eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 11/22

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2008
1122 Dronsch Strecker Vogel

Apokalyptische Eschatologie und die Anfänge des Christentums

2008
Dale C. Allison
ZNT 22 (12. Jg. 2008) 45 Ist die Apokalyptik die Mutter der neutestamentlichen Theologie? Ich bin der Einladung gefolgt, auf diese Frage zu antworten, stoße dabei aber auf mindestens drei Probleme: Erstens ist sich die Forschung bis heute nicht einig darüber, was »apokalyptisch« bedeutet. Die Antwort auf die gestellte Frage kann je nach Definition einem »ja« und dann wieder »nein« lauten. Auch die Rede von der »neutestamentlichen Theologie« bedarf der Rückfrage, weil sie den Singular »Theologie« verwendet, während wir heute besser von »Theologien« in der Mehrzahl sprechen. Die neutestamentlichen Schriften sind theologisch überaus vielgestaltig. Bestimmte frühchristliche Kreise mögen einer wie auch immer zu definierenden »Apokalyptik« viel verdankt haben, während andere sich in eine ganz andere Richtung orientierten. Und drittens: Auch der Singular »Mutter« ist problematisch. Historische Bewegungen sind nie monokausal auf eine einzige Ursache zurückzuführen. Wenn wir unsere Frage mit »ja« beantworteten, würden wir von der falschen Voraussetzung ausgehen, dass das frühe Christentum hier eine Ausnahme darstellt. Wir können die genannten Schwierigkeiten jedoch umgehen und zugleich mehr aus unserem Thema herausholen, wenn wir die Frage anders stellen. Ich möchte deshalb »Apokalyptik« durch »apokalyptische Eschatologie« ersetzen und darunter ein ganzes Bündel an Themen und Erwartungen fassen, die im nachexilischen Judentum bestimmend waren und die auf ältere Traditionen der hebräischen Bibel zurückzuführen sind: Eine bald oder unmittelbar bevorstehende Zeit nie dagewesener Not, das dramatische Erscheinen und Eingreifen Gottes und / oder eines »messianischen« Mittlers, die Auferstehung der Toten, das göttliche Gericht über die Menschheit und die Erneuerung oder die Neuschöpfung der Welt. Anstatt die Mutter der neutestamentlichen Theologie zu finden, möchte ich lieber fragen, in welchem Maße apokalyptische Eschatologie im eben beschriebenen Sinn in das theologische Denken der kanonischen Verfasser und der frühchristlichen Gruppen eingegangen ist, wie sie uns in den christlichen Quellen des 1. Jh.s begegnen. Wir nähern uns unserem Thema mit vier Feststellungen an, die vielen so selbstverständlich erscheinen, dass man sie zumeist gar nicht weiter beachtet: (1) In den neutestamentlichen Schriften wird deutlich, dass viele von denen, die Jesus nachfolgten, die eschatologische Wende für gekommen hielten. Die Jesustradition enthält Logien, die offen erklären, dass die Sanduhr der gewöhnlichen Zeit so gut wie abgelaufen ist: Mk 9,1; 13,13; Mt 10,23 (vgl. EvTh 111 und Lk 18,8: »Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze«). Ob diese Aussprüche nun auf Jesus selbst zurückgehen oder nicht, sie wurden jedenfalls von frühen christlichen Kreisen tradiert, weil sie die Inhalte dieser Aussprüche für überaus ansprechend hielten. In Übereinstimmung damit bezeugt Lk 19,11 und Apg 1,6 die Anschauung, dass die eschatologische Klimax in naher Zukunft bevorsteht (vgl. Apg 3,19-21). Das hohe Alter dieser Hoffnung ist durch den vorpaulinischen aramäischen Gebetsruf »Maranatha« (»Unser Herr, komm! «, vgl. 1Kor 16,22; Did 10,6) belegt, und zusätzlich dadurch gestützt, dass sich die Jesusbewegung auf Johannes den Täufer mit seiner ihm eigenen Naherwartung (Mt 3,7-12; Lk 3,7-9.16f.) zurückführte. Außerdem sollten wir uns verdeutlichen, dass der früheste erhaltene christliche Text, der um 50 / 51 n.Chr. entstandene 1. Thessalonicherbrief, voll von apokalyptischer Erwartung ist (1,10; 2,12.19- 21; 3,4.13; 4,13-5,11.24). Offenbar hat Paulus diese intensiven apokalyptischen Erwartungen Mitte der dreißiger Jahre von anderen Christen übernommen, und wenn er in Gal 2,1.10 betont, dass er sich mit den Autoritäten in Jerusalem im Grundsatz einig war, dann bezieht sich dies fraglos auch auf die elementaren eschatologischen Kontroverse Dale C. Allison, Jr. Apokalyptische Eschatologie und die Anfänge des Christentums 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 45 46 ZNT 22 (12. Jg. 2008) Grundannahmen, wie wir sie in nichtpaulinischen Quellen vorfinden, etwa die in Mk 13,30; Hebr 10,37; Jak 5,8; 1Petr 4,17; Offb 22,20 bezeugte Naherwartung. Man wird also kaum in Zweifel ziehen können, dass in vielen frühchristlichen Gemeinden eschatologische Erwartungen vorherrschten, und zwar seit den ersten Anfängen der Jesusbewegung. (2) Jesus wurde von seinen Anhängern schon früh »(der) Messias« bzw. »Christus« (gr. ho christos; hebr. ma¯schîah) genannt. Was bedeutete diese Bezeichnung für sie? Bei aller Vielfalt des antiken Judentums war doch die Hoffnung auf einen künftigen davidischen König (Jes 11,1-16; Jer 23,5; 33,17-22; Ez 34,23; 37,24) weit verbreitet, und »(der) Messias« wie auch »(der) Spross« konnte im NT und auch sonst (vgl. 1QSa 2,12; 4Esra 12,32; syrBar 29,3; 30,1) bei passender Gelegenheit auf diese eschatologische Gestalt bezogen werden. Zwar war »Christus« in heidenchristlichen Gemeinden schon bald kaum mehr als ein Eigenname, aber dies war gewiss nicht sein ursprünglicher Sinn. Als jüdische Christen diesen Titel erstmals auf Jesus übertrugen, krönten sie ihn als Israels königlichen Befreier, machten ihn zu ihrem eschatologischen König, gerade so, wie später Simon bar Kosiba als »Messias-König« gefeiert wurde (jTaan 68d; bTaan 93b). Die vorpaulinische Tradition in Röm 1,3f.; 1Kor 15,3 zeigt, dass dieses Bekenntnis zumindest in Teilen der frühen christlichen Gemeinden grundlegend war. (3) Die Synoptiker, das Johannesevangelium, die Apostelgeschichte, Paulus, der Hebräerbrief und die Johannesapokalypse sind sich einig über die weitreichende Bedeutung des Glaubens, dass Gott Jesus von den Toten erweckt hat. Dieser Befund ist erstaunlich, wenn wir bedenken, dass sich die jüdische Auferstehungshoffnung ganz überwiegend oder ausschließlich nicht auf die Auferstehung eines Individuums vor dem Ende, sondern auf eine allgemeine Auferstehung am jüngsten Tag bezieht, sei es nur der Gerechten oder aller Menschen, der Guten wie der Bösen. Dass Jesu Auferstehung in dieser Weise, d.h. im engeren Sinne eschatologisch verstanden wurde, wird terminologisch in der Wendung anastasis nekro¯ n explizit (vgl. Apg 4,2; Röm 1,4; 1Petr 1,3), die als ein terminus technicus für die endzeitliche Auferstehung (vgl. Mt 22,31; Lk 20,35; Apg 17,32; 23,6; 24,21; 26,23; 1Kor 15,12-13; Hebr 6,2; Did 16,6) verwendet wurde. Jesu Auferstehung galt also zumindest in einem frühen Stadium nicht als isoliertes Geschehen inmitten der Geschichte, sondern als Auftakt zur allgemeinen Auferstehung. Aus diesem Grund konnte Paulus von Jesus als dem »Erstling der Entschlafenen« sprechen (1Kor 15,20; vgl. 15,23). Auch die Überlieferung von einer Auferstehung »vieler Heiliger« in Mt 27,51-53 gehört hierher. (4) Die frühen Christen waren vielerorts intensiv damit befasst, Beziehungen zwischen biblischen Aussagen über die eschatologische Zukunft und Ereignissen des Lebens und Sterbens Jesu herzustellen. Nach Mt 11,10 / Lk 7,27 (ein sog. Q- Text) hat sich Mal 3,1 (»Siehe, ich will meinen Boten senden, der vor mir her den Weg bereiten soll«) in Johannes dem Täufer erfüllt. Ebenso wird Sach 13,7 (»Schlage den Hirten, dass sich die Herde zerstreue«) in Mk 14,27 auf die Passion Jesu bezogen. Die Rede des Petrus in Apg 2 sieht in Joel 3,1 (»Und nach diesen Tagen will ich meinen Geist ausgießen auf alles Fleisch …«) eine Vorhersage des Pfingstereignisses. Die vorpaulinische Formel in 1Kor 15,3-7 gebraucht im Hinblick auf Jesu Tod und Auferstehung an zwei Stellen die Wendung »nach der Schrift«. Diese Beispiele ließen sich mühelos vermehren. Die frühchristliche Literatur ist voll von expliziten und impliziten Aussagen über erfüllte Prophetie. Wir haben es hier mit einem weit verbreiteten Phänomen zu tun. Wie ist das zu erklären? Zum Teil liegt die Antwort, warum die Geschichte Jesu und der werdenden Kirche als Erfüllung biblischer Prophetien gedeutet wurde, in der frühchristlichen Daseinsauffassung, in »den letzten Tagen« zu leben (vgl. Apg 2,17; 27,20; Hebr 1,2; Jak 5,3; 2Petr 3,3; Did 16,3; Barn 4,9). Dies hatten die frühen Christen mit den Verfassern der Texte vom Roten Meer gemein, die ebenfalls biblische Prophetien auf sich bezogen und der Auffassung waren, in den »letzten Tagen« zu leben. Zu den bisherigen Beobachtungen (Naherwartung in den frühen Gemeinden einschließlich Paulus, dem Verfasser der ältesten erhaltenen christlichen Dokumente, deren Glaube an Jesus als Messias, an die Auferstehung der Toten, an eschatologische Prophetien, die in Erfüllung begriffen sind und sich in unmittelbarer Zukunft werden) möchte ich anmerken, dass es sich hier- Kontroverse 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 46 Dale C. Allison, Jr. Apokalyptische Eschatologie und die Anfänge des Christentums ZNT 22 (12. Jg. 2008) 47 bei überwiegend um keineswegs marginale Anschauungen handelt. Vielmehr berührten sie den Glauben der Menschen, die ihnen anhingen, in zentraler Weise. Dazu in aller Kürze: Die Erwartung der Wiederkunft Jesu ist prägend in den synoptischen Evangelien, in den Reden der Apostelgeschichte und in den Paulusbriefen, hier besonders im 1. Thessalonicherbrief. Das Bekenntnis zur Messianität Jesu spielt eine herausragende Rolle im Handlungsgang der synoptischen Evangelien (Mt 16,16-20; Mk 8,27-30; Lk 9,18-21) und der Christus-Titel ist in dem alten Bekenntnis 1Kor 15,3-7 belegt, während »Same Davids« in der in Röm 1,3f. erhaltenen Tradition vorliegt. Der Christus-Titel ist ebenfalls in einigen Reden der Apostelgeschichte von zentraler Bedeutung (Apg 2,31. 36. 38; 3,18.20; 4,10; 5,42; 8,5; u.ö.). Die tragende Rolle der Auferstehung ist evident in den Leidensweissagungen, in den Schlusskapiteln der Evangelien, in den Reden der Apostelgeschichte und in der paulinischen Argumentation in 1Kor 15, besonders in der frühen Bekenntnistradition 15,3-7. Hier findet sich auch die Wendung »nach der Schrift«, und die Jesustradition und die Apostelgeschichte enthalten zahlreiche Aussagen über die Erfüllung eschatologischer Prophetien. Paulus, für den das baldige Ende außer Frage stand, war der Überzeugung, dass die Schriften »um unsertwillen« (1Kor 10,9) geschrieben waren; Röm 9-11 ist als eine ausführliche Überlegung zu verstehen, in der Paulus über seine Besorgnis reflektiert, dass sich einige eschatologische Erwartungen, die mit Israel in Zusammenhang stehen, noch nicht erfüllt haben. Nach den vorangegangenen Beobachtungen ist der Einfluss apokalyptischer Eschatologie auf weite Bereiche frühchristlichen Denkens schwerlich zu leugnen. Das heißt natürlich nicht, dass sich die Anfänge christlicher Theologie monokausal allein auf diesen Impuls zurückführen lassen. Vieles ist von apokalyptischer Eschatologie unberührt, etwa die prominente Stellung des Liebesgebotes. Überhaupt wird man nicht sagen können, dass frühchristliche Ethik von Eschatologie gespeist wurde. Das nahe Ende selbst und als solches bringt keine Sollens-Sätze hervor. Dafür braucht es eine traditionelle Moral. Zwar sind im Neuen Testament einige ethische Imperative durch Naherwartung motiviert - man vergleiche nur 1Kor 7,25-31 - und fraglos verstärken eschatologische Erwartungen die Dringlichkeit ethischer Unterweisung. Im Großen und Ganzen orientierte sich aber die frühe Jesusbewegung an der jüdischen und griechisch-römischen Ethik. Gleichwohl: Die Feststellung, dass nicht alle wichtigen Elemente frühchristlichen Denkens mit apokalyptischer Eschatologie in Zusammenhang stehen, bestreitet nicht ihre unleugbare Bedeutung. Hinzu kommt, dass ja nicht nur das frühe Christentum, sondern auch das Judentum des ersten Jahrhunderts ein starkes apokalyptischeschatologisches Gepräge aufweist. Der neutestamentliche Befund ist insofern noch nicht einmal eine Überraschung. Nicht nur in der autoritativen Schriftensammlung des späteren Bibelkanons gab es apokalyptische Texte - hierzu zählen Texte wie Jes 24-27, Dan, Sach 9-14 - sondern etwa auch Teile des 1. Henochbuches, einige der Sibyllinischen Orakel und das Testament des Mose waren vor der Zeit Jesu und des Paulus im Umlauf; und Dale C. Allison, Jr., ist seit 1997 am Pittsburgh Theological Seminary und ist dort Errett M. Grable Professor of New Testament Exegesis and Early Christianity. Vorher war er an der Texas Christian University (Fort Worth, Texas) und an der Friends University (Wichita, Kan.) tätig. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen das Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels, er ist Verfasser von Büchern zur frühchristlichen Eschatologie, zum Matthäusevangelium, zur sogenannten Redequelle, zum historischen Jesus und zum Testament Abrahams. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen sind: Resurrecting Jesus: The Earliest Christian Tradition and Its Interpreters (2005), Studies in Matthew: Interpretation Past and Present (2005). Zur Zeit arbeitet Prof. Allison an einem Kommentar zum Brief des Jakobus. Dale C. Allison 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 47 Kontroverse 48 ZNT 22 (12. Jg. 2008) Jahrzehnte später, zumal in Zeiten des eschatologisch inspirierten Aufstands unter Simon bar Kosiba, las man das 4. Esrabuch, die syrische Baruchapokalypse oder die Apokalypse Abrahams. Auch die Texte vom Toten Meer, die in den Jahren des Wirkens Jesu und des Paulus zirkulierten, waren voll von apokalyptischen Erwartungen. Nicht zuletzt die Popularität des später kanonisierten Danielbuches, wie sie in den Qumrantexten, in der frühchristlichen Tradition und sogar bei Josephus (Ant. 10,268) greifbar ist, lenkt unser Augenmerk darauf, dass das Christentum in einer Blütezeit apokalyptischer Eschatologie die Bühne der Geschichte betrat. Eine starke apokalyptischeschatologische Prägung der frühen christlichen Gemeinden ist also keineswegs verwunderlich. Die ersten beiden Kapitel des Lukasevangeliums spiegeln die verbreitete Erwartung, »dass einer aus ihrem Lande die Weltherrschaft erlangen werde« (Flav. Jos. Bell. 6,312). In der Wahrnehmung des Tacitus waren im Vorfeld des jüdischen Krieges die meisten Juden »überzeugt von dem in den alten priesterlichen Aufzeichnungen enthaltenen Wort, dass zu eben dieser Zeit das Morgenland erstarke und dass man von Judäa aus sich der Weltherrschaft bemächtigen werde« (Tacitus, Hist. 5,13). Zieht man all dies in Betracht, ist die Annahme einer starken apokalyptisch-eschatologischen Prägung des frühen Christentums historisch plausibel und sie erklärt auch einiges, das sonst nicht leicht zu verstehen wäre. Dreierlei dazu: (1) Warum akzeptierten einige Christen kurz nach Jesu Weggang Nichtjuden in ihrer Mitte, ohne dass diese zum Judentum übertraten, sich beschneiden ließen und die Gesetze des Mose beachteten? Eine mögliche Antwort lautet, dass dies in erster Linie dem Einfluss des Paulus und seiner besonderen Theologie (Rettung allein durch Glauben) zuzuschreiben ist. Oder man verweist auf die liberale Theologie der sogenannten »Hellenisten« in Jerusalem, von denen in den ersten Kapiteln der Apostelgeschichte die Rede ist. Andere nehmen an, dass Jesus selbst auf Nichtjuden zugegangen ist, wie die Evangelien mehrfach andeuten, oder dass seine Zuwendung zu »Zöllnern und Sündern«, Menschen also, die notorisch nicht nach der Tora lebten, den Grund für eine gesetzesfreie Mission gelegt hat. So bedenkenswert diese Antworten sein mögen, so wenig darf doch außer Acht gelassen werden, dass die frühe Heidenmission frühjüdische eschatologische Erwartungen reflektiert. Zwar gibt es auch alte Traditionen über die endzeitliche Vernichtung der Heiden, etwa im Jubiläenbuch, aber man erwartete auch das Hinzukommen der Heiden zum Gottesvolk (Jes 2,1-3; 25,6; 60,6; Sach 8,23; äthHen 91,14; PsSal 17,31; Sib 3,710- 20; 5,493-500), und zwar - wie Paula Fredriksen gezeigt hat - keineswegs in der Weise einer Einverleibung in das jüdische Volk durch die Beschneidung als Zeichen des Abrahambundes. Man erwartete vielmehr »die geistig-moralische ›Umkehr‹ der Völker, ihre Abkehr von der Idololatrie und den damit verbundenen Sünden und die Hinwendung zum lebendigen Gott. Aber moralische Umkehr ist keine halachische Umkehr, und Heiden, die der Idololatrie abgeschworen haben, sind gleichwohl Heiden. Wenn Gott seine Herrschaft aufrichtet, werden diese beiden Größen miteinander ›sein Volk‹ sein: Israel, befreit aus dem Exil, und die Heiden, befreit von der Idololatrie. Heiden werden als Heiden errettet. Sie werden nicht eschatologisch zu Juden.« 1 Genau dies ereignete sich in der Auffassung vieler Christen vor ihren Augen: Heiden schwörten ihren heidnischen Göttern ab und bekehrten sich zum dem wahren Gott, dem Gott Israels (1Thess 1,9), ohne dass sie damit observante Juden wurden. Diese Position, die freilich keineswegs unumstritten war, wurde nach der Darstellung von Apg 15 auch beim sogenannten »Apostelkonzil« vertreten, als sich Jakobus mit einem Mischzitat alttestamentlicher Prophetien aus Jes 45,21; Jer 12,15 und Am 9,11-12 zu Wort meldet und es kommentiert: »›Danach will ich mich wieder zu ihnen wenden und will die zerfallene Hütte Davids wieder bauen (…), damit die Menschen, die übrig geblieben sind, nach dem Herrn fragen, dazu alle Heiden, über die mein Name genannt ist‹ (…). Darum meine ich, dass man denen von den Heiden, die sich zu Gott bekehren, nicht Unruhe mache« (Apg 15,16- »Die Aufnahme von Heiden in das Volk Gottes wurde im Rahmen apokalyptischeschatologischer Vorstellungen als Erfüllung von Prophetien über ›die letzten Tage‹ gedeutet...« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 48 Dale C. Allison, Jr. Apokalyptische Eschatologie und die Anfänge des Christentums ZNT 22 (12. Jg. 2008) 49 18). Mit anderen Worten: Diese »Heiden« müssen nicht Juden werden. Hier kommt eine Position einflussreicher frühchristlicher Missionare zur Sprache, ganz gleich, wie die historische Detailtreue der lukanischen Darstellung zu bewerten ist: Die Aufnahme von Heiden in das Volk Gottes wurde im Rahmen apokalyptisch-eschatologischer Vorstellungen als Erfüllung von Prophetien über »die letzten Tage« gedeutet - mit der Folge, dass für diese Heiden die Forderung der Toraobservanz entfiel. (2) Aus den Paulusbriefen und bestimmten in der Apostelgeschichte verarbeiteten Traditionen ist ersichtlich, dass das frühe Christentum sein Zentrum mindestens während der ersten zwei bis drei Jahrzehnte in Jerusalem hatte. Die jüdische Hauptstadt war das Hauptquartier des neuen Glaubens. Das ist aus zwei Gründen überraschend: Erstens war die Jesusbewegung galiläischen Ursprungs. Jesus und seine Familie stammten aus dem Norden, ebenso die meisten von denen, die ihm nachgefolgt waren. Warum siedelten dann viele von ihnen - man denke an Petrus, die Zebedäussöhne oder den Herrenbruder Jakobus - zumindest zeitweise nach Jerusalem über? Warum sind sie, die Jesus nach Jerusalem nachgefolgt waren, dort geblieben? Die in Mk 16,7 und Joh 21 notierte Rückkehr nach Galiläa unmittelbar nach der Kreuzigung Jesu war offenbar nur von kurzer Dauer. Obwohl es sich um Galiläer handelte, sind sie bald wieder nach Jerusalem gezogen und dort auch geblieben. Dies ist - zweitens - auch deshalb überraschend, weil Jesus in Jerusalem zu Tode gekommen ist, es dort also nicht nur starken Widerstand gegen ihn und sein Gefolge gab, sondern auch eine reale Gefahr. Wiederum: Aus welchem Grund sind die Nachfolger Jesu nicht nach Galiläa zurückgekehrt? Die vorhandenen Quellen beantworten diese Frage nicht, doch liefert die Prominenz apokalyptischer Eschatologie in der frühen Jesusbewegung eine plausible Erklärung. Ziehen wir nämlich die unter den frühen Christen verbreitete Erwartung der baldigen Wiederkunft Jesu in Betracht, fällt die Wahl des Ortes seiner Parusie von selbst auf Jerusalem, war doch die judäische Hauptstadt von jeher Mittelpunkt von Endzeit-Szenarios, etwa in Jesaja 60-62 oder Ezechiel 40-48. Nach Jer 17,25 wird Gott in Jerusalem Davids Thron aufrichten. In Tob 14,5; äthHen 90,28-38 stoßen wir auf die Vision eines endzeitlichen Tempels in der Heiligen Stadt, und in Sach 8,7f.; Bar 5,5; PsSal 12 auf die Erwartung einer eschatologischen Sammlung der Diaspora in Jerusalem. Nach dem Targum zu Sach 14,4-5 rollen die Gebeine der Toten durch unterirdische Tunnel zum Ölberg, um dort am jüngsten Tag auferweckt zu werden, u.s.w. Die eschatologischen Ereignisse weisen immer wieder auf Jerusalem. Wenn nun die frühen Christen von eschatologischen Erwartungen erfüllt waren und mit der baldigen Parusie Jesu in der Heiligen Stadt rechneten, ist es nicht verwunderlich, dass sie sich dort niederließen. (3) Die frühchristliche Literatur handelt an zahllosen Stellen von »Gottes Geist« bzw. vom »heiligen Geist«. Verglichen mit Häufigkeit und Gewicht der Texte in der Hebräischen Bibel sowie der zwischentestamentlichen und der rabbinischen Literatur lässt der frühchristliche Befund in aller Deutlichkeit die herausragende Rolle der Rede vom »Geist« erkennen. Wie ist das zu erklären? Bedenkt man die biblische Assoziation des Geistes mit Charismen und Wundern (Ex 31,3; Ri 14,6.19; 15,14; 1Sam 10,6.10), dann liegt es nahe, an intensive und spektakuläre religiöse Erfahrungen zu denken. Darüber hinaus ist aber einmal mehr auf die frühchristliche Bedeutung apokalyptischer Eschatologie zu verweisen. In den jüdischen Quellen ist der Geist vielfach Gegenstand eschatologischer Hoffnung (vgl. etwa Jes 32,15; 44,3; Ez 11,19; 36,25-27; Joel 2,28-29; Sach 12,10; Jub 1,23; TestJud 24,3). Für die frühen Christen war die Fülle des Geistes nicht eine Sache der Zukunft, sondern der messianischen Gegenwart. Nach Apg 2,17 sahen sie die Weissagung aus Joel 3,1f (»Und nach diesem will ich meinen Geist ausgießen über alles Fleisch …«) als erfüllt an. Die Rede des Petrus in Apg 2 reflektiert, wie immer dieser Text ansonsten zu beurteilen ist, mit der Auffassung von der Erfüllung der Joel-Weissagung frühchristliches Denken. Die Gegenwart des Geistes bedeutete die Gegenwart des Endes: »Wenn ich aber die bösen Geister durch den Geist Gottes austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen« (Mt 12,28). Man könnte auch umgekehrt formulieren: »Die Gegenwart des Endes bedeutete die Gegenwart des Geistes.« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 49 Kontroverse 50 ZNT 22 (12. Jg. 2008) Die Gegenwart des Endes bedeutete die Gegenwart des Geistes. Jedenfalls verstanden Christen ihre eigenen Erfahrungen innerhalb dieses wechselseitigen Zusammenhangs. Ich habe bisher Argumente dafür vorgebracht, dass vieles von dem, was wir über die frühe Jesusbewegung wissen, auf die zentrale Bedeutung apokalyptischer Eschatologie innerhalb ihres religiösen Universums schließen lässt. Außerdem habe ich zu zeigen versucht, dass auf der Grundlage dieser These vieles, was für das frühe Christentum kennzeichnend ist, eine plausible Erklärung findet, etwa die beschneidungsfreie Heidenmission sowie die Deutung religiöser Erfahrungen als Ausdruck göttlicher Geistmitteilung. Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass die vorgetragene These auch aus der Sicht moderner Kulturanthropologie erhellend ist. Unterschiedlichste religiöse Systeme verschiedener Epochen kennen die Hoffnung auf eine baldige Überwindung der existierenden Sozialordnung durch eine neue Wirklichkeit. Die sogenannten Cargo-Kulte im Pazifik, messianisch-jüdische Gruppen, prophetische Bewegungen in Amerika und christliche Sekten, die in unmittelbarer Naherwartung leben, sind Beispiele dafür. 2 Zahlreiche für diese »milleniaristischen« Gruppen typische Merkmale finden wir auch in der frühchristlichen Literatur: • die Auffassung der eigenen Gegenwart als einer Zeit des Leidens und der Katastrophe • die Vorstellung von einer übernatürlichen Macht, die alles Übel beseitigt und die ungerechten Verhältnisse überwindet • die Erwartung einer baldigen und endgültigen Heilswende • Konzepte von Erweckung und Evangelisierung • Tendenz zum Egalitarismus • die Einteilung der Welt in Gerettete und Verlorene • Tendenz zum religiösen Tabubruch • Konzentration auf die indigene Kultur und Tradition (Nativismus) und auf die Rettung der eigenen Gemeinschaft • Substitution traditioneller verwandtschaftlicher und sozialer Zugehörigkeit durch eine ideale Familie • neue Medien des Sakralen • Forderung konsequenter Hingabe und bedingungsloser Loyalität • Ausrichtung auf einen charismatischen Anführer • der Besitz von Sonderoffenbarungen • Erwartung des wiederhergestellten Paradieses und die Wiederkehr der Ahnen • das Insistieren auf der Realisierbarkeit von Utopien Alle diese Elemente finden sich - den detaillierten Nachweis muss ich aus Platzgründen schuldig bleiben - wiederholt auch im Neuen Testament und der übrigen frühchristlichen Literatur. Meine Erklärung dafür lautet, dass Jesus selbst ein millenaristischer Prophet und das frühe Christentum in seinen Anfängen auf weite Strecken eine millenaristische Bewegung war. 3 Wir kehren zu unserer Ausgangsfrage zurück: War die »Apokalyptik« die Mutter der neutestamentlichen Theologie? Obwohl ich - wie gesagt - mit der Formulierung der Frage nicht ganz glücklich bin, zögere ich doch nicht zu behaupten, dass jüdische apokalyptische Eschatologie frühchristliches Denken wesentlich geprägt hat. Dazu passt, dass Elemente apokalyptischer Eschatologie mehr oder weniger gehäuft in allen frühchristlichen Texten des ersten Jahrhunderts vorliegen, mit Ausnahme des Philemonbriefes und des 2. und 3. Johannesbriefes, dreier notorisch kurzer Texte. In der Physik gibt es die These, dass am Anfang aller natürlichen symmetrischen Strukturen (Muscheln, Kristalle, Galaxien) die originäre Symmetrie des Urknalls steht. Ganz ähnlich dürfte die nahezu flächendeckende Omnipräsenz apokalyptisch-eschatologischer Elemente in den frühchristlichen Quellen auf einen gemeinsamen apokalyptischen Ursprung bei Jesus und seinen ersten Nachfolgerinnen und Nachfolgern zurückgehen. 4 Der Beitrag wurde übersetzt von PD Dr. Manuel Vogel/ Frankfurt a.M. l Anmerkungen 1 P. Fredriksen, Judaism, the Circumcision of Gentiles, and Apocalyptic Hope: Another Look at Galatians 1 and 2, JTS 42 (1991), 547. 2 Ausführlich dazu D.C. Allison, Jr., Jesus of Nazareth: Millenarian Prophet, Minneapolis 1998, 78-94 und übereinstimmend G. Theißen, Jesus - Prophet einer millenaristischen Bewegung? Sozialgeschichtliche 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 50 Dale C. Allison, Jr. Apokalyptische Eschatologie und die Anfänge des Christentums ZNT 22 (12. Jg. 2008) 51 Überlegungen zu einer sozialanthropologischen Deutung der Jesusbewegung, in: A. Merz (Hg.), Jesus als historische Gestalt: Beiträge zur Jesusforschung, Göttingen 2003, 197-228. 3 Allison, Jesus. Vgl. weiter J. Frey, Die Apokalyptik als Herausforderung der neutestamentlichen Wissenschaft. Zum Problem: Jesus und die Apokalyptik, in: M. Becker / M. Öhler (Hgg.), Apokalyptik als Herausforderung neutestamentlicher Theologie (WUNT II/ 214), Tübingen 2006, 23-94. 4 Vgl. weiter die hilfreichen Beobachtungen bei F. García Martínez, Is Jewish Apocalyptic the Mother of Christian Theology? , in: E.J.C. Tigchelaar (Hg.), Qumranica Minor I: Qumran Origins and Apocalyptic, Leiden / Boston 2007, 129-51. Er kommt im Wesentlichen zu den selben Ergebnissen wie ich. 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 51