eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 12/23

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2009
1223 Dronsch Strecker Vogel

Biographisches Erzählen und theologische Reflexion im Johannesevangelium

2009
Eckart Reinmuth
36 ZNT 23 (12. Jg. 2009) »Die meisten Menschen sind im Verhältnis zu sich selbst Erzähler.« R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek 1978, 650 »... seit ein Gespräch wir sind und hören können voneinander« Friedrich Hölderlin, Friedensfeier Reifeprüfung 1 Studieren ist schwieriger geworden. Lehren auch. Studierende der Theologie und Religionspädagogik zeigen zunehmend unterschiedliche Vorkenntnisse, während die Anforderungen ihrer künftigen Berufspraxis z.B. hinsichtlich interkultureller und interreligiöser Befähigungen steigen. 2 Wie kann die Gestaltung neutestamentlicher Lehrveranstaltungen diesem sich wandelnden Bedarf entsprechen? Nach meinen Eindrücken wird es immer wichtiger, trotz zunehmender Vereinfachung von Studieninhalten und Elementarisierung von Wissensbeständen die kritische Lektürekompetenz der Studierenden zu stärken. Das historisierende Insistieren auf dem ›garstigen breiten Graben‹ ist hier kaum ausreichend, in vielen Fällen nicht einmal hilfreich. Vielmehr bildet die intensive Auseinandersetzung mit den Texten selbst, ihren Grenzen und Widersprüchen, eine erste Voraussetzung für die Wahrnehmung der Autonomie und Fremdheit neutestamentlicher Texte und ihrer theologischen Gehalte, aber auch für die Begegnung mit den gegenwärtigen Lebensfragen der Studierenden. Die Selbständigkeit und Solidität theologischen Argumentierens, speziell im Kontext neutestamentlicher Textinterpretation, ist ein dringendes Ausbildungsdesiderat, das mit personalen Reflexionsaufgaben nicht vermengt oder verwechselt werden darf, andererseits von ihnen aber auch nicht zu trennen ist. Dass theologische Kompetenz im Kontext personaler Identitätskonstruktion erworben wird, ist kaum zu bestreiten. Wie weit aber kommen unsere Lehrveranstaltungen auch den sehr verschiedenen persönlichen Konstellationen und Identitätsfragen der Studierenden entgegen? 3 Wie sehr kommt die Fraglichkeit ihrer / unserer eigenen Lebenserfahrung dabei ins Spiel? Was kann die Arbeit an den Texten hier leisten? Kann es gelingen, eine Brücke zu bauen, die sowohl (auto-)biographischem Reflexionsbedarf als auch hermeneutischen Erfordernissen gleichermaßen Rechnung trägt? Zu diesen gehört auch die Frage, wieweit ein Verständnis dieser Texte an konfessorische Vorbedingungen, kirchliche Sozialisation oder subjektive Glaubenshaltungen gebunden ist. 4 Situationen, in denen Christen unterschiedlicher Bekenntnisse und Nichtchristen verschiedener Prägung gemeinsam Bibeltexte lesen und diskutieren, sind keineswegs mehr die Ausnahme gegenwärtiger Bibellektüre - weder an der Universität, noch in der Schule oder kirchlichen Gesprächskreisen, noch in anderen Kontexten, z.B. ehrenamtlichen Engagements in Telefonseelsorge oder kirchlicher Hospizarbeit. Unter dem Stichwort ›biographical exegesis‹ bzw. ›autobiographical biblical criticism‹ wurde in den letzten Jahren eine Perspektive biblischer Hermeneutik ins Spiel gebracht, die diese und ähnliche Fragen in den Mittelpunkt stellt. Es geht um den Versuch, literarisch konstruierte Figuren biblischer Texte neu zum Sprechen zu bringen und auf diese Weise eigene und fremde Lebensgeschichten so zu verbinden, dass sie sich gegenseitig beleuchten und so literarisch manifeste mit lebendig gemachten Erfahrungen kommuniziert werden können. 5 Sollen Studierende erfahren können, dass ihre persönliche Auseinandersetzung mit den Studieninhalten auch ihrer Arbeit mit den neutestamentlichen Texten zu integrieren ist, so konditioniert das die Integration von (auto-)biographischem Reflexionsbedarf in die Arbeit am Text. Das ist Zum Thema Eckart Reinmuth Biographisches Erzählen und theologische Reflexion im Johannesevangelium »Die Selbständigkeit und Solidität theologischen Argumentierens, speziell im Kontext neutestamentlicher Textinterpretation, ist ein dringendes Ausbildungsdesiderat …« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 36 Eckart Reinmuth Biographisches Erzählen und theologische Reflexion im Johannesevangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 37 Beziehungsarbeit. Wer sich darauf einlässt, hat einen Kommunikationsprozess mit offenem Ausgang zu gewärtigen. Textarbeit und Beziehungsarbeit haben hinsichtlich dieser prinzipiellen Offenheit einiges gemeinsam. Die ›Reifeprüfung‹, ein Filmklassiker, der vor 40 Jahren, im Herbst 1968, zum ersten Mal in Deutschland gezeigt wurde, endet mit einem denkwürdigen Bild. Zwei Menschen sitzen nebeneinander, auf der letzten Bank eines Busses, aber nur einer von beiden fällt durch seine Kleidung auf. Es ist die Braut in ihrem Brautkleid, die soeben in einem wilden Spontanentschluss den Traualtar mit dem jungen Mann verließ, der sie in letzter Sekunde für sich gewinnen konnte. Zwei Lebensgeschichten treffen aufeinander; ihre gemeinsame Geschichte hat kaum begonnen. Ihr Mienenspiel könnte vielsagender kaum sein. Triumph, Nachdenklichkeit, verstohlenes Lächeln, Beiseiteschauen, den verwunderten Blicken der Mitreisenden standhalten - und in all diesen Facetten die Ahnung, dass jetzt etwas kaum Absehbares, Kalkulierbares, Gesichertes beginnt. Was wird geschehen, wenn die Erfahrungen und Geschichten dieser beiden Menschen sich einander ausgesetzt sehen? Wie wird es ihnen gelingen, Ei genes und Fremdes im ›Hören voneinander‹ zu entdecken, zur Verfügung zu stellen, zu verstehen? So anders die Auseinandersetzung mit Texten auch sein mag - all die Momente der Offenheit, Unabsehbarkeit, Unkalkulierbarkeit, die diese kurze Filmsequenz sichtbar macht, spielen auch da eine Rolle, wo wir mit Texten arbeiten und leben. Ich komme mit meiner Lebensgeschichte ins Spiel, wenn ein Text mich anspricht. 6 Mir werden eigene Erfahrungen (neu) bewusst, geraten in ein neues Licht, lassen sich anders ansehen. Ich entdecke Eigenes im Fremden und das Fremde im Eigenen. 7 Textarbeit. Beziehungsarbeit Das Johannesevangelium bietet sich in besonderer Weise für den Versuch an, eigene und erzählte Lebensgeschichten aufeinander zu beziehen. Je mehr dieser Versuch gelingt, desto deutlicher wird, dass die narrative Gestaltung der erzählten Figuren im Johannesevangelium 8 auf die Kommunikation der Lebenserfahrungen ihrer Rezipienten abzielt. Dabei geht es keineswegs nur um ›positive‹ Erfahrungen, offensichtlich aber, und darauf zielt die narrative Gestaltung des Evangeliums ab, um eine konstruktive, selbstbestimmte Auseinandersetzung mit ihnen. Die erzählten Erfahrungen der Protagonisten werden der Leserin, dem Hörer so zur Verfügung gestellt, dass sie sich mit ihnen - ana- Prof. Dr. Eckart Reinmuth, 1951 in Rostock geboren, studierte Evangelische Theologie in Greifswald, wurde 1981 in Halle promoviert und habilitierte sich 1992 in Jena. Er war Gemeindepastor in Mecklenburg und Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Naumburg und der Universität Erfurt. Seit dem Sommersemester 1995 lehrt er an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock. Seine Hauptforschungsgebiete sind die antik-jüdische Literatur und ihre Hermeneutik sowie moderne Literatur- und Geschichtstheorien in ihrer Bedeutung für die Auslegung des Neuen Testaments heute. Veröffentlichungen unter: http: / / www.theologie.uni-rostock.de/ reinmuth.htm. Letzte Buchveröffentlichungen: Hermeneutik des Neuen Testaments (UTB 2310), Göttingen 2002; Neutestamentliche Historik - Probleme und Perspektiven (ThLZ.F 8), Leipzig 2003; Paulus. Gott neu denken (BG 9), Leipzig 2004; Der Brief des Paulus an Philemon (ThHK 11/ II), Leipzig 2006; Anthropologie im Neuen Testament (UTB 2768), Tübingen 2006; zusammen mit K.-M. Bull: Proseminar Neues Testament. Texte lesen, fragen lernen, Neukirchen- Vluyn 2006. Eckart Reinmuth »Das Johannesevangelium bietet sich in besonderer Weise für den Versuch an, eigene und erzählte Lebensgeschichten aufeinander zu beziehen.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 37 Zum Thema 38 ZNT 23 (12. Jg. 2009) log zu ihren eigenen - auseinandersetzen können. 9 Die narrative Form ist eine unerlässliche Bedingung für das Gelingen solcher Prozesse. Es geht nicht darum, eine Erfahrung begrifflich zu den Akten zu legen, abzubuchen oder wegzuschließen, sondern sie über die Alterität, die Fremdheit und Andersartigkeit des Erzählten aufzuschließen, sie zu entdecken und namhaft zu machen. Es ist ein Unterschied, ob das Nachtgespräch mit Nikodemus (Joh 3) begrifflich oder narratologisch bearbeitet wird, 10 und es ist ebenfalls ein Unterschied, ob das Brunnengespräch Jesu mit der samaritanischen Frau (Joh 4) über die verwendeten Begriffe und Inhalte oder über die erzählte Dynamik erschlossen wird. Der namenlosen Wasserträgerin kann eine eigene Stimme gegeben werden, um so aus der Perspektive dieser fiktionalen Figur einerseits Ergebnisse der exegetischen und narratologischen Analyse einfließen zu lassen, andererseits aber die Kommunikation der Fragen, Erfahrungen und Vermutungen anzuregen, die vom Text angeschnitten werden. 11 Dabei kann es durchaus lohnend sein, einzelne Geschichten zueinander in Beziehung zu setzen, zu vergleichen, zu spiegeln. Ein intratextueller Vergleich zwischen der Nikodemusperikope (Joh 3) und Jesu Gespräch mit der samaritanischen Frau (Joh 4) 12 kann z.B. zeigen, wie beide Perikopen einander in ihrer Analogizität und Gegensätzlichkeit spiegeln. Die Gesprächspartner Jesu sind repräsentative Figuren, die einen Prozess durchlaufen. Das Aufzeigen ihrer Offenheit wie ihrer Grenzen ist als Provokation der Leser gedacht, eigene Grenzfragen als Lebensfragen zu reflektieren. Dieser Ansatz ermöglicht es, Spielarten narrativer Identitätskonstruktion in reflexiver Distanz bewusst zu machen und zugleich in der Beziehungsarbeit mit dem Text zu würdigen. Die Auseinandersetzung mit der narrativen Konstruktion der Protagonisten erschließt neue Erfahrungsräume, indem eigene Erfahrungen von (Nicht-)Identität in neuen Perspektiven sichtbar werden. 13 Schulderfahrungen Neben solchen Möglichkeiten intratextueller Exploration und Diskussion sind intertextuelle Bezüge zu erschließen. Sie erweitern die ›Beziehungsarbeit‹ mit den Texten und damit die Möglichkeiten, eigene Erfahrungen in die Textarbeit einzuspielen. Die Verwendung des Begriffs ›Intertextualität‹ setzt angesichts der unklaren Diskussionslage und z.T. missbräuchlichen Verwendung eine klare Konzeption voraus. 14 Im Unterschied zu Versuchen, Intertextualität als aktuelle Etikettierung diachroner Frageperspektiven (z.B. Quellen-, Traditions- und Literarkritik) zu verwenden bzw. zu Auffassungen, die unter Intertextualität lediglich die vom Autor verwendeten Zitate und beabsichtigten Anspielungen verstehen, 15 sollte m.E. die Unterscheidung zwischen produktions- und rezeptionsorientierter Intertextualität favorisiert werden. 16 Diese Differenzierung entspricht einem Textmodell, das die Entstehung der neutestamentlichen Texte im kommunikativen, auf die Geschichte Jesu Christi bezogenen Zusammenspiel von Rezeption und Produktion versteht. Die Autoren des Neuen Testaments rezipierten ihre auf die Jesus-Christus-Geschichte 17 bezogenen Nachrichten, Traditionen usw. im Kontext vielfältiger Texte und Botschaften und vor dem Horizont der Schriften Israels. Was sie davon anklingen lassen, zu erkennen geben, gezielt aufrufen, ist Teil der produktionsseitigen Intertextualität. Zu ihr gehört auch die der intendierten Rezipienten. Die rezeptionsseitige Intertextualität bezieht sich demgegenüber auf die Textwelten realer Rezipienten. Sie können als historische Kontexte (re)konstruiert werden, sind aber auch als gegenwärtige Kontexte heutiger Wahrnehmungen des Neuen Testaments zu berücksichtigen. Dieses Intertextualitätskonzept ermöglicht die aktuelle Konstruktion intertextueller Bezüge und respektiert zugleich die autonome Intertextualität der Texte. Für den hier exemplarisch skizzierten Vorschlag, Textarbeit als Beziehungsarbeit zu verstehen und so theologische Reflexion im Kontext personaler Identitätskonstruktion zu verantworten, eröffnet diese Intertextualitätskonzeption neue Dimensionen. Sie wirken sich nach meinen Erfahrungen in der Lehre stimulierend und motivierend für das Studium des Neuen Testaments aus. Die Unterscheidung zwischen produktions- und rezeptionsseitiger Intertextualität erschließt neue Verständnismöglichkeiten; sie ermöglicht es, neutestamentliche Texte nicht auf ein einseitig 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 38 Eckart Reinmuth Biographisches Erzählen und theologische Reflexion im Johannesevangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 39 historisch orientiertes Verständnis zu reduzieren, dieses jedoch nicht aktualisierenden Interpretationen, fundamentalistischen Kurzschlüssen oder simplifizierenden Missverständnissen zu opfern. Ich erläutere diese Überlegungen am Beispiel der Geschichte des Gelähmten am Teich Bethesda, seiner Heilung und anschließenden Denunziation. Sie enthält mit der Warnung Jesu an den Geheilten, nicht mehr zu sündigen, damit ihm nicht Schlimmeres widerfahre (5,14), eine deutliche Provokation, die offensichtlich auf seine Lebensumstände vor der Heilung verweist. 18 Dafür spricht die Dauer von 38 Jahren, die als Anspielung auf Dtn 2,14 zu lesen ist. Hier geht es um die Zeit der Sünde Israels. 19 Der Geheilte wird von Jesus nicht auf eine seiner Lähmung vorausliegende Schuld angesprochen; vielmehr werden die zurückliegenden 38 Jahre als Zeit seiner Schuldverstrickung interpretiert. Was bedeutet das? Wie kann man sich die von Johannes skizzierte Situation am Teich vorstellen? Für einen Versuch, die Situation des Gelähmten in Joh 5,2ff. zu imaginieren, lässt sich Franz Kafkas Erzählung ›In der Strafkolonie‹ heranziehen. Dadurch wird es möglich, die Exposition der johanneischen Erzählung nicht in quasi-historischer Neutralität, sondern als intendierte Rezeption einer verhängnisvollen, aussichtslosen und menschenverachtenden Situation zu bewerten. Es geht dabei nicht um einen Vergleich beider Erzählstränge, sondern ihrer expositionellen Voraussetzungen. Steht auf der einen Seite die unerträgliche Vorstellung der beklemmenden Situation am Teich, an dessen Rand eine ungenannte Zahl Versehrter auf übernatürliche Heilung hofft und sich dabei in ein rücksichtsloses Konkurrenzsystem gebunden sieht, so steht auf der anderen Seite die Situation einer Bestrafung, deren Grund dem Delinquenten undurchsichtig bleiben muss und ihm doch mit dem Ziel seiner Tötung auf den Leib geschrieben wird. Die Konstruktion eines solchen intertextuellen Bezugs kann dazu dienen, Sensibilität und Empathie für die erzählerisch lediglich angedeutete Perspektive der Opfer in beiden Erzähltexten zu entwickeln. Für das Verständnis der erzählten Identität des Gelähmten und die Möglichkeit, seine Geschichte mit Elementen eigener Identitätskonstruktion in Verbindung zu bringen, ist das von wesentlicher Bedeutung. Kafkas Text, der im Oktober 1914 entstand, 20 führt in das Rechts- und Bestrafungssystem einer Strafkolonie ein, das einem Forschungsreisenden erläutert und vorgeführt werden soll: »›Es ist ein eigentümlicher Apparat‹, sagte der Offizier zu dem Forschungsreisenden und überblickte mit einem gewissermaßen bewundernden Blick den ihm doch wohlbekannten Apparat. Der Reisende schien nur aus Höflichkeit der Einladung des Kommandanten gefolgt zu sein, der ihn aufgefordert hatte, der Exekution eines Soldaten beizuwohnen, der wegen Ungehorsam und Beleidigung des Vorgesetzten verurteilt worden war. Das Interesse für diese Exekution war wohl auch in der Strafkolonie nicht sehr groß. Wenigstens war hier in dem tiefen, sandigen, von kahlen Abhängen ringsum abgeschlossenen kleinen Tal außer dem Offizier und dem Reisenden nur der Verurteilte, ein stumpfsinniger breitmäuliger Mensch mit verwahrlostem Haar und Gesicht, und ein Soldat zugegen, der die schwere Kette hielt, in welche die kleinen Ketten ausliefen, mit denen der Verurteilte an den Fuß- und Handknöcheln sowie am Hals gefesselt war und die auch untereinander durch Verbindungsketten zusammenhingen. Übrigens sah der Verurteilte so hündisch ergeben aus, dass es den Anschein hatte, als könnte man ihn frei auf den Abhängen herumlaufen lassen und müsse bei Beginn der Exekution nur pfeifen, damit er käme.« 21 Der »Apparat« dient als Instrument und Metapher einer undurchsichtigen Bestrafung. Der verurteilte Soldat zeigt eine merkwürdige Ignoranz und Ergebenheit; er nimmt dieses sein Ende offensichtlich fraglos hin. Die erzählerische Gestaltung dieser Figur lädt nicht zur Identifikation mit ihr ein. 22 »... Der Reisende sah flüchtig auf den Mann hin; er hielt, als der Offizier auf ihn gezeigt hatte, den Kopf gesenkt und schien alle Kraft des Gehörs anzuspannen, um etwas zu erfahren. Aber die Bewegungen seiner wulstig aneinander gedrückten Lippen zeigten offenbar, dass er nichts verstehen konnte. Der Reisende hatte verschiedenes fragen wollen, fragte aber im Anblick des Mannes nur: ›Kennt er sein Urteil? ‹ ›Nein«, sagte der Offizier und wollte gleich in seinen Erklärungen fortfahren, aber der Reisende unterbrach ihn: ›Er kennt sein eigenes Urteil nicht? ‹ ›Nein‹, sagte der Offizier wieder, stockte dann einen Augenblick, als verlange er vom Reisenden eine nähere Begründung seiner Frage, und sagte 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 39 Zum Thema 40 ZNT 23 (12. Jg. 2009) dann: ›Es wäre nutzlos, es ihm zu verkünden. Er erfährt es ja auf seinem Leib.‹ Der Reisende wollte schon verstummen, da fühlte er, wie der Verurteilte seinen Blick auf ihn richtete; er schien zu fragen, ob er den geschilderten Vorgang billigen könne. Darum beugte sich der Reisende, der sich bereits zurückgelehnt hatte, wieder vor und fragte noch: ›Aber dass er überhaupt verurteilt wurde, das weiß er doch? ‹ ›Auch nicht‹, sagte der Offizier und lächelte den Reisenden an, als erwarte er nun von ihm noch einige sonderbare Eröffnungen. ›Nein‹, sagte der Reisende und strich sich über die Stirn hin, ›dann weiß also der Mann auch jetzt noch nicht, wie seine Verteidigung aufgenommen wurde? ‹ ›Er hat keine Gelegenheit gehabt, sich zu verteidigen‹, sagte der Offizier und sah abseits, als rede er zu sich selbst und wolle den Reisenden durch Erzählung dieser ihm selbstverständlichen Dinge nicht beschämen. ›Er muss doch Gelegenheit gehabt haben, sich zu verteidigen‹, sagte der Reisende und stand vom Sessel auf.« Im Vergleich mit der Exposition des Johannestextes lassen sich mühelos Analogien entwickeln, die dazu dienen können, die Situation am Teich und damit die narrative Herkunft des Gelähmten zu imaginieren. Die Fraglichkeit seiner Schuld wird, obwohl sie - anders als etwa in der Erzählung vom Blindgeborenen (9,1-3) - in der Exposition nicht gestellt wird, schlagartig mit der Warnung Jesu deutlich, die Schlimmeres als das bisher Erlebte in Aussicht stellt (5,14). Dieser Satz nimmt auf das bisherige Leben des Gelähmten explizit Bezug (s.o.). Die Anstößigkeit der Äußerung Jesu besteht u.a. in der Zumutung, dieses bisherige Leben als angeblich selbstverschuldet zu bewerten. Der Gelähmte hat sein Leben mit einer fundamentalen Behinderung verbracht, ohne den Grund zu kennen. Jesu Zumutung scheint ein retrospektives Sinnangebot zu enthalten, das nicht akzeptierbar ist, weil es auf einer unzumutbaren Logik basiert. Erzählerisch wird damit eine Unentschiedenheit hergestellt, die durch die anschließende Denunziation seitens des ehemals Gelähmten paradox weitergeführt wird. Er, der nicht wusste, wer ihn geheilt hat (5,12f.), weiß es nun, und er zögert nicht, ihn behördlich anzuzeigen (5,15), obwohl er um die Konsequenzen für Jesus wissen muss (5,10-12.16.18). Zum ersten Mal im Evangelium wird von einer Tötungsabsicht seitens der Gegner Jesu gesprochen. Sie ist unmittelbare Folge der Denunziation. Wann hat dieser Mann je Gelegenheit, sich zu verteidigen, sein Urteil zu kennen, seine Fragen zu stellen? Durch Jesu Warnung werden seine beiden Lebensstränge - die Zeit bis zur Heilung und die Zeit danach - so miteinander verschränkt, dass der offene Ausgang eine lebensgeschichtliche Unentschiedenheit markiert, die in einem fiktionalen Text aus der Sicht des Gelähmten formuliert werden kann. »Ein bisschen flau war mir ja. Ich hatte erst gar nicht gemerkt, was ich da tue. Wenn man gefragt wird, soll man antworten. Aber als ich merkte, wie sie reagieren, wurde mir ehrlich ein bisschen flau. Umbringen sollte man den Mann, tuschelten sie (v18); und mich, dachte ich, hat er gesund gemacht. Ich habe immer gehorcht. Und gehofft. Und gehofft und gehorcht. Und als sie wissen wollten, wer mir da befohlen hat, mein Feldbett am hellerlichten Sabbat durch die Gegend zu tragen, da wusste ich es ja gar nicht. Ich wollte ihn nicht verraten, ich habe nur meine Pflicht getan. Das war doch keine Anzeige, und eine Denunziation schon gar nicht, das war doch nur ein Tip. Aber gut, ein bisschen flau ist mir immer noch. Damit Dir nicht noch Schlimmeres widerfahre, hat er gesagt - und, ehrlich gesagt, manchmal befühle ich meine alten Glieder, ob sich noch alles gut bewegt, oder ob die Lähmung zurückkehrt. Man kann ja nie wissen; vielleicht bereut er jetzt seine großherzige Heilung und schickt mich wieder an den Teich, gelähmt für den Rest meines Lebens. Apropos Teich. Die Teiche hier in Jerusalem haben es mir angetan. Da bin ich am liebsten. Hab ja nichts zu tun, sammle Almosen wie die anderen, meist bei den Teichen, wo es ein bisschen kühler ist. Neulich hab ich ihn wieder gesehen, mit seinen Leuten. Das war am Teich Siloa; der ›Gesandte‹ soll das heißen. Na ja, es gibt so viele Gesandte heutzutage. Ich hab mich natürlich nicht gezeigt, aber ich konnte sie hören. Ich seh sie bei einem Blinden stehen. Ich höre sie diskutieren. Mit dem Blinden? Nein, sie streiten über irgendwas untereinander. Seine Leute stellen die Schuldfrage. Sie wollen wissen, wer überhaupt Schuld hat an dieser Blindheit. Seine Eltern? Vielleicht er selbst? Irgendjemand muss es ja sein. Und dann sagt er, und ich habe mich nicht verhört: Weder er selbst noch seine Eltern. Keiner hat Schuld. Was Gott tut, soll sich an ihm zeigen. Das war alles. Ich habe mich nicht verhört.« Sein Übergang 23 von der Situation am Teich in die Freiheit des Geheilten ist misslungen. Das skiz- 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 40 Eckart Reinmuth Biographisches Erzählen und theologische Reflexion im Johannesevangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 41 zierte Vorgehen macht es Lesern und Hörerinnen möglich, anhand des Textes die Frage nach (Un-) Gerechtigkeitserfahrungen im eigenen Leben zuzulassen und an den Text zu richten. Dieser wird so befragbar. Er wird aus der Position eines unhinterfragbaren Rechthabens befreit und gleichsam beziehungsfähig; seine narrative Konstruktion wird einer einlinigen Lektüre entzogen und für die Reflexion biographischer Identität geöffnet. Selbstsein narrativ Identität bedeutet nach allgemeinem Verständnis, mit sich selbst identisch zu sein, man selber zu sein, authentisch sein, sich selbst gleich bleiben, mit sich einverstanden sein ... - offensichtlich ein Zielwert, der narrative Kommunikation erfordert 24 und nur in mehrfachen Relationen konstruiert werden kann. 25 Dazu gehört die zeitliche Relation - Identität gibt es nur auf Zeit - und die soziale Relation. Die Kommunikation individueller Identität erfordert eine differenzierende Reflexion von Selbst- und Fremdzuschreibungen. 26 Der Wunsch nach Identität als Selbstübereinstimmung realisiert sich als reflexiver Prozess, der auf Interaktion und Narrativität angewiesen ist. 27 Wir konstruieren inmitten von unkalkulierbaren Differenzerfahrungen unsere personale Identität, indem wir von uns erzählen. 28 Die Tätigkeit des Erzählens ist ständige Sinnrezeption und -produktion. Diese Tätigkeit hat ihren Ort da, wo wir zwischen unseren Erfahrungen und ihrer Kommunikation vermitteln müssen. Immer da, wo wir unsere Erfahrungen von Wirklichkeit kommunizieren, verständigen wir uns über Sinn. Das aber setzt die Fähigkeit zur Selbstdistanz voraus. 29 Wir erzählen - und wir erzählen, weil wir nicht alles wissen können. Wir können nicht nichterzählen. Mit der Narrativität (etymologisch geht das Wort auf gnarum facio ›kund tun, Kenntnis geben‹ zurück) handelt es sich um ein Kenntnis-Geben bzw. Kenntnis-Erhalten, um die Kommunikation von Kenntnissen, die wir auf keine andere Weise erlangen oder gar produzieren können. Diese Unersetzlichkeit bedeutet Kenntnisgabe und -entzug in einem. Die konkrete Narrativität personaler Identität offenbart und verbirgt zugleich, u.zw. jenseits aller intendierten Täuschungsversuche. Menschen können von sich in aller Offenheit erzählen und dennoch keineswegs vorgeben, ›alles‹ zu sagen. Vielmehr verhält es sich so, »dass jedem Wesen etwas Irreduzibles eignet, das in den verschiedenen Geschichten deutlich wird, die wir zu erzählen haben«, 30 dass aber eben dies Irreduzible als Ungesagtes jeder unserer Erzählungen eigen ist. Die Einzigkeit und Unersetzbarkeit jedes Menschen geht in dem, was einander mitgeteilt werden kann, nicht auf. Menschen sind sich in diesem Sinn unverfügbar und undurchschaubar; sie bleiben einander in einem letzten Sinn entzogen. Dieses Phänomen der Entzogenheit scheint mir für die vorgeschlagene Lektüre des Johannesevangeliums von besonderer Bedeutung zu sein. Es spiegelt sich nicht nur in den Elementen des Nichterzählten, die Figuren wie die des Gelähmten dem eigenen Erfahrungsbezug öffnen, sondern ist konstitutives Element seiner narrativen Identitätskonstruktion insgesamt. Diese Überlegung kann auf das Verständnis der Grundrelation angewendet werden, in der Johannes seine Erzählfiguren konstruiert. Im Johannesevangelium wird als entscheidende Relation narrativer Identitätsbildung die Beziehung zu Jesus diskutiert. Folglich ist zu fragen, wie diese Beziehung im Zuge des vorgeschlagenen Modells zu reflektieren ist. Erzählfigur Jesus Die narrativ konstruierte Figur Jesu repräsentiert im Johannesevangelium die Geschichte Jesu Christi, wie sie von Johannes verstanden und intendiert wird. Die Jesus- Christus-Geschichte ist das Grundmuster für die Prozesse der Rezeption und Produktion, der Kommentierung, Rahmung und Auswahl der Erzählinhalte, mit denen Johannes die personale Identität Jesu konstruiert. Das bedeutet, dass die Jesusfigur denselben Bedingungen narrativer Identitätskon- »Die narrativ konstruierte Figur Jesu repräsentiert im Johannesevangelium die Geschichte Jesu Christi, wie sie von Johannes verstanden und intendiert wird.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 41 Zum Thema 42 ZNT 23 (12. Jg. 2009) struktion unterliegt wie die übrigen Erzählfiguren im Evangelium. Dieser Konstellation verdankt sich die Möglichkeit, die (auto-)biographische Reflexion eigener Lebenserfahrungen hinsichtlich ihrer Relation zu Jesus zu erweitern. Der Überlegenheitsgestus, mit dem Johannes das Reden und Handeln Jesu schildert, scheint die Möglichkeit solcher reflexiver Relationen zu konterkarieren. Die Überlegenheit Jesu ist jedoch für Johannes das narrative Gestaltungsmittel, diese Erzählfigur als Repräsentant seiner (Gottes-)Geschichte zu autorisieren. Werden die Autorisierungsstrategien im Evangelium als narrative Verfahren verstanden, mit der Figur Jesu seine Geschichte und damit die Behauptung zu thematisieren, dass mit dieser Geschichte Gottesrede kommuniziert werde, dann liegt hier der Grund dafür, dass die Identität Jesu sowohl auf gleiche Weise wie die der übrigen Protagonisten als auch als ihnen überlegen konstruiert wurde. Wird auch Jesus als Erzählfigur im narrativen Gefüge des Johannesevangeliums ernst genommen, so ergibt sich die Aufgabe, die narrative Konstruktion seiner Identität als theologische Interpretationsarbeit ihres Autors zu verstehen. Sachlich bedeutet das, die narrative Provokation des Erzählers aufzunehmen, mit seiner Geschichte Jesu Christi werde Gott in je konkreten Kontexten kommuniziert. Johannes bietet seinen Lesern und Hörerinnen an, in der Auseinandersetzung mit seiner Erzählung konkret die Frage nach Gott vor dem Horizont eigener (auto-)biographischer Reflexion zu thematisieren. Es ist gerade die bereits für die imaginierten Zeitgenossen anstößige Behauptung der Selbstidentifikation Gottes mit Jesus, 31 die diesen Kommunikationsraum öffnet. Das erzählerische Interesse des Johannes gilt nicht der theologischen Abstraktion, sondern der narrativen Konkretion; es lässt sich offensichtlich von dem am Ende des Prologs formulierten Grundsatz leiten: Niemand hat Gott je gesehen. Der einziggeborene Gott (aber), der im Schoß des Vaters ist, der hat (von ihm) erzählt (1,18). Der vollkommenen Unsichtbarkeit Gottes steht die erzählte Geschichte Jesu Christi gegenüber, seine Praxis in Wort und Tat, die unabschließbare Geschichte seines Lebens. Das bedeutet: Die konkrete und kontingente Geschichte Jesu Christi, wie sie in der narrativen Form des Evangeliums kommuniziert wird, will auf unhintergehbare und unersetzbare Weise den in dieser Geschichte handelnden unsichtbaren Gott präsentieren. Sie erzählt von ihm, indem sie seinen Identitätsträger in den Kategorien narrativer Identität konstruiert. Johannes besetzt folglich mit der Gottesrede die Dimension der irreduziblen Entzogenheit in der narrativen Präsenz seiner Jesusfigur. 32 Diese Dimension ist für ihn inhaltlich bestimmt durch die Geschichte des Gottes Israels. Johannes geht es um die narrative Konstruktion der Identität dessen, der mit ihr die Identität Gottes zu verstehen geben wollte. Deshalb insistiert das Johannesevangelium auf der irdischen Abkunft Jesu und betont unmissverständlich seine leibliche Präsenz. Bereits mit der Feststellung des Prologs (1,14), dass der Logos Fleisch wurde und unter uns zeltete, wird dieser Akzent eindringlich gesetzt. Der Logos geht in die Wirklichkeit des Leiblichen ein - er wird nichts als ein Mensch. Und er wird ja auch als Mensch von denen wahrgenommen, die ihm als Mensch - und nicht als Gottessohn - begegnen - bis zu dem ecce homo (»Siehe [das ist] der Mensch« - gr. idou ho anthrōpos 19,5). Man kennt schließlich seinen Vater und seine Mutter (6,42) - sein Anspruch will dazu nicht passen. So wirft man ihm vor, ›sich selbst zu Gott zu machen‹ (gr. su anthrōpos ōn poieis seauton theon, 10,33). Das Geschehen, von dem 1,14 spricht, verläuft in entgegengesetzter Richtung. Hier heißt es betont: Das Wort ward Fleisch, der Logos wurde Mensch (gr. ho logos sarx egeneto). Nur so ist (14b) von der Herrlichkeit (gr. doxa) des Fleischgewordenen zu reden. Die Glaubenden erfassen die Präsenz Gottes nicht als Herrlichkeit (gr. doxa), die sich das Menschsein wie eine Maske angelegt hätte, sondern die doxa als den Menschgewordenen: Die Herrlichkeit, die Präsenz Gottes, ist für den Glaubenden in der Niedrigkeit des Mensch gewordenen Logos zu erkennen. Dieser Gedanke liegt dem Johannesevangelium wie ein cantus firmus zugrunde. 33 Vor diesem Hintergrund wird es möglich, die Präsenz und Entzogenheit Jesu in der narrativen Präsentation des Johannesevangeliums zusammen zu denken. Das eröffnet neue Möglichkeiten (auto-)biographischer Reflexion, insofern das personale Verhältnis von (Selbst-)Entzogenheit und narrativer Konstruktion in Beziehung und Analo- 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 42 Eckart Reinmuth Biographisches Erzählen und theologische Reflexion im Johannesevangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 43 gie zur Präsenz und Entzogenheit Gottes in der johanneischen Geschichte Jesu Christi reflektiert werden kann. Unter dieser Voraussetzung wird es möglich, die in den Texten thematisierten Relationen angemessen zu reflektieren. Sie werden dann nicht als entmündigende, partiell unverständliche Konstellationen rezipiert, sondern werden in aktiver, selbständiger Interpretationsarbeit zum Anstoß für die konstruktive Reflexion eigener Identität. Jesus wird als Erzählfigur so zum Reflexionsfeld, auf dem die Grundkonstituente der Selbstentzogenheit bei der Konstruktion personaler Identität konstruktiv gewürdigt und metaphorisch erfasst werden kann. Johannes bietet z.B. mit seinen Ich-bin-Worten Vorschläge, die in diesem Zusammenhang weiter führen. 34 Es sind die Metaphern einer Verheißung, die denen gilt, die in den Konstruktionen ihrer personalen Identität nicht aufgehen. 35 l Anmerkungen 1 Ich danke meiner Kollegin Martina Kumlehn, Professorin für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät Rostock, für die inspirierende Zusammenarbeit bei der Gestaltung eines Seminars zu den theologischen Dimensionen biographischer Reflexion im Johannesevangelium an unserer Fakultät; vgl. dies., Geöffnete Augen - gedeutete Zeichen. Historisch-systematische und erzähltheoretisch-hermeneutische Studien zur Rezeption und Didaktik des Johannesevangeliums in der modernen Religionspädagogik, Berlin / New York 2007. Siehe hierzu auch den Buchreport in diesem Heft. 2 Vgl. dazu W.G. Jeanrond / A. Lande (Hgg.), The Concept of God in Global Dialogue, Maryknoll / New York 2005; W.A. Meeks, Why Study the New Testament? , NTS 51 (2005), 155-170: 164ff. 3 Immerhin lässt sich beobachten, dass der »Verlust der religiösen und moralischen Konsense ... zu einem gesellschaftlichen und politischen Unbehagen (führt), in dem sich die Frage der persönlichen Identität akut stellt« (A. Gignac, Neue Wege der Auslegung. Die Paulus-Interpretation von Alain Badiou und Giorgio Agamben, ZNT 18 [2006], 15-25: 21). Vgl. grundlegend z.B. S.H.-G. Soeffner, Zeitbilder. Versuche über Glück, Lebensstil, Gewalt und Schuld, Frankfurt / New York 2005. 4 Vgl. z.B. J. Berlinerblau, The Secular Bible. Why Nonbelievers Must Take Religion Seriously, Cambridge 2005. 5 Vgl. einführend J.C. Anderson / J.L. Staley, Einführung zum Themenband ›Taking it personally‹, Semeia 72 (1995), 7-18; Ph.R. Davies, Introduction: Autobiography as Exegesis, in: ders. (Hg.), First Person. Essays in Biblical Autobiography, Sheffield 2002, 11-24; vgl. weiterführend J.L. Staley, Reading with a Passion: Rhetoric, Autobiography, and the American West in the Gospel of John, New York 1995; I.R. Kitzberger (Hg.), The Personal Voice in Biblical Interpretation, New York 1998; I.R. Kitzberger (Hg.), Autobiographical Biblical Criticism: Between Text and Self, Leiden 2002. 6 Vgl. A. Cavarero, Relating Narratives. Storytelling and Selfhood, London / New York 2000. 7 Vgl. zur hermeneutischen Reflexion T. Cohn Eskenazi / G.A. Philips / D. Jobling (Hgg.), Levinas and Biblical Studies (SBLSS 43), Atlanta 2003 mit der instruktiven Einführung der Herausgeber Facing the Text As Other: Some Implications of Levinas’s Work for Biblical Studies von Tamara Cohn Eskenazi (1-16). 8 Vgl. dazu D. Tovey, Narrative Art and Act in the Fourth Gospel (JSNTSS 151), Sheffield 1997 sowie einführend R.F. Hock / J.B. Chance / J. Perkins (Hgg.), Ancient Fiction and Early Christian Narrative (SBL Symposium Series 6), Atlanta, Ga., 1998; D. Rhoads / K. Syreeni, (Hgg.), Characterization in the Gospels. Reconceiving Narrative Criticism (JSNTSS 184), Sheffield 1999; J.P. Fokkelman, Reading Biblical Narrative. A Practical Guide, transl. by I. Smit, Leiden 1999. 9 Zum Zusammenhang von Identitätskonstruktion, sozialer Interaktion und der literarischen Konstitution von Identifikationsfiguren in antiken Texten vgl. Chr. Ronning, Soziale Identität - Identifikation - Identifikationsfigur. Versuch einer Synthese, in: B. Aland / J. Hahn / Chr. Ronning (Hgg.), Literarische Konstituierung von Identifikationsfiguren in der Antike, Tübingen 2003, 233-251: 242ff. Zu religiösen Konstitutionsbedingungen personaler Identität in der Antike vgl. D. Brakke / M.L. Satlow / St. Weitzman (Hgg.), Religion and the Self in Antiquity, Bloomington 2005. Im Blick auf das Johannesevangelium vgl. P. Dschulnigg, Jesus begegnen. Personen und ihre Bedeutung im Johannnesevangelium, Münster 2000; J. Hartenstein, Charakterisierung im Dialog. Die Darstellung von Maria Magdalena, Petrus, Thomas und der Mutter Jesu im Kontext anderer frühchristlicher Traditionen (NTOA / SUNT 64), Göttingen / Freiburg 2007. Hartenstein stellt fest: »Literarische Identifikationsfiguren öffnen das Werk gegenüber der Erfahrungswelt des Rezipienten et vice versa.« (246, Kursivierung original). 10 Vgl. E. Reinmuth, Anthropologie im Neuen Testament (UTB 2768), Tübingen / Basel 2006, 151-160. 11 Vgl. E. Reinmuth / K. Scharnweber, Credo. Fünf Stimmen nach Johannes, München 2008 (SV 6497; im Druck), zweite Kantate. 12 Vgl. z.B. M.M. Beirne, Women and Men in the Fourth Gospel. A Genuine Discipleship of Equals (JSNTSS 242), Sheffield 2003, 67ff. 13 Hier finden Übertragungsprozesse statt, die als wechselseitige Bildgebungsverfahren bezeichnet werden können: Eine narrative Konstellation im Text kann zur Metapher eigener Situiertheit werden; eine eigene Erfahrungssituation kann zur Metapher des mit dem Text narrativ Thematisierten werden. Vgl. zu dieser Fragestellung hinsichtlich des Johannesevangeliums E. Reinmuth, Lazarus und seine Schwestern - was wollte Johannes erzählen? Narratologische Beobachtungen zu Joh 11,1-44, ThLZ 124 (1999), 127-138. 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 43 Zum Thema 44 ZNT 23 (12. Jg. 2009) 14 Vgl. E. Reinmuth / K.-M. Bull, Proseminar Neues Testament. Texte lesen, fragen lernen, Neukirchen- Vluyn 2006, 65-73. 15 Vgl. die kritische Analyse bei Th.R. Hatina, Intertextuality and Historical Criticism in the NT Studies - Is There a Relationship? , Bibl. Int. 7 (1999), 28-43. 16 Vgl. S. Holthuis, Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption (Stauffenberg-Colloquium 28), Tübingen 1993. Dass diese Unterscheidung nur eine arbeitshypothetisch vorläufige sein kann, liegt auf der Hand. Schließlich werden auch die Elemente einer produktionsseitigen Intertextualität in Abhängigkeit von Quellen und Kenntnissen auf Seiten heutiger Rezipienten erfasst und rekonstruiert; vgl. zu diesem Problemkomplex z.B. W. Hallet, Intertextualität als methodisches Konzept einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft, in: M. Gymnich / B. Neumann / A. Nünning (Hgg.), Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur, Trier 2006, 53-70. 17 Zum Terminus ›Jesus-Christus-Geschichte‹ vgl. E. Reinmuth, Narratio und argumentatio - zur Auslegung der Jesus-Christus-Geschichte im ersten Korintherbrief. Ein Beitrag zur mimetischen Kompetenz des Paulus, ZThK 92 (1995), 13-27; Hermeneutik des Neuen Testaments. Eine Einführung in die Lektüre des Neuen Testaments (UTB 2310), Göttingen 2002, 11ff. u.ö.; Neutestamentliche Historik - Probleme und Perspektiven (ThLZ.F 8), Leipzig 2003, 35-40.59-63; In der Vielfalt der Bedeutungen - Notizen zur Interpretationsaufgabe neutestamentlicher Wissenschaft, in: U. Busse (Hg.), Die Bedeutung der Exegese für Theologie und Kirche (QD 215), Freiburg 2005, 76-96. 18 Vgl. Reinmuth, Anthropologie, 163ff. 19 Näheres bei H. Thyen, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen 2005, 299.305. 20 A. Honold, In der Strafkolonie, in: B. von Jagow / O. Jahraus, KafkaHandbuch, Göttingen 2008, 477-503: 481. 21 F. Kafka, Drucke zu Lebzeiten, krit. Ausgabe, hg. v. W. Kittler / H.-G. Koch / G. Neumann, Frankfurt a.M. 1994. 22 Vgl. R. Ammicht-Quinn, Franz Kafkas und Alexandar Tišmas Strafkolonien: Ethik, Offenheit und Verbindlichkeit, in: D. Mieth (Hg.), Erzählen und Moral. Narrativität im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik, Tübingen 2000, 215-236. 23 Johannes thematisiert mit seinen erzählerischen Mitteln Erfahrungen, die z.B. aus der sozialpsychologischen Perspektive der Transitionsforschung diskutiert werden können; vgl. dazu grundlegend H. Welzer, Transitionen. Zur Sozialpsychologie biographischer Wandlungsprozesse, Tübingen 1993. Mit Transitionen sind Übergänge im Lebenslauf gemeint; es geht um »Ereignisse, die den scheinbar gleichmäßigen Verlauf des Lebens unterbrechen und zu Verwerfungen und Brüchen führen, an deren Bewältigung die Subjekte Erfahrungen machen, also spezifische Sozialisationsprozesse durchlaufen.« (8). 24 Bereits 1953 prägte der Philosoph Wilhelm Schapp den Begriff vom ›Verstricktwerden in Geschichten‹ (ders., In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, [Hamburg 1953] Wiesbaden 1976). Vgl. zur Aktualität seines Entwurfs jetzt die konstruktiven Überlegungen bei Th. Rolf, ›Die Geschichte steht für den Mann‹. Ethische Aspekte der narrativen Repräsentation, in: K. Joisten (Hg.), Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 17, Berlin 2007, 151-167, 160ff.; vgl. Th.R. Wolf, Leben in Geschichte(n). Zur Hermeneutik des historisch-narrativen Subjekts, in: S. Deines / S. Jaeger / A. Nünning (Hgg.), Historisierte Subjekte - Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte, Berlin 2003, 47-61: 56ff. Einleitend zu seiner Philosophie der Geschichten (Leer 1959) hatte Wilhelm Schapp programmatisch festgestellt: »Wenn wir uns unserem Selbst nähern wollen, so können wir das nicht über die Wissenschaften, nicht über Sachverhalte, sondern nur über Geschichten« (a.a.O. XIII). 25 Vgl. W. Kraus, Falsche Freunde. Radikale Pluralisierung und der Ansatz einer narrativen Identität, in: J. Straub / J. Renn (Hgg.), Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst, Frankfurt 2002, 159-183, v.a. 178ff.; H. Haker, Narrative und moralische Identität, in: D. Mieth (Hg.), Erzählen und Moral. Narrativität im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik, Tübingen 2000, 37-65. 26 George Herbert Mead (1863-1931) hatte die soziale Konstitution des Menschen und die Sprachförmigkeit des Bewusstseins herausgearbeitet. Sein Hauptwerk »Mind, Self and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist« erschien postum 1934. Der Mensch ist ein soziales Wesen, das durch seine Sprache sich selbst gegenübertreten und so denken kann. Die Gesellschaft geht dem Individuum voraus, weil nach Mead sonst so etwas wie Sozialisation gar nicht möglich wäre. Zugleich konstituiert der Mensch durch sein Handeln Gesellschaft - es geht ihm um eine wechselseitige Konstitution, die die Offenheit des Menschen nicht verhindert, sondern begründet. Mead unterschied im Gefolge dieser Voraussetzung zwischen I- und Me-Perspektive (Selbst- und Fremdperspektive auf mich). 27 Vgl. in diesem Zusammenhang die grundlegenden Überlegungen bei A. Ferrara, Reflexive Authenticity. Rethinking the Project of Modernity, London 1998. 28 Wolfgang Kraus verweist zu Recht darauf, dass das »Erzählen über sich selbst als Generalthema der Identitätstheorie« mittlerweile »beinahe - ein Gemeinplatz« sei (Kraus, Freunde, 161). 29 Th.R. Wolf resümiert im Anschluss an die Philosophie Wilhelm Schapps (Schapp, Geschichten, 61): Das historisch-narrative Subjekt findet sich »nicht einfach als Produkt vergangener Geschichte(n) vor, sondern konstituiert sich im Prozess wechselseitiger Verständigung. Die verschiedenen Geschichten, in die das jeweilige Subjekt verstrickt ist, fungieren daher im Sinne der multiperspektivischen Repräsentation und Rekonstruktion eines individuellen Lebenszusammenhangs, die in einen kulturellen Rahmen eingelassen ist bzw. diesen zu seiner Verwirklichung verlangt. Die Authentizität der Person wird damit in ein diskursives und regulatives Projekt transformiert, da die eigenen mit den anderen Geschichten in Einklang zu bringen sind. ›Leben‹ und ›Geschichte‹ fallen dann nicht einfach zusammen, sondern werden als Lebensgeschichte zur praktischen Aufgabe, bei der eine theoretische Distanz zu uns selbst gewahrt werden kann.« 30 J. Butler, Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt a.M. 2003, 46. Zum Zusammenhang vgl. Reinmuth, Anthroplogie, 22-33. 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 44 Eckart Reinmuth Biographisches Erzählen und theologische Reflexion im Johannesevangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 45 31 Sie wird z.B. in der Metaphorik der ›Sendung‹ artikuliert; vgl. 7,25-30; 8,21-29 u.ö (s.u.). 32 Die Entzogenheit bedeutet, dass die konkrete und kontingente Gestalt Jesu von Gott ›erzählt‹, Gott aber darin nicht aufgeht. Vgl. nur 14,12; die Parakletsprüche; 20,30f. 33 Vgl. für die Reflexion der leiblichen Präsenz Jesu u.a. 2,19; 6,35ff.; 20,17.27. Für das Tempelwort (2,19) ist auf den Zusammenhang mit dem Bild vom Lebenswasser (7,37-39) und den Reziprozitätsaussagen (14,23f.; 15,9; 17,26) hinzuweisen; vgl. dazu E.E. Popkes, Jesus als der neue Tempel (Joh 2,19), in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 711-718: 717. Das an den Anfang der Praxis Jesu gesetzte Bildwort selbst akzentuiert ganz auf der Linie der Inkarnationsaussage des Prologs die Leiblichkeit der Hinrichtung und Auferstehung Jesu. Zu den Herrlichkeitsaussagen im Johannesevangelium vgl. N. Chibici-Revneanu, Die Herrlichkeit des Verherrlichten: Das Verständnis der doxa im Johannesevangelium, (WUNT II / 231), Tübingen 2007. 34 Jesus ist das Brot des Lebens (6,35.48.51), das Licht der Welt (8,12), die Tür (10,9), der gute Hirte (10,11), die Auferstehung und das Leben (11,25), der Weg, die Wahrheit und das Leben (14,6), der echte Weinstock (15,1). 35 Vor diesem Hintergrund treten die drei prädikatlosen Wendungen ›Ich bin (es)‹ in neues Licht (vgl. 4,26; 8,58; 18,5.6.8). Mit der direkten Rede ›Ich bin (es)‹ werden Identifikationsaussagen getroffen, die auf die narrative Präsenz Gottes in der Welt (vgl. 20,28) zielen. Eckart Reinmuth Anthropologie im Neuen Testament UTB M 2006, 346 Seiten, €[D] 24,90/ SFr 43,70 ISBN 978-3-8252-2768-5 Anthropologische Fragestellungen liegen im zentralen Interesse aktueller theologischer Forschung. In einer klar verständlichen Sprache geht das Buch der Frage nach, wie neutestamentliche Perspektiven in die aktuelle Wirklichkeit der Menschen einzubringen sind. Menschsein wird im Neuen Testament im Zuge der vielfältigen Interpretationen der Jesus-Christus- Geschichte thematisiert. Hier werden anthropologische Perspektiven sichtbar, die an ausgewählten Texten der Synoptiker, der johanneischen und paulinischen sowie der übrigen neutestamentlichen Texte dargestellt werden. Ein Stichwort- und ein Stellenregister sorgen für einen gezielten, textorientierten Zugriff, so dass sich das Buch gut für Lehre und Prüfungsvorbereitung einsetzen lässt. Aus dem Inhalt: Vorwort · Einführung · Anthropologie in den synoptischen Evangelien · Anthropologie im Johannesevangelium · Paulus · Übrige Schriften · Nachwort · Bibliographie, Stichwortregister, Neutestamentliche Stellen (in Auswahl) UTB Theologie A AA AA. .. .. Fr Fr Fr Fr Franc anc anc anc anck kk kke ee ee 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 45