eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 11/22

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2008
1122 Dronsch Strecker Vogel

»Der Teufel hat wenig Zeit« (Offb 12,12) – Hans Blumenberg, die Wahrheit der Apokalyptik und die Legitimität der Auslegung

2008
Paul Metzger
»Alle Apokalyptik ist Phantasie, Wunschbild, nichtiger Traum.« 1 Weil »wir wissen, dass es im Kosmos kein Oben und kein Unten gibt«, 2 haben sich die geheimnisvollen Himmelsreisen, die Kämpfe im und die Zeichen am Himmel, die geheimen Offenbarungen, deren Bilder und Einsichten überholt. Weil ihre Autoren nicht mehr unser Weltbild teilen, können wir ihnen keinen theologischen Wert mehr beimessen. Sie können uns kein Gotteswort sagen, da ihre Wahrheit lediglich die Vertröstung der »Zukurzgekommenen der Geschichte« 3 ist. Falls diese Wertungen zutreffen, stellt sich die Frage, wie wir mit apokalyptischen Texten umgehen sollen, die kanonischen Status haben. Welche Bedeutung haben solche Texte für unsere Gegenwart? Um diese Frage zu beantworten, muss methodisch neu überlegt werden. Damit wird ein zweites Problemfeld betreten. Während die Aufmerksamkeit der exegetischen Forschung lange Zeit fast vollständig von dem gefesselt war, was der Autor mit seinem Text zum Ausdruck bringen wollte, 4 kommt nun dem Interpreten, seinen Voraussetzungen, seinen Interessen und schließlich auch seiner Mitarbeit am Text gesteigerte Beachtung zu. 5 Dies bedeutet gleichzeitig aber auch eine Abkehr von der Suche nach dem einen wahren bzw. richtigen Sinn eines Textes. Ein Text hat demnach nicht nur einen Sinn, sondern der Sinn eines Textes wird beim Lesen generiert. 6 Ist dies erkannt, wird die Rede von dem Sinn eines Textes, der gleichsam objektiv benennbar scheint, abgelöst und zugunsten von Begriffen wie semantisches Potential, Bedeutungsfeld, Sinneffekt oder Sinnhorizont aufgegeben. 7 Zwar hat auch schon die Alte und Mittelalterliche Kirche mit ihrer Lehre vom dreibzw. vierfachen Schriftsinn ein Bewusstsein dafür ausgebildet, dass ein Text mehrere Sinnebenen hat, doch war dies eingezeichnet in die Überzeugung, dass Gott sich auf diesen verschiedenen Ebenen verschiedenen Menschen mit unterschiedlichen Geistesgaben offenbart. Die neuere Forschung hingegen setzt mit ihrer Überzeugung des semantischen Feldes eines Textes nicht dogmatisch-theologisch, sondern sprachphilosophisch bzw. literaturwissenschaftlich an. 8 Weil der Interpret in diesem Zuge eine besondere Aufmerksamkeit genießt, stellt sich das Problem der Textinterpretation neu. 9 Nimmt man die durch die potentiell unzähligen Leser entstehenden potentiell unendlichen Auslegungsweisen eines Textes ernst, kommt schnell der beunruhigende Verdacht auf, der Sinn eines Textes sei allein von dessen Produktion durch den Leser abhängig. Damit fiele aber jegliche normative Kraft des Textes. Für die Auslegung der biblischen Schriften, in denen sich Gottes Offenbarung niederschlagen soll, ist dies besonders problematisch. Werden nämlich die verschiedenen Bedeutungen eines Textes vollkommen in der Lektüre des Lesers verankert, wird in konsequenter Fortführung des Gedankens der göttlichen Offenbarung im Wort Gott selbst den Lesern der biblischen Texte ausgeliefert. Kreieren sie die Textbedeutungen, kreieren sie zugleich auch Gottes Offenbarung. Mit dieser stark verkürzt dargestellten Problematik ergibt sich die Notwendigkeit, nach den Grenzen einer Interpretation zu fragen. 10 Wenn es keinen eindeutigen Sinn mehr gibt, sondern nur noch semantische Potentiale oder Bedeutungsfelder, dann muss nach den Rändern dieser Felder oder nach der Begrenzung der Potentiale gefragt werden. Diese Frage ist dabei gleichzusetzen mit der Suche nach der Kraft des Textes und nach seinen Schutzmechanismen, die verhindern, dass die Willkür des Lesers seine Aussagen und Bedeutungen bestimmt. Da dies im vorliegenden Rahmen nicht zu leisten ist, soll das zuvor nur theoretisch beschriebene Problem anhand eines gewichtigen Verses aus der Offenbarung des Johannes aufgezeigt werden. Offb 12,12 wird zunächst klassisch historisch-kritisch untersucht. Es wird folglich danach gefragt, was der Text zu seiner Zeit in seinem Kontext zum Ausdruck bringen wollte. Ist dies im Gespräch mit der exegetischen Tradition erhoben, kann die historisch-kritische Interpretation mit einer philosophischen Lesart des Verses konfron- Zum Thema Paul Metzger »Der Teufel hat wenig Zeit« (Offb 12,12) - Hans Blumenberg, die Wahrheit der Apokalyptik und die Legitimität der Auslegung 34 ZNT 22 (12. Jg. 2008) 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 34 ZNT 22 (12. Jg. 2008) 35 Paul Metzger »Der Teufel hat wenig Zeit« (Offb 12,12) tiert werden. Dabei wird sich zeigen, dass die philosophische Interpretation des Verses der historisch-kritischen nicht widerspricht, sie aber geradezu ausblendet und dem Text einen anderen Sinn beilegt. Zugleich scheint aber damit die Frage nach der Relevanz apokalyptischer Texte beantwortet. Da sie bzw. ihre Interpretation auf dem Hintergrund der historisch-kritischen Methode für den modernen Leser keinen Sinn mehr zu ergeben scheinen, muss offensichtlich eine philosophische Interpretation sie davor bewahren, einen rein musealen Wert anzunehmen. Müssen apokalyptische Texte demnach neu und anders interpretiert werden als andere biblische Texte? Besteht zwischen einer historischen und einer philosophischen Interpretation ein unhintergehbarer Gegensatz oder dürfen beide als legitime Auslegungen des Textes gelten? 1. Offb 12,12 in historischer Perspektive 11 Um einen biblischen Vers zu verstehen, muss man ihn rekontextualisieren. Soweit es möglich ist, muss man ihn dort aufsuchen und verstehen, wo er in seiner ursprünglichen Situation laut wurde. Dies ist zwar ein methodisches Ideal und aus hermeneutischer Sicht unmöglich, doch versucht die historische Forschung den Kontext biblischer Texte möglichst genau zu erfassen, um diesem Ideal nahe zu kommen. Konkret bedeutet dies, dass man danach trachtet, die Kommunikationssituation zu erhellen, in der ein Text zur Sprache kommt, also in den Dialog zwischen Sprecher und Hörer bzw. Autor und Leser eintritt. Hierzu werden die Kontexte von Autor und Leser untersucht, ihre soziale Situation, ihre (Vor-)Bildung, ihre sprachliche Ausdruckskraft, ihre Intention usw. Die historische Forschung versucht also, den Horizont abzuschreiten, in dem der Text entstanden ist. Erst in diesem ursprünglichen Horizont ist der Sinn eines Textes zu verstehen. 12 Soll ein Vers der Offb verstanden werden, bedeutet dies dementsprechend, dass die Forschung zunächst Rechenschaft über ihre Vorstellung der Entstehungsverhältnisse des Textes geben muss. Deshalb müssen also zunächst die so genannten Einleitungsfragen geklärt werden, wenn ein Text nach historisch-kritischem Verständnis interpretiert werden soll. 1.1. Der historische Kontext von Offb 12,12 13 Zunächst ist der historische Kontext der Offb zu beschreiben. Nach dem weitgehenden Konsens der exegetischen Forschung ist die Offb gegen Ende der Regierungszeit Domitians entstanden, was etwa in das Jahr 95 / 96 n.Chr. führt. 14 Zwar ist eine allgemeine Christenverfolgung für diesen Zeitraum nicht belegt, doch lässt die Offb selbst erkennen, dass die Christen, an die sie sich richtet, zumindest unter lokalen Übergriffen und Bedrängnissen leiden. In einer religiösen Umwelt zu leben, von der man sich abgrenzen soll, wie es der Visionär fordert (vgl. Offb 14,9- 14; 18,4), bringt für eine Minderheit also viele Probleme mit sich. Gerade der von Domitian vor allem in den östlichen Provinzen des Reichs forcierte Kaiserkult dürfte Christen dabei in soziale wie wirtschaftliche Schwierigkeiten gebracht haben. Zunächst ist dabei an die soziale Situation des alltäglichen Lebens zu denken. Da das gesamte private wie gesellschaftliche Leben wesentlich stärker durch die verschiedenen Kulte und Religionen durchdrungen war, wurden Christen stigmatisiert und mussten zu sozialen Außenseitern werden, sobald sie nicht an der öffentlichen Religionsausübung teilnahmen. 15 Weil Johannes von seinen Gemeinden eine strikte Trennung von deren Umwelt fordert, müssen verschiedene Probleme im alltäglichen Leben aufbrechen. Zunächst kann hierbei ganz profan an das Einkaufen von (Opfer-) Fleisch auf dem Markt 16 oder an das Handeln in den üblichen Gewerbevereinigungen (Offb 13,17) gedacht werden. Beides wird für Christen unmöglich. Auch der Austritt bzw. der Ausschluss aus diversen Vereinen, die verschiedenen Gottheiten gewidmet waren, hängt damit zusammen. Sowohl das berufliche wie auch das private Leben werden damit für Christen schwierig. Wahrscheinlich haben sich Christen zwar mit ihrer Umwelt arrangiert, doch wird gerade dies von dem Propheten Johannes angeprangert (Offb »Müssen apokalyptische Texte demnach neu und anders interpretiert werden als andere biblische Texte? « 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 35 Zum Thema 36 ZNT 22 (12. Jg. 2008) 3,16). 17 Von der Umwelt misstrauisch und ablehnend beobachtet, liegt die Gefahr der Denunziation nicht fern. Die Verweigerung des Opfers vor der heidnischen Götterwelt und insbesondere vor dem Kaiserbild kann sodann tödliche Konsequenzen haben. In diese Situation hinein spricht der Autor der Offb. Er gibt sich selbst als Knecht Christi und als Mitglied eines Prophetenkreises zu erkennen (Offb 22,9). Offensichtlich ist er in den angeschriebenen Gemeinden also legitimiert und seine Prophetie findet Gehör. So ausgewiesen, nimmt er sich das Recht, verschiedene Gemeinden anzuschreiben und ihnen seine Deutung der Geschichte vorzulegen. 1.2. Der literarische Kontext von Offb 12,12 18 Der literarische Kontext von Offb 12,12 wird oft als das Herzstück der Offb bezeichnet. Hier zeichnet der Seher ein Gesamtbild seiner Geschichts- und Weltdeutung. Eine Gliederung lässt sich dabei leicht anhand der verschiedenen Orte vornehmen, an denen die Vision spielt. Offb 12,1-6 enthalten die Vision der Himmelsfrau und des Drachen am Himmel. Der Drache fegt einen Teil der Sterne auf die Erde (12,3), wohin auch die Frau schließlich flieht (12,6). Während das Kind, das sie geboren hat, zu Gott entrückt wird, verbirgt sich die Frau in der Wüste. Diesen Strang der Vision nimmt der Seher allerdings erst wieder in 12,13 auf, wenn der Drache sich selbst auf der Erde wieder findet und dort die Frau verfolgt. Dazwischen wird in 12,7-12 geschildert, wie der Drache auf die Erde geworfen wird. Nachdem die Frau in die Wüste geflohen ist, entbrennt ein himmlischer Kampf, in dem der Drache und seine Engel gegen Michael und dessen Engel streiten. Die Schilderung des eigentlichen Kampfes ist dabei auffallend kurz. Lediglich V. 7 berichtet nüchtern von dem Kampf, während V. 8 dann schon die Niederlage des Drachens feststellt. V. 9 schildert sogleich die Konsequenz, die aus dieser Niederlage resultiert: der Drache und seine Engel werden aus dem Himmel geworfen und finden sich in V. 13 dann auf der Erde wieder. Gleichzeitig wird der Drache näher vorgestellt. Er ist die alte verführende Schlange aus Gen 3 und wird identifiziert mit dem Teufel und Satan (vgl. Offb 12,14f.; 20,2). Im Drachen sind also alle widergöttlichen Gewalten verkörpert, so dass dessen Niederlage die aller widergöttlichen Mächte darstellt. VV. 10-12 stellen einen hymnischen Einschub in die Schilderung der himmlischen Ereignisse dar. Eine nicht näher bestimmte große Stimme, die der Seher hört, obwohl sie ausdrücklich nur im Himmel spricht, kommentiert das Geschehen. Sie stellt fest, dass jetzt, in dem Augenblick, in dem der große Drache aus dem Himmel geworfen ist, die Rettung, die Kraft, das Reich Gottes und die Vollmacht des göttlichen Christus da ist. Mit der Reihung dieser theologisch gefüllten Begriffe drückt die große Stimme aus, dass dies der entscheidende Augenblick der Weltgeschichte ist. Die Häufung an positiven Begriffen zeigt die entscheidende Wende der Heilsgeschichte an. Der Sturz des Drachen stellt die letztgültige Weiche für das Leben der Christen - sofern sie treu bleiben. Hier zeigt sich schon in der Theologie der Offb eine signifikante Nuance. Sie kennt offensichtlich keine Allversöhnung oder eine wirkmächtig und endgültig geschehene Versöhnung des Individuums mit Gott. Während man z.B. bei Paulus aufgrund von 2Kor 5,17 oder Röm 5,1 bei allen sich damit verbindenden theologischen Schwierigkeiten wohl daran denken muss, dass das In-Christus-Sein nicht mehr verloren werden kann, verkündigt der Seher zwar die bereits erfolgte zum Heil geschehene Wende der Weltgeschichte, doch sagt dies zunächst nichts über das Schicksal des Einzelnen aus. Immerhin ist er sich aber sicher, dass seine Brüder den Drachen überwunden haben. In Aufnahme des Motivs von der verführenden Schlange (vgl. V. 9) und von der Rolle des Satans bei Hiob (Hi 1,7ff.) wird der Drache als der Ankläger der Brüder vor Gott gekennzeichnet. Dieser Ankläger ist nun selbst verurteilt und bereits gerichtet. Die Brüder hingegen haben ihn überwunden durch das Opfer Christi, durch ihr Bekennen und durch ihre (Bereitschaft zur) Lebenshingabe. Eingezeichnet sowohl in seinen historischen wie literarischen Kontext kann der Vers nun selbst interpretiert werden. 1.3. Die Interpretation von Offb 12,12 in historischer Perspektive Zunächst ruft die große Stimme im Himmel zum Jubel auf. Als Konsequenz aus dem Sturz des 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 36 Paul Metzger »Der Teufel hat wenig Zeit« (Offb 12,12) ZNT 22 (12. Jg. 2008) 37 Drachen und dem Sieg der göttlichen Mächte wird der Hymnus abgeschlossen mit dem Appell zum Jubel. Die Himmel und alle, die darin wohnen, sollen sich freuen. Dieser Aufruf findet mehrfache Parallelen in der biblischen Literatur. Zum Beispiel wird in Jes 44,23 und Jes 49,13 ähnlich dazu aufgerufen, sich zu freuen. Allerdings betrifft dieser Aufruf nicht nur den Himmel, sondern auch die Erde und deren Bewohner. Sie sollen sich freuen, weil Gott sich seines Volkes erbarmt hat. Damit ist die göttliche Zusage des Beistandes verbunden und Deuterojesaja weist über seine Gegenwart in die heilvolle Zukunft des Gottesvolkes hinaus. Hier zeigt sich also bereits ein signifikanter Unterschied zu Offb 12,12. Hier betrifft der Aufruf zum Jubel nur die Himmel und deren Bewohner. Der Erde hingegen wird ein »Wehe« entgegengeschleudert. Der Sieg Gottes betrifft also scheinbar noch nicht die Erde. Im Gegenteil: ihr steht eine harte Zeit bevor, die vom Teufel beherrscht wird. Denn der Drache, der Teufel, ist aus dem Himmel ausgestoßen worden, er ist auf die Erde hinab gestiegen. Deutlich kennzeichnet die 3. Person Indikativ Aorist Aktiv, die einen punktuellen Aspekt anzeigt, dass der Teufel zu einem bestimmten Zeitpunkt, nämlich nach seiner Niederlage, auf die Erde gekommen ist und in der Konsequenz nun da, also in der Welt ist. Hier zeigt sich ein wichtiger Aspekt der Botschaft des Sehers an seine Gemeinde. Da er damit konfrontiert ist, dass sich seine Gemeinde offensichtlich in der Welt einrichten muss, kommt ihm die Aufgabe zu, die Erfahrungen seiner Gemeinde zu deuten. Gerade angesichts einer als negativ wahrgenommenen Welterfahrung bricht ein Zwiespalt auf. Eigentlich sollten die Christen doch bereits erlöst sein. Eigentlich ist das Opferlamm (vgl. Offb 5) doch bereits geschlachtet und hat damit die Seinen befreit und losgekauft von der Macht des Teufels. Wie kann es dann sein, dass dieser Äon immer noch fortbesteht? Wie kann es sein, dass die Auserwählten Gottes in dieser Welt immer noch leiden müssen? Warum ist das himmlische Jerusalem, die Vollendung des Heils immer noch nicht eingetreten? Religiöse Überzeugung und Welterfahrung treten auseinander und der Seher muss nun die christliche Botschaft so verkünden, dass sie diesen Zwiespalt erklären kann. Er fängt dieses Problem auf mit seiner Konzeption der Weltgeschichte. Er trennt das göttliche Handeln in eine himmlische und eine irdische Sphäre und ordnet dies Handeln in ein zeitliches Nacheinander. So kann er die Gegenwart seiner Gemeinde dahingehend deuten, dass der göttliche Sieg zwar schon errungen ist, aber erst im Himmel und für dessen Bewohner. Die Erde und damit auch seine Gemeinde müssen sich zunächst noch gedulden. Sie haben die Konsequenz des himmlischen Kampfes jetzt auszuhalten. Gerade weil der himmlische Sieg schon errungen ist, muss seine Gemeinde in der Gegenwart leiden. Denn die Niederlage des Teufels im Himmel ist der Grund, warum er sich nun auf Erden austobt und an der Gemeinde des Sehers seinen großen Zorn abreagiert. So verknüpft der Seher einerseits die in seinen Augen richtige Überzeugung vom geschehenen Sieg Gottes über das Böse mit der bösen Gegenwart seiner Gemeinde. Die grundsätzlich positive Botschaft von der geschehenen Rettung hält er also fest, andererseits erklärt er aber auch, dass die als negativ erlebte Gegenwart nur so erfahren werden kann, weil der Teufel in ihr am Werk ist. Ein erster und vordringlicher Sinn des Verses ist damit benannt: es geht dem Seher um die Bewältigung der Gegenwart, um Deutung der Erfahrungen seiner Gemeinde in einem himmlischen Horizont. Dr. Paul Metzger studierte von 1993-2000 Evangelische Theologie in Bethel, Marburg, Rom und Heidelberg. In der Zeit von 2001-2005: Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Mainz. 2003: Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Saarbrücken. 2005-2008: Vikariat in der Evangelischen Kirche der Pfalz. Seit 2008 ist er Lehrkraft für besondere Aufgaben (Neues Testament und Bibeldidaktik) an der Universität Koblenz-Landau (Campus Koblenz). Paul Metzger 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 37 Zum Thema 38 ZNT 22 (12. Jg. 2008) Damit eng verbunden tritt ein zweites Element der Interpretation in den Blick. Wie bereits kurz angedeutet, impliziert diese Geschichtsdeutung einen weiteren wichtigen Aspekt. Weil und wenn der Vers seine Gegenwart auf dem Hintergrund des göttlichen Geschehens überzeugend deutet, hat er existentielle Kraft. Mit ihm und seiner Stichhaltigkeit verbindet sich der Trost, dass die leidvolle Gegenwart nicht mehr lange dauern wird. Das Wortspiel mit dem großen Zorn und der kleinen Zeit des Teufels ist hier zu beachten. Durch die erlittene Niederlage ist der Teufel natürlich extrem gereizt und was die Gemeinde als Bedrohung durch den Kaiserkult und sonstige Bedrängnisse erfährt, kann als Auswuchs dieses Zornes verstanden werden. Allerdings liefert der Vers eine weitere Erklärung für den großen Zorn des Teufels. Mit einer begründenden Konjunktion (»weil«) wird nämlich die letzte Erklärung angeschlossen: Der Teufel hat deshalb einen so großen Zorn, weil ihm nur noch eine kurze Zeit bleibt. Hier drückt sich die allgemeine Überzeugung der Offb aus, dass der Welt insgesamt nur noch wenig Zeit bis zur Wiederkehr Christi bleibt (vgl. Offb 1,3; 22,10). Dem Teufel und seinem Treiben ist also eine Frist gesetzt. Der göttliche Heilsplan wird nicht verzögert oder aufgehalten. Er läuft - im Hinblick auf den Teufel - gnadenlos bzw. - im Hinblick auf die Gemeinde - gnadenvoll ab. Das bedeutet aber, dass die Gemeinde sich nicht mehr lange der teuflischen Bedrohung ausgesetzt sieht. So weckt die Geschichtsdeutung des Sehers gleichzeitig den Trost, dass die Geschichte bald an ihr Ende kommen wird. Er zeichnet die Gemeinde in den göttlichen Heilsplan ein und nimmt dabei eine in der apokalyptischen Erwartung geprägte Vorstellung auf. So kennt die Apokalyptik nämlich die Vorstellung, dass vor der Wende der Äonen die Wehen der Zeit besonders groß werden und einem Höhepunkt zutreiben, der sich durchaus in einem endzeitlichen Krieg entladen kann. Wie z.B. die Offb selbst einen letzten großen Krieg erwartet (Offb 19), so kennt auch die synoptische Apokalypse (Mk 13par) diese Erwartung. Wenn also die erlebten Bedrängnisse dezidiert als Auswirkungen teuflischen Zorns gedeutet werden und gleichzeitig die Zeit des Teufels als kurz gekennzeichnet wird, dann darf die Gemeinde die Hoffnung hegen, dass das Gericht nicht länger verzögert wird, der letzte Krieg bald beginnt und das himmlische Jerusalem nicht länger auf sich warten lässt. Die Geschichtsdeutung des Sehers impliziert damit eine Perspektive der Hoffnung und des Trostes. Schließlich ist noch ein weiterer Aspekt anzusprechen. Wenn die Geschichtsdeutung des Sehers überzeugt hat, wenn die Gemeinde in ihrer Gegenwart aufgeklärt, getröstet und mit neuer Hoffnung erfüllt wurde, dann muss eine dritte Nuance des Verses angesprochen werden. Wenn die Zeit des Leidens nur noch kurz ist, dann kann der Seher natürlich auch darauf bestehen, dass die Gemeinde sich nicht der Welt anpasst, sondern in ablehnender Opposition verharrt. Geschäfte mit und in der Welt müssen dann unterlassen werden und - was eigentlich wichtiger ist - können auch unterlassen werden, weil die Notwendigkeit nicht gegeben ist, in der Welt so weiter zu leben, dass noch an eine weitere Zukunft gedacht werden muss. Nur aufgrund der beiden ersten Aspekte des Verses ist deutlich und verständlich, warum der Seher eine solche Ethik entfalten und solche Forderungen stellen kann und warum seine Darlegungen Gehör fanden. So kann er seine Ethik zum Prüfstein des Heils machen. Nur wer seinen Weisungen Gehorsam schenkt, wird letztlich wirklich zu den 144.000 Versiegelten gehören, deren Identität ja noch nicht definiert ist. Hier schwingt die Forderung mit, sich der Erwählung und der Heilstat Christi würdig zu erweisen. Notfalls - wie Offb 12,11 angedeutet hat - bis zum Tod. Neben Geschichtsdeutung und Trost tritt damit als weiterer Sinn des Verses, die Ermahnung der Gemeinde zum standhaften Bekennen. Die historische Interpretation hat damit zum einen gezeigt, dass in dem Vers viele theologische Überzeugungen und Anschauungen der Offb zusammenlaufen, zum anderen auch klar aufgewiesen, dass man nicht von dem einen Sinn des Verses reden sollte, sondern immer mehrere Aspekte im Blick haben muss, sodass es wirklich angebracht erscheint, von semantischen Potentialen bzw. einem semantischen Feld zu sprechen. Ist mit dieser Interpretation das semantische Potential des Verses erschöpft oder lassen sich durch andere Herangehensweisen weitere Bedeutungen finden? Und wenn ja: Ist dieses erweiterte semantische Feld durch den Text legitimiert? 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 38 Paul Metzger »Der Teufel hat wenig Zeit« (Offb 12,12) ZNT 22 (12. Jg. 2008) 39 2. Offb 12,12 in philosophischer Perspektive Ein Text hat nicht nur einen Sinn, ein Text erzeugt viele Sinne. Besonders interessant nimmt der deutsche Philosoph Hans Blumenberg Offb 12,12 in seinem Buch »Lebenszeit und Weltzeit« 19 auf. Um seine Aufnahme des biblischen Verses besser zu verstehen, soll zunächst das Gesamtwerk Blumenbergs kurz vorgestellt werden. 2.1. Grundlinien der Philosophie Blumenbergs 20 Man darf Hans Blumenberg wohl durchaus als Aufklärer bezeichnen. Mit einem scharfen, klaren Blick deckt er Verhaltens- und Denkweisen des Menschen auf und zeichnet sie in dessen Entwicklungsgeschichte ein. Dabei entwickelt er zwei grundlegende Gedanken. Zunächst erkennt er durch sein überwiegend phänomenologisches Vorgehen, dass der Mensch durch die Welt, in der er lebt, überfordert ist. Die Welt und die Wirklichkeit übersteigen das Leben des Individuums. Dem zuweilen poetischen Werk Blumenbergs angemessen, darf gesagt werden, dass Blumenberg den neuzeitlichen Menschen in eine Himmelswüste einzeichnet. Die Krone der Schöpfung wird dem Menschen vom Kopf gerissen und er selbst wird reduziert auf ein Sandkorn in der Unendlichkeit des Alls. Der Mensch wird seiner tradierten Stellung im Kosmos beraubt und zurückgeworfen auf sein für die Welt unerhebliches Dasein. Diese Problematik beschreibt Blumenberg und macht dafür vor allem zwei geschichtliche Entwicklungen verantwortlich. Erstens ist dies eine Leistung der klassischen Naturwissenschaften. Deren Forschungen haben die Welt entmythologisiert und entzaubert. Die Einsicht in einen Kausalzusammenhang der Dinge, in Ursache und Wirkung, aber auch die Erkenntnis der Dimension von Raum und Zeit, die das menschliche Leben weit übersteigen, haben den Menschen seiner Selbstvergewisserung beraubt. Er ist nicht mehr Zentrum und Zielpunkt des Lebens, sondern er lebt als Produkt eines evolutionären Zufalls auf einem unbedeutenden Planeten eines sich unter Umständen unendlich ausdehnenden Weltalls. Radikaler kann die menschliche Existenz also kaum in ihre natürlichen Grenzen verwiesen werden. Doch weitet Blumenberg den Raum, in dem der Mensch sich vorfindet nicht nur ins Unermessliche, sondern entzieht dem Menschen auch noch dessen Herkunft. Dies ist die zweite Bewegung, die den Menschen laut Blumenberg in seine Grenzen verweist. Er führt hier den Historismus an, der die Vergangenheit des Menschen als bloße Konstruktion erweist. Wo sich der Mensch noch wenigstens seiner Vergangenheit bewusst war und darin einen festen Halt erblickte, hat der Historismus nach Blumenberg die Brüchigkeit dieses Halts erwiesen. Er kennzeichnet die Geschichtsschreibung als sprachliche Konstruktion, die aus der jeweiligen Perspektive des Historikers erfolgt, und beraubt so den Menschen der bloßen Tatsachen, auf die er seine Herkunft gründen konnte. So verliert sich der Mensch in einem Strom aus Zeit. Er ist getrieben von der Sorge um seine Zukunft und seine Vergangenheit erstreckt sich im Dunkeln hinter ihm. Deshalb findet der Mensch keinen festen Grund mehr, auf dem er seine Existenz aufbauen kann. Insofern ist der Mensch nicht nur in dem Raum verloren, den die Naturwissenschaften ausgeleuchtet und damit ausgeweitet haben, sondern er ist auch in der Zeit haltlos, weil es weder Zukunft noch Vergangenheit als objektive Größen gibt, über die er sich definieren kann. Der Mensch ist damit gleichsam zweifach in die Wüste seines unbedeutenden Lebens geschickt. Wie der Mensch aber dennoch in einer solchen Wüste leben kann, beschreibt Blumenberg in verschiedenen Veröffentlichungen. Darin enthüllt er die Praktiken, die der Mensch benutzt, um seine Wüste bewohnbar zu machen. Zum einen nennt Blumenberg hier die Technik. Die Technik erlaube es dem Menschen, die eigentlich unkontrollierbare und ihn formende Natur scheinbar zu beherrschen. Durch den technischen Fortschritt kann der Mensch sich eine Behausung schaffen. Er kann sich ein Haus bauen, das ihm begrenzt Schutz gewährt vor der gnadenlosen Natur. So kreiert er die Illusion, dass er behütet ist vor der Wirklichkeit, die er - buchstäblich - vor die Tür gesetzt hat. So schafft sich der Mensch eine Lebenswelt, die ihn abschirmt von den vielen Mög- »Ein Text hat nicht nur einen Sinn, ein Text erzeugt viele Sinne.« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 39 Zum Thema 40 ZNT 22 (12. Jg. 2008) lichkeiten und Unwägbarkeiten der Wirklichkeit. Mit dem Begriff der Lebenswelt führt Blumenberg eine weitere Sicherungsmaßnahme des Menschen ein. Die Lebenswelt, die eine kulturelle Leistung des Menschen darstellt, ist begrenzt und zumindest im Ansatz überschaubar. Der Mensch kennt die Wege, die er gehen muss, er kennt die Menschen, mit denen er in der Regel zu tun hat. So kreiert er eine Welt, die von ihm beherrscht werden kann, die von ihm bewältigt wird. Dass er dabei den Rest der Welt und der Wirklichkeit ausblendet, ist scheinbar nur ein kleiner Preis, den er für seine Lebenswelt zahlen muss. Ihre Herkunft und ihre Vergangenheit beziehen Technik und Lebenswelt aus der erzählten und damit gedeuteten Geschichte. Der Mythos bekommt bei Blumenberg so eine ätiologische Funktion. Er beschafft dem Menschen eine bestimmte und sinnvolle Herkunft, die einem kritischen Zugriff entzogen ist. So begründet er die Lebenswelt des Menschen, indem er sie der Zufälligkeit entzieht und planvoll erscheinen lässt. Werden die verschiedenen Konzepte zur Distanzierung der Wirklichkeit zusammen gesehen - Technik, Kultur, Lebenswelt, Mythos -, so zeigt sich, dass der Mensch letztlich darauf angewiesen ist, sich in der unbarmherzigen Wirklichkeit der Welt, der Himmelswüste, einzurichten und sich zu beheimaten. Diese Praktiken aufzudecken, sie durchsichtig zu machen, ist ein großes Ziel der Philosophie Blumenbergs. 2.2. Offb 12,12 bei Hans Blumenberg Zu Beginn des 2. Teils von »Lebenszeit und Weltzeit« - überschrieben mit dem Titel »Apokalypse und Paradies« - zitiert Blumenberg den letzten Teil von Offb 12,12: »Der Teufel weiß, daß er wenig Zeit hat.« Blumenberg bestreitet, dass dieser Vers gegenwärtig noch eine Trostfunktion haben kann. Diese sei hinfällig, weil zum einen die Existenz des Teufels an sich bestritten wird, aber auch zum anderen nicht geglaubt wird, dass die Zeit des Bösen begrenzt sei. Allerdings offenbare der Vers »ein Grundmuster für die Erfassung der menschlichen Großlage« (71). Für Blumenberg lässt sich dieses Grundmuster so auf den Punkt bringen: »Enge der Zeit ist die Wurzel des Bösen« (71). Auch hier kann wieder der aufklärende Zug der Philosophie Blumenbergs entdeckt werden. Die absolute Zeit der Welt übersteigt den Menschen und dessen Fassungsvermögen. Seine Lebenszeit ist verglichen mit der Weltzeit verschwindend gering. Und das Übel dabei ist, dass der Mensch - als einziges Lebewesen - dies auch weiß. Diese letzte Grenze, die der Mensch nicht überwinden kann, ist ihm ein Ärgernis und geradezu eine Beleidigung seiner Autonomie. Die menschliche Bosheit soll damit laut Blumenberg aus dem »Mißverhältnis entstehen, daß ein Wesen mit endlicher Lebenszeit unendliche Wünsche hat« (71f.). Während das Paradies Paradies sein konnte, weil es dort keinen Tod gab, weil es dort also viel Zeit gab, so entsteht das Böse in der Welt durch den Tod, der unsere Zeit begrenzt. Im Paradies waren also Lebenszeit und Weltzeit identisch (72), ebenso waren auch Lebenswelt und tatsächliche Welt identisch (73). Die von Blumenberg beobachtete Einsicht, »daß die Welt so wenig mit dem eigenen Leben endet, wie sie mit ihm begonnen hat«, hat die Auflehnung des Menschen gegen seine eigene Mortalität zur Folge. Dies ist die teuflische Verführung, der der Mensch zuweilen erliegt, die mythische Verführung, »mit Mitteln der Magie, der Gewalt oder der Illusion die Weltzeit auf die Maße der Lebenszeit zu zwingen, die Lebensgrenze auf den Augenblick eingestandener Weltsättigung zu fixieren« (73). Der Teufel ist damit das personifizierte Wissen um die Kürze der Lebenszeit und gleichzeitig der daraus folgenden Daseinsform, der es ständig darum geht, »Zeit zu gewinnen, um mehr von der Welt zu haben«, denn: »Die Welt kostet Zeit« (73). Der Mensch sieht sich also ständig damit konfrontiert, keine Zeit zu haben für seine vielen Wünsche. Gleichzeitig erlebt er »die Gleichgültigkeit der Welt gegen ihn« (75). Die Welt war, bevor der Mensch geboren wurde, und die Welt wird sein, wenn der Mensch schon längst gestorben ist. Das Wissen um diesen Sachverhalt, das Wissen um die Differenz von Lebenszeit und Weltzeit ist also der Stachel im Geist des Menschen. »Die aufbrechende Divergenz von Lebenszeit und Weltzeit durch Auflösung der Passung zwischen dem Horizont der Bedürfnisse und dem der Bedingungen ihrer Befriedigung« (76) stellt damit eine Herausforderung an den Menschen dar, der es zu begegnen gilt. 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 40 Paul Metzger »Der Teufel hat wenig Zeit« (Offb 12,12) ZNT 22 (12. Jg. 2008) 41 3. Die Legitimität der Auslegung Zwei Problemfelder überschneiden sich. Zum einen wurde zu Beginn nach der Relevanz der Apokalyptik gefragt. Hat sie eine andauernde Bedeutung oder kann sie uns kein Gotteswort sagen? Hans Blumenberg hat mit seiner Interpretation von Offb 12,12 gezeigt, dass sie sehr wohl grundlegende Wahrheiten über - in diesem Fall - den Menschen und seine Welt enthält. Allerdings interpretiert er den Vers nicht in historischer, sondern in philosophischer Perspektive. Damit ist der zweite Problemkreis angesprochen: Ist eine solche Auslegung legitim? Hilfreich ist hier die Unterscheidung von intentio auctoris, intentio operis und intentio lectoris, wie sie bei Umberto Eco zu finden ist. 21 Die grundsätzliche Frage ist dabei, was bei einer Interpretation eines Textes untersucht werden soll. Will der Interpret zur Sprache bringen, was der Autor eines Textes sagen wollte, dann setzt er sich die Suche nach der intentio auctoris zum Ziel. Will er dagegen - durchaus unter Absehung des Autors - auslegen, was der Text als solcher zu erkennen gibt, dann ist er auf der Suche nach der intentio operis. Hierbei muss dann weiter differenziert werden. Erstens: Was sagt der Text hinsichtlich seines eigenen Verweissystems, also innerhalb seiner eigenen Kohärenz, was liegt also in seiner Textwelt. Und zweitens ist davon wieder zu unterscheiden, was der Leser in Bezug auf seinen eigenen Kontext in dem Text findet. Hier kommt dann die Frage nach der intentio lectoris in den Blick. Will man also einen Text als solchen verstehen, muss man sich in seine Textwelt begeben und die angemessene Interpretation an ihrer Kohärenz messen, die wiederum durch den Text bereit gestellt wird. Verlässt man die Textwelt und deren Verweissystem bzw. deren Enzyklopädie, und greift auf andere Quellen außerhalb des zu interpretierenden Textes zurück, muss man damit rechnen, den Text gegen seine Intention zu lesen. Will man gar den Text nicht um seiner selbst willen interpretieren, sondern um ihn etwa lediglich als Anregung zu verwenden oder um ihn seiner eigenen Gedankenführung dienstbar zu machen, dann hat man die Interpretation des Textes verlassen und ordnet die intentio operis seiner eigenen Leseintention unter. Damit hat die intentio lectoris gegenüber der intentio operis die Oberhand gewonnen. Dies bezeichnet Eco dann nicht mehr als Interpretation eines Textes, sondern als dessen Benutzung. Eingedenk der Überzeugung, dass nicht die Autoren der Heiligen Schrift die Grundlage des christlichen Glaubens und Lebens sind, sondern die Schrift selbst, soll es also hier nicht um die Suche nach dem gehen, was der Autor sagen wollte, sondern es soll nach der intentio operis gefragt werden. Die historische Interpretation des Verses wurde im Kontext des Gesamttextes erstellt, welcher das Sinnpotential des Verses auffächerte und erhellte. Damit ist von Beginn an sicher gestellt, dass der Vers nicht isoliert vom Gesamtwerk gelesen wird. Überblickt man das Gesamtwerk, wird man sagen dürfen, dass keine andere Textpassage der Offenbarung der vorgelegten Interpretation widerspricht. Ebenso ist kein anderes, das Lesen leitende Interesse zu erkennen gewesen, was gegen eine bloße Benutzung des Textes spricht. Damit dürfte die historisch-kritische Interpretation wesentliche Aspekte des Sinnpotentials von Offb 12,12 zur Sprache gebracht haben. Die philosophische Interpretation Blumenbergs beachtet im Gegensatz zur historisch-kritischen den historischen Kontext nur ganz am Rande. Sie sieht davon ab und erkennt in diesem Vers eine weitere Sinnebene, indem sie ihn im Kontext der von ihm analysierten Gegenwart des Menschen deutet. Blumenbergs Interpretation erfolgt damit in einem anderen Horizont. Er entreißt den Vers seinem mythologischen Hintergrund und schreibt ihm »eine Wahrheit [zu], auf die es dem Apokalyptiker kaum angekommen sein mag.« 22 Damit ist zum einen deutlich, dass Blumenberg den Autor vernachlässigt, zum anderen, dass er in apokalyptischen Texten sehr wohl eine Wahrheit über den Menschen erkennen kann. Zwar verlässt seine Interpretation die antike (Gedanken-)Welt, indem er z.B. »Daraus folgt, dass die exegetische Aufgabe sich nicht mit der Erhellung des historischen Horizontes und der Auslegung der biblischen Texte in historischer Perspektive erschöpft....« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 41 Zum Thema 42 ZNT 22 (12. Jg. 2008) den Teufel nicht als den Gegenspieler Gottes versteht, sondern als Symbol für das Angebot der absoluten Identität von Lebenszeit und Weltzeit, doch deckt das semantische Potential der Rede vom Teufel als »Verführer« im Neuen Testament diese Interpretation durchaus (1Thess 3,5; 2Joh 1,7; Offb 12,9; 20,3), sodass Blumenbergs Interpretation des Teufels dem antiken Denken des Textes nicht widerspricht. 23 Blumenberg schafft es mit seiner Deutung des Teufels den menschlichen Versucher jenseits mythologischer Vorstellungen plausibel zu machen. Obwohl er den Text also scheinbar isoliert von seinem Kontext liest, stellt seine Auslegung augenscheinlich die historische nicht in Frage. Also hat er - nach Eco - die intentio operis nicht verlassen. 24 Damit dürfte seine Interpretation durchaus als legitim gelten und Offb 12,12 eine weitere Sinnebene hinzugefügt haben. Daraus folgt, dass die exegetische Aufgabe sich nicht mit der Erhellung des historischen Horizontes und der Auslegung der biblischen Texte in historischer Perspektive erschöpft, sondern darüber hinausgeht. Soweit möglich muss sie versuchen, die Wahrheit der Texte für die Gegenwart zu erheben und unter deren Bedingungen auszusagen. Deshalb greift das eingangs zitierte Urteil zu kurz, nach dem apokalyptische Texte per se keine Wahrheit enthielten. 25 Die Aufgabe der exegetischen Forschung ist vielmehr, diese neu zur Sprache zu bringen und deren Relevanz aufzuzeigen. Erst in dieser Hinsicht wird die exegetische Forschung ihrer theologischen Aufgabe gerecht. l Anmerkungen 1 So beschreibt J. Frey, Die Apokalyptik als Herausforderung der neutestamentlichen Wissenschaft. Zum Problem: Jesus und die Apokalyptik, in: M. Becker / M. Öhler (Hgg.), Apokalyptik als Herausforderung der neutestamentlichen Wissenschaft (WUNT II/ 214), Tübingen 2006, 23-94: 33, die theologische Wertung der Apokalyptik bei Rudolf Bultmann. Vgl. R. Bultmann, Das Verständnis der Geschichte im Griechentum und im Christentum, in: ders., Glaube und Verstehen IV, Tübingen 1965, 91-103: 100: »Das apokalyptische Gemälde vom Ende der Welt und vom Weltgericht, die Vorstellung von dem mit den Wolken des Himmels wiederkehrenden Jesus als Richter erscheint uns heute als Mythologie; denn die alte Vorstellung vom Himmel über uns ist vergangen.« 2 Bultmann, Verständnis, 100. 3 F. Siegert, Die Apokalyptik vor der Wahrheitsfrage - Gedanken eines Lesers zum vorstehenden Artikel von Klaus Koch, ZNT 3 (1999), 50-52: 50. 4 Vgl. z.B. M. Hengel, Aufgaben der Neutestamentlichen Wissenschaft, NTS 40 (1994), 321-357: 351. 5 Vgl. E.-M. Becker, Die Person des Exegeten. Überlegungen zu einem vernachlässigten Thema, in: O. Wischmeyer (Hg.), Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft (NET 6), Tübingen / Basel 2003, 207-243. 6 Vgl. St. Alkier, Die Bibel im Dialog der Schriften und das Problem der Verstockung in Mk 4. Intertextualität im Rahmen einer kategorialen Semiotik biblischer Texte, in: St. Alkier / R.B. Hays (Hgg.), Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre (NET 10), Tübingen / Basel 2005, 1-22. 7 Vgl. z.B. St. Alkier, Intertextualität, in: K. Erlemann / K.-L. Noethlichs/ K. Scherberich/ J. Zangenberg (Hgg.), Neues Testament und Antike Kultur (NTAK 1), Neukirchen-Vluyn 2004, 60-65; Ch. Landmesser, Wahrheit als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft (WUNT 133), Tübingen 1999. 8 Vgl. O. Wischmeyer, Hermeneutik des Neuen Testaments. Ein Lehrbuch (NET 8), Tübingen / Basel 2004. 9 Vgl. U. Eco, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München 3 1998. 10 Vgl. U. Eco, Die Grenzen der Interpretation, München 2 1999, bes. 35ff. 11 Zum Überblick über die Apokalypse vgl. O. Böcher, Die Johannesapokalypse (EdF 41), Darmstadt 4 1998; ders., Johannes-Apokalypse, RAC 18, Stuttgart 1998, 595-646. 12 Vgl. z.B. H. Conzelmann / A. Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, Tübingen 14 2004, 1ff. 13 Vgl. zum historischen Kontext der Offb F.W. Horn, Leiderfahrung, Leidbewältigung und Leidüberwindung in der Johannesapokalypse, in: H.-J. Barkenings u.a (Hg.), Tun und Erkennen. Theologisches Fragen und Vermitteln im Kontext des jüdisch-christlichen Gesprächs. FS Adam Weyer, Duisburg 1994, 182-190; zum Kaiserkult: H.-J. Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums II. Herrscher- und Kaiserkult, Philosophie, Gnosis, Stuttgart u.a. 1996, 17ff. 14 Vgl. W.G. Kümmel, Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg 21 1983, 414; P. Pokorný / U. Heckel, Einleitung in das Neue Testament. Seine Literatur und Theologie im Überblick, Tübingen 2007, 613. 15 Vgl. M. Clauss, Kaiser und Gott. Herrscherkult im römischen Reich, Darmstadt 2001, der von einer »Omnipräsenz des Herrschers« (430) spricht. 16 Vgl. den differenzierteren Umgang des Paulus mit dieser Frage: 1Kor 8,4ff. 17 Vgl. U.B. Müller, Die Offenbarung des Johannes, ÖTK NT 19, Gütersloh-Würzburg 2 1995, 136; H-J. Klauck, Das Sendschreiben nach Pergamon und der Kaiserkult in der Johannesoffenbarung, Bib. 73 (1992), 153-182: 181. 18 Zur folgenden Exegese vgl. besonders W. Bousset, Die Offenbarung Johannis, KEK 16, Göttingen 1906; 335ff.; Müller, Offenbarung, 225ff.; P. Busch, Der gefallene Drache. Mythenexegese am Beispiel von Apokalypse 12 (TANZ 19), Tübingen u.a. 1996, passim; J.U. Kalms, Der Sturz des Gottesfeindes. Traditionsgeschichtliche Studien zu Apokalypse 12 (WMANT 93), Neukirchen-Vluyn 2001, passim. 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 42 Paul Metzger »Der Teufel hat wenig Zeit« (Offb 12,12) ZNT 22 (12. Jg. 2008) 43 19 H. Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a.M. 3 1986. 20 Vgl. F.J. Wetz, Hans Blumenberg zur Einführung, Hamburg 1993. 21 Eco, Lector, 224ff. 22 Blumenberg, Lebenszeit, 71. 23 Vgl. zum Überblick O. Böcher, Teufel III. Neues Testament, TRE 33 (2002), 117-121. 24 Eco, Grenzen, 47f. 25 Siehe Anm. 1-3. Vandenhoeck & Ruprecht 37070 Göttingen info@v-r.de www.v-r.de Die neue Kommentare Traugott Holtz Die Offenbarung des Johannes Neubearbeitung Mit einem Vorwort und herausgegeben von Karl-Wilhelm Niebuhr. Das Neue Testament Deutsch. NTD, Band 11. Neubearbeitung 2008. VIII, 158 Seiten, gebunden € 39,90 D bei Abnahme der Reihe: € 35,90 D ISBN 978-3-525-51387-3 Eine allgemein verständliche Auslegung der Johannes- Offenbarung auf der Grundlage aktueller Forschung. Akira Satake Die Offenbarung des Johannes Redaktionell bearbeitet von Thomas Witulski. Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament, Band 16. 2008. 429 Seiten, gebunden € 79,90 D bei Abnahme der Reihe: € 71,90 D ISBN 978-3-525-51616-4 Satake verdeutlicht die großen Linien der Komposition der Johannesoffenbarung. Er stellt die sachlichen und inhaltlichen Bezüge dar und legt die Struktur offen, die der Johannesoffenbarung zugrunde liegt. Folker Siegert Das Evangelium des Johannes in seiner ursprünglichen Gestalt Wiederherstellung und Kommentar Schriften des Institutum Judaicum Delitzschianum, Band 7. 2008. 856 Seiten, gebunden € 149,- D ISBN 978-3-525-50147-4 Der neue Kommentar zum Johannesevangelium! Übersetzung und Kommentierung durch Folker Siegert illustrieren den geschlossen vorliegenden Entwurf einer vorwiegend dialogischen Theologie. 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 43