworten, der Beziehung von Praxis und Erklärung oder des theologischen Verständnisses. 4. Die Frage nach der Kontinuität bzw. Diskontinuität zwischen Jesus und seinen Jüngern nach seinem Tod kann nicht auf eine einfache theologische Frage verkürzt werden aufgrund folgender Punkte: Die ersten Gemeinden der Jünger Jesu sind nicht Gemeinden von Theologen oder Denkern, sondern Gemeinden, die durch einen Lebensstil und genauen religiösen Praktiken charakterisiert sind. Das Gebet, die Heil- und Wunderpraktiken und die Erfahrungen im Kontakt mit dem Übernatürlichen konstituieren ein wesentliches Charakteristikum der ersten Gemeinden der Nachfolger Jesu. Dies konstituiert eine Kontinuität mit der historischen Praxis Jesu. Käsemann hat klar die absolute Zentralität der Erfahrung des Geistes (gr. pneuma) in den ersten christlichen Gemeinden unterstrichen, die Autoritätsfunktion der Propheten und die prophetische Bearbeitung der Worte des historischen Jesus. Die Gegenwart des Geistes ist aber keine theologische Theorie, sondern vielmehr eine religiöse Erfahrung des Kontaktes mit dem Übernatürlichen mittels Ekstase, Visionen, Prophetien und auch Heilspraktiken. Nun ist es eben diese Praxis der Vergegenwärtigung des Geistes, die die Kontinuität zwischen der Praxis der ersten Gemeinden und der jesuanischen Praxis konstituiert. 24 Gleichzeitig ist es jedoch - und das ist fundamental - genau diese Praktik, die die Jünger Jesu dazu bringt, sich von ihm zu differenzieren und sich untereinander zu unterscheiden. Das, was nämlich typisch ist für jede Beziehung mit dem Übernatürlichen mittels des Geistes, ist, dass jeder eine persönliche, direkte Beziehung mit der Welt des Göttlichen hat. Jesus fand in dieser Beziehung die eigene Legitimation und so ging es auch den frühchristlichen Propheten. Aber die Tatsache, dass ihre Legitimation direkt von einem Kontakt mit dem Göttlichen kam, brachte sie zwangsläufig dazu, sich einander entgegenzustellen und zu differenzieren. Die gemeinsame Praxis schuf die theologische Verschiedenheit. 25 An einem bestimmten Punkt entstanden in den Gruppierungen der Jünger Jesu nach seinem Tod jedoch Theologien. Die Paulusbriefe sind voll von Theologie und so wird es auch das Johannesevangelium circa ein halbes Jahrhundert später sein. Warum? Meine Antwort ist, dass verschiedene Theologien nicht nur wegen des unvermeidlichen Kontrastes verschiedener Inspirationen und Offenbarungen eines jeden Propheten entstehen, sondern auch weil Jesus keine Anweisungen für viele Fragen, die sich zwangsläufig nach seinem Tod und wegen seines Todes stellten, gegeben hatte. Man muss jedoch zwei Dinge berücksichtigen: Zum einen, die jüdisch-eschatologischen Konzeptionen Jesu waren zwangsweise vage. Es ist mehr als offensichtlich, dass niemand, nicht einmal Jesus, genau wissen konnte, was im künftigen Gottesreich geschehen würde. Das ist ein Proprium jeder religiösen und mythologischen Konzeption, die Gott und sein Handeln oder das Jenseits und die Zukunft betrifft. Wenn Paulus z.B. von der Auferstehung der Körper (1Kor 15) spricht, sagt er, dass der auferstandene Körper ein »pneumatischer Körper« (gr. so¯ma pneumatikon) (1Kor 15,44) sei, ein beinahe widersprüchlicher Ausdruck, der gut zeigt, wie wenig Paulus von der Auferstehungswirklichkeit weiß, von der zumal niemand Erfahrung haben kann. Im Übrigen hat Jesus mit seinen Jüngern wenig über sich selbst und über seine Theologie gesprochen. Die Jünger wussten sehr wenig darüber, wie Jesus seine Erfahrung theologisch interpretierte. Das Drama der Geschichte Jesu besteht in der Tatsache, dass er ermordet wurde und sich das Reich Gottes über alle Völker mit ihrer Bekehrung nicht in seiner Lebenszeit ereignete. Das Markus-, Matthäus- und Lukasevangelium erzählen uns von der Schwierigkeit Jesu, das Schicksal seines Todes zu akzeptieren und von dem Konflikt zwischen dem eigenen Willen und dem Willen Gottes. Der Satz »nicht was ich will, sondern was du willst« (Mk 14,36) setzt einen Konflikt zwischen den Wünschen Jesu und der Entscheidung Gottes voraus. Der Tod unterbricht die Reihe von Ereignissen, die zum Reich Gottes hätten führen sollen. Jesus verlässt die Szene ohne das Kommen des Reiches, das er gepredigt und geträumt hat, gesehen zu haben. Anstelle des Reiches Gottes kam der Tod Jesu. Seine Jünger fanden sich vor der Tatsache, dass 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 60 Mauro Pesce Die Lebenspraxis Jesu am Anfang seiner Theologie und der Theologie seiner Jünger ZNT 22 (12. Jg. 2008) 61 Jesus nicht mehr und das Reich Gottes noch nicht war. Dies bildete ein enormes Problem, aber bezeichnete nicht das Ende der Jesusbewegung. Sein Tod wurde von vielen seiner Jünger tatsächlich nicht wie das Ende seiner Geschichte erlebt. Alles beruht darauf, dass diese beiden Faktoren zusammenpassen: eine Gewissheit, die sie dazu brachte, die Jesusbewegung in der Erwartung des Gottesreiches weiterzuführen und der Mangel an Anweisungen von Jesus für dieses Unterfangen. Denn Jesus hatte zu mindestens drei Problemen keine Weisung gegeben: a.) Wie sollten die Gemeinden der Jünger organisiert werden (Jesus hatte seiner Gruppe keine Organisation gegeben, denn sein Ziel war die Vereinigung der ganzen Menschheit unter dem einzigen Gott durch die Initiative Gottes selbst und nicht die Gründung einer separaten Gruppe)? b.) Wie sollte man sich angesichts des Problems der Bekehrung der Nicht-Juden verhalten? c.) Wie sollte man sich angesichts der Tatsache verhalten, dass das Gottesreich sich nicht ereignete? Dieser Mangel an Weisungen ist einer der Gründe, nicht der einzige, für die Pluralität der Antworten und für die Pluralität der Tendenzen, die sofort bei den Jüngern Jesu nach seinem Tod eintraten. Die Bewegung trat von Beginn an in einer Pluralität von Formen auf. Im Übrigen hatten die Jünger Jesu nicht viele Informationen über den Willen Jesu verfügbar. Dieser hatte keine Schriften hinterlassen. Während seines öffentlichen Lebens, hatte er sich einem zu engen Kontakt selbst mit seinen nächsten Jüngern entzogen, indem er sich in die Einsamkeit zurückzog. Von sich hatte er mit ihnen nur sehr wenig gesprochen und verschiedene seiner Lehren und einige seiner Erfahrungen waren auf esoterische Art und Weise nur einigen von ihnen mitgeteilt worden. Neuen Problemen gegenüberzustehen zwang also die Jünger nach dem Tod Jesu dazu, Entscheidungen zu treffen, die sich zuvor nicht als nötig erwiesen hatten. Sie konnten natürlich die Erfahrung Jesu befragen und so mussten sie Interpretationen geben, die oft davon divergierten, was er gesagt und gemacht hatte. Der Beitrag wurde übersetzt von stud. theol. Christina Schäfer/ Auggen l Anmerkungen 1 E. Käsemann, Die Anfänge christlichen Theologie, ZThK 57 (1960), 162-185; ders., Zum Thema der urchristlichen Apokalyptik, ZThK 59 (1962), 257-284; vgl. ders., Paulus und der Frühkatholizismus, ZThK 60 (1963), 75-89. 2 Käsemann, Anfänge, 179. 3 Vgl. F. García Martínez, Is Jewish Apocalypticism the Mother of Christian Theology? , in: E.J.C. Tigchelaar (Hg.), Qumranica Minora I: Qumran Origins and Apocalypticism (Studies on the Texts of the Desert of Judah 63), Leiden / Boston 2007, 129-151. 4 Vgl. R. Bultmann, Ist die Apokalyptik die Mutter der christliche Theologie? . Eine Auseinandersetzung mit Ernst Käsemann, in: APOPHORETA. Festschrift für E. Haenchen (BZNW 30), Göttingen 1964, 64-69; K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik, Gütersloh 1970, 69-80. 5 Käsemann, Anfänge, 166. 6 Käsemann, Anfänge, 166. 7 Käsemann, Anfänge, 167. 8 Käsemann, Anfänge, 168. 9 Käsemann, Anfänge, 171. 10 Käsemann, Zum Thema, 277. 11 Käsemann, Zum Thema, 263. 12 Vgl. zum Beispiel die paulinischen Ausführungen dazu in 1Thess 4,16-18. 13 Käsemann, Zum Thema, 265. 14 Käsemann, Zum Thema, 266. 15 Käsemann, Zum Thema, 268. 16 Käsemann, Zum Thema, 266. 17 Vgl. dazu die Punkte 1-4 in dem ersten Abschnitt von Allisons’ Kontroversebeitrag. 18 Kursivsetzung durch M.P. 19 Zu dieser Fragestellung vgl. auch A. Destro / M.Pesce, L’uomo Gesù, Mailand 2008. 20 Vgl. M. Hengel, Paulus und Jakobus. Kleine Schriften III, Tübingen 2002, 332-343. 21 Vgl. Hengel, Paulus, 334. 22 Vgl. M. Pesce, La remissione dei peccati nell'escatologia di Gesù (con la collaborazione di Adriana Destro), Annali di Storia dell'Esegesi 16 / 1 (1999), 45-76. 23 Vgl. zu dieser Überlegung die Ausführungen von A. Destro in Kapitel 6 von Destro/ Pesce, L’uomo Gesù. 24 Ausführlicher dargelegt in: A.Destro / M.Pesce, Continuity or Discontinuity Between Jesus and Groups of his Followers? Practices of Contact with the Supernatural, in: S.Guijarro-Oporto (Hg.), Los comienzos del cristianismo (Bibliotheca Salmaticensis. Estudios 284), Salamanca 2006, 53-70. 25 Ausführlicher dargelegt in: M. Pesce, La funzione delle parole. Rivelazioni dopo l'ascensione di Gesù, in: L. Padovese u.a. (Hg), Atti del Decimo Simposio Paolino. Paolo tra Tarso e Antiochia.Archeologia / Storia / Religione, Roma 2007, 79-94. 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 61