eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 12/23

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2009
1223 Dronsch Strecker Vogel

»Kannte Johannes die Synoptiker?«

2009
Manuel Vogel
46 ZNT 23 (12. Jg. 2009) Die Kontroverse zwischen Hartwig Thyen und Michael Theobald hat eine Frage zum Gegenstand, die nicht nur nach einer klaren Antwort ruft, sondern auch nach einer abschließenden Klärung. Beide Kontroverspartner werden ihrer Rolle darin gerecht, dass sie die gestellte Frage eindeutig beantworten, und dies gegensätzlich: Während Thyen davon ausgeht, dass der vierte Evangelist die Synoptiker kannte und diese Kenntnis auch bei den Lesenden voraussetzt, spielt Theobald die These durch, dass das Johannesevangelium ein eigenständiger Entwurf ist, der u.a. auf Überlieferungen fußt, die unabhängig von ihrer johanneischen Rezeption auch in die synoptische Tradition eingeflossen sind. Das Johannesevangelium wäre dann nicht mehr notwendig ein „Evangelium der dritten Generation“ und somit mindestens dem Lukas- und dem Matthäusevangelium nicht nach-, sondern beizuordnen. Die abschließende Klärung der Frage im Sinne der Quellenanalyse unterbleibt jedoch bei beiden Autoren, bei Theobald aus der forschungsgeschichtlichen Einsicht heraus, dass bisher keine quellenkritische Hypothese den Textbefund zwingend und restlos auf ihre Seite zu bringen vermochte, bei Thyen dagegen in der Haltung einer fundamentalen Ablehnung einer auf Fragen der Textentstehung fixierten Exegese. Beide Autoren sehen die Gefahr, dass die Quellenfrage zu einer Endlosschleife wird, die ihren Gegenstand (das Evangelium! ) desto gründlicher verfehlt, je detaillierter sie sich mit ihm beschäftigt, jedoch nimmt Thyen dieses methodologische Problem zum Anlass für eine sehr grundsätzliche Problematisierung eines historisch-kritischen Umgangs mit dem biblischen Text. Im Gefolge von Schleiermacher, Gadamer und Levinas konstatiert er eine Diastase von Historie und Wahrheit, die methodologisch zum Oppositum von »Genese« und »Exegese« führt. Eine sachgemäße Auslegung des Johannesevangeliums fragt nicht nach literarischen Vorstadien, sondern sie lässt sich in ein vom Text selbst angestoßenes intertextuelles Spiel mit der ganzen Bibel verwickeln. Die Mitte dieses weiten Horizonts bildet das vierte Evangelium, von dem die divinatorische Interpretation je und je ausgeht, um je und je zu ihm, in dessen Zentrum die Figur Jesu als des fleischgewordenen Logos steht, zurückzukehren, ein Interpretationsgeschehen, das nicht mit der Bultmann’schen Existenzialanalyse seine Grenze im sich selbst verstehenden Subjekt hat, sondern auf das Vernehmen der »fremde[n] und ins Eigene unassimilierbare[n] Stimme des Evangeliums« zielt. Thyen sieht etwa in der frühen Handschriftenüberlieferung, die die kanonischen Evangelien nie einzeln tradiert, einen Hinweis darauf, dass die Synoptiker für das Johannesevangelium einen originären intertextuellen Verweiszusammenhang bilden, und er mag sich nicht von der Quellenanalyse vorschreiben lassen, man müsse ausgerechnet um diesen Bereich - quasi vor der Haustür des vierten Evangeliums - einen Bogen machen. So steht in dieser Kontroverse unversehens viel mehr auf dem Spiel als ein Teilproblem der Johannesexegese. Die Kontroverse zwischen Thyen und Theobald indiziert vielmehr extreme Verschiebungen auf dem Feld elementarer Begriffe der neutestamentlichen Wissenschaft, etwa »Text«, »Geschichte« oder »Wahrheit«. Die gegenseitigen Vorhaltungen - hermeneutische Unbedarftheit auf der einen Seite und die deplatzierte Verabschiedung bewährter wissenschaftlicher Methoden auf der anderen - könnten grundsätzlicher kaum sein. In dieser Zuspitzung mögen die beiden folgenden Beiträge zu einer Neubesinnung auf das Phänomen »Text« das Ihre beitragen. Manuel Vogel Kontroverse Einleitung zur Kontroverse »Kannte Johannes die Synoptiker? « 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 46