eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 12/23

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2009
1223 Dronsch Strecker Vogel

»Johannes« im Gespräch – mit wem und worüber?

2009
Michael Theobald
ZNT 23 (12. Jg. 2009) 47 Kannte »Johannes« die Synoptiker (oder zumindest einen von ihnen) oder verfasste er sein Werk unabhängig von ihnen? 1 Die Antwort auf diese »Gretchenfrage« der Johannesforschung scheint auch von Stimmungslagen abzuhängen, die kippen können, wenn sich Plausibilitäten unversehens auflösen. Jahrhunderte lang herrschte konkurrenzlos die Abhängigkeitstheorie, bis ihr in den 30er Jahren des letzten Jh.s die Annahme der Unabhängigkeit des Vierten Evangelisten von den Synoptikern den Rang ablief. Schien der errungene kritische Konsens zunächst stabil, so ließ ihn die Löwener Schule um F. Neirynck in den 70er Jahren schon bald wieder kippen, ohne dass die Sachlage freilich wirklich geklärt wurde. 2 Wenn zuweilen die Antworten auf die »Gretchenfrage« Bekenntnischarakter annehmen, dann zeigt das nur, dass die Kluft zwischen den ausweisbaren literarischen Befunden und der jeweiligen Rahmenhypothese, in die sie eingestellt werden, sich letztlich nicht wirklich schließen lässt. Mehr als Wahrscheinlichkeiten sind nicht zu erreichen, so oder so. Vielleicht empfiehlt es sich deshalb auch, der viel grundsätzlicheren Frage: Mit wem ist der Evangelist im Gespräch und worüber? , den Vorrang einzuräumen, und erst, wenn über diese Frage Einverständnis erzielt ist, die diachrone nach der Entstehung des Buches ins Auge zu fassen. 3 1. »… damit ihr glaubt: Jesus ist der Messias, der Sohn Gottes« (Joh 20,31) Texte sind immer in eine Kommunikationssituation eingebettet, auch wenn sie das zuweilen verbergen. Auch das Vierte Evangelium gehört in eine konkrete Situation hinein mit prägnanten Erfahrungen im Hintergrund, die es verarbeitet. Dennoch erhebt sein Autor einen umfassenden Wahrheitsanspruch. Die im »johanneischen Kreis« gemachten Erfahrungen hält er für so grundsätzlich, dass sie auch andere angehen. Mit anderen Worten: Das johanneische Gemeindebuch will nicht nur die eigenen Mitglieder in ihrem Glauben an den Messias und Gottessohn Jesus stärken, es hat darüber hinaus alle möglichen an Jesus glaubenden Leser im Blick - to whom it concerns! 4 Worum geht es? Im Hintergrund steht der Synagogenausschluss der »johanneischen« Christen, der durch ihr Bekenntnis zu Jesus dem präexistenten Gottes- und Menschensohn verursacht wurde. Pharisäische Autoritäten der Synagoge erkannten darin eine blasphemische Verletzung des biblischen Grunddogmas von der Einheit Gottes. Diese Anklage verarbeitet der Vierte Evangelist, indem er mittels der Sendungsvorstellung die Einbettung des Christusglaubens in den Gottesglauben aufzeigt. Dessen Transformation durch die hohe Sohneschristologie, die schon im »johanneischen Kreis« gewachsen sein muss, nimmt er aber nirgends zurück. Ihm liegt es auch fern, die Trennung seiner Gemeinden von der Synagoge zu bedauern. Vielmehr sucht er seine Leserschaft im Gegenteil von der Notwendigkeit ihrer christlichkirchlichen Identität abseits der Synagoge zu überzeugen - zu einer Zeit, in der die Grenzziehungen zwischen Synagoge und messianischen Jesus-Gemeinden keineswegs überall klar waren. Das wirft Licht auf eine oft übersehene johanneische Erzählfigur, die »der vielen (Juden), die an Jesus glaubten«, die siebenmal im Buch begegnet, durchweg im Jerusalem-Kontext (2,23; 7,31; 8,30f.; 10,42; 11,45; 12,11.42). Diesen Juden vertraut sich Jesus nicht an (wie 2,24 programmatisch erklärt), und der Erzähler stellt ihren Glauben auch durchgängig als defizient hin. Diese Erzählfigur steht wohl für messianische Jesus-Gläubige, die nach wie vor an der heiligen Stadt als ihrem geistigen Mittelpunkt festhielten, an Jesus den messianischen Propheten und Wundertäter glaubten und ihre jüdische Beheimatung nicht aufgeben wollten. Ihnen will die dramatische Erzählung des Kontroverse Michael Theobald »Johannes« im Gespräch - mit wem und worüber? 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 47 Kontroverse 48 ZNT 23 (12. Jg. 2009) Evangelisten sagen: Was Jesus widerfuhr, seine Verstoßung als »Gotteslästerer« aus der Tempelgemeinschaft der Juden, das bleibt auch seinen Anhängern in vergleichbaren Situationen nicht erspart (vgl. Joh 9). Das Bekenntnis zu Jesus dem präexistenten Menschen- und Gottessohn, dem wahren und einzigen »Tempel« Gottes in dieser Welt - dieses Bekenntnis begründet eine eigene christliche Identität, die aus der Synagoge herausführen muss. Damit wird die Gesprächssituation des Evangelisten transparent: Er schreibt für seine Gemeinden, die er in ihrem Angefochtensein stützen will durch Klärung ihrer Identität - dies angesichts der keineswegs überall abgeschlossenen Trennungsprozesse zwischen »Kirche« und »Synagoge«. Vom Gründungsgeschehen Jesu zu erzählen ist für ihn ein gemeinschaftsbildender wie identitätsstiftender Akt! 2. Stützt sich der Evangelist im Gespräch mit seinen Lesern auf Referenztexte? 2.1. Der Evangelist steht mit Menschen im Gespräch - auch mit Texten, die seiner Leserschaft und ihm etwas bedeuten und auf die er deshalb um der gemeinsamen Verständigung willen Bezug nehmen muss? Die jüngere Intertextualitätsdebatte lehrt uns, bei dieser Frage Verweissignale auf vorausgesetzte Prätexte zu beachten. Und tatsächlich werden wir beim Vierten Evangelisten in einem Falle fündig, nämlich bei seinem Rekurs auf die »Schrift« in Gestalt markierter Zitate oder Anspielungen. Weil die Schrift für ihn und seine Leserschaft hohe Autorität besaß, musste er auch an ihr den Christus-Glauben bewähren - zumal angesichts ihrer konkurrierenden Beanspruchung durch die Synagoge. Gibt es darüber hinaus weitere Bücher, mit denen er in seiner Jesus-Vita im Gespräch steht? 2.2. Mit den synoptischen Evangelien, meint H. Thyen und erklärt, der Evangelist habe diese nicht nur als Reservoir der Jesus-Erinnerung für die Produktion seines Buches genutzt, sondern auch ein kontinuierliches Gespräch mit ihnen im Buch selbst geführt. Die ersten Rezipienten hätten die Prätexte gekannt und wären deshalb auch in der Lage gewesen, seinem permanenten »intertextuellen Spiel« mit ihnen in allen Variationen möglicher Bezugnahmen zu folgen. 5 Danach ist es das Gespräch mit den Synoptikern, das die Kommunikationssituation des Vierten Evangelisten konstituiert; in ihm verdeutlicht er seine Sicht der Vita Jesu. Zwei Fragen möchte ich an dieses Modell stellen: (a) Synoptisches Lesen konnte die frühe Kirche erst erlernen, als zwei oder mehrere Evangelien (in Kodizes) gemeinsam greifbar wurden, was ab dem 2. Jh. der Fall war - ob gegen Ende des Jh.s oder früher, ist umstritten. Die Frage lautet, ob wir eine analoge Situation schon für die Adressaten des Vierten Evangeliums voraussetzen können oder ob das nicht anachronistisch ist. Wer dieser Annahme dennoch folgt, hat die Beweislast. Gestützt auf Kriterien zur zweifelsfreien Identifikation von Anspielungen auf synoptische Prätexte muss er zeigen, dass der Evangelist diese nicht nur gekannt, sondern auch tatsächlich als ständige Gesprächspartner in seinem Buch mit im Blick hatte. 6 Ansonsten bleibt der Eindruck eines unkontrollierbaren ästhetischen Spiels, das vielleicht für die Nachgeborenen, die das Neue Testament in Händen halten, von spirituellem Nutzen sein mag, aber über die Erstleser nichts verrät. Übrigens war das synoptische Lesen der vier Evangelien in der frühen Kirche keineswegs ein ungetrübter Genuss, sondern nicht selten ein anstrengendes Geschäft. Es gab genug Gegner des Christentums, die die Glaubwürdigkeit der Evangelien dadurch zu erschüttern suchten, dass sie die Widersprüche zwischen ihnen genüsslich vor ihrem Publikum ausbreiteten. (b) Die zweite Frage betrifft grundsätzlich die Idee eines Gesprächs mit den mutmaßlichen Vorgängerbüchern. Setzt diese Idee nicht voraus, dass die Synoptiker für die Adressaten in Geltung standen, weshalb sie der Vierte Evangelist zur Klärung der von ihm favorisierten Perspektive auf die Vita Jesu mit hinzuziehen musste? Schon die Art und Weise, wie Matthäus und Lukas mit ihrer Hauptquelle, dem Markusevangelium, umgehen, rät hier eher zur Vorsicht. Beide strebten - vereinfacht gesprochen - eine »ergänzte und verbesserte Auflage« des Markusevangeliums an, wollten es also ersetzen. Überzeugt davon, dass ihr Buch nun ausreiche, weil es alles Wissenswerte enthielte, waren sie nicht daran interessiert, dass ihre Adressaten das neue Buch mit der »Erstauflage« verglichen. Wenn das Markusevangelium dennoch überlebte, dann nur deshalb, weil es eine 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 48 Michael Theobald »Johannes« im Gespräch - mit wem und worüber? ZNT 23 (12. Jg. 2009) 49 anhängliche Leserschaft besaß, eine starke Lobby - wahrscheinlich die römische Gemeinde, deren Buch es war. Anders bekanntlich das Schicksal der von Matthäus und Lukas geschluckten sog. »Logienquelle«! Sie ging unter, wie die Welt der »Wandermissionare« auch, der sie entstammte. Von hierher wird man die Evangelien-Produktion als einen internen Verdrängungsprozess deuten, als ein Ringen um die bessere und vollständigere Darstellung des Jesusgeschehens sowie die damit verbundene Interpretationshoheit: Welches Buch bringt das Jesusgeschehen wirklich angemessen zur Sprache? Matthäus und Lukas sind je für sich von einer solchen Überbietung des Markus her zu begreifen. Die Frage ist, ob man auch den Vierten Evangelisten in diesen literarischen Verdrängungsprozess mit einbeziehen kann - jetzt möglicherweise sogar angesichts von drei schon vorliegenden Büchern? Dass er das eine oder andere von ihnen gekannt und für sein eigenes Werk genutzt hat, ist nicht von vornherein auszuschließen. Sein eigenes mit seinem gänzlich anderen Profil wäre dann aber keinesfalls eine »ergänzte und verbesserte Auflage« der Vorgänger, sondern eine völlige Neubearbeitung der Thematik. Gesetzt den Fall, er hätte jene oder mindestens einen von ihnen gekannt: Nicht die Absicht, mit ihnen als anerkannten Entwürfen ein Gespräch zu führen, sondern der schlichte Wille, sie zu ersetzen, hätte ihm die Feder geführt. Das Gespräch, das sein Buch bestimmt, weist aber, wie wir oben gesehen haben, in eine ganz andere Richtung. 3. Enthält das Evangelium alles, was die Leser wissen müssen, oder rekurriert es auch auf außertextliche Wissensbestände? 3.1. Halten wir zunächst fest: »(E)ine gezielte intertextuelle Intention im Rückverweis auf die Synoptiker, die im Text verankert wäre«, ist »weniger wahrscheinlich«. 7 Auch der erste Buchschluss 20,30f. belegt eine derartige Intention nicht. Ihm liegt nicht an dem Gegensatz, Jesus habe noch »viele andere Zeichen getan, die nicht in diesem Buch aufgeschrieben sind« (wohl aber in anderen! ), sondern er betont, die »vielen anderen Zeichen«, die er getan habe, seien »nicht aufgeschrieben« (V. 30), im Unterschied zu denen, die auf eine bestimmte Absicht hin (V. 31) von ihm tatsächlich »aufgeschrieben sind«. Die parallele Notiz des (nachträglichen) zweiten Buchschlusses 21,25 bestätigt dies: »Es scheint mir eindeutig«, so M. Frenschkowski, »dass hier der Herausgeber mit dem Selbstbewusstsein auftritt, das einzige Buch über Jesus vorzulegen, das es gibt (denn die anderen sind ja bloß mögliche), und nicht etwa ein weiteres Exemplar einer schon etablierten Gattung Evangelium«. 8 Beiden Stellen liegt derselbe Topos zugrunde: Die unbeschreibliche Fülle dessen, was der Gottessohn auf Erden gewirkt habe, kann das geschriebene Wort nicht ausschöpfen! 3.2. Zuweilen spart der Evangelist in seiner Erzählung Vorgänge aus, über die seine Erstleser anderweitig Bescheid gewusst haben dürften. Deutet das auf ihre Synoptiker-Kenntnis hin, die es ihnen erlaubte, derartige »Leerstellen« zu füllen, wie Prof. Dr. Michael Theobald, Jahrgang 1948, studierte katholische Theologie in Bonn und Münster. 1979 Promotion in Bonn und 1985 Habilitation in Regensburg. Von 1985 bis 1989 Ordinarius für Biblische Theologie an der FU Berlin. Seit 1989 Ordinarius für Neues Testament an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Tübingen. Zu den Arbeitsschwerpunkten von Prof. Dr. Theobald gehören das Johannesevangelium sowie die neutestamentliche Briefliteratur. Zur Zeit arbeitet er am 2. Bd. seines Kommentars zum Johannesevangelium in der Reihe Regensburger Neues Testament sowie einem Forschungs- und Literaturbericht zum Johannesevangelium in der Reihe Erträge der Forschung (Darmstadt). Weitere Informationen unter: www.kath-theol.uni-tuebingen.de/ Lehrstuehle/ NT/ Prof_Theobald/ index.html. Michael Theobald 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 49 Kontroverse 50 ZNT 23 (12. Jg. 2009) manche Autoren meinen? Bei den beiden zunächst zu nennenden Fällen liegt wohl ein absichtsvolles Verschweigen vonseiten des Evangelisten vor. (a) Dass Johannes Jesus getauft hat, lässt sich der Erzählung Joh 1 nicht entnehmen. Diese teilt lediglich mit, dass der Täufer die Herabkunft des Geistes in Gestalt einer Taube auf Jesus gesehen habe, verschweigt aber die Gelegenheit seiner Vision. Weil die Leser um Jesu Taufe aus mündlicher Tradition gewusst haben dürften (eines literarischen Werks bedurfte es dazu nicht), werden sie in der Lage gewesen sein, in der »Leerstelle« eine (christologische) Absicht des Evangelisten zu erkennen (er selbst wird übrigens die Erzählung von Jesu Taufe in der »Zeichenquelle« vorgefunden haben). (b) Ähnlich liegen die Dinge bei 18,24. Der Evangelist erwähnt zwar eine Überstellung Jesu an den amtierenden Hohenpriester Kajaphas, verschweigt aber mit Absicht, was vor ihm verhandelt wurde (der Prozess gegen Jesus, seit Kap. 5 im Gang, ist längst abgeschlossen! Vgl. 18,20f.). Dabei erwartete er von den Erstlesern, dass sie seine literarische Strategie durchschauten. Wahrscheinlich waren diese über die Inhalte der Verhandlung vor Kajaphas bzw. dem Hohen Rat im Bild. Daraus auf ihre Kenntnis der Synoptiker zu schließen, wäre allerdings kurzschlüssig, da sie von der in 18,24 / 28 ausgesparten Synhedriumssitzung durch die vorjohanneische Passionserzählung gewusst haben werden. Diese enthielt nämlich die Szene, deren Kern der Evangelist mit Bedacht nach 10,24f.36 vorgezogen hat - gemäß seinem Konzept, nach dem die Auseinandersetzungen Jesu mit »den Juden« in den Kapiteln zuvor insgesamt den Prozess enthalten! (c) Drei außertextliche Verweise machen einen etwas aufgesetzten Eindruck. 3,24: »denn er (sc. Johannes) war noch nicht ins Gefängnis geworfen«, scheint ein 3,22f. zuwiderlaufendes Geschichtsbild korrigieren zu wollen, das von einem Nacheinander im Wirken von Täufer und Jesus ausgeht, wie Markus es propagiert (Mk 1,14). Allerdings muss diese Periodisierung nicht durch den ältesten Evangelisten, sie kann auch mündlich vermittelt sein (vgl. Apg 13,24f.). Die externe Analepse 4,44 erinnert an ein früheres Wort Jesu, das dieser in Joh allerdings nie gesprochen hat. Es findet sich ähnlich auch in synoptischer Überlieferung und im Thomasevangelium. Da es mit keiner dieser Fassungen wörtlich übereinstimmt, dürfte es - so die Majorität der Kommentatoren - aus mündlicher Überlieferung stammen. Die Notiz 11,2 weist weniger aus dem Text heraus, als vielmehr nach vorne (12,1-8). Die Glosse soll wohl die Verzahnung der Erzählungen von den drei Geschwistern Lazarus, Maria und Martha vorweg anzeigen. 4. Hat der Vierte Evangelist die Synoptiker (oder zumindest einen von ihnen) benutzt? Ohne Zweifel stimmt das Vierte Evangelium in wichtigen Passagen mit den Synoptikern überein, so dass sich trotz der voranstehenden Überlegungen die Frage nicht umgehen lässt, ob sein Autor sie nicht doch benutzt hat? Um hier klarer zu sehen, bedarf es allerdings einer präzisen Wahrnehmung des Befundes vor allem in struktureller Hinsicht. 4.1. Bei einer Bestandsaufnahme der Synoptiker-Bezüge ist zwischen den literarischen Blöcken und deren Gattungen im Vierten Evangelium zu unterscheiden. Dann ergibt sich ungefähr folgendes Bild: (a) Bei den Täuferüberlieferungen (1; 3,23-30; 4,1f.; 10,40-42) gibt es nur zu 1,19-34* synoptische Parallelen, alles andere ist Sondergut. (b) Nur zu drei der sieben Wundererzählungen existieren synoptische Parallelen, ansonsten ist die johanneische Überlieferung sehr eigen (sie enthält z.B. keine Exorzismen Jesu und erzählt im Unterschied zu den Synoptikern sehr eindrücklich von seinem Wunderwirken in Jerusalem). (c) Von den vielen Worten Jesu besitzen nur sehr wenige synoptische Parallelen. Das johanneische Eigenprofil ist überwältigend: Fehlanzeige bei allen synoptischen Gleichnissen, keine Spur der Bergpredigt, keine synoptischen Streitgespräche, um nur diese Punkte zu nennen! 9 (d) In der Passions- und Osterüberlieferung begegnen die Parallelen zu den Synoptikern gehäuft; auffällig sind die Affinitäten zu Lukas. Dieser Übersicht lässt sich entnehmen: Nähe und Ferne des Vierten Evangelisten zu den Synoptikern bleiben im Verlauf seines Buches nicht konstant auf einem Durchschnittslevel, was bei seiner direkten Abhängigkeit von ihnen zu erwarten wäre, sondern wechseln von Textblock zu 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 50 Michael Theobald »Johannes« im Gespräch - mit wem und worüber? ZNT 23 (12. Jg. 2009) 51 Textblock, von Gattung zu Gattung. Am besten lassen sich diese Schwankungen damit erklären, dass der jeweilige Überlieferungsstrom des Evangelisten für sie verantwortlich ist. Bei den Mono- und Dialogen Jesu strebt die Nähe zu den Synoptikern gegen null. Die vom Evangelisten verarbeiteten »Herrenworte« bestätigen die Eigenständigkeit seiner Überlieferung. Daraus ergibt sich eine wichtige Folgerung für das exegetische Vorgehen: Es wäre verkehrt, wollte man von stark überlieferungsgebundenen Partien, also von der Passions- und Osterüberlieferung oder den Täuferstoffen in Joh 1 her über die Synoptikernähe des Evangelisten generell urteilen. So geht es z.B. auch nicht an, die Speisungs- und Seewandelerzählung 6,1-21 oder die Salbungserzählung 12,3-8 wegen ihrer Nähe jeweils zu Markus zu maßgeblichen Testfällen in dieser Frage hochzustilisieren. Für ein Gesamturteil reichen einzelne Perikopen nicht aus. Dafür müssen alle Textpartien und alle Gattungen des Buches berücksichtigt werden mit der Folge, dass dann die überraschende Divergenz der einzelnen Teile hinsichtlich ihrer Synoptikernähe bzw. -ferne stark ins Gewicht fällt. 4.2. Stützt man sein Urteil auf das Buch insgesamt, dann rücken auch die folgenden strukturellen Befunde angemessen ins Bild: Der Zeitindex der »dramatischen Erzählung« (der jüdische Festkalender als strukturierendes Prinzip) wie der damit zusammenhängende Ortsindex (Galiläa - Jerusalem in mehrfachem Wechsel) weichen vom synoptischen Erzählaufriss völlig ab. Dies unter der Voraussetzung erklären zu wollen, dass der Vierte Evangelist eines oder mehrere der synoptischen Evangelien zum Vorbild hatte, fällt schwer. 4.3. Es gibt eine ganze Reihe von Widersprüchen zwischen dem Vierten Evangelium und den Synoptikern, die zwar wir mit dem Neuen Testament in der Hand als solche ausmachen können, von denen der Vierte Evangelist selbst aber gar nichts zu wissen scheint. Z.B. ist ihm die Vorstellung von der jungfräulichen Geburt Jesu aus dem Geist unbekannt, nach 6,42 ist an Jesu Geburt nicht Besonderes. Nach Mk 1,16-20 erwählt Jesus seine Jünger von sich aus und holt sie aus ihrem Berufsleben heraus, nach Joh 1,35ff. gehen Täufer-Jünger auf Veranlassung ihres Lehrers zu Jesus über, ohne dass hier von der Aufgabe ihres Berufs die Rede ist. Nach den Synoptikern geschieht die Tempelreinigung beim letzten Jerusalem-Besuch Jesu, bei Joh steht sie am Anfang. Nach Mt 10,5f. befiehlt Jesus den Aposteln, Samaria zu meiden, nach Joh 4 missioniert er selbst dort, und zwar höchst erfolgreich usw. »In sämtlichen Fällen«, so zu Recht J. Becker, steht das Evangelium »in gar keinem expliziten Dialog mit den Synoptikern, redet es also ganz selbstverständlich eigenständig«. 10 5. Die Frage nach den Überlieferungen und Quellen des Evangeliums Die Kehrseite der bisherigen Ausführungen ist: So kreativ der Vierte Evangelist insgesamt arbeitet, er schöpft doch auch aus Quellen und mündlichen Überlieferungen. Bewährt hat sich das Modell, das mit drei Komponenten arbeitet: (1) einer wohl schon schriftlich fixierten Passions- und Ostererzählung, 11 (2) der sogenannten »Zeichen-« oder »Wunderquelle« sowie (3) mündlicher Überlieferung (darunter vor allem »Herrenworte«). Dass die »Möglichkeit der Rekonstruktion außersynoptischer schriftlicher Quellen« heute oft »nicht mehr so zuversichtlich« gesehen werde, 12 spricht nicht gegen die Annahme ihrer Existenz, sondern gemahnt nur zur Zurückhaltung überzogenen Rekonstruktionsversuchen gegenüber, welche ihre Hypothetik vergessen machen. Dazu noch zwei Anmerkungen: Wörtliche Übereinstimmungen zwischen dem Vierten Evangelisten und den Synoptikern sind aus der hier verfolgten Perspektive dann unerheblich für die Hypothese direkter Abhängigkeit, wenn sie in fixierten Überlieferungen wie z.B. der (mit Markus in einem gemeinsamen Urahn sich treffenden) Passionserzählung begegnen. Für strukturelle Parallelen genügt die Annahme gemeinsamer mündlicher Erzählzusammenhänge (die oft ins Feld geführten stofflich parallelen Akoluthien in Joh 6 und in Mk 6,32-52 / 8,11-13.27-30.33 sind uneinheitlich [Joh 6,41f. entspricht Lk 4,22], nicht eindeutig und betreffen etwa in Joh 6,69 älteres Material als das bei Mk vorfindliche). »So kreativ der Vierte Evangelist insgesamt arbeitet, er schöpft doch auch aus Quellen und mündlichen Überlieferungen.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 51 Kontroverse 52 ZNT 23 (12. Jg. 2009) 6. Mangelnde Plausibilität der Unabhängigkeitsannahme schon aus gattungskritischen Gründen? Die Annahme, dass der Vierte Evangelist die Synoptiker nicht benutzt hat, hat vieles für sich. Dass er zumindest das Markusevangelium irgendwie gekannt oder von seiner Existenz gehört haben muss (was niemand ausschließen kann), scheint aber einigen Forschern schon aus Gattungsgründen das Gegebene zu sein: Markus habe die neuartige Gattung Evangelium geschaffen, der sich der Vierte Evangelist angeschlossen habe. Mir scheint dieses Argument aus verschiedenen Gründen nicht durchzuschlagen: Zum einen gilt nach wie vor (und heute angesichts unserer Einsichten in Entstehung und Bedeutung der alten Passionserzählungen noch viel mehr), dass nicht nur das Markusevangelium »eine Passionserzählung mit verlängerter Einleitung« (M. Kähler) ist, sondern auch und erst recht das Johannesevangelium, in dem der Prozess Jesu vor den jüdischen Autoritäten ja zur Grundfigur der Kap. 2-12 erhoben worden ist - ein völlig anderes Konzept als das des Markus! Warum sollte neben und unabhängig von diesem nicht auch ein weiterer Theologe auf die Idee gekommen sein, den großen Erzählzusammenhang der Leidens- und Ostererzählung - sozusagen den ihnen beiden in ihren Gemeinden vorgegebenen Nukleus der Jesus-Erinnerung! - zu einer »Vita Jesu« auszubauen? Deren Einsatz beim Täufer bzw. der Taufe Jesu war in der allgemeinen Jesus-Erinnerung vorgegeben (neben der Logienquelle vgl. auch Apg 10,37; 13,24f.). Hinzu kommt, dass die Gattung der Biographie, die in unterschiedlicher Ausformung gut in der hellenistischen Literatur etabliert war, für die spezifisch christliche Evangelienwerdung als Drittfaktor durchaus mit veranschlagt werden kann. 7. Konsequenzen der Unabhängigkeitshypothese? Unser Bild von der Abfolge der vier Evangelien ist nach wie vor stark durch die Kanon-Architektur bestimmt, wie sie sich in der antiken Kirche herausgebildet hat: Am Ende steht das »geistliche Evangelium« (Clemens von Alexandrien), das der Zebedaide Johannes in Kenntnis der anderen - ihrer Darstellung Jesu sozusagen seine Innensicht zur Seite stellend - als letzter verfasst hat. Ohne dass der Spieß nun umgedreht und der Frühdatierung des Evangeliums durch J.A.T. Robinson oder K. Berger das Wort geredet werden müsste (11,48 setzt die Zerstörung des Tempels, des heiligen »Ortes«, durch die Römer wohl voraus! ), hat die Unabhängigkeitshypothese aber doch nicht unerhebliche Folgen für die Datierung des Buches. Es ist jetzt zu berücksichtigen, dass die synoptischen Evangelien in seinem Umkreis noch keine Wirkung zeigten. Warum sollte das Vierte Evangelium also nicht zeitgleich mit dem Lukas- oder Matthäusevangelium entstanden sein, was möglich und denkbar ist, seitdem die Forschung auch den Synagogenausschluss der johanneischen Christen vom späteren Jamnia-Prozess und der Neugestaltung der birkat ha-minim abgekoppelt hat? ! Mir scheint, wir müssen hier umdenken! l Anmerkungen 1 Einen Forschungsüberblick bietet J. Frey, Das Vierte Evangelium auf dem Hintergrund der älteren Evangelientradition. Zum Problem: Johannes und die Synoptiker, in: T. Söding (Hg.), Johannesevangelium - Mitte oder Rand des Kanons? Neue Standortbestimmungen (QD 203), Freiburg 2003, 60-118, bes. 61-76. 2 Auch H. Thyen (Das Johannesevangelium [HNT 6], Tübingen 2005) schwimmt im Löwener Fahrwasser, wobei seine Position (siehe unten) nur der Umschlag von einem Extrem (seiner früher exzessiv praktizierten diachronen Literarkritik) ins andere Extrem ist. 3 Das ist meine Weise, der konkreten Streitfrage ihren literarisch-hermeneutischen Ort zuzuweisen. H. Thyen dagegen wird in seinen hermeneutischen Auslassungen derart systematisch und prinzipiell, dass nicht deutlich wird, wie die konkreten Anmerkungen zur Streitfrage am Ende seines Beitrags sich aus jenen ergeben. Schade, dass er sich nicht auf einen Dialog mit mir (entsprechend seiner emphatischen Hermeneutik des Anderen qua Anderen) eingelassen hat. Von »unserer hermeneutischen Differenz« zu reden, scheint mir im Übrigen voreilig und vereinnahmend zu sein. Denn mit ihm bin auch ich der Meinung, dass es auf »die fremde und ins Eigene unassimilierbare Stimme des Evangeliums als »Unser Bild von der Abfolge der vier Evangelien ist nach wie vor stark durch die Kanon- Architektur bestimmt, wie sie sich in der antiken Kirche herausgebildet hat.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 52 Michael Theobald »Johannes« im Gespräch - mit wem und worüber? ZNT 23 (12. Jg. 2009) 53 Botschaft« ankommt, denke aber, dass der historischliterarische Zugang notwendig ist, um sie zu erheben. Deshalb verfalle ich aber nicht dem Wahn, der historisch-literarische Zugang würde auch schon über die Wahrheit der Texte befinden; mir liegt vielmehr an einem interdisziplinären Zusammenspiel von exegetischer und systematisch-theologischer Arbeit. - Zur Begründung meiner Position vgl. M. Theobald, Das Evangelium nach Johannes. Bd. 1: Joh 1-12 (RNT), Regensburg 2009. 4 Vgl. R. Bauckham (Hg.), The Gospels for All Christians: Rethinking the Gospel Audiences, Grand Rapids 1997. 5 Mit dieser literar-historischen Erklärung der Genese des Buches bewegt sich H. Thyen auf dem genuinen Feld der diachron arbeitenden historisch-kritischen Exegese, ohne dies freilich zuzugeben. Er verschleiert es nicht nur, sondern verdammt in seinem Kontroversbeitrag sogar den historisch-kritischen Zugang zur Schrift als dem Wahrheitsanspruch der biblischen Texte unangemessen. Was sein Vertrauen in die Synchronie betrifft, sei E. Blum zitiert, der feststellt: »nicht weniger als bei diachronen Analysen stehen Ausleger auch in subtil-poetischen Lesungen des Vorliegenden (sc. Werkes) in der Gefahr, sich Texte ›nach ihrem Bild‹ zu schaffen« (Notwendigkeit und Grenzen historischer Exegese. Plädoyer für eine alttestamentliche »Exegetik«, in: B. Janowski [Hg.], Theologie und Exegese des Alten Testaments / der Hebräischen Bibel. Zwischenbilanz und Zukunftsperspektiven [SBS 200], Stuttgart 2005, 11-40: 32). 6 Diesen Beweis bleibt H. Thyen schuldig. So ist es auch kein Zufall, dass sein Kommentar keine »Einleitung« bietet, in der er klipp und klar die Gründe für seine historisch-genetische Hypothese nennen müsste. Stattdessen werden wir in ein ästhetisches Spiel verwickelt, dessen Voraussetzung - das Vierte Evangelium sei ein »poetisches, durch und durch literarisches« Werk - , nirgendwo begründet wird. Dass diese These, die es seiner außersprachlichen, geschichtlichen Bezogenheit beraubt, im Widerspruch zu seinen Darlegungen zu Joh 1,14 im vorliegenden Beitrag steht, scheint ihm entgangen zu sein. 7 S. Schreiber, Kannte Johannes die Synoptiker? Zur aktuellen Diskussion, VuF 51 (2006), 7-24: 23. 8 M. Frenschkowski, TA BAIA TΩN ΦOINIKΩN (Joh 12,13) und andere Indizien für einen ägyptischen Ursprung des Johannesevangeliums, ZNW 91 (2000), 212-229: 218 (mit Hinweis auf die damit kontrastierende Passage Lk 1,1-4! ). 9 Vgl. insgesamt M. Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium (HBS 34), Freiburg etc. 2002. 10 J. Becker, Das vierte Evangelium und die Frage nach seinen externen und internen Quellen, in: Fair Play. Diversity and Conflicts in Early Christianity (FS H. Räisänen) (NT.S 103), Leiden 2002, 217. 11 Vgl. zuletzt nachdrücklich F. Schleritt, Der vorjohanneische Passionsbericht. Eine historisch-kritische und theologische Untersuchung zu Joh 2,13-22; 11,47- 14,31 und 18,1-20,29 (BZNW 154), Berlin etc. 2007. 12 So Frey, Evangelium, 78, wobei auch er mit vorjohanneischen Überlieferungen rechnet. Umfassende Einführung in das Gesamtwerk: Karl-Josef Kuschel Walter Jens. Literat und Protestant Aktualisierte Neuausgabe Mit einem bisher unveröffentlichten Text von Walter Jens: Über die Freude. Schiller und Beethoven 2008,248 Seiten, €[D] 24,90/ SFr 44,00 ISBN 978-3-89308-405-0 Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen · Fax (07071) 979711 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 53