eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 11/22

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2008
1122 Dronsch Strecker Vogel

Das apokalyptische Denken im Neuen Testament.

2008
Elian Cuvillier
2 ZNT 22 (12. Jg. 2008) 1. Zum Begriff »Apokalyptik« In der zeitgenössischen Bibelwissenschaft hat der Begriff »Apokalyptik« eine dreifache Bedeutung: er bezeichnet sowohl eine literarische Gattung (der Texte), eine soziale Bewegung (der Trägergruppen dieser Texte) und ein Welt- und Wirklichkeitsverständnis (eine Ideologie). 1.1. Eine literarische Gattung Als »apokalyptische Literatur« werden jüdische, gnostisch-christliche, griechische, lateinische und persische Schriften, die zwischen 250 vor und 250 nach Christus entstanden sind, bezeichnet, die gemeinsame Züge haben und die traditionell als Apokalypsen tituliert werden. Folgende Definition ist noch weitgehend konsensfähig: »Eine ›Apokalypse‹ ist eine Gattung der Offenbarungsliteratur, die eine von einem himmlischen Wesen zu einem menschlichen Adressaten überbrachte Offenbarung in einem erzählerischen Rahmen darstellt. Diese Offenbarung enthüllt eine transzendente Wirklichkeit, die gleichzeitig zeitlicher Ordnung ist, da sie das eschatologische Heil betrifft, als auch räumlicher Ordnung ist, da sie die Existenz einer anderen, übernatürlichen Welt voraussetzt. Einer solchen Offenbarung liegt das Ziel zugrunde, die gegenwärtigen und irdischen Umstände von der übernatürlichen Welt und von der Zukunft her zu beleuchten und zu interpretieren, um das Verständnis und das Verhalten der Adressaten mit der göttlichen Autorität zu beeinflussen.« 1 1.2. Eine soziale Bewegung Im Rahmen des Frühjudentums erscheint die apokalyptische Literatur in Zeiten der geistigen Krisen. So wird es bis zum 2. Jh. nach Christus sein. Mit dieser apokalyptischen Schreibweise können Minderheitsgruppen oder sektiererische Kreise innerhalb des Judentums der Überzeugung Ausdruck geben, dass eine Geschichte, eine Hoffnung und eine Zukunft noch vorhanden sind. Trotz jedes Scheines, trotz der verschlossenen Himmel, weil die Zeit der Propheten abgeschlossen ist, die das Gotteswort zur Buße und zu einer möglichen Veränderung verkündigten, trotz der verzweifelten Situation wendet sich der Geist Gottes zu den Visionären, um ihnen zu offenbaren, dass trotz widrigster Umstände und entgegen dem äußeren Schein nicht alles verloren ist: an »jenem Tag« wird er dem gegenwärtigen Zustand ein Ende setzen. Er wird eine neue Menschheit neu schaffen, indem er die Bösen richten und die Gerechten belohnen wird. Es handelt sich also um eine Litera tur des Widerstands, die sich der Tradition der alttestamentlichen Propheten anschließt und ein Wort der Hoffnung und der Ermahnung vermittelt. • Wort der Hoffnung: Es richtet sich an Gruppen, die in der Unsicherheit und unter einem realen oder empfundenen Druck leben. • Wort der Ermahnung: Die Visionen werfen immer einen kritischen Blick auf die Mächte dieser Welt und auf die etablierte Gesellschaft. 1.3. Eine Ideologie Die apokalyptische Literatur und die Bewegung, die ihr verbunden ist, sind durch die Überzeugung gekennzeichnet, dass die alte Welt zu ihrem Ende gekommen ist und dass die zukünftige Welt bald entsteht. Die Trennungslinie zwischen den beiden Größen bildet das Eingreifen Gottes, der am letzten Tag die Unfrommen richten wird und die Erwählten, die unter der Trübsal der Endzeiten gelitten haben, belohnen wird. Was macht jenseits dieser mythologischen Vorstellung der Welt und ihres Werdens das Wesen der Apokalyptik - nicht nur als Literatur, sondern auch als Denkbewegung - aus? Worin besteht ihre grundlegende Aussage? Was ist ihre wesentliche Aussage und welchen Erwartungshorizont setzt sie voraus? Es gibt keine einfache und vollständige Antwort auf diese Frage. Drei Teilantworten können gegeben werden, die sich gegenseitig ergänzen können. Neues Testament aktuell Elian Cuvillier Das apokalyptische Denken im Neuen Testament. Paulus und Johannes von Patmos als Beispiele 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 2 Elian Cuvillier Das apokalyptische Denken im Neuen Testament ZNT 22 (12. Jg. 2008) 3 a.) Die Apokalyptik ist durch die Frage nach dem Bösen und nach dem Sinn der Geschichte geprägt, die manchmal zu einer spekulativen Literatur führt. Den Autoren von Apokalypsen erscheint die Gegenwart als problematisch. Denn die Gegenwart wird wahrgenommen als eine Zeit, in der es den Bösen prächtig geht, während sich die Guten in Trübsal und Leid befinden. So eine Wahrnehmung ist nur allzu menschlich. Dafür bedarf es keiner zusätzlichen besonderen Umstände der Unterdrückung, um Konflikte auszulösen. Wie ist dann das Ärgernis der Welt zu ertragen? Wie kann man damit anders leben, als dass man versucht, es zu verstehen, indem man nach den Ursachen fragt und Auswege aus den Determinismen und Modalitäten der Befreiung - einschließlich eines Zeitplanes - sucht? Hier herrscht die esoterische Spekulation. Von einer solchen Perspektive ist die apokalyptische Literatur nicht frei. b.) Die Apokalyptik kann sich auch auf die Verheißung der Befreiung und der Erlösung konzentrieren. Die Apokalyptiker verkündigen eine mögliche Erlösung, indem sie die Vergangenheit neu auslegen und sich an die noch nicht erfüllten Verheißungen erinnern. Diese Erlösung wird aber in einer anderen, himmlischen Welt gegeben werden, nachdem die jetzige Welt vernichtet wurde. Das Wesen der Apokalyptik besteht in der Spannung zwischen dem Heil, das von Gott zugesprochen wurde, und der auswegslosen Situation, in der der Apokalyptiker lebt. »Das Wesen der Apokalyptik besteht im Verhältnis zwischen der Frage nach der Möglichkeit des Heils und der vorhandenen Antwort. Der Apokalyptiker denkt sich am Ende der Zeiten. Er sehnt sich angespannt nach der Vollendung dieser Welt und dem Kommen der neuen Welt. Seine Augen blicken auf die Welt, die kommt. Er ruft sie hervor. Er stellt sie sich vor, und dies hilft ihm, den Alltag zu ertragen. Seine Hoffnung erhält er von den Verheißungen, die Gott in der Vergangenheit gemacht hat und die unerfüllt geblieben sind: […] Diese Spannung auf das verheißene Heil, das bald in einer anderen Welt geschehen wird, konstituiert das Wesen der Apokalyptik […] Zur Frage: ›Wozu Apokalypsen in diesen Zeiten der Not und des Mangels? ‹ würde die Antwort lauten: um die Gegenwart zu beschwören, indem sie die Zukunft durch die Erinnerung an die Vergangenheit eröffnet.« 2 Hier ist der Trost vorrangig. Die Hoffnung auf eine Befreiung ist stärker als das Bedürfnis, die Zukunft präzise zu kennen. c.) Eine Variante dieser zweiten Antwort betrachtet als das Wesen der Apokalyptik die Verkündigung der Gerechtigkeit Gottes in der Welt als Herausforderung für die Erwählten. Nach dieser Hypothese bleiben die apokalyptische Literatur und die Bewegung, die mit ihr verbunden ist, durch die Überzeugung gekennzeichnet, dass die alte Welt zu ihrem Ende angelangt ist und dass die neue Welt dabei ist zu erscheinen. Die Dimension der Ermahnung und der Aufforderung herrscht aber über dem Moment des Trostes. Dieses besondere Verständnis der Apokalyptik bestimmte nach E RNST K ÄSEMANN das Selbstverständnis des frühen Christentums. 3 Die Apokalyptik sei die Mutter jeglicher christlichen Theologie. Für Käsemann ist die frühe christliche Theologie durch die apokalyptische Vorstellung des Konfliktes zwischen den beiden Äonen strukturiert. Die gegenwärtige Welt steht unter der Macht des Bösen. Die nahe gekommene Parusie bedeutet das Kom- Professor Dr. Elian Cuvillier, Jahrgang 1960, wurde 1991 promoviert und habilitierte sich 1999. Seit 1999 ist er Professor für Exegese des Neues Testaments an der Faculté de théologie protestante de Montpellier. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen u.a.: Naissance et enfance d’un Dieu. Jésus Christ dans l’Evangile de Matthieu, Paris 2005, Les apocalypses du Nouveau Testament (Cahiers Evangile 110), Paris 1999 sowie gemeinsam mit Daniel Causse: Mythes grecs, mythes bibliques. L’humain face à ses dieux (Lire la Bible 150), Paris 2007. Weitere Informationen unter: http: / / www.iptheologie.fr/ facmontpellier/ index.htm Elian Cuvillier 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 3 Neues Testament aktuell 4 ZNT 22 (12. Jg. 2008) men des neuen Äons verstanden als Aufbruch der neuen Welt, als radikale Infragestellung der alten Welt und als Herrschaft des Rechtes Gottes auf Erden. Der christliche Glaube ist die Botschaft, unter der Form eines Rufes zur Umkehr, der unmittelbaren Erscheinung dieser Offenbarung. Die durch die Apokalyptik gestellte Frage lautet: Wem gehört die Welt? Die christliche Botschaft antwortet: Gott und seinem Christus. Diese Botschaft als wahre Offenbarung ruft den Glaubenden zum erneuten Gehorsam. Wir befinden uns hier in der unmittelbaren Nähe der prophetischen Literatur, in der die Heilsbotschaft mit der Aufforderung zum Volk eng verbunden ist. Als Verkündigung des Heils und der Befreiung oszilliert die Apokalyptik zwischen Spekulation, Trost und Aufforderung. Inwiefern prägt sie das neutestamentliche Denken? Wir begrenzen unsere Untersuchung auf Paulus und auf Johannes von Patmos. 2. Paulus und die Apokalyptik 2.1. Der Stand der Diskussion Die hermeneutische Auseinandersetzung über die Bedeutung der Apokalyptik in der paulinischen Theologie darf als bekannt vorausgesetzt werden. Nach dem Impuls von E RNST K ÄSEMANN 4 betrachtet ein Teil der Paulusforschung 5 die paulinische Eschatologie - und die paulinische Theologie überhaupt - als durch das apokalyptische Denken geprägt: nämlich durch den kosmischen und historischen Dualismus der beiden Äonen und durch die unmittelbare Nähe der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes. In diesem begrifflichen Rahmen ist die Auferstehung Jesu als die Vorwegnahme des Endsieges Gottes über den Tod und über die Mächte zu verstehen. Als solche gibt sie dem christlichen Leben seinen Sinn. Und da die gegenwärtige Welt unter dem Gericht Gottes steht, bildet die Erwartung der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes am letzten Tag als Hoffnung der Glaubenden und als Gericht der Welt den Horizont der paulinischen Ethik. Paulus muss vor diesem apokalyptischen Hintergrund, der sein Denken gestaltet, verstanden werden, und die kosmischen und futurischen Dimensionen der paulinischen Eschatologie müssen entsprechend hervorgehoben werden. In Amerika hat J AN C HRISTIAAN B EKER die Überzeugungen Käsemanns noch radikalisiert, 6 indem er die These vertreten hat, die paulinische Christologie sei der Apokalyptik unterordnet und nicht umgekehrt. Auf der anderen Seite vertreten R UDOLF B ULTMANN 7 und die Bibelwissenschaftler, die sich seiner existentialen Interpretation anschließen, 8 die Ansicht, dass sich Paulus vom apokalyptischen Rahmen, der in den traditionellen Formulierungen des 1. Thessalonicherbriefes noch sehr präsent ist, immer deutlicher entfernt hat. Der Ursprung seines theologischen Denkens befindet sich nicht in der Apokalyptik, sondern in der Bedeutung, die das »Kreuz«, die Offenbarung des Gekreuzigten als des Sohnes Gottes, für sein Verhältnis zu sich selbt als Subjekt entwickelte. Von dieser Erkenntnis her (Phil 3,4-11) bekam er die Freiheit, eine Vielfalt an eschatologischen Vorstellungen zu rezipieren. Wegen der Verzögerung der Parusie hat er vielleicht eschatologische Begriffe und Bilder übernommen, die der hellenistischen Welt, die den geographischen und kulturellen Bezugsrahmen seiner Mission bildete, angepasst waren. Die paulinische Eschatologie ist also eher von der hellenistischen Anthropologie her zu verstehen. Sie ist individuell und präsentisch gedacht. Im Zentrum der paulinischen Botschaft befindet sich die Erlösung und die Befreiung des Einzelnen, und die präsentische Dimension des Heils wird hervorgehoben. In diesem Zusammenhang nimmt die paulinische Ethik die Welt, in der die christlichen Gemeinden ihre Freiheit ausüben, wahr. Die Opposition zwischen jüdischer Apokalyptik und hellenistischer Eschatologie und, grundsätzlicher, die Opposition zwischen zwei Interpretationen der paulinischen Theologie ist lange eine interne Debatte der lutherischen Auslegungstradition gewesen. Der Paradigmenwechsel, der in der paulinischen Forschung stattgefunden hat, bietet eine gute Möglichkeit, um sich von einer wahrscheinlich falschen Alternative zu be- »Als Verkündigung des Heils und der Befreiung oszilliert die Apokalyptik zwischen Spekulation, Trost und Aufforderung.« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 4 Elian Cuvillier Das apokalyptische Denken im Neuen Testament ZNT 22 (12. Jg. 2008) 5 freien. Beide Momente sind nämlich in denselben Briefen sichtbar. a.) Was die futurische und die präsentische Dimension der Eschatologie betrifft, kann Paulus sowohl die Hoffnung äußern, in die Wohnung, die für ihn in den Himmeln »nicht von Menschenhänden« bereitet worden ist, einzuziehen (2Kor 5,1-2), und einige Zeilen weiter kann er erklären, dass jeder, der in Christus lebt, eine »neue Schöpfung« ist, dass für ihn die alte Welt vergangen ist und dass eine neue Wirklichkeit für ihn da ist (2Kor 5,17). Es ist übrigens hinsichtlich der hermeneutischen Debatte überraschend, dass Paulus apokalyptische Vorstellungen verwendet, um das präsentische Moment der Erlösung zu betonen (»er ist eine neue Schöpfung«,»die alte Welt ist vergangen«), während die zukünftige Erwartung in den Kategorien der hellenistischen Anthropologie formuliert wird (»in die himmlische Wohnung einziehen«). b.) Das gleiche gilt für die scheinbare Alternative zwischen kosmischer und individueller Eschatologie. Paulus kann erklären, dass die Schöpfung in der Erwartung der Befreiung »seufzt« (Röm 8,19-22) und sofort hinzufügen, dass sie nicht allein steht, sondern dass auch »wir«, d.h. die Glaubenden, warten auf die Adoption und auf die Erlösung (Röm 8,23): Es gibt bei ihm keine Opposition zwischen Erwartung der Schöpfung und Erwartung der christlichen Gemeinde und auch keinen Widerspruch zwischen der individuellen Hoffnung und der Hoffnung der Gemeinde (Phil 1,21-25). c.) In einer ähnlichen Art und Weise stellt sich zwar die paulinische Ethik als eine Ethik des Provisorischen (die paulinischen Empfehlungen enthalten klare Hinweise darauf: »Die Zeit ist kurz..., die Gestalt dieser Welt vergeht« [Kor 7,29-31], »Die Stunde ist schon da,... der Tag ist genaht« [Röm 13,11-12]), aber sie ist gleichzeitig tief in der alltäglichen Wirklichkeit der Adressaten verwurzelt und baut einen positiven Blick auf die Welt und ihre Institutionen (Röm 13,1-7! ). 2.2. Der Galaterbrief als »Apokalypse« 9 Im Galaterbrief setzt sich Paulus mit heidenchristlichen Gemeinden auseinander, die er selbst gegründet hat und zur Zeit der Abfassung des Briefes von Missionaren besucht worden sind, die sie auffordern, sich beschneiden zu lassen (Gal 6,12-13). Die Beschneidung, die die Zugehörigkeit zum Volk des Bundes und die Erwählung Gottes symbolisiert, ist ein notwendiger Übergang für die Heiden, die sich in der Endzeit dem eschatologischen Gottesvolk der Kirche anschließen wollen. Diese Wanderprediger sind oft für legalistische Judenchristen gehalten worden, die sich gegen die Aufnahme der Heiden in die christliche Gemeinde sperrten. Die Argumentation des Briefes verweist aber auf eine andere Richtung (Gal 1,6-9; 3,1-2.5; 4,17; 5,7-12; 6,12-14). Sie setzt vielmehr voraus, dass die anderen Lehrer in Galatien messianische Judenchristen sind, die gegenüber den Heiden, mit denen sie problemlos verkehren, offen sind. Für sie und für die Freunde, die sie in der Gemeinde in Jerusalem haben, ist das Gesetz eine gute Nachricht für die ganze Welt, auch für die Heiden, die durch Israel Zugang zu Gott bekommen haben. In einer gewissen Hinsicht ist ihre Vorstellung der christlichen Mission genauso universalistisch wie die paulinische Mission: Das Gesetz Mose ist ein kosmisches Gesetz und eine göttliche Weisheit für die ganze Menschheit. In der Endzeit, die mit Christus begonnen hat, schenkt Gott den Völkern seinen Geist, wenn sie sein Gesetz beachten. Deshalb ist die Beschneidung, durch welche sie sich der Erwählung anschließen, die Bedingung, die die judenchristlichen Lehrer für die Teilnahme der Galater an den Verheißungen Abrahams und an der eschatologischen Gemeinschaft stellen. Denn Christus ist für sie der Messias, der das Amt des Mose vollendete. Ihre Christologie ist dem Gesetz untergeordnet. Sie verstehen den Tod Jesu im Rahmen einer klassischen, alttestamentlichen Opfertheologie: In Harmonie mit dem Gesetz ist er das Sühnopfer, welches das Verhältnis zu Gott auf der Basis des Gesetzes wiederherzustellen vermag. Zwischen Christus und dem Gesetz gibt es keinen Konflikt - anders wird natürlich in der paulinischen Argumentation verfahren, vgl. Gal 3,10-14! Christus ist für sie der Messias, der das Gesetz bestätigt. Sie vertreten einen für alle Heiden offenen »Bundes-Nomismus« (E. P ARISH S ANDERS ): Durch die Beschneidung (vgl. Gal 2,1-10) und die Einhaltung der Reinheitsgebote (Gal 2,11-14) werden die Heiden Mitglieder des Gottesvolkes, denn Christus hat ihnen durch seinen Sühnetod den Zugang zum Heil 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 5 Neues Testament aktuell 6 ZNT 22 (12. Jg. 2008) eröffnet. Ihre Identität ist nicht von Christus gegeben, sondern durch das Gesetz. Christus hat sie vor dem Gesetz qualifiziert, so dass sie nun auch verpflichtet sind, die »identity markers« einzuhalten (J AMES D UNN ). Für Paulus geht es in der Auseinandersetzung mit den judenchristlichen Lehrern nicht um die bloße Beachtung von rituellen Geboten, angesichts derer er mit der paulinischen Logik des »allen alles werden« (1Kor 9,22, vgl. 1Kor 9,20) hätte argumentieren können, sondern um die Wahrheit des Evangeliums: »Ich Paulus sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, wird Christus euch nichts nützen« (Gal 5,2). Dass Paulus diese Frage der Beschneidung der Heidenchristen für eine entscheidende Frage hält, wird durch die Radikalität der Argumentation und den dringlichen Ton des Briefes bestätigt (Gal 1,6; 3,1). Für Paulus bedeutet Christus und sein Tod den Anfang der neuen Zeit, in der die alte Wirklichkeit vergangen ist. Paulus ist weder von einem Menschen noch durch die Vermittlung oder durch die Traditionen von Menschen als Apostel berufen worden (Gal 1,1), sondern durch eine »Offenbarung« Gottes (Gal 1,16), die als Gegenstand Christus hat (Gal 1,12), der sein Leben dahingegeben hat, um uns von dieser bösen Welt zu befreien (Gal 1,4), und den Gott von den Toten auferweckt hat (Gal 1,1). Gott hat uns den Geist seines Sohnes gesandt (Gal 4,6) und uns in eine neue Schöpfung verwandelt (Gal 6,15). Das »Kreuz« bestimmt ein Zeit- und Geschichtsverständnis, in dem das Gesetz erfüllt ist (Gal 5,13) und nur noch seine ursprüngliche, politische Funktion beibehalten hat (Gal 3,19), so dass es von nun an weder Beschnittenheit noch Unbeschnittenheit gibt, sondern »neue Schöpfung« (Gal 6,15). Die Getauften sind erwachsen (Gal 4,1-7), vom Zuchtmeister befreit (Gal 3,23- 29). Sie befinden sich nicht mehr unter der Herrschaft des Gesetzes und des Fleisches - und sie sollen unter diese Herrschaft nicht zurückkehren -, sondern im Geiste leben (Gal 5,16-6,10). Gott hat sich in seinem Sohn geoffenbart, deshalb sind die alten Zeiten vorbei und die neue Zeit, die Zeit des Geistes, ist da. Die gesamte Debatte des Galaterbriefes lässt sich folglich in der Frage zusammenfassen: »Wieviel Uhr ist es« (J.-L OUIS M AR - TYN ), zu welcher Welt und zu welchem Äon gehört ihr? Der Christ ist zur Freiheit gerufen, und jede Rückkehr unter das Gesetz führt zu der alten Welt, zu der Welt des Fluches des Gesetzes. Daher die wiederholte Aufforderung des Paulus: »Für die Freiheit hat uns Christus frei gemacht; darum stehet fest und lasset euch nicht wieder unter das Joch der Knechtschaft bringen« (Gal 5,1); »Denn ihr seid zur Freiheit berufen, ihr Brüder...« (Gal 5,13). 2.3. Die »messianische Zeit« bei Paulus Der traditionelle Zeitrahmen der Apokalyptik unterscheidet zwei Epochen und zwei Welten (zwei olamim): die olam hazzeh, die Weltgeschichte von ihrer Schöpfung bis zu ihrem Ende, und die olam habba, die zukünftige Welt. 10 Im Griechischen werden zwei Äonen gegenübergestellt. Paulus hat zwar diese Unterscheidung der beiden Äonen übernommen, wie wir es im Galaterbrief festgestellt haben. Diese klassische Vorstellung erfährt aber bei ihm eine Problematisierung und eine Komplexitätssteigerung: Paulus unterscheidet nicht zwei, sondern drei Zeiten. In Anschluss an den italienischen Philosophen G IORGIO A GAMBEN 11 schlage ich vor, diese drei Zeiten als die »profane Zeit«, die »eschatologische Zeit« und die »messianische Zeit« zu bezeichnen. a.) Die »profane Zeit« entspricht der gegenwärtigen Zeit des apokalyptischen Denkens. Sie entspricht bei Paulus der Wirklichkeit der gegenwärtigen Welt, die mit der Schöpfung anfängt und mit dem Christusereignis endet. Der Begriff des »Äons« bezeichnet oft in den Paulusbriefen die gegenwärtige Welt, die Christus nicht erkannt hat (1Kor 1,20; 2,6.8; 2Kor 4,4; vgl. ebenfalls 1Kor 3,18; 10,11), und nach der sich die Glaubenden nicht richten sollen (Röm 12,2). Paulus spricht auch von »dieser Welt« (1Kor 3,19; 5,10; 7,31). Die »profane Zeit« kennzeichnet die Zeit, in der die Glaubenden weiterhin leben und von der sie aber errettet worden sind (Gal 1,4). Sie könnte als Menschheitsgeschichte, als »chronologische Zeit« definiert werden (vgl. Gal 4,4). Mit dem Kommen Christi ist die Zeit erfüllt worden (vgl. die »Fülle der Zeit«, Gal 4,4), das Ende der Zeiten (das »Ende« oder das »Ziel der Äonen«, 1Kor 10,11) ist gekommen. b.) Die eschatologische Zeit entspricht dem neuen Äon der Apokalyptik. Der Begriff kommt aber bei Paulus nie vor. Bezeichnenderweise spricht er nie von einer zukünftigen Welt, sondern 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 6 Elian Cuvillier Das apokalyptische Denken im Neuen Testament ZNT 22 (12. Jg. 2008) 7 er beschränkt sich darauf, auf ihren Anfang zu verweisen: Auf die »Parusie« Christi (1Thess 2,19; 3,13; 4,15; 5,23; 1Kor 15,23) oder auf den »Tag des Herrn« (1Kor 1,8; 5,5; 2Kor 1,14; Phil 1,6.10; 2,16; 1Thess 5,2). Jener »Tag« wird für Paulus der Auftakt des »für immer mit dem Herrn« - sein (1Thess 4,18), das heißt der Augenblick, an dem das »ewige Leben« (Röm 2,7; 5,21; 6,22-23; Gal 6,8), die Zeit der Verherrlichung mit Christus (Röm 8,17) und eine zukünftige Herrlichkeit (Röm 8,18), die der »profanen Zeit« folgen wird. c.) Zu dieser klassischen Unterscheidung hinzu führt Paulus die Vorstellung einer »Zeit« ein, die noch nicht die »eschatologische Zeit«, aber auch nicht mehr die »profane Zeit« ist, und die wir als die »messianische Zeit« bezeichnen werden. Sie steht mit der »Erfüllung der Zeit« (Gal 4,4), das heißt mit dem Kommen Christi oder, bei Paulus noch präziser, mit dem Osterereignis in einem Zusammenhang. Noch einmal: Diese Zeit ist weder die chronologische Zeit der vorhandenen Welt noch die Zeit der Welt, die noch kommen soll. Paulus nennt sie den »jetzigen Augenblick« (Röm 3,26, vgl. auch 8,18), in dem Gott seine Gerechtigkeit im Ereignis des Todes und der Auferstehung Christi offenbart. Die »messianische Zeit« ist weder mit dem Ende der Zeit und dem zukünftigen Äon identisch, noch ist sie der profanen Zeit der Chronologie verwandt, obwohl sie sich mit Letzterer überschneidet. Unsachgemäß wäre es auch zu sagen, dass sie mit der Auferstehung beginnt und bis zur Parusie dauert: Man würde sie dann objektiv und chronologisch festlegen, obwohl sie für Paulus nur für den Glauben fassbar ist. Diese messianische Zeit stellt sich nämlich als eine Offenbarung, als eine »Apokalypse« vor (Röm 1,17-18; vgl. 16,25; 1Kor 2,10; Gal 3,23), die auch Paulus selbst zuteil geworden ist (vgl. Gal 1,12.16), und die den Glauben schafft und verlangt (Röm 1,17-18). Wenn sich die »messianische Zeit«, der messianische Kairos mit der »profanen Zeit« überschneidet, weil sie sich nicht außerhalb der chronologischen Zeit ereignet, können wir auch sagen, dass sie sie erfüllt und qualifiziert. Und auch wenn sie mit der eschatologischen Zeit nicht identisch ist, gehört sie zu ihren Voraussetzungen und zu ihren Bedingungen. Die »messianische Zeit« führt in die traditionelle Unterscheidungen der beiden Äonen eine zweite Unterscheidung ein, die den durch die erste Unterscheidung geschaffenen Raum füllt. Diese zweite Unterscheidung wird durch das Christusereignis ausgelöst - weswegen ich sie nach Agamben als messianische Zeit tituliere. Die »messianische Zeit« ist keine chronologische oder messbare Zeit. Es ist keine Zeit, die sich zu der »profanen Zeit« addieren lässt. Es ist vielmehr eine Zeit, die der profanen Zeit gegenüber eine Verschiebung bewirkt und die Möglichkeit gibt, sie anders zu verstehen. 2.4. Zusammenfassung Die Frage, ob die Parusieverzögerung eine bewegende Rolle in der Entwicklung der paulinischen Eschatologie gespielt hat, muss ohne endgültige Antwort bleiben. Diese Aporie lässt die Debatte zwischen den Vertretern eines apokalyptischen Paulus und den Anhängern einer individuellen Eschatologie verschieben. Die eschatologischen Vorstellungen des Paulus haben sich auf der einen Seite nicht grundsätzlich verändert. Vielmehr hat der Apostel nie aufgehört, die apokalyptische Sprache wiederaufzunehmen, um sie von innen her neu zu gestalten. Auf der anderen Seite muss die futurische Dimension der paulinischen Eschatologie insofern relativiert werden, als sich die Aufmerksamkeit des Paulus trotz jeder zukünftigen Erwartung auf die Gegenwart des Glaubens richtet. Durch die Einführung des Begriffes der messianischen Zeit haben wir versucht, die paulinische Rezeption des apokalyptischen Schemas zu interpretieren. Diese »messianische Zeit« ist als Zeit zu verstehen, die »innerhalb der chronologischen Zeit erscheint und sie von innen her durchdringt und verwandelt«. 12 Sie ist für den Glaubenden die chronologische Zeit, die zu Ende geht, die Zeit, die vor dem Ende übrig bleibt. Paulus wertet die Gegenwart auf und grenzt sich in dieser Art und Weise sowohl von der Apokalyptik als auch vom Enthusiasmus ab: • Keine Flucht in die Zukunftserwartung. • Keine Verdrängung der Wirklichkeit. Die Gegenwart des Glaubens ist der Ort, in dem sich das Evangelium wahrhaftig verwirklicht. Die christliche Existenz gründet auf einem Ereignis, das als radikaler Bruch in der Menschheitsgeschichte verstanden ist (das Kreuz) und lebt in der Erwartung der eschatologischen Ruhe (das Heil). Sie wandelt vor Gott und vor den 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 7 Neues Testament aktuell 8 ZNT 22 (12. Jg. 2008) Menschen in dieser Welt, die vergeht, als Bürger eines Reiches, das sich »in den Himmeln« befindet (Phil 3,20). Sie hat ihren Grund außerhalb dieser Welt. Sie ist nicht mehr durch die Welt und durch ihre »profane Zeit« bestimmt: Weder die Handlungsweise noch die Prinzipien dieser Welt machen ihre Identität aus. Dem Glaubenden ist es vielmehr gegeben, die Welt frei zu verstehen und in der Welt frei zu handeln, weil seine eigentliche Heimat nicht in dieser Welt liegt (Gal 4,26). 3. Die Johannesapokalypse als Schrift des Widerstands 3.1. Die historische Situation Die Pax Romana, die im 1. Jh. herrscht, ist durch eine politische Stabilität und eine wirtschaftliche Konjunktur ohne Vergleich in der bisherigen Weltgeschichte begleitet. Rom nimmt das Ideal von Alexander dem Großen wieder auf und verwirklicht es mit dem Pragmatismus, der die kaiserliche Macht kennzeichnet. Die Entwicklung des Verkehrsnetzes und der Straßen, der allgemeine Wohlstand, der Lebensstil der Eliten der eroberten Gebiete und die lokale Wiederbelebung des Kaiserkultes als Symbol des politischen Patriotismus stellen sich als die Vollendung des Kosmopolitismus und des Universalismus, die Alexander der Große anstrebte, dar. Diese Epoche ist der erste Moment dessen, was man als »pensée unique« bezeichnen kann. Kein anderes System bietet sich als Alternative zu der kaiserlichen Verwaltung an, die politische und militärische Macht mit wirtschaftlicher Entwicklung und kulturellem Leben vereint und Bewunderung hervorruft. Die zeitgenössischen Zeugnisse sind vielsagend. Wir beschränken uns auf zwei Beispiele: a.) 9 v. Chr. fassen die Vertreter der asiatischen Städte einen Beschluss, der die Begeisterung der lokalen Eliten für die römischen Ideale, die sich im ganzen ersten Jahrhundert nicht verändern wird, zum Ausdruck bringt: » Da die unser Leben [auf göttliche Weise] ordnende Vorsehung, Eifer [an den Tag] legend und Großmut, das Leben mit dem Vollkommensten ausschmückt[e], indem sie Augustus hervorbrachte, den sie zum Wohl des Mensch[en]mit Tugend erfüllte, wodurch sie uns und denen nach uns [einen Retter] schickte, der Krieg beendete und [alles] ordnete; da [durch sein Erscheinen] [der] Kaiser die Hoffnungen [all] derer, die zuvor [gute Nachrichten vorweg] genommen hatten, überbot, weil er nicht nur die vor ihm lebend[en Wohltäter über-]traf, sondern auch für die künftig lebenden keine Hoffnung [auf Steigerung übrigließ]; da für die Welt der Anfang der durch ihn (veranlaßten) guten Nachricht[en] (griechisch: euangelia) [der Geburts]tag des Gottes war; […] Deshalb haben zu gutem Gelingen und zum Heil die Griechen in Asien den Beschluß gefaßt, daß der neue Jahresbeginn für all[e] Städte am neunten Tag vor den Kalenden des Oktober beginnt, welcher der Geburtstag des Augustus ist.« 13 b.) Gegen Ende der Epoche, mit der wir uns befassen, schreibt am Anfang des zweiten Jahrhunderts der Rhetor Aelius Aristides: »Was eine Stadt für ihre eigenen Grenzen und ihr Gebiet bedeutet, das bedeutet diese Stadt für den gesamten Erdkreis, da sie gleichsam zu einer gemeinsamen Hauptstadt gemacht wurde. (…) Wie bei einem Festtag hat der ganze Erdkreis sein altes Gewand, das Eisen, abgelegt und sich dem Schmuck und sämtlichen Freuden zugewandt, um sie zu genießen«. 14 Und er hält einen Romrede, die nicht versucht, dem römische Imperium zu schmeicheln, sondern seine vollkommene Verwaltung mit einer »gründlich gereinigten« Flöte, die »nur einen einzigen Ton erschallen« lässt, vergleicht und es als einen Organismus bezeichnet, der dem Kaiser als »höchstem Lenker« 15 einmütig gehorcht. Der Konsens, den diese Texte zum Ausdruck bringen, gibt sicher nicht den Alltag der gesamten Bevölkerungen des Imperiums wieder: Die alltägliche Wirklichkeit ist um so zufälliger und unsicherer, als man nicht zu den privilegierten Klassen der Gesellschaft gehört. Die Texte belegen aber die Einstellung der wichtigsten Zeugen und sozialen Akteure dieser Epoche, nämlich der politischen, wirtschaftlichen und intellektuellen Eliten. In der römischen Welt koexistiert zur gleichen Zeit ein extremer Anspruch auf Universalität und, auf der anderen Seite, eine klare Hierarchisierung und eine genauso extreme Abgrenzung innerhalb des sozialen Lebens. Der Mensch existiert nur aufgrund des Platzes, der ihm zusteht: Er ist ein freier Mensch oder ein Sklave, ein Mann oder eine Frau. Jedem diktiert das Imperium, welchen Platz er auf dem »globalisierten« Spielbrett des Mittelmeersbeckens zu belegen hat. 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 8 Elian Cuvillier Das apokalyptische Denken im Neuen Testament ZNT 22 (12. Jg. 2008) 9 3.2. Der Widerstand des Glaubens Die Johannesapokalypse ist wahrscheinlich unter dem Kaiser Domitian zwischen 90 und 95 nach Christus verfasst worden. Sie ist oft als die Botschaft einer Ermutigung gelesen worden, die für ein Christentum geschrieben wurde, das das Opfer der Unterdrückung eines totalitaristischen Systems war, dessen sichtbares Symbol der vom Seher als Götzenkult abgelehnte Kaiserkult war. Eine kritische, historische Überprüfung führt zu einer Relativierung der Vorstellungen einer aktiven Verfolgung der Adressaten der Apokalypse. 16 Die Historiker verweisen auf den Umstand, dass die Regierungszeit von Domitian durch gewisse Züge des Absolutismus geprägt wurde, dass der Kaiserkult weit verbreitet war und wahrscheinlich auch politisch instrumentalisiert wurde, aber dass keine systematischen und blutigen Verfolgungen der Christen in dieser Zeit stattgefunden haben. Von politischen, militärischen und ökonomischen Gesichtspunkten her ist seine Regierungszeit vielmehr durch Kontinuität und verstärkte Stabilität gekennzeichnet, und zur Frage der Verfolgungen erlaubt die Johannesapokalypse zwei ergänzende Beobachtungen: a.) Selbst wenn bedacht wird, dass der Aufenthalt von Johannes auf Patmos (Offb 1,9) als ein erzwungenes Exil zu verstehen ist, dann müsste die »Verfolgung« als einen Einzelfall der unter Domitian üblich gewordenen Praxis, bedeutende und störende Persönlichkeit von den städtischen Zentren zu entfernen, aufgefasst werden. Man könnte allenfalls darin ein Zeichen der Bedeutung und der Bekanntheit des Sehers in der römischen Verwaltung Asiens sehen. Auf jeden Fall hätten wir dadurch keinen Beleg für eine systematische Verfolgung der Christen, wie man sie im 3. Jh. und bis Diokletian kennt. b.) Johannes vermag keinen anderen Namen eines Märtyrers anzugeben als den von Antipas (Offb 2,13). Die Anspielungen auf Martyrien beziehen sich nicht auf die aktuelle Situation des Adressaten der Apokalypse. Sie verweisen des Öfteren auf Märtyrer der Vergangenheit, auf Märtyrer des AT oder der Zeit Neros oder gehören zur Idealisierung der Figur der Zeugen. Darüber hinaus müssen wir beachten, dass der Text der Apokalypse keinen Anlass gibt, die Tätigkeit des Johannes auf Patmos anders als eine freiwillige Predigtreise zu interpretieren. Man könnte sich auch einfach vorstellen, dass er dorthin gefahren ist, um sich zurückzuziehen und um Abstand zu nehmen. Von dort hätte er sich an die asiatischen christlichen Gemeinden richten wollen, um ihnen mit einem anderen Blick zu helfen, ihre aktuelle Situation zu deuten. Es ist offensichtlich nicht das Anliegen von Johannes aus Patmos, eine verfolgte Gemeinde zu ermutigen. Seine erklärte Intention ist es vielmehr, ihnen eine »Etablierung« in die heidnische Gesellschaft vorzuwerfen. Darauf zielen auf jeden Fall die scharfen Warnungen der sogenannten Sendschreiben in Offb 2-3. Indem er seine Leser auffordert, einen kritischen Blick auf die römische Gesellschaft und auf die kaiserliche Macht zu werfen, fährt Johannes gegen den Strom, dem die in den sieben Sendschreiben geschilderten Kirchen folgen. Die Apokalypse versucht, dem Druck entgegenzuwirken, unter welchem die christlichen Gemeinden stehen, aber auch der sie bedrohenden Versuchung, sich dem pro-römischen patriotischen Trend der asiatischen Provinzen anzupassen, Paroli zu bieten. 3.3. Die symbolische Neuschöpfung der Welt Eine doppelte Überzeugung liegt dem Schreiben von Johannes aus Patmos zugrunde: • Von außen her: eine theologische Kritik der menschlichen Mächte. • Von innen her: eine theologische Kritik der christlichen Gemeinde, sobald sie gedenkt, sich in der Welt zu etablieren und ihre wesentliche Aufgabe nicht mehr wahrnimmt, die Gegenwart der neuen Zeit, die inmitten der alten Welt durch den Tod und die Auferstehung Jesu angebrochen ist, zu verkündigen und zu bezeugen. Dieses kritische Moment geht mit einer Verteufelung der kaiserlichen Struktur einher, die in Offb 13 und Offb 17-18 veranschaulicht wird. Diese Verteufelung ergibt sich nicht aus apokalyptischen Spekulationen, sondern aus einer deut- »Es ist offensichtlich nicht das Anliegen von Johannes aus Patmos, eine verfolgte Gemeinde zu ermutigen.« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 9 Neues Testament aktuell 10 ZNT 22 (12. Jg. 2008) lichen Analyse der politischen Situation, die am Ende des 1. Jh.s herrscht. Der Seher aus Patmos deutet nämlich die »globale« Form, die die kaiserliche Macht und ihre enthusiastische Rezeption bei den Eliten angenommen haben, als ein totalitäres und idolatrisches System, das religiöse Ansprüche erhebt und gesamte Bereiche der menschlichen Existenz kontrolliert. Diese Ansprüche offenbaren nicht so sehr den Stolz der Menschen und insbesondere der Kaiser als die Mächte des Bösen, denen sie unterworfen sind und die in der Schöpfung handeln. Deshalb fordert diese apokalyptische Interpretation der Wirklichkeit die Glaubenden auf, ihren Glauben als geistigen Widerstand gegen die Götzenverehrung und als die Erwartung des Gerichtes, das auf eine durch die Mächte beherrschte Welt gerichtet ist, zu verstehen. Diese Haltung des Widerstandes gründet nun im Ereignis der Aussendung des gekreuzigten Christus und des geschlachteten Lammes (Offb 5,4), der sich offenbart, um die Welt zu richten. Johannes erhebt seinen Protest gegen die Logik der Welt und gegen den Cäsar, der meint, die Identität jeder menschlichen Existenz zu bestimmen. Das Glaubensbekenntnis ist also ein politischer Akt geworden. Es baut ein neues Verständnis der eigenen Existenz und der Welt, in der die Gemeinde lebt, auf. Die Interpretation der Wirklichkeit ist aber weder eine Objektivierung noch eine Röntgenaufnahme dieser Wirklichkeit, sondern ihre Rekonstruktion von einem bestimmten Gesichtspunkt her. Sie stellt sich als ein Verständnis der Welt vor, das sich aus dem neuen Verständnis seiner selbst in der Welt, aus der neuen Interpretation seiner selbst, die in der Offenbarung des Christusereignisses gründet, ergibt. Johannes schafft sozusagen die Welt neu, er baut sie wieder von seinem Glauben an Gott her, wie Christus ihn offenbart, auf (vgl. Offb 1,1). Dafür braucht er eine symbolische Sprache, weil diese Sprache die Möglichkeit mit sich bringt, einen Bruch in der Wahrnehmung und im Verständnis der Wirklichkeit zu erzeugen. Das Osterereignis lässt etwas anderes, radikal Neues erscheinen, welches anders als die bestehende Situation, als die existierenden Meinungen und als die institutionalisierten Formen des Wissens ist. Es zerbricht den Konsens, um welchen herum sich die römische Gesellschaft organisiert, und schafft eine neue Welt, die jede vergangene Situation und ihre Logik in Frage stellt. Die Treue zum Gründungsereignis der Christusoffenbarung besteht im Zeugnis, dass die Wirklichkeit dieser Welt das letzte Wort weder hat noch haben kann. Das Motto der römischen Macht, dem alle aufgefordert oder gezwungen sind, zuzustimmen, ist trügerisch. Wie lautet dieses Motto? Man könnte es einfach mit folgenden Worten zusammenfassen: »Es gibt, was es gibt«. Die Sachverhalte, die sich zu sehen geben, stellen die Wahrheit der Wirklichkeit vor: die kaiserliche Macht, die kaiserliche Ordnung, die Pax Romana, die hierarchisierte Organisation der Welt. Das sei, was »es gibt«, und es sei gut so. Die Treue zum Gründungsereignis des Glaubens besteht in der Verkündigung des genauen Gegenteils: »Es gibt, was es nicht gibt«. Das heißt: Trotz jedem Schein und trotz der Evidenzen, die in der Welt gelten, hat Gott den Tod und die Mächte des Todes in Christus besiegt. Als Konsequenz besteht die vorhandene Wirklichkeit aus Lüge und Illusion. Anders formuliert: Die römische Macht und ihr Anspruch, die Totalität der menschlichen Existenz global zu kontrollieren, ist ein diabolischer Betrug. 3.4. Apokalyptischer Universalismus gegen römische Globalisierung In der Ordnung der römischen Welt werden alle festen Rollen, Funktionen und Klassen zugeordnet. Im Namen seines Gottes verkündigt der Seher aus Patmos dagegen, dass es in Christus keine Abgrenzungen zwischen den Personen mehr gibt. Der Einzelne, was auch immer er sei, wird unabhängig von seinen Funktionen, von seinen äußerlichen Eigenschaften und von seiner Herkunft anerkannt und geliebt. Diese Bedingungslosigkeit ist die einzige Begründung eines tatsächlichen Universalismus. Das Malzeichen, das das Individuum als Subjekt kennzeichnet, kann nicht das Malzeichen des Tieres sein, das vor allen Augen die Klas- »Johannes erhebt seinen Protest gegen die Logik der Welt und gegen den Cäsar, der meint, die Identität jeder menschlichen Existenz zu bestimmen.« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 10 Elian Cuvillier Das apokalyptische Denken im Neuen Testament ZNT 22 (12. Jg. 2008) 11 se, zu welcher jeder gehört, bekannt gibt (Offb 13,16), sondern das unsichtbare Malzeichen des neuen Namens, der im »Buch des Lebens« (Offb 3,5) aufgeschrieben steht. Dieser Name ist verborgen und vor den Mächten geschützt, weil ihn nur derjenige kennt, der ihn bekommen hat (Offb 2,17). Das Osterereignis ist für Johannes die neue Geburt vor Gott, es ist die Geburt eines Subjektes in der ersten Person. Zusammen mit den Menschen aus allen Sprachen, Nationen und Völkern, die den Gottesdienst des Lammes feiern, bildet es das neue Gottesvolk, ein Volk von »Königen« und von »Priestern« (Offb 1,6). Diese buchstäblich »revolutionäre« Überzeugung, welche die die römische Gesellschaft strukturierenden Hierarchien umkippt, konstituiert den Glaubenden als Dissidenten mitten in dieser Welt. So kann Johannes verkünden: »Halleluja! Das Heil und der Ruhm und die Kraft ist unseres Gottes, denn wahr und gerecht sind seine Gerichte! Denn er hat die große Buhlerin gerichtet, die die Erde mit ihrer Unzucht verderbte, und hat das Blut seiner Knechte an ihr gerächt« (Offb 19,1-2). Folgendes muss noch unterstrichen werden: Der Gott der Apokalypse stellt die römische Macht in Frage, indem er sich unter der paradoxen Form des geschlachteten Lammes offenbart (Offb 5,6). Seine Kraft hat nichts mit der brutalen und uniformisierenden Macht des Imperiums, des »Tieres«, zu tun. Die Kraft Gottes ist in der Apokalypse eng verbunden mit einem Wort, das sich gegen die Evidenz und gegen die opinio communis erhebt. Wir können zusammenfassen: Der Widerstand des Sehers der Johannesapokalypse gegen den vermeintlichen römischen Universalismus gründet in einer theologischen Analyse der politischen Situation am Ende des 1. Jh.s. Johannes von Patmos interpretiert nämlich den römischen »Universalismus« als einen totalitären Anspruch. Die kaiserliche Macht wird als ein System enthüllt, das die Ganzheit der menschlichen Existenz zu regieren versucht, indem die Menschen der ganzen Erde einem bestimmten Platz je nach Eigenschaften, Besitz, Erbe und Geburt zugeordnet werden. Dieser Logik gilt der geistige Widerstand der Apokalypse und in diesem System werden die Glaubenden aufgefordert, sich als Zeugen des Universalismus des Gottes des Lammes, der jede Person bedingungslos, singulär, individuell und gleichberechtigt versammelt, als Dissidenten zu verstehen und zu verhalten. 4. Ausblick Sowohl in den Visionen von Johannes als auch im Denken des Paulus bildet die Apokalyptik einen bereits existierenden ideologischen Rahmen, in welchem das Christusereignis aufgenommen und interpretiert wird. Sie bietet dem christlichen Bekenntnis Interpretamente, die die Osterbotschaft ihrerseits umgestaltet und erneuert. Die kritische Vorstellungskraft der Apokalyptik liefert unter anderem einen fruchtbaren Boden für die paradoxe Verkündigung des Gottes Jesu Christi, eines Gottes im Namen dessen behauptet werden kann, dass »Großes klein und Kleines groß ist, Rechtes verkehrt und Verkehrtes recht, daß Hoffnungsloses Verheißung hat und und Hoffnungsvolles gerichtet wird. […] daß Kreuz Sieg bedeutet und Tod Leben«. 17 Der Beitrag wurde aus dem Französischen von Prof. Dr. Dr. h.c. François Vouga übersetzt. l Anmerkungen 1 Erster Teil der Definition: J.J. Collins (Hg.), Apocalypse: The Morphology of a Genre, Semeia 14 (1979), 9. Zweiter Teil: A.Y. Collins (Hg.), Early Christian Apocalypticism: Genre and Social Setting, Semeia 36 (1986), 7. 2 G. Rochais, L’influence de quelques idées-forces de l’apocalyptique sur certains mouvements messianiques et prophétiques populaires juifs du 1er siècle, in: D. Marguerat / E. Norelli / J.-M. Poffet (Hgg.), Jésus de Nazareth. Nouvelles approches d’une énigme, Genf 1998, 177-208, vgl. besonders 189-190. 3 E. Käsemann, Die Anfänge christlicher Theologie, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttingen 1964, 82-104 und ders., Zum Thema der Urchristlichen Apokalyptik, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttingen 1964, 105-131. 4 Käsemann, Apokalyptik, 105-131. 5 J.-L. Martyn, Apocalyptic Antinomies in Paul’s Letter to Galatians, NTS 31 (1985), 410-424; ders., Galatians, New York 1997, bes. 97-105 (»Apocalyptic Theology in Galatians«); ders., De-apocalypticizing Paul: An Essay Focused on »Paul and the Stoics« by Troels 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 11 Neues Testament aktuell 12 ZNT 22 (12. Jg. 2008) Engberg-Pedersen, JSNT 86 (2002), 61-102. Vgl. auch M.C. de Boer, Paul and Jewish Apocalyptic Eschatology, in: J. Marcus / M.L. Soards (Hgg.), Apocalyptic and the New Testament. Essays in Honor of J. Louis Martyn, Sheffield 1989, 169-190. 6 J.Chr. Beker, Paul the Apostle. The Triumph of God in Life and Thought, Edinburgh 1980; ders., Paul’s Apocalyptic Gospel. The Coming Triumph of God, Philadelphia 1982. 7 Vgl. zum Beispiel R. Bultmann, Geschichte und Eschatologie, Tübingen 1958, 46-50. 8 J. Becker, Erwägungen zur apokalyptischen Tradition in der paulinischen Theologie, EvTh 30 (1970) 593- 609; ders., Paulus: Apostel der Völker, Tübingen 2004 (? ), 509-520; J. Baumgarten, Paulus und die Apokalyptik, Neukirchen-Vluyn 1979. 9 Ich folge hier der Argumentation, die François Vouga in seinem Kommentar entwickelt: An die Galater, HNT 10, Tübingen 1998. 10 Vgl. 1Hen 71,15; 4Esra 7,50.112.119; 2Bar 44,8-15; 83,4-9. Vgl. dazu de Boer, Paul and Jewish Apocalyptic Eschatology, 172ff. und die Fußnoten. 11 G. Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt a.M. 2006, 75-85 (orig: Le temps qui reste, Paris 2000, vgl. besonders: 104-119). 12 Agamben, Zeit, 77. 13 Bei dem Text handelt es sich um Teile der Kalenderinschrift aus Priene in Ionien (Z.: 32-41.49-56) Übers. nach C. Ettl, Der Anfang der … Evangelien. Die Kalenderinschrift von Priene und ihre Relevanz für die Geschichte des Begriffs euangelion. Mit einer Anmerkung zur Frage nach der Gattung der Logienquelle, in: S. Brandenburger / T. Hieke (Hgg.), Wenn drei das gleiche sagen. Studien zu den ersten drei Evangelien, Münster 1998, 131. 14 Aelius Aristides, Die Romrede, hg. u. übers. v. R. Klein (Texte zur Forschung 45), Darmstadt 1983, 39.59. 15 Aristides, Romrede, 25. 16 Zum historischen Rahmen der Johannesapokalypse vgl. L.L. Thompson, The Book of Revelation : Apocalypse and Empire; T.B. Slater, On the Social Setting of the Revelation to John, NTS 44 (1998), 232-256. 17 D. Bonhoeffer, Bonhoeffer Brevier, hrsg. v. O. Dudzus, München 1963, 423. 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 12