eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 12/23

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2009
1223 Dronsch Strecker Vogel

Die Sünde im Johannesevangelium

2009
Jean Zumstein
ZNT 23 (12. Jg. 2009) 27 Im Johannesevangelium kann die Frage nach der Sünde auf zwei verschiedenen Ebenen gestellt werden. 1 Entweder steht die Thematik der Sünde im Vordergrund. In diesem Fall wird untersucht, wie das vierte Evangelium das in die Krise geratene Verhältnis zwischen Gott und seinen Geschöpfen inszeniert. Aus dieser Perspektive wird die Aufmerksamkeit auf den plot des Evangeliums fokussiert. Die erzählte Geschichte Jesu wird zum Rahmen, in welchem gleichzeitig die Manifestation der Sünde und - als Alternative dazu - das Angebot des Heils thematisiert werden. Oder die Untersuchung konzentriert sich auf die Terminologie der Sünde. Von diesem Gesichtspunkt her ist zu überprüfen, wie der Begriff »Sünde« je nach seinem literarischen Kontext inhaltlich zu bestimmen ist. Werfen wir zuerst einen kurzen Blick auf den thematischen Aspekt. Der Prolog des Evangeliums (1,1-18) setzt auf programmatische Weise den hermeneutischen Rahmen fest, in welchem die Geschichte Jesu, und von daher die Thematik der Sünde, verstanden werden soll. Dieser Hymnus, der der Erzählung vorangeht, lädt die Leserin und den Leser ein, in dem Schicksal des Nazareners das Kommen des göttlichen Logos in die Welt wahrzunehmen. Diese Welt wird jedoch durch die Finsternis beherrscht, so dass das sich offenbarende Licht abgelehnt wird. Die Ablehnung ist die Manifestation der Sünde. Mit anderen Worten: Das Kommen des Logos löst ein entscheidendes Geschehen aus, nämlich die Sünde bzw. den Aufstand gegen Gott, welcher Gestalt annimmt und manifestiert wird. Diese Aussage über die Sünde ist keine objektive Feststellung. Nur der Glaube ermöglicht eine solche Interpretation der Menschenwelt. Diese glaubende Perspektive impliziert aber, dass die Enthüllung der Sünde von dem Angebot einer Alternative nicht zu trennen ist: Das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen ist zwar in eine Krise geraten, es soll aber wiederhergestellt werden. Offenbarung der Sünde und des Heils fallen zusammen. Der Prolog bringt diese Asymmetrie, die für das vierte Evangelium typisch ist, zum Ausdruck, nämlich dass Gnade und Liebe größer als Sünde sind. Somit wird die menschliche Existenz nicht einem tragischen Verhängnis preisgegeben, sondern wird ganz im Gegenteil unter das Zeichen einer Lebensverheißung gestellt. Der Prolog ist ein Hymnus, der zum Repertoire der ersten Christen gehörte. Es geht um eine retrospektive, bekennende Lektüre des Heilsgeschehens. In Bezug auf die Sünde sind zwei Elemente hervorzuheben. Der Prolog zeigt zuerst, dass die Sünde bei Johannes ein relationaler Begriff ist. Es geht nicht in erster Linie um die Übertretung einer moralischen Norm, sondern um den Bruch des Verhältnisses zwischen Gott und dem Menschen. In diesem Sinn steht der Sündebegriff im Zentrum des christologischen Plots, der das Evangelium entfaltet. Zweitens: Die Sünde gehört nicht nur zur Zeit der Inkarnation, sondern sie kennzeichnet mit einer vergleichbaren Relevanz die nachösterliche Zeit. Auf dem Hintergrund dieser Gesamtperspektive kann die klassische Terminologie der Sünde nachgeprüft werden (vgl. den Begriff hamartia 2 ). Diese Begrifflichkeit erscheint nur auf beschränkte Weise im Johannesevangelium. Sie kommt in den folgenden Kontexten vor: - In der programmatischen Erklärung von 1,29 sagt der Täufer: »Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt«. Diese Aussage weist auf die Passionsgeschichte hin und stellt von vornherein die Sündenproblematik in einen Zusammenhang mit dem Kreuz. - Die Sündeproblematik kommt dann in zwei Wundergeschichten vor. Zuerst im Kap. 5, wo das Verhältnis zwischen Sünde und Tod angedeutet wird. Dann in der Wundererzählung von Kap. 9. Deren lange Entfaltung schildert zwar das Entste- Zum Thema Jean Zumstein Die Sünde im Johannesevangelium »Der Prolog bringt diese Asymmetrie, die für das vierte Evangelium typisch ist, zum Ausdruck, nämlich dass Gnade und Liebe größer als Sünde sind.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 27 Zum Thema 28 ZNT 23 (12. Jg. 2009) hen des Glaubens im geheilten Blinden, gleichzeitig aber auch das Aufkommen des Unglaubens in den Pharisäern. Der Gegensatz zwischen Blindsein und Sehen gipfelt in der berühmten Aussage: »Wäret ihr blind, hättet ihr keine Sünde. Jetzt aber sagt ihr: Wir sehen. Darum bleibt eure Sünde« (9,41). - Das 8. Kap. enthält in der Auseinandersetzung zwischen Jesus und seinen jüdischen Widersachern eine argumentative Erklärung des johanneischen Christus. Sie beinhaltet in knapper Form die wesentlichen Elemente der johanneischen Auffassung des Sündenbegriffs. - Das Vorkommen des Sündenbegriffs in den Abschiedsreden (15,22.24; 16,8.9) ist von besonderem Interesse, weil es die nachösterliche Relevanz dieser Problematik erhellt. Der erste Abschnitt handelt von der Gemeinschaft der Jünger, die mit dem Hass der Welt konfrontiert wird. (Variation des Motivs: »Wäre ich nicht gekommen, so hätten sie keine Sünde«). Der zweite Abschnitt enthält den vierten Parakletspruch und verkündigt, dass der Paraklet wie Jesus das Kommen des eschatologischen Gerichts vollzieht. - In der Passions- und Ostergeschichte geht es schließlich einerseits um die Sünde derjenigen, die Jesus an Pilatus auslieferten (19,11), und andererseits um die den Jüngern verliehene Ermächtigung, Sünden zu vergeben (20,23). Ein kurzer Überblick über diese Texte lässt entdecken, wie der implizite Autor den Sündebegriff ausgearbeitet hat. 1. Der erste große Zeuge (1,29) Der erste Kontext, in welchem die Thematik der Sünde um Ausdruck kommt, ist besonders interessant, denn es handelt sich um den ersten Auftritt des johanneischen Christus in der Erzählung. Dieser Auftritt wird von Johannes dem Täufer begrüßt. Während dieser bis zu diesem narrativen Zeitpunkt nur ein negatives Zeugnis abgelegt hatte (1,19-28), kommt er zu einer positiven und direkten Erklärung: »Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt«. Von vornherein versteht der Leser / die Leserin, dass »Lamm Gottes« eine Metapher ist, die als christologischer Titel verstanden werden soll. Dieser Titel kommt nur hier vor - dies gilt sowohl für das Johannesevangelium wie auch für die gesamte urchristliche Tradition (vgl. jedoch 1Kor 5,7-8 und Offb 17,14) und ist mit der Passion in Verbindung zu setzen. Seine soteriologische Tragweite ist offensichtlich. Zwei alttestamentliche Traditionen tragen zur Entzifferung dieser Metapher: Die Passatradition (Ex 18,28; 19,33.36 [Zitat von Jes 12,1-10.46]) und das Motiv des »Gottesknechtes« in Jes 53,7 (der »leidende Knecht« wird mit einem Lamm in Beziehung gesetzt) und Jes 53,4.1112 (»Er hat die Sünden vieler getragen«). Diese beiden Hintergründe sind nicht als Alternative zu begreifen. Es ist auch nicht angebracht, in dieser Metapher eine profilierte Deutung des Todes Jesu hineinzulesen (Sühnetod! ). Der entscheidende Punkt ist, dass die erste öffentliche und positive Bestimmung der Identität Jesu auf das Kreuz hinweist (s. die Inklusion mit 19,14). Erst die Fortsetzung der Erzählung wird enthüllen, wie dieser Tod zu interpretieren ist. Die soteriologische Aussage, welche der Metapher »Lamm Gottes« folgt (»das die Sünde der Welt hinwegnimmt«), benutzt das Wort »Sünde« im Singular. Selbstverständlich geht es nicht um eine einzelne moralische Übertretung, sondern ganz grundsätzlich um das gebrochene Verhältnis zwischen Gott und der Menschenwelt. Der johanneische Christus wird somit programmatisch als derjenige dargestellt, der einen neuen Zugang zu Gott eröffnet, indem er die Welt von ihrer Schuld befreit. Dieses entscheidende Zeugnis des Täufers skizziert auf Anhieb den Horizont, vor welchem das Kommen des Logos zu interpretieren ist. Der Auftrag des johanneischen Christus besteht in der Wiederherstellung einer gebrochenen Beziehung (die Sünde der Welt hinwegnehmen), und diese Verwandlung geschieht am Kreuz. 2. Die Sünde in den Wundergeschichten (5,1-16; 9,1-38) Die Heilung am Teich Bethesda umfasst zwei »Der Auftrag des johanneischen Christus besteht in der Wiederherstellung einer gebrochenen Beziehung (…), und diese Verwandlung geschieht am Kreuz.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 28 Jean Zumstein Die Sünde im Johannesevangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 29 Momente. Während die V. 1-9a die Wunderhandlung schildern, wird in den V. 9b-16 die daraus hervorgehende Kontroverse berichtet. Der johanneische Christus hat auf souveräne Weise die Initiative der Heilung ergriffen, ohne dass der Gelähmte eine Bitte formuliert hätte. Übrigens gibt es nach der Heilung seitens des Geheilten nicht das geringste Zeichen der Dankbarkeit oder des Glaubens. Die Aufmerksamkeit wird auf die Person Jesu fokussiert: das durchgeführte Zeichen enthüllt seine Vollmacht über Leben und Tod. Dieses Wunder löst jedoch eine Kontroverse aus, weil es am Sabbat vollzogen wurde (V. 9b). In der nomistischen Perspektive, die durch »die Juden« vertreten wird, ist die Heilung des Gelähmten gesetzeswidrig. Sie ist eine klare Übertretung des Gotteswillens, weil sie einen entscheidenden identity marker des jüdischen Glaubens ignoriert. Konfrontiert mit dieser Situation lehnt der Geheilte eine etwaige Verantwortung ab und schiebt »dem, den er nicht kennt« (V. 12) die Schuld zu. Als Jesus wieder auftritt und den Geheilten »findet« (V. 14), spricht er zu ihm dieses geheimnisvolle Wort: »Du siehst, du bist gesund geworden. Sündige nicht mehr, damit dir nicht etwa Schlimmeres widerfährt! «. Jesus diskutiert zuerst nicht die durch »die Juden« erhobene Anklage (s. jedoch V. 17). Seine Mahnung ruft auch nicht zu einem toratreuen Verhalten. Offensichtlich verlässt er die nomistische Auffassung der Sünde und argumentiert auf einem anderen Niveau. Die wiedererlangte Gesundheit ist als das Zeichen des neuen Lebens zu begreifen, ein echtes Leben, wo die Sünde keinen Platz mehr hat, d.h. ein in Treue vor Gott geführtes Leben. Sollte der geheilte Gelähmte gegen diesen Aufruf taub bleiben, würde er die Gelegenheit nicht ergreifen, eine positive Beziehung mit Gott zu knüpfen, dann wäre er in Gefahr, etwas Schlimmeres zu erleiden: nämlich den Tod. Hier erscheint für das erste Mal ein Motiv, das in der Fortsetzung der Erzählung entfaltet wird, nämlich das Verhältnis zwischen Sünde und Tod. Die der Heilung des Blindgeborenen gewidmete große Sequenz (9,1-38) ist durch einen Plot strukturiert, der den klassischen Sündebegriff umdeutet. Der Text geht von einer traditionellen Auffassung der Sünde aus (die Sünde als Übertretung des Gesetzes, s. V. 9), um den Leser / die Leserin zu der spezifisch johanneischen Konzeption der Sünde zu führen (die Sünde als Unglaube bzw. als Ablehnung der christologischen Offenbarung). Diese Bedeutungsverschiebung ist für die Adressaten hoch aktuell, insofern diese Wundergeschichte die österliche Zeit in zweifacher Weise evoziert. Erstens - das ist das einzige Mal im vierten Evangelium - findet der Konflikt über die richtige Interpretation des Wunders in der Abwesenheit Jesu statt (der johanneische Christus verlässt die Szene im V. 7 und tritt erst in V. 35 wieder auf). Zweitens wird die Auseinandersetzung zwischen dem geheilten Blinden und den theologischen Behörden, die zum Ausschluss des Geheilten führt, durch einen Transparenzeffekt gekennzeichnet: durch diese Episode des Lebens Jesu hindurch wird die Konfrontation zwischen den johanneischen Gemeinden und der Synagoge angedeutet. 3 Die traditionelle Auffassung der Sünde wird auf doppelte Weise zum Ausdruck gebracht. Sie Prof. Dr. Jean Zumstein, Jahrgang 1944, studierte Evangelische Theologie und war von 1975 bis 1990 Ordinarius für neutestamentliche Theologie an der Universität Neuchâtel/ Schweiz. Seit 1990 ist er Ordinarius für neutestamentliche Wissenschaft an der Universität Zürich/ Schweiz. Zu seinen derzeitigen Forschungsgebieten zählen besonders das Johannesevangelium, neutestamentliche Hermeneutik sowie die Anwendung literaturwissenschaftlicher Modelle in der neutestamentlichen Exegese. Zahlreiche Veröffentlichungen zu diesen Themen, darunter: Kreative Erinnerung. Relecture und Auslegung im Johannesevangelium (AThANT 84), 2. überarb. Aufl., Zürich 2004; L’Evangile selon Saint Jean (13-21); CNT IVb, Genf 2007. Für weitere Informationen: http: / / www.theologie.uzh.ch/ faecher/ neuestestament/ jean-zumstein.html Jean Zumstein 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 29 Zum Thema 30 ZNT 23 (12. Jg. 2009) begegnet zuerst im Munde der Jünger (V. 2), die Sünde und Krankheit assoziieren. Die Blindheit wird als Folge der Sünde dargestellt. Für die Jünger besteht die einzige verbleibende Frage darin zu wissen, wer gesündigt hat. Die Eltern? In diesem Fall wäre der Blindgeborene Opfer einer Übertretung, die er nicht selbst begangen hätte. Der Fluch würde durch die Generationen hindurchgehen. Oder der Blindgeborene selbst? In diesem Fall würde er mit seiner Blindheit die Schuld sühnen, für die er verantwortlich ist. Der kleine hermeneutische Prolog der V. 3-5 zeigt, dass der johanneische Christus diese Logik ablehnt. Das vorgetragene Argument verdient Aufmerksamkeit. Jesus lehnt keineswegs die Realität der Blindheit ab, an der dieser Mann leidet, und - wenn der Leser / die Leserin auf die metaphorische Ebene hinübergeht - Jesus bestreitet in keiner Weise, dass die Menschen in der Finsternis leben. Er verzichtet jedoch auf eine retrospektive Erklärung, in welcher er das Verhältnis zwischen Blindheit und Sünde thematisieren würde. Im Gegenteil besteht sein Auftrag darin, die befreiende Präsenz Gottes zu verwirklichen und den Menschen aus dieser Entfremdung zu entreißen. Der Akzent ist klar und eindeutig soteriologisch orientiert: Der johanneische Christus kommt nicht, um die Sünde zu bestrafen, sondern um davon zu befreien. Die zweite traditionelle Auffassung der Sünde erscheint in der ersten Konfrontation zwischen dem geheilten Blindgeborenen und den Pharisäern (V. 13-17): Es geht um die nomistische Konzeption. Wie schon im Kap. 5 fand die Heilung an einem Sabbat statt (V. 14). Gefährdet diese Übertretung das Verhältnis des Heilers mit Gott (V. 16)? Ist Jesus ein Sünder? Diese durch die Pharisäer gestellte Frage stellt die klassische Bindung zwischen Gesetzesgehorsam und Verhältnis mit Gott her. Die Spaltung unter den Geistern zeigt aber, dass die Antwort auf diese Frage keineswegs eindeutig und selbstverständlich ist. Die zweite Konfrontation (9,24-34) wird als Gerichtsszene konzipiert. Die »Juden« in der Rolle der Richter erklären Jesus als »Sünder« (V. 24). Sie entscheiden als Jünger Mose, der im Namen Gottes gesprochen hat. Sie berufen sich auf eine anerkannte Autorität, während die Legitimität Jesu - ihrer Meinung nach - nicht nachweisbar ist. Nach dem impliziten Autor begehen sie aber einen fatalen Irrtum, indem sie denken, die Offenbarung nach ihren eigenen Kriterien bemessen zu können. Der geheilte Blinde lässt sich aber nicht überzeugen - nicht, weil er die von den theologischen Behörden angeführten Kriterien widerlegen würde, sondern weil er sie auf eine andere Weise interpretiert. Er stellt eine Verbindung zwischen der Schrift und der Handlung Jesu her. Das vollzogene Wunder beweist, dass Jesus nicht der Feind Gottes ist, sondern dass er seinen Willen erfüllt und von daher mit seiner aktiven Unterstützung rechnen kann. Die Legitimität der alttestamentlichen Tradition wird nicht in Frage gestellt, sondern sie wird kontrovers interpretiert. Während die einen in ihr das Werkzeug der Verurteilung Jesu sehen, ist sie für den Blinden die Referenz, welche die Anerkennung des johanneischen Christus ermöglicht. In jedem Fall hat sich aber der Schwerpunkt der Debatte verschoben. Die Person Jesu wird zum Kriterium, wonach die Frage der Sünde entschieden wird. Die Endszene bestätigt diese Verlagerung. Dem Bekenntnis des geheilten Blingeborenen steht das Urteil Jesu über die Pharisäer entgegen (V. 39-41). Das semantische Feld »sehen - nicht sehen - blind sein« hat eine metaphorische Tragweite. Das Kommen Jesu weist eine eschatologische Bedeutung auf. In der Begegnung mit dem Offenbarer enthüllt sich die Identität jedes Menschen. »In der Finsternis sein« ist das Geschick aller. Dagegen wird die Sünde zum Verhängnis für diejenigen, die behaupten zu sehen und gleichzeitig den Gottesgesandten ablehnen. Die Erzählung der Heilung des Blindgeborenen leistet eine erhebliche theologische Arbeit. Auch wenn sie die Verlorenheit jeder menschlichen Existenz anerkennt, lässt sie die traditionelle Auffassung der Sünde fallen - sei es die Konzeption, die einen klaren Zusammenhang zwischen Tat und Ergehen herstellt, sei es die Sicht, welche Sünde mit der Toraübertretung identifiziert. Die ursprüngliche und grundlegende Auffassung der Sünde, d.h. der Bruch des Verhältnisses zwischen Gott und dem Menschen, wird in den Vordergrund gestellt. Der implizite Autor macht jedoch einen zusätzlichen Schritt: Von nun an wird die Ablehnung Gottes mit der Ablehnung der christologischen Offenbarung gleichgesetzt. Der Sündebegriff wird eindeutig christologisiert. Von nun an 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 30 Jean Zumstein Die Sünde im Johannesevangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 31 kann die Sünde als Unglaube definiert werden. Die christologische Offenbarung wird zur Stunde, wo die Sünde sich manifestiert. Diese Enthüllung setzt die Menschen vor eine Alternative: Entweder nehmen sie das befreiende Kommen Gottes im Glauben an oder sie lehnen die christologische Offenbarung ab. In diesem Fall wird die Sünde zu einem destruktiven Verhängnis 4 . 3. Die Sünde in den Streitgesprächen Der Sündebegriff wird auf entscheidende Weise im Kap. 8 vertieft. In dieser Sequenz, die eine Reihe von Streitgesprächen zwischen und Jesus und seinen Opponenten 5 umfasst, wird die Sünde sukzessiv mit dem Tod (8,21-30), mit der Sklaverei (8,31-36) und mit der Wahrheit (8,31-47) in Verbindung gesetzt. Sünde und Tod. In dem Streitgespräch über seine Herkunft und Bestimmung (8,21-30) eröffnet Jesus die Debatte mit der Ankündigung seines bevorstehenden Todes (V. 21: »Ich gehe fort«). Während sein Tod seine Rückkehr zum Vater ermöglicht, zeitigt er fatale Konsequenzen für seine Gesprächspartner. Auf rätselhafte Weise verweigert nämlich der johanneische Christus seinen Opponenten die Fähigkeit, ihm zu folgen. Diese unmögliche Nachfolge hat eine verhängnisvolle Konsequenz: »Ihr werdet in eurer Sünde sterben« (8,21). Das nachstehende Missverständnis führt zu einer Klärung und Vertiefung dieser Aussage. Seine Gesprächspartner sind nicht in der Lage, eine Beziehung mit ihm aufzunehmen, weil sie ein unterschiedliches »Woher« haben. Während Jesus von oben ist und nicht zu dieser Welt gehört, sind seine Gegner von unten und gehören zu dieser Welt. Es handelt sich nicht um eine metaphysische Gegenüberstellung, wobei das göttliche Wesen Jesu gepriesen und das niedere Wesen der Menschen gebrandmarkt wäre. Im Johannesevangelium bezeichnet das »Woher« das, worauf der Mensch sein Leben gründet, das, worauf er sich verlassen kann. Wenn sich das Leben Jesu durch eine vollkommene Gemeinschaft mit Gott kennzeichnet, wenn der johanneische Christus als Gesandter Gottes den Vater unter den Menschen vollkommen vertritt, wenn sein Tod seine Rückkehr zu ihm ermöglicht, befindet sich der Mensch nie in einer solchen vollendeten Beziehung mit dem Schöpfer. Das unmittelbar Verfügbare und Zugängliche, d.h. die weltliche Wirklichkeit, die Immanenz, ist seine entscheidende Referenz. Indem sich der Mensch jedoch von Gott trennt, trennt er sich gleichzeitig von der Quelle des Lebens. Er ist zum Tod bestimmt. »In der Sünde sterben« heißt sterben an der Trennung von Gott, der in der alttestamentlich-jüdischen Tradition der Schöpfer ist. Der Text macht jedoch noch einen zusätzlichen Schritt: Wo ist dieser Gott, Quelle des Lebens? Die Formel »Ich bin«, die im Alten Testament den sich offenbarenden und lebensspendenden Gott kennzeichnet, wird hier auf Jesus angewendet (V. 24: »Wenn ihr nicht glaubt, dass ›Ich bin‹«). Die Gleichsetzung des göttlichen Prädikats mit der Person Jesu bedeutet, dass sich die Gestalt Gottes voll und endgültig in ihm manifestiert, dass der Zugang zum Leben von nun an sich von dem Glauben an ihn nicht trennen lässt. Die Anfangsthese ist auf diese Weise ausführlich begründet. Wer Jesus sucht, ohne ihn zu finden, wer nicht in der Nachfolge steht, ist von dem echten Leben getrennt, er ist zum Tode bestimmt. Einmal mehr beschreibt der Sündebegriff den Bruch des Verhältnisses mit Gott. Nach dem vierten Evangelium erliegt der Mensch nicht der Sünde und von daher dem Tode, weil er das Gesetz übertreten hätte, sondern weil er sich verweigert, in der Person des johanneischen Christus die volle und lebensspendende Präsenz Gottes anzuerkennen. Die Sünde ist nicht in erster Linie Übertretung, sondern Unglaube. Sünde und Knechtschaft. In dem nachfolgenden Streitgespräch (8,31-36) wird ein weiterer Aspekt der Sünde zum Ausdruck gebracht: die Knechtschaft. Die vom johanneischen Christus vertretene These besagt, dass die Sünde den Menschen versklavt. Es geht jedoch nicht um ein unabwendbares Verhängnis, denn das Wort Christi, insofern es die Wahrheit mitbringt, bewirkt die Freiheit. Damit diese Debatte über Wahrheit, Knechtschaft und Sünde nicht falsch verstanden wird, muss sie in den richtigen sozial-religiösen Zusammenhang eingeordnet werden. »Die Sünde ist nicht in erster Linie Übertretung, sondern Unglaube.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 31 Zum Thema 32 ZNT 23 (12. Jg. 2009) Zunächst ist an eine anthropologische Voraussetzung zu erinnern: Jeder Mensch strebt nach Freiheit. Jedoch ist der im Text verwendete Freiheitsbegriff deutlich unterschieden von dem, was die Moderne unter diesem Konzept versteht. Um die Argumentation des johanneischen Christus sachgemäß zu verstehen, soll der Leser / die Leserin zwei wichtige kulturelle Vorstellungen einbeziehen, die im Judentum von Bedeutung waren. Zunächst sind für die Juden des ersten Jahrhunderts nobilitas und libertas 6 nicht voneinander zu trennen. Die Freiheit hängt von dem sozialen Status ab, d.h. von der Zugehörigkeit zu einer anerkannten und respektierten Familie. Die Geburt bestimmt die soziale Stellung einer Person und von daher ihre Freiheit. Nun können alle Juden behaupten, dass sie zu einem berühmten Geschlecht gehören, insofern sie die Nachkommen eines eminenten Vorfahren sind, nämlich Abraham. Der Erzvater wurde von Gott als Gründer des Gottesvolkes erwählt. Somit bleibt jedes Mitglied des Bundesvolkes, auch wenn es eine bescheidene soziale Stellung hat oder politisch unterdrückt ist, ein Sohn oder eine Tochter Abrahams und dadurch eine freie Person. Die Abrahamskindschaft garantiert nobilitas und libertas. Zweitens wäre es jedoch ein Irrturm, diese gehobene Sohnschaft nur in einem genealogischen Sinn zu verstehen. In der alttestamentlich-jüdischen Tradition ist Abraham der erste Anbeter des einzigen Gottes, er steht am Ursprung des jüdischen Monotheismus. Als die Gesprächspartner Jesu, die als »Juden, die an ihn glaubten« 7 (8,31a) kennzeichnet werden, erwidern: »Wir sind Nachkommen Abrahams und nie jemandes Sklaven gewesen. Wie kannst du sagen: Ihr werdet frei werden? «, berufen sie sich auf ihre religiöse Identität. Offensichtlich sind sie nicht im Begriff zu behaupten, dass sie niemals politisch unterdrückt worden sind. Ihre Knechtschaft in Ägypten, in Babylon oder die derzeitige römische Besatzung würde eine solche Behauptung lächerlich machen. Sowohl Knechtschaft als auch Freiheit sind mit dem monotheistischen Glauben in Verbindung zu setzen. Die Mitglieder des »auserwählten Volkes« sind frei, weil sie nie Götzen gedient haben, weil sie immer Anbeter des wahren Gottes geblieben sind. Wie kann sich Jesus einem solchen Glaubensbekenntnis widersetzen? Im Grunde stellt er nicht das Faktum in Frage, dass, unter einem historischen Gesichtspunkt, die »Juden« die Nachkommenschaft Abrahams sind. Hingegen bildet die Art und Weise, wie dieses Erbe übernommen wird, den springenden Punkt. Hier tritt die Bruchstelle zwischen dem jüdischen und dem jesuanischen Monotheismus auf. Für den Nazarener heißt dies, dass derjenige, der sich in Wahrheit auf Abraham beruft, nur seine Identität als Gottesgesandten anerkennen kann. Dass die meisten seiner Gesprächspartner ihn verwerfen, beweist, dass sie nicht mehr die Werke Abrahams erfüllen. Sie haben sich von dem Gott, den sie öffentlich verehren, entfernt, sie haben ihre Sohnschaft verspielt, sie sind Sklaven geworden. Nur die Anerkennung des Sohnes (8,36) kann ihnen die Knechtschaft ersparen und sie in die Freiheit zurückführen. Sünde und Wahrheit (8,31-47). In demselben und in dem nachfolgenden Streitgespräch wird die Sünde mit einem dritten Begriff, nämlich mit der Wahrheit in Verbindung gebracht. Wie im Fall der Freiheit, soll auch die johanneische Auffassung der Wahrheit nicht im Sinne der griechischen Philosophie verstanden werden. In der alttestamentlich-jüdischen Tradition bezeichnet die Wahrheit die wahre Grundlage aller Dinge, d.h. letztendlich die göttliche Wirklichkeit. Somit wird die Wahrheit nicht durch eine geistige Anstrengung erreicht, die zu einer sachgemäßen Beschreibung der Wirklichkeit führen würde, sondern sie geschieht als Offenbarung. Die berühmte Aussage von 8,31-32 (»Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wirklich meine Jünger und ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen«) setzt die vorgeschlagene Überlegung zur Freiheit fort. Mit dieser Ermahnung lädt der johanneische Christus »die Juden, die an ihn geglaubt haben« ein, sich sein Wort dauerhaft anzueignen und sich dadurch dem Kommen der göttlichen Wirklichkeit zu öffnen. Nun ist es gerade die Aufnahme der göttlichen Wirklichkeit in ihrem Leben, die sie befreien wird. Die Wahrheit ist also die Alternative zur Sünde. Während die Sünde das gebrochene Verhältnis mit Gott kennzeichnet, vertritt die Wahrheit die göttliche Wirklichkeit im Horizont der Welt. Diese Wahrheit, die sich der Sünde gegenüberstellt, wird christologisiert. Wie 8,40 andeutet, ist die durch Christus vermittelte Wahrheit diejenige, die er bei Gott gehört hat. Somit ist sie mit der 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 32 Jean Zumstein Die Sünde im Johannesevangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 33 christologischen Offenbarung gleichzusetzen. Von daher ist es nicht erstaunlich, dass im Streitgespräch der V. 39-47 der Teufel der Wahrheit entgegengesetzt und mit der Lüge assoziiert wird. Wie ist das Auftreten des Teufels in diesem Kontext zu verstehen? Das Problem, mit dem sich der implizite Autor auseinandersetzt, besteht in dem folgenden Dilemma: Wie ist es möglich, dass die Söhne Abrahams, die Erben der Verheißung, die Vertreter des Glaubens an den einen Gott, sich weigern, an den johanneischen Christus, der den Anspruch hat, der Vertreter dieses Gottes zu sein, zu glauben? Wie ist es zu erklären, dass die Vertreter der höchsten religiösen Tradition angeklagt werden, das Verhältnis mit dem Gott, den sie vehement beanspruchen, gebrochen zu haben und in der Sünde zu leben? Die Gestalt des Teufels ermöglicht die Aufklärung dieser unverständlichen Kehrtwendung, dieses plötzliche Aufkommen der Negativität innerhalb des Glaubens. Das Paradigma dieses Umschwungs ist die Szene des Sündenfalles in Gen 2-3, worauf der Text wahrscheinlich anspielt (8,44). Die Sünde entsteht in dem Augenblick, in dem der Mensch seine Selbständigkeit gegenüber dem Gott, den er doch anerkennt, beansprucht. Dieser Autonomieanspruch führt zur Lüge. Sünde und Lüge sind aber eng verbunden, denn in dem Moment, wo sich der Mensch nicht mehr auf das stützt, was seine Existenz wirklich trägt, ist er das Opfer einer Täuschung: Er nimmt die Wahrheit auf nicht angemessene Weise wahr und lebt in der Lüge. 4. Die Sünde in den Abschiedsreden Die Thematik der Sünde taucht auf profilierte Weise in der zweiten Abschiedsrede (15,1-16,33) wieder auf. Diese Wiederaufnahme der Reflexion über die Sünde ist von Bedeutung, denn sie enthüllt, wie sich die Sünde in der nachösterlichen Zeit manifestiert. Sie erscheint in der berühmten Passage über den Hass der Welt (15,18-25). In diesem Kontext wird die Sünde als konstitutives Merkmal der »Welt« dargestellt. Der Ausgangspunkt der Argumentation besteht in der folgenden Aussage: Die Ablehnung, die den irdischen Jesus getroffen hat, wird sich nach Ostern wiederholen. Der Hauptgrund der Verfolgung, welche die Jünger seitens der Welt erleben werden, besteht in ihrem christologischen Glauben. Der Sündebegriff wird erneut christologisiert. Sünde wird als Ablehnung der Person Jesu als Gottesgesandter und Inkarnation der göttlichen Wirklichkeit unter den Menschen, resp. der nachösterlichen Missionare definiert. Die V. 22-25 bestimmen die Sünde unter einem doppelten Gesichtspunkt. Die Sünde (der Terminus wird immer im Singular benutzt) entsteht durch die Entscheidung, die der Mensch der christologischen Offenbarung gegenüber fasst. Vor dem Kommen Jesu entbehrte die Rede über die Sünde jeglicher Relevanz. Erst das durch den Offenbarer ausgesprochene Wort führt auf eindeutige Weise zur Manifestation der Sünde. Die Ablehnung des Christusgeschehens ist aber unentschuldbar, denn den Offenbarer abzulehnen, heißt, Gott selbst zurückzuweisen. Das zweite Element, das mit der Sünde verbunden wird, ist der Hass. Dieses Motiv ist wichtig, denn es zeigt, dass für Johannes die Sünde nicht einfach eine falsche intellektuelle Einstellung und Entscheidung ist. Im Grunde genommen zerstört der Unglaube seinen Verfechter. Der Hass nimmt Besitz von seiner Person und kennzeichnet sich durch einen Gewaltausbruch. Das Zitat: »Sie haben mich ohne Grund gehasst« (15,25) zeigt das Ausmaß der Entfremdung, die durch die Sünde ausgelöst wird. Die Sünde verdunkelt die Einsicht in einem solchen Maß, dass derjenige, der die Offenbarung ablehnt, nicht mehr in der Lage ist, sein Verhalten zu regeln oder zu rechtfertigen. Die Trennung von Gott - so Johannes - führt zu einer radikalen Verschlimmerung der Existenz. Das vierte Wort über den Parakleten (16,6-11) unterstützt noch einmal die mehrmals in der Analyse aufgestellte Hypothese. Als Ankläger wird der Paraklet die Welt ihrer Sünde überführen (16,8). Diese Sünde ist nicht mit einer moralischen Verfehlung in Verbindung gesetzt, sondern mit dem Unglauben (16,9: »Sünde: dass sie an mich nicht glauben«). 5. Die Sünde in der Ostergeschichte Der in 20,19-23 seinen Jüngern erscheinende Christus eröffnet die österliche Zeit. Mit seiner 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 33 Zum Thema 34 ZNT 23 (12. Jg. 2009) Lehre bestimmt er die Qualität der neu beginnenden Zeit - es handelt sich um eine unter das Zeichen des Friedens und der Freude gestellte Zeit -, er bestimmt auch den den Jüngern anvertrauten Auftrag. Seine Lehre umfasst drei Punkte. Erstens werden die Jünger gesandt, um Christus in der Welt zu vertreten. Wie der vom Vater Gesandte Gott unter den Menschen zu vertreten hat, so sind die Jünger dazu berufen, den johanneischen Christus, wo immer sie leben, zu bezeugen. Zweitens werden die Jünger für den Vollzug dieses Auftrags ihrem Schicksal nicht preisgegeben, sondern empfangen die Gabe des Heiligen Geistes, um ihre neue Verantwortung auf sich zu nehmen. Schließlich bekommen sie die Vergebungsvollmacht (s. auch Mt 16,19: 18,18). Diese überraschende Aussage, 8 nämlich die Ermächtigung die Sünden zu vergeben, soll innerhalb des johanneischen Kontextes interpretiert werden, was vier Konsequenzen mit einschließt. Erstens: Unter dem Gesichtspunkt der Argumentation ist diese Vergebungsvollmacht die Verwirklichung des Sendungsauftrags und der Gabe des Heiligen Geistes. Zweitens: Der Sündebegriff ist nicht im traditionellen Sinne als moralische Übertretung, sondern als Ablehnung der christologischen Offenbarung zu verstehen. Drittens: Diese johanneische »Schlüsselgewalt« ist Texten wie 3,19-21, 9,40-41, 15,22-24 näher zu bringen, wo es um die Offenbarung des Heils und des Gerichtes geht. Viertens: Diese »Schlüsselgewalt« ist nicht einem Amt oder einer Institution vorbehalten, sondern gehört allen Gläubigen. Wie soll dann diese den Jüngern anvertraute Vergebungsvollmacht verstanden werden? Wichtig ist festzustellen, dass nur das Prinzip vorgestellt wird, während die Anwendungsregeln nicht definiert werden. Anstatt an eine institutionelle Ausübung zu denken, ist es vernünftiger, diese Vergebungsvollmacht mit der Proklamation der christologischen Offenbarung unter den Menschen in Verbindung zu setzen. Indem die Jünger die Welt mit der christologischen Offenbarung konfrontieren, ermöglichen sie jedem Menschen, entweder die Vergebung und das ewige Leben zu empfangen, oder durch eine Ablehnung sich in der Sünde einzuschließen. Indem die Jünger so handeln, werden sie das Werk des johanneischen Christus unter der Führung des Parakleten fortsetzen. 6. Schluss Im Rahmen des Urchristentums hat die johanneische Schule die Reflexion über die Sünde auf profilierte Weise gefördert und weitergeführt. Hervorzuheben sind zuerst die literarischen Mittel, die benutzt worden sind, um diese zentrale Frage zum Ausdruck zu bringen. Das vierte Evangelium schlägt keine thetischen und fertigen Definitionen der Sünde vor, sondern die volkstümliche und traditionelle Auffassung wird im Rahmen größerer Zusammenhänge geprüft, kritisiert und umgedeutet. Die beiden Wundergeschichten (Kap. 5 und 9), die Kontroversen des Kap. 8 oder die zweite Abschiedsrede (Kap. 15-16) sind die besten Beispiele dieser dynamischen Denkprozesse. Was kommt dadurch zum Ausdruck? Die erste große Leistung besteht in dem Verzicht auf die nomistische Auffassung der Sünde. Diese wird nicht mehr in erster Linie als Übertretung einer moralischen Norm betrachtet, sondern wird theozentrisch gedacht. Sie besteht in dem Bruch des Verhältnisses zwischen Gott und den Menschen. Diese radikale Krise zeitigt verheerende Wirkungen. Der von Gott getrennte Mensch wird dem Tode ausgesetzt, er wird Opfer einer falschen Wahrnehmung der Wirklichkeit, er verliert die Kontrolle über sein Leben, zerstört sich selbst und seine Mitmenschen. Die zweite große Leistung ist mit der Christologisierung des Begriffes gegeben. Im vierten Evangelium kann Gott nicht mehr unabhängig von seinem Vertreter inmitten der Welt getroffen werden. Die Konsequenz liegt auf der Hand: Das Verhältnis mit Gott und das Verhältnis mit dem johanneischen Christus fallen zusammen, so dass von nun an Sünde als Unglaube an die christologische Offenbarung definiert werden kann. Der dritte große Gewinn besteht in der konsequenten Unterscheidung zwischen der Zeit der Inkarnation und der nachösterlichen Zeit. Wenn die Sünde als Ablehnung der christologischen Offenbarung konzipiert wird, was geschieht, wenn der Offenbarer die Menschenwelt verlassen hat? Wie vertreten die Jünger den abwesenden Christus und welches ist der Stellenwert der abgeschlossenen Offenbarung für die nächsten Generationen? Sowohl die zweite Abschiedsrede als auch die Ostergeschichte zeigen, wie das Phäno- 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 34 Jean Zumstein Die Sünde im Johannesevangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 35 men der Sünde in dieser neuen Situation wahrnehmbar und überwindbar wird. Schließlich ist auf die berühmte johanneische »Asymmetrie« hinzuweisen. Die Rede über die Sünde ist immer in eine Heilsperspektive integriert. Die Sünde wird zwar gebrandmarkt, ihre Entlarvung ist aber nur die Kehrseite der Manifestation der Gnade. l Anmerkungen 1 Ein guter Überblick über die johanneische Auffassung der Sünde ist bei R. Metzner, Das Verständnis der Sünde im Johannesevangelium (WUNT 122), Tübingen 2000, zu finden. 2 Zwei ergänzende Begriffe müssen hier noch hinzugefügt werden. Der Begriff »Sünder« (hamarto¯ los) erscheint nur im Kap. 9 und ausschliesslich in polemischer Verwendung gegen Jesus. Cum grano salis ist Christus die einzige Person, die im Johannesevangelium Sünder genannt wird. Im übrigen bezeichnet das Verb »sündigen« (hamartano¯) einerseits die sündige Vergangenheit des Gelähmten am Teich Betesda, andererseits aber die vermutete Ursache der Erkrankung des von Geburt an Blinden (9,2.3). Wir lassen 7,53-8,11 außer Acht, denn wie aus der Textkritik hervorgeht, handelt es sich dabei um einen späteren Einschub in den Text des Evangeliums. 3 Joh 9,22 evoziert den etwaigen Synagogenausschluss der johanneischen Judenchristen (vgl. auch 12,42; 16,2). Während die Trennung zwischen den johanneischen Gemeinden und der pharisäischen Synagoge am Ende des ersten Jahrhunderts außer Zweifel steht, bleibt in der Forschung stark umstritten, ob ein Synagogenausschluss der Judenchristen beschlossen wurde, und wenn ja, in welcher Form und an welchem Ort. 4 Im Kap. 8 wird zwar die Sünde mit ihren katastrophalen Wirkungen gebrandmarkt, aber die apokalyptische Perspektive, d.h. die Drohung des Endgerichtes, spielt keine Rolle in der Argumentation (s. zum Beispiel Joh 8,15! ) 5 Der Begriff »Juden« wird in Joh 8,22.31.48.52.57 benutzt. Nirgendwo im Kap. 8 benennt er das jüdische Volk als ethnische oder nationale Größe. Während dieser Terminus in V. 31 die »Judenchristen« (= »Juden, die an ihn glaubten«) bezeichnet, verweist er in den anderen Passagen auf die theologischen Behörden. 6 Vgl. K. Berger, Art. Abraham, TRE I, 377-378. 7 In Bezug auf die Frage des etwaigen johanneischen »Antijudaismus«, ist es von Bedeutung festzustellen, dass das folgende Streitgespräch nicht Jesus den Vertretern der Synagoge frontal entgegensetzt, sondern dass sich Jesus in dieser Diskussion mit seinen eigenen Anhängern auseinandersetzt. 8 Der Ausdruck »die Sünden vergeben« erscheint nur hier im Johannesevangelium. Lesetipp: Jakob Frohschammer: Religionsphilosophie Mit textkritischem Apparat sowie Namen- und Sachregister Editorisch bearbeitet, eingeleitet und herausgegeben von Raimund Lachner Nachgelassene Schriften Band 1 2009, X, 665 Seiten, €[D] 118,00/ SFr 187,00 ISBN 978-3-7720-8321-1 Nach seinem Tod am 14. Juni 1893 hinterließ der Münchener Theologie- und Philosophieprofessor Jakob Frohschammer neben den gedruckten wissenschaftlichen Arbeiten zahlreiche Archivalien, darunter eine Reihe ungedruckter Vorlesungshandschriften. Die Handschrift mit dem Titel Religionsphilosophie ist von ihren ersten Teilen her die älteste und zugleich eine der umfangreichsten Vorlesungshandschriften. Die vorliegende textkritische Edition macht diesen bedeutenden Quellentext der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich und versteht sich damit als Beitrag zur Erforschung der Philosophie und der Theologie Frohschammers und der Philosophie- und Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts allgemein. A. Francke Verlag, Tübingen 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 35