eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 12/23

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2009
1223 Dronsch Strecker Vogel

Das andere Evangelium:

2009
Silke Petersen
2 ZNT 23 (12. Jg. 2009) »Dem aber, der an der Brust Jesu lag, vertraut [Gott] die größeren und vollkommeneren Worte über Jesus an. [...] Man kann deshalb unbedenklich sagen, die Evangelien seien die Erstlinge der Schrift, der Erstling der Evangelien aber sei das nach Johannes, dessen Sinn niemand fassen kann, der nicht an der Brust Jesu geruht und der nicht von ihm Maria angenommen hat, so dass sie auch seine Mutter geworden ist. So muss er von solchem geistigen Ausmaß werden, dass er ein zweiter Johannes sei, und gleichwie Johannes sich sozusagen als ein Jesus unter Jesus erweise.« 1 Diese Zeilen stammen von dem antiken christlichen Theologen Origenes (gest. ca. 254), der einen der ersten Johanneskommentare in der Geschichte des Christentums schrieb. Origenes hebt die Besonderheit des Johannesevangeliums hervor. Dass es »Erstling« nicht nur der Schrift, sondern sogar unter den Evangelien ist, betont, wie wichtig dieser Text ist - es geht hier nicht um eine besonders frühe Entstehung des Johannesevangeliums. Origenes meint zudem, man müsse sich an »Johannes« angleichen, sozusagen wie der Lieblingsjünger des Evangeliums an Jesu Brust liegen (vgl. Joh 13,23) und wie dieser ein Kind von Jesu Mutter werden (vgl. Joh 19,26f.), um den Sinn des Johannesevangeliums überhaupt erfassen zu können. So wird deutlich, dass Origenes eine besondere Beziehung zu diesem besonderen Evangelium hat. Seit der Zeit des Origenes ist eine kaum mehr übersehbare Anzahl von Kommentaren, Monographien und Artikeln zum Johannesevangelium erschienen. Die Faszination dieses Textes beruht dabei auch und gerade auf seiner Andersartigkeit in Bezug auf die drei anderen in unserem Kanon enthaltenen Evangelien: Während die drei sogenannten »synoptischen« Evangelien (Mt, Mk, Lk) demselben Grundaufbau folgen und viele Abschnitte bei ihnen in der Reihenfolge und zum Teil bis in die Einzelheiten der Wortwahl übereinstimmen, geht das Johannesevangelium oftmals sehr eigene Wege. Warum dies so ist, und was es für unser Verständnis der Entwicklungen des frühen Christentums bedeutet, wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Dabei gibt es bei den weitaus meisten Grundfragen der Johannesexegese keinen Konsens in der Forschung: Fragen wie die nach Entstehungszeit und -kontext, nach Quellen und möglichen Abhängigkeiten von anderen Texten, nach der Charakterisierung einzelner Personen und nach dem christologischen Entwurf, sind in höchstem Maße umstritten. Der folgende Artikel will einen Einstieg in diese kontroverse Diskussionslandschaft geben. Es ist keine »erschöpfende« Darstellung der gesamten Johannesforschung intendiert (was in diesem Rahmen nicht möglich wäre). 2 Vielmehr möchte ich eine orientierende »Landkarte« der Kontroversen entwerfen und ihre Verbindungslinien untereinander aufzeigen. Gemeinsam ist den behandelten Themen dabei, dass es nur selten einen dauerhaften Forschungskonsens gibt. Was sich verschiebt, sind oft nicht nur die Antworten, sondern das Interesse an bestimmten Themen und Fragestellungen: Während einige zeitweise in den Hintergrund treten, wird anderen mehr Aufmerksamkeit gewidmet. 1. Die äußeren Umstände: Zu Datierung, Lokalisierung und Verfasserschaft Wann das Johannesevangelium entstanden ist, wissen wir nicht. Der älteste erhaltene Papyrus überhaupt mit einem neutestamentlichen Text (mit der offiziellen Papyrusnummer 52) enthält einige Zeilen aus dem Johannesevangelium und wird auf die erste Hälfte des 2. Jahrhunderts datiert. Extreme Spätdatierungen, wie sie zum Teil in der älteren Forschung vertreten wurden, sind damit ausgeschlossen. Es bleibt aber immer noch ein Zeitraum vom denkbaren Beginn der schriftlichen Jesusüberlieferung bis zum Anfang des 2. Jahrhunderts, in dem das Evangelium - möglicherweise auch sukzessive - entstanden sein könnte. Alle in diesem Rahmen möglichen Alternativen sind auch in der Forschung vertreten; ent- Neues Testament Aktuell Silke Petersen Das andere Evangelium: Ein erster Wegweiser durch die Johannesforschung 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 18 Uhr Seite 2 Silke Petersen Das andere Evangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 3 scheidend für diese Frage ist, wie jeweils das Verhältnis des Johannesevangeliums zum Judentum und zu der übrigen uns erhaltenen Jesusüberlieferung eingeschätzt wird: Wer meint, das Johannesevangelium hätte sich schon definitiv aus dem Judentum gelöst und sei überdies von den synoptischen Evangelien abhängig, hält es für später entstanden als jene, die es in einem innerjüdischen Konflikt verorten oder seine Unabhängigkeit von (oder sogar Priorität vor) den synoptischen Evangelien annehmen. 3 Auch über den Ort der Entstehung herrscht Ungewissheit: Manche folgen jenen Nachrichten bei den Kirchenvätern, die auf Ephesus verweisen, andere halten den syrischen Raum für wahrscheinlicher oder denken an eine Verbindung mit Ägypten, da sich im Johannesevangelium Verbindungslinien mit der alexandrinischen Theologie z.B. Philos aufzeigen lassen. 4 Spannender noch ist die Diskussion um die Verfasserschaft, da der Text des Johannesevangelium hier selbst Hinweise enthält: Nach Joh 21,24 ist der zuvor mehrfach auftretende »Jünger, den Jesus liebte« (vgl. 13,23-25; 18,15f.; 19,26f.34f.; 20,2-10; 21,7.20-24; ev. auch 1,37-40), Augenzeuge des Geschehenen und hat das Johannesevangelium geschrieben. Der Name »Johannes« wird im Text selbst nicht erwähnt; er findet sich erst in der sekundär hinzugefügten Überschrift. Im Text tritt aber gleichzeitig noch ein »wir« auf, das am Ende vom Lieblingsjünger sagt: »wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist« (21,24); und schon im Prolog des Johannesevangelium heißt es: »wir sahen seine Herrlichkeit« (1,14). Dies ist ein Indiz dafür, dass der Text des Johannesevangeliums in der uns vorliegenden Form nicht unbedingt auf eine Einzelperson zurückgeführt werden kann, sondern sich hier eine Gruppe artikuliert. Der »Lieblingsjünger« wäre dann der Traditionsgarant dieser Gruppe und würde durch seine Augenzeugenschaft die johanneische Jesusdarstellung glaubwürdig machen. Ob sich hinter dieser Jüngergestalt tatsächlich eine historische Person verbirgt, ist in der Forschung ebenso umstritten wie das Verhältnis zwischen dieser Gestalt und der Gruppe: Verbirgt sich hinter dem Text letztlich ein genialer Theologe oder ist das Johannesevangelium (und die drei Johannesbriefe, die diesem sprachlich sehr ähneln) Produkt einer eher egalitär gedachten »johanneischen Schule«? 5 In die jeweils vertretene Vorstellung fließen an dieser Stelle immer auch Grundkonzepte ein, wie die Entstehung von Texten unter antiken Voraussetzungen prinzipiell denkbar ist. Entscheidend ist dabei u.a., wie hoch man den Stellenwert mündlicher Überlieferungen veranschlagt. Zudem eröffnen die verschiedenen Entstehungstheorien den Raum für eine Textlektüre, die das Johannesevangelium als einen gewachsenen Text versteht; für eine solche Lektüre sprechen auch innertextliche Indizien. PD Dr. Silke Petersen, Jahrgang 1965, Studium der evangelischen Theologie in Hamburg, 1994- 1997 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg, 1998 Promotion, 1998-99 Postdoktorandenstipendium der DFG an der Universität Würzburg im interdisziplinären Graduiertenkolleg Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz in religiösen Symbolsystemen; 1999-2003 Hochschulassistentin an der Universität Hamburg, 2005 Habilitation mit einer Arbeit über das Johannesevangelium, derzeit Privatdozentin für Neues Testament. Veröffentlichungen u.a.: »Zerstört die Werke der Weiblichkeit! « Maria Magdalena, Salome und andere Jüngerinnen Jesu in christlich-gnostischen Schriften (NHMS 48), Leiden u.a. 1999 (Dissertation); Brot Licht und Weinstock. Intertextuelle Analysen johanneischer Ich-bin-Worte (NT.S 127), Leiden u.a. 2008 (Habilitationsschrift); Die Evangelienüberschriften und die Entstehung des neutestamentlichen Kanons, ZNW 97 (2006), 250-274; Jesus zum Kauen. Das Johannesevangelium, das Abendmahl und die Mysterienkulte, in: J. Hartenstein / S. Petersen / A. Standhartinger (Hgg.), »Eine gewöhnliche und harmlose Speise«? Von den Entwicklungen frühchristlicher Abendmahlstraditionen, Gütersloh 2008, 105- 130. Silke Petersen 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 18 Uhr Seite 3 Neues Testament aktuell 4 ZNT 23 (12. Jg. 2009) 2. Vom Umgang mit Widersprüchen: Diachrone und synchrone Auslegungen Das Johannesevangelium bietet sich für Literarkritik geradezu an: Nicht nur am Ende des letzten Kapitels, sondern auch am Schluss des vorhergehenden steht eine Formulierung, die wie ein Buchschluss aussieht (vgl. 20,30f.); die Kapitel 5-7 scheinen in einer falschen Reihenfolge zu stehen (vgl. den Übergang von 5,47 zu 6,1) und die Aufforderung Jesu, aufzustehen und zu gehen (vgl. 14,31), wird erst drei Kapitel später wieder aufgenommen und eingelöst (vgl. 18,1). Zudem finden sich im Text des Evangeliums selbst einander anscheinend widersprechende Aussagen (vgl. z.B. 6,54 mit 6,63). Solche Indizien haben dazu geführt, eine Entstehung des Johannesevangeliums in mehreren Schichten anzunehmen. Klassisch ist Rudolf Bultmanns Modell, der von einer dreistufigen Entstehungsgeschichte ausgeht: Am Anfang stehen Quellen, in denen etwa Teile der Passionsgeschichte und Wundererzählungen enthalten waren. Diese Quellen verwendet der eigentliche »Evangelist«, in dessen Gefolge wiederum eine »kirchliche Redaktion« das Evangelium überarbeitet und dabei auch inhaltlich zähmt. 6 Seit Bultmanns Zeit sind allerdings so viele unterschiedliche Rekonstruktionen der Textschichten entwickelt worden, dass die Schwierigkeit einer diachronen Zugangsweise offensichtlich wurde, zudem scheint eine Quellenscheidung aufgrund sprachlicher Merkmale nicht möglich. 7 Viele Auslegungen wählen deshalb heutzutage eine synchrone Zugangsweise; sie interpretieren den Text also in der uns vorliegenden Gestalt. Es gibt jedoch auch nach wie vor diachron orientierte Untersuchungen. Ein in gewisser Weise vermittelndes Modell geht von einer aktualisierenden Fortschreibung in Passagen des Johannesevangeliums aus (bes. in Kap. 14-17 und 21) und bezeichnet diesen Prozess als »Relecture«. Hier tritt die Weiterschreibung nicht mehr - wie bei Bultmann - in einen Gegensatz zum vorherigen Text, sondern wird als Adaption und erneute Leseanweisung verstanden. 8 Die Frage nach den hinter dem Text stehenden Quellen oder Traditionen ist eng mit der Einschätzung verbunden, wie sich das Johannesevangelium zu den synoptischen Evangelien verhält. Da das Johannesevangelium nicht nur Unterschiede zu, sondern auch Gemeinsamkeiten mit der synoptischen Überlieferung aufweist, fragt man sich, wie es zu diesen Übereinstimmungen gekommen ist: Benutzt oder kennt das Johannesevangelium einige oder alle der anderen Evangelien? Kennt es nur die Gattung »Evangelium«, nicht aber einzelne solcher Texte? Oder sind die Übereinstimmungen letztlich auf die allen Texten vorausliegende mündliche Tradition zurückzuführen? Wer eine Kenntnis synoptischer Evangelien annimmt, braucht nicht unbedingt andere Quellen zu rekonstruieren; wer dagegen - z.B. aufgrund des Mangels an wörtlichen Übereinstimmungen - nicht an eine Benutzung oder Kenntnis anderer Evangelien glaubt, muss ein Modell entwickeln, wie etwa bestimmte Ähnlichkeiten im Ablauf und in der Wortüberlieferung erklärbar sind. 9 Die Situation verkompliziert sich noch, wenn man das Thomasevangelium in die Diskussion einbezieht, da sich auch hier bestimmte Berührungspunkte abzeichnen, etwa was die Hervorhebung der Thomasgestalt angeht. 10 Nach meiner Einschätzung werden sich die genannten Fragen auch in Zukunft nicht eindeutig beantworten lassen. Wichtig scheint es mir jedoch, zwei Aspekte festzuhalten: Das Johannesevangelium bietet wohl in manchen Fragen historisch zuverlässigere Angaben als die synoptischen Evangelien (so etwa was das Todesdatum Jesu angeht 11 ); daraus folgt, dass in diesem Text auf jeden Fall mehr Informationen enthalten sind, als eine ausschließliche Abhängigkeit von den synoptischen Evangelien erklären könnte. Und zweitens: Auch wenn wir vermuten können, dass es in der Entstehung des Johannesevangelium gewisse Prozesse des Textwachstums gab, so bedeutet dies doch keinesfalls, dass der Text in seiner uns vorliegenden Gestalt kein sinnvolles Ganzes ergibt, das als solches les- und interpretierbar ist (sonst müsste man die letzte Redaktionsstufe für ein Produkt geistiger Unzurechnungsfähigkeit halten). Neuere literaturwissenschaftlich orientierte Studien haben denn auch gezeigt, dass narrative Analyseverfahren am Gesamttext des Johannes- »Der derzeitige Referenzrahmen für ein kontextuelles Verständnis des Johannesevangeliums ist das antike Judentum.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 18 Uhr Seite 4 Silke Petersen Das andere Evangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 5 evangelium höchst ergiebig sein können, sie bieten auch Möglichkeiten, die »dynamischen Spannungen« im Text produktiv auszuwerten. 12 3. Das religionsgeschichtliche Problem: »Gnosis«, Judentum, Antijudaismus Die Besonderheiten des Johannesevangeliums haben immer wieder zu Versuchen Anlass gegeben, diesen Text in die religionsgeschichtliche »Landschaft« seiner Zeit einzuordnen. Während in der älteren Forschung primär das Verhältnis zur sogenannten »Gnosis« debattiert wurde, werden derzeit eher die verschiedenen Ausprägungen des antiken Judentums in den Blick genommen. Schon Walter Bauer stellte in den verschiedenen Auflagen seines Johanneskommentars eine Fülle von antikem Vergleichsmaterial zusammen. Mitte des 20. Jahrhunderts war dann die Kontroverse zwischen Rudolf Bultmann und Ernst Käsemann forschungsprägend. 13 Während letzterer davon ausgeht, dass das Johannesevangelium ein gnostischer Text sei, der einen »naiven Doketismus« (also die Vorstellung, Jesus sei nur scheinbar ein menschliches Wesen geworden) vertrete und nur zu Unrecht in den neutestamentlichen Kanon gelangt sei, meint Bultmann, dass dem Johannesevangelium ein ausgeführter gnostischer Erlösermythos zugrunde liege, der jedoch »entmythologisiert«, also quasi auf seine Grundstruktur reduziert worden sei, wobei der kosmologische Dualismus der Gnosis (also die Zweiteilung in eine göttliche und eine weltliche Sphäre) ersetzt worden sei durch einen ethischen oder Entscheidungsdualismus (wobei es nun an jenen liegt, die Jesus begegnen, sich für die göttliche und nicht die weltliche Sphäre zu entscheiden). Anders gesagt: Bei der Interpretation des johanneischen Spitzensatzes in 1,14 (»das Wort wurde Fleisch ... und wir sahen seine Herrlichkeit«) betont Käsemann den zweiten Teil (also die »Herrlichkeit«), Bultmann jedoch den ersten Halbsatz (also die Inkarnation). Beides ergibt ein je vollkommen anderes Bild der Jesusdarstellung des Johannesevangeliums: Während in der Käsemannschen Deutung Jesus nie wirklich auf der Erde ankommt, tut er das nach Bultmann sehr wohl: S.E. ist die Menschwerdung Christi das entscheidende Heilsereignis im Johannesevangelium. An dieser Kontroverse wird sichtbar, wie eng die religionsgeschichtliche Einordnung und die Bewertung der Christologie des Johannesevangeliums miteinander zusammenhängen. Während die Einschätzung der Christologie weiterhin kontrovers diskutiert wird, ist das »gnostische« Vergleichsmaterial derzeit jedoch überwiegend aus der Diskussion verschwunden. 14 Dies liegt zum einen daran, dass die herangezogenen Texte entweder deutlich später als das Johannesevangelium sind (so die von Bultmann verwendeten mandäischen Quellen) oder ihre Datierung überhaupt ungewiss ist (so bei vielen der Bultmann noch nicht bekannten Texte), zum anderen hat sich der von Bultmann u.a. postulierte gnostische »Erlösermythos« weitgehend als Phantom erwiesen, d.h. ein solcher Mythos von einem »erlösten Erlöser« existiert in den »gnostischen« Texten nicht in der Form, in der die religionsgeschichtliche Forschung ihn angenommen hatte. 15 Und schließlich ist in der neueren Forschung die Kategorie »Gnosis« insgesamt in die Kritik geraten. 16 Festzuhalten bleibt m.E. allerdings, dass die Nähe der »gnostischen« Vergleichstexte zum Johannesevangelium weiterhin erklärungsbedürftig bleibt - selbst wenn die Datierungsfragen sich nicht eindeutig werden lösen lassen. Der derzeitige Referenzrahmen für ein kontextuelles Verständnis des Johannesevangeliums ist das antike Judentum. Das Johannesevangelium enthält streckenweise heftige Polemik gegen die Judaioi, 17 gleichzeitig werden jedoch jüdische Personen auch positiv gezeichnet, es wird konstatiert, dass Jesus Jude ist (4,9) und der johanneische Jesus spricht aus, dass die Erlösung von den Judaioi kommt (4,22). Wie ist dieses nebeneinander von Polemik und Verbindung zu erklären? Klaus Wengst findet die Antwort in der historischen Situation, in der das Johannesevangelium entstanden sei. Dreimal ist im Evangelium mit einem speziellen Wort die Rede davon, die AnhängerInnen Jesu würden »aus der Synagoge ausgeschlossen« werden (aposynagogos, vgl. 9,22; 12,42; 16,2). Dies verweise auf die Schwierigkeiten, in die die johanneische Gemeinde mit dem normativ werdenden pharisäisch-rabbinischen Judentum nach 70 n.Chr. (dem Jahr der Zerstörung des Jerusalemer Tempels) geraten sei. 18 Auf dem Hintergrund der Trennungserfahrungen lasse sich auch die Schärfe der Auseinandersetzungen erklären; der johanne- 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 18 Uhr Seite 5 Neues Testament aktuell 6 ZNT 23 (12. Jg. 2009) ische Antijudaismus ist in einem solchen Modell gerade ein Symptom der Nähe zum Judentum. 19 Teilt man mit Wengst u.a. diese Einschätzung der Entstehungssituation des Johannesevangeliums, so ist »Antijudaismus« dann eine eigentlich unpassende Bezeichnung zur Beschreibung der johanneischen Polemik, da es sich um einen innerjüdischen Konflikt handelt. Eine andere Forschungsrichtung sieht das Johannesevangelium in einer größeren Distanz zum Judentum. Das Johannesevangelium blicke auf den Synagogenausschluss als längst vergangen zurück, 20 der Bruch mit dem Judentum sei definitiv eingetreten und das Christentum im Johannesevangelium quasi zu sich selbst gekommen. 21 Tendenziell ist eine solche Position auch mit einer eher späten Datierung des Johannesevangeliums verbunden. Gemeinsam hat sie mit der innerjüdischen Kontextualisierung die Erkenntnis, dass die im Text sichtbaren Kontroversen die johanneische Gemeinde und ihre Geschichte spiegeln, sie passen nicht in die Zeit des historischen Jesus. Was jedoch darüber hinaus gleichzeitig verhandelt wird, ist das christliche Selbstverständnis in Abgrenzung zum Judentum: Ab wann kann man von einer separaten Religion reden? Was macht das Christentum zum Christentum, wodurch lässt es sich (systematisch) vom Judentum unterscheiden und ab wann ist es (historisch) plausibel, von einer endgültigen Trennung zu sprechen? Was definiert das antike Judentum als Judentum und welche Elemente in einem Text lassen diesen entweder als jüdischen oder als nicht (oder historisch nicht mehr) zum Judentum gehörigen erscheinen? Die Tragweite der gestellten Fragen zeigt schon, dass eine Entscheidung komplex ist. Hinweisen möchte ich noch auf einen weiteren Aspekt, nämlich den »Schriftgebrauch«. Während die Frage, ob Jesus der Messias sei, im Johannesevangelium kontrovers diskutiert wird, ist die Haltung zu den alttestamentlichen Schriften durchgehend positiv. Sie werden stets zustimmend zitiert und der johanneische Jesus äußert sich in der Diskussion mit seinen ebenfalls jüdischen Kontrahenten eindeutig: »die Schrift kann nicht aufgelöst werden« (10,35). Durchgehend wird mit »der Schrift« für - oder von »den Anderen« manchmal auch gegen - Jesus argumentiert; nicht jedoch mit Jesus gegen »die Schrift«. Diese zentrale Bedeutung der »Schrift« spricht eher für als gegen eine innerjüdische Kontextualisierung des Johannesevangeliums. Andererseits steht die Person Jesu in diesem Evangelium doch in einer Art und Weise im Zentrum des narrativen sowie des theologischen Entwurfs, die für jüdische Ohren - nicht nur der heutigen Zeit, sondern auch der Antike - schwer nachvollziehbar gewesen sein dürfte. Macht dies den Text zu einem Dokument des Christentums, das sich endgültig aus dem Judentum verabschiedet hat? Oder ist eine solche Einschätzung des Johannesevangeliums erst nachträglich und auf dem Hintergrund eines inzwischen etablierten Christentums überhaupt denkbar? 4. Jesus, die Frauen und die Weisheit: feministische Lektüren des Johannesevangeliums Auch in diesem Themenbereich ist die Einschätzung des Johannesevangeliums in gewisser Weise ambivalent. In keinem anderen Evangelium haben Frauen so viele Redebeiträge wie im Johannesevangelium; die »Frauen um Jesus« verweisen dabei jedoch stets und ausschließlich auf eben diesen (wie es allerdings auch die Männer tun). Im Verhältnis zu den synoptischen Evangelien fallen die langen Dialoge auf, die Jesus mit Frauen führt, so etwa mit der Samaritanerin am Jakobsbrunnen (4,5-42) und mit Martha und Maria bei der Auferweckung des Lazarus. Martha ist diejenige, die im Johannesevangelium das zentrale Bekenntnis zu Jesus formuliert (vgl. 11,27 mit 20,31). Maria Magdalena ist die erste, die dem auferstandenen Jesus begegnet, sie erhält von ihm den Auftrag zur Übermittlung dieses Geschehens (20,1-18) und lässt sich somit als Apostolin charakterisieren. 22 Das Johannesevangelium lässt die Mutter Jesu am Beginn seines öffentlichen Wirkens auftreten (2,1- 12) und platziert sie am Ende dieses Wirkens unter dem Kreuz (19,25-27; wohl eher gegen die Historie, aber mit immensen Folgen u.a. für die Kunstgeschichte). Andererseits verblasst die Botschaft der Samaritanerin hinter dem persönlichen Auftreten Jesu in ihrem Dorf (vgl. 4,39-42); Martha scheint nicht begriffen zu haben, was Jesus vorhat (vgl. 11,39); und auf die Begegnung Maria Magdalenas mit dem Auferstandenen (den sie zunächst für den Gärtner hält), folgen mehrere 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 18 Uhr Seite 6 Silke Petersen Das andere Evangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 7 weitere Erscheinungen, die ihre Botschaft weiterführen und in gewisser Weise überholen (vgl. 20,19-29). Die Charakterisierung der Frauen scheint also doppelbödig: Sie sind nicht einfach positive Gestalten, die sich den Männern gegenüberstellen ließen, sondern genau wie diese anfällig für Irrtümer und nur vorläufiges Verstehen. Dabei lässt sich jedoch eine Tendenz zur Egalisierung ausmachen: In anderen Traditionen bedeutsame Personen wie etwa Petrus werden in ihrer Autorität partiell eingeschränkt; andere, wie etwa Maria Magdalena, werden aufgewertet. Diese Tendenz ist jedoch nicht geschlechtsspezifisch verteilt; und alle Gestalten verweisen letztlich auf Jesus, die Person, an der sich im Johannesevangelium der Zugang zum »Leben« entscheidet und die jenseits aller Tendenz zur Egalisierung steht. 23 Dieser Jesus aber, und das ist ein weiteres Thema nicht allein feministisch orientierter Auslegungen, wird in vielen Passagen des Textes mit Kategorien aus der frühjüdischen Weisheitsliteratur dargestellt. 24 Was in den älteren jüdischen Texten von Sophia gesagt wird, gilt nun (auch) für Jesus: Beide sind präexistent (Spr 8,22f., Sir 24,9; Joh 1,1f., 8,58), beide werden in die Welt gesandt und bringen Licht für die Menschen (vgl. Sir 24,8; Weish 7,29f.; Joh 1,1-14; 8,12), beide laden zum Mahl ein und geben sich selbst als Speise (Spr 9,5; Sir 24,19-21; Joh 6), beide stellen sich selbst mit Metaphern aus der Pflanzenwelt dar (so als Weinstock; Sir 24,17; Joh 15,1-8). Schon lange wird in der Forschung diskutiert, inwiefern der Prolog des Johannesevangeliums (1,1-18) mit der Weisheitsliteratur zusammenhängt: In der älteren Forschung werden sogar Vorlagen des Prologs - der ja eine Lektüreanweisung für das gesamte Johannesevangelium darstellt - angenommen, bei denen sich der Text auf Sophia und nicht auf Jesus bezogen haben soll, derzeit geht man eher von der Aufnahme von Traditionen aus. Die Verbindungslinien zur Weisheitsliteratur sind nun auch deshalb spannend, weil die Vorlage zur johanneischen Interpretation der Christusgestalt eine weibliche Figur ist. Die Weisheit wird dabei in einem doppelten Sinne »aufgehoben«: Sie bleibt einerseits in Christus anwesend, andererseits verschwindet sie auch in ihm: Das Wort Sophia kommt kein einziges Mal im Johannesevangelium vor; an die entsprechende Stelle im Prolog ist die Bezeichnung Logos getreten, ein grammatisch männlicher Ausdruck, der mit dem deutschen Begriff »Wort« nur unzureichend wiedergegeben werden kann. Nicht erst im Johannesevangelium, sondern schon bei dem jüdischen Philosophen Philo von Alexandrien sind Logos und Sophia nahezu synonym gebraucht (vgl. oben unter 1. zur Lokalisierungsfrage). 25 Während die Existenz der geschilderten Verbindungslinien in der Forschung kaum bestritten wird (sie bleiben nur teilweise unberücksichtigt), ist die Frage nach der Bewertung eher kontrovers: »Überbietet« der johanneische Jesus Sophia und macht sie damit entbehrlich - oder ist er lediglich eine (sicherlich ganz besondere) ihrer Möglichkeiten, sich in der Welt sichtbar zu machen? Das Besondere der johanneischen Christologie (sowohl im Verhältnis zur Weisheit als auch in Vergleich mit anderen neutestamentlichen Entwürfen) zeigt sich m.E. vor allem in der Betonung der Inkarnation, womit wir beim letzten Abschnitt dieser Einführung angekommen sind. 5. Kreuz, Inkarnation und Bildersprache: Zur Christologie des Johannesevangeliums Das Johannesevangelium war und ist ein entscheidender Text für die Entwicklung christologischer Vorstellungen. Noch mehr als in anderen Bereichen ist deshalb ein kurzer Überblick über die Forschungslage kaum möglich. Ich konzentriere mich deshalb vor allem auf zwei Aspekte: Auf das Verhältnis von Kreuz und Inkarnation sowie auf die Rolle der metaphorischen Sprache für die Christologie des Johannesevangeliums. Bei der Frage nach der christologischen Gesamtsicht sind immer noch weitere Texte explizit oder implizit in der Diskussion anwesend. Bei der Frage nach der Relation von Passion und Inkarnation betrifft dies vor allem die paulinischen Briefe und das Markusevangelium. Im Vergleich mit letzterem ist der johanneische Jesus ausgesprochen souverän: So fehlt eine Entsprechung zur Gethsema- »Das Johannesevangelium war und ist ein entscheidender Text für die Entwicklung christologischer Vorstellungen.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 18 Uhr Seite 7 Neues Testament aktuell 8 ZNT 23 (12. Jg. 2009) ne-Perikope, in der Jesus bittet, dass die Stunde an ihm vorübergehen möge (Mk 14,35; anders Joh 12,27); während der markinische Jesus am Kreuz Gott anruft und fragt, warum er ihn verlassen habe (Mk 15,34), konstatiert der johanneische: »Es ist vollbracht« (19,30). Der Jesus des Johannesevangeliums kennt von Anfang an die Absicht des Judas, er fordert ihn sogar dazu auf, schnell zu handeln (6,70f.; 13,27). Interpretamente für das Kreuzigungsgeschehen sind im Johannesevangelium Erhöhung (3,14; 8,28; 12,34) oder Verherrlichung (12,23; 13,31f. u.ö.). Andererseits ist aber nicht zu bestreiten, dass dieser Jesus tatsächlich Mensch wird; die johanneischen Formulierungen reden sogar davon dass er sarx - »Körper« oder »Fleisch« - wird und hat (vgl. 1,14; 6,51-58). Dieser Jesus kann zornig werden, er weint (11,35.38) und am Körper des Auferstandenen sind die Male der Kreuzigung sichtbar (20,27). Wird hier ein doketisches Verständnis (s.o. unter 3.) abgewiesen, eventuell in sekundären Fortschreibungen des Textes? Oder ist dieser Jesus zwar mit einem besonderen Wissen und einer besonderen Beziehung zu Gott ausgestattet, aber trotzdem immer auch ganz und gar menschlich? Deutlich scheint mir auf jeden Fall, dass der johanneische Jesus wirklich Mensch wird und auch nicht nur scheinbar stirbt. Die Inkarnation, die Menschwerdung (nicht Mannwerdung) Jesu, steht im Zentrum des Textes, 26 und auch die Kreuzigung ist ohne Inkarnation nicht denkbar. Dabei sind Inkarnation und Kreuz einander anders zugeordnet als es in den paulinischen Briefen der Fall ist. 27 Dies hat zu einer Kontroverse darum geführt, ob in Bezug auf das Johannesevangelium überhaupt von einer »Kreuzestheologie« gesprochen werden könne: Wird hier das Kreuz lediglich durch die Inkarnation interpretiert oder ist nicht eher die Inkarnation bestimmendes Strukturmoment auch des Kreuzes? Setzt man die paulinischen Ausführungen als Maßstab, so kann dies zu Sachkritik am Johannesevangelium führen - oder es wird gerade deshalb wichtig, auch im Johannesevangelium eine »Kreuzestheologie« zu finden. Mir scheint allerdings, dass dieser Begriff zu sehr von paulinischen Inhalten geprägt ist, um ihn auf das Johannesevangelium sinnvoll anzuwenden. Auch ist m.E. fraglich, inwiefern ein theologischer Entwurf innerhalb des Neuen Testaments dazu dienen sollte, den Maßstab für einen anderen - und anders gearteten - abzugeben, da doch eine Vielfalt christologischer Entwürfe auch als Bereicherung zu betrachten ist. Auffällig ist im Johannesevangelium die konsequent verwendete nachösterliche Perspektive, 28 in der das Weggehen Jesu (und damit auch das Kreuz) nicht lediglich als Verlust, sondern vor allem als Ermöglichung des Glaubens gesehen werden. Erst nachösterlich sind die AnhängerInnen Jesu in der Lage, wirklich zu verstehen (vgl. 2,22; 12,16; 20,9); und erst der Weggang Jesu ermöglicht das Kommen des Parakleten (vgl. 16,7), des »Geistes der Wahrheit« (14,17; 15,26), durch den die Verkündigung fortgeführt und aktualisiert wird; dieser wird, so der johanneische Jesus, »euch in die ganze Wahrheit führen« (16,13). Vermittels der Figur des Parakleten ist das hermeneutische Prinzip des Johannesevangeliums in den Text selbst eingeschrieben. Dabei dient der Paraklet als Ermöglichung der Vergegenwärtigung Jesu; was hier (und insgesamt in den Abschiedsreden) bewältigt werden muss, ist die Abwesenheit Jesu. Gerade dadurch, dass die Inkarnation im Zentrum johanneischer Christologie steht, verschärft sich die Frage nach der Abwesenheit des »Erhöhten« sowie nach den Möglichkeiten seiner bleibenden Vergegenwärtigung. Für diese Vergegenwärtigung sind nun nicht nur der Paraklet und der Lieblingsjünger als Traditionsgarant von Bedeutung, sondern auch ein weiteres Spezifikum der johanneischen Jesusdarstellung, nämlich die bildliche Rede. Die johanneische Sprache funktioniert auf mehreren Ebenen gleichzeitig, sie ist von Ironie, Zweideutigkeit und Doppelbödigkeit geprägt. Worte und Erzählungen, die sich auf irdische Sachverhalte beziehen, reden nicht nur von diesen, sondern haben eine Durchlässigkeit auf den himmlischen Bereich. 29 Auf diesem Hintergrund hat die Vielfalt der johanneischen Bilder- und Metaphernsprache in den letzten Jahren zunehmend an Interesse gewonnen. 30 Zwar fehlen im Johannesevangelium Gleichnisse wie sie in den synoptischen Evangelien zu finden sind, »Die johanneische Bildersprache begründet also die vielfachen Rezeptionsmöglichkeiten des Evangeliums, und die Metaphern verbinden die Offenbarergestalt mit der Welt.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 18 Uhr Seite 8 Silke Petersen Das andere Evangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 9 aber der johanneische Jesus verwendet eine bildreiche Sprache, wenn er sich selbst in den Ich-bin- Worten etwa als »Brot«, »Tür«, »Leben« oder »Licht« bezeichnet (6,35; 10,9; 11,25; 8,12). Viele dieser Metaphern verweisen auf Sophia; der johanneische Jesus wird also in einer Art und Weise dargestellt, die in der Weisheitsliteratur vorgezeichnet ist (vgl. oben unter 4.). Die johanneischen Jesus-Metaphern sind mehrfach mit Erzählungen verbunden, in denen Jesus den Menschen das gibt, was er selbst ist (vgl. etwa die Relation von Brotvermehrung und Brotwort in Kap. 6 oder Blindenheilung und Lichtwort in Kap. 8f.). Die Bildersprache des Johannesevangeliums verwendet fast durchgehend allgemeinverständliche Metaphern und schafft so einen Zugang zu Jesus für RezipientInnen mit unterschiedlichsten kulturellen Vorbedingungen. Durch ihre Vielfalt entzieht sich die metaphorische Rede dabei einer eindeutigen Begriffslogik und verweist auf die Grenzen des Verstehbaren. Die johanneische Bildersprache begründet also die vielfachen Rezeptionsmöglichkeiten des Evangeliums, und die Metaphern verbinden die Offenbarergestalt mit der Welt: Jesus wird in konkreten Begriffen »geerdet«, er erfüllt konkrete menschliche Bedürfnisse. Dabei ergibt sich auf der Metaebene des Evangeliums eine interessante Kreisbewegung: Das »Wort« wird »Fleisch« in Jesus, wie im Prolog des Johannesevangelium zu lesen und in den Metaphern nachzuvollziehen ist -, und gleichzeitig wird bei der »Verschriftlichung« Jesu im Text des Evangeliums das »Fleisch« wiederum zum »Wort«. Die Metaphern sind zwar ebenfalls Worte, aber sie vermitteln nicht zuletzt durch ihren Bildcharakter und ihre Verbindung mit dem Alltäglichen die Verbindung von irdischer und himmlischer Sphäre, an deren Schnittpunkt der johanneische Jesus steht. Ein Zentrum der vielfältigen bildlichen Rede entsteht dadurch, dass alle Aussagen auf Jesus hin konzentriert sind. Die Symbolik wird christologisiert, wodurch die Gestalt Jesu mehr wird als eine geschichtliche Einzelgestalt, sie wird quasi zur »symbolischen Gesamtgestalt der Geschichte«, 31 in der sich die Begegnung zwischen göttlichem und menschlichem Bereich nicht nur ereignet hat, sondern immer wieder ereignen kann. l Anmerkungen 1 Origenes, Johanneskommentar I, 4, § 22f. (deutsche Übersetzung: R. Gögler [Übers.], Origenes: Das Evangelium nach Johannes, Einsiedeln u.a. 1959, 99f.; griechischer Text: SC 120,70). 2 Für einen tieferen Einstieg in die Probleme der Johannesexegese sind neben den Forschungsüberblicken vor allem thematische Sammelbände zu empfehlen; ich nenne hier exemplarisch: T. Söding (Hg.), Johannesevangelium - Mitte oder Rand des Kanons? (QD 203), Freiburg i.Br. 2003; R. Bieringer / D. Pollefeyt / F. Vandecasteele-Vanneuville (Hgg.), Anti-Judaism and the Fourth Gospel, Louisville KY 2001; M. Labahn / K. Scholtissek / A. Strotmann (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium. FS J. Beutler SJ, Paderborn u.a. 2004; J. Frey / U. Schnelle (Hgg. unter Mitarbeit von J. Schlegel), Kontexte des Johannesevangeliums. Das vierte Evangelium in religions- und traditionsgeschichtlicher Perspektive (WUNT 175), Tübingen 2004; J. Frey / J.G. Van der Watt / R. Zimmermann (Hgg.), Imagery in the Gospel of John. Terms, Forms, Themes, and Theology of Johannine Figurative Language (WUNT 100), Tübingen 2006. 3 Für eine spätere Datierung (ca. 100-110) vgl. z.B. U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, 3. Aufl., Göttingen 1999, 485-487; zu früheren Datierungen vgl. K. Berger, Im Anfang war Johannes. Datierung und Theologie des vierten Evangeliums, Stuttgart 1997, 11 (ca. 60-70); K. Wengst, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. Ein Versuch über das Johannesevangelium, 3. Aufl., München 1992, 182 (ca. 80- 90). 4 Für Ephesus z.B. Schnelle; für den syrischen Raum Wengst (beide s. Anm. 3), für Ägypten und zur Diskussion vgl.: M. Frenschkowski, Tα` βαΐα τῶν φοινίκων (Joh 12,13) und andere Indizien für einen ägyptischen Ursprung des Johannesevangeliums, ZNW 91 (2000), 212-229. 5 Vgl. zum oben ausgeführten u.a.: J. Kügler, Der Jünger, den Jesus liebte. Literarische, theologische und historische Untersuchungen zu einer Schlüsselgestalt johanneischer Theologie und Geschichte (SBB 16), Stuttgart 1988; R.A. Culpepper, The Johannine School: An Evaluation of the Johannine-School Hypothesis Based on an Investigation of the Nature of Ancient Schools (SBL.DS 26), Missoula MT 1975; M. Hengel, Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch (WUNT 67), Tübingen 1993; J. Becker, Das Evangelium nach Johannes (ÖTK 4,1 / 2), 2. Aufl., Gütersloh 1985 / 84; bes. 2, 434-440. 6 Vgl. R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes (KEK), Göttingen 10 1941 u.ö.; ein vergleichbares Modell vertritt auch Becker, Evangelium. Zur Frage der sogenannten Semeia-Quelle und der Tradition der Wundergeschichten; vgl. z.B. R.T. Fortna, The Gospel of Signs. A Reconstruction of the Narrative Source Underlying the Fourth Gospel (MSSNTS 11), Cambridge 1970; M. Labahn, Jesus als Lebensspender. Untersuchungen zu einer Geschichte der johanneischen Tradition anhand ihrer Wundergeschichten (BZNW 98), Berlin u.a. 1999. 7 Vgl. E. Ruckstuhl, Die literarische Einheit des Johan- 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 18 Uhr Seite 9 Neues Testament aktuell 10 ZNT 23 (12. Jg. 2009) nesevangeliums. Der gegenwärtige Stand der einschlägigen Forschungen (NTOA 5), Freiburg (Schweiz) u.a. 1987; ders. / P. Dschulnigg, Stilkritik und Verfasserfrage im Johannesevangelium. Die johanneischen Sprachmerkmale auf dem Hintergrund des Neuen Testaments und des zeitgenössischen hellenistischen Schrifttums (NTOA 17), Freiburg (Schweiz) u.a. 1991. 8 Für eine synchrone Lektüre vgl. H. Thyen, Das Johannesevangelium (HNT 6), Tübingen 2005; für eine diachrone vgl. F. Siegert, Das Johannesevangelium in seiner ursprünglichen Gestalt. Ein Kommentar (Schriften des Institutum Judaicum Delitzschianum 6), Göttingen 2007; zum Relecture-Modell: A. Dettwiler, Die Gegenwart des Erhöhten. Eine exegetische Studie zu den johanneischen Abschiedsreden (Joh 13,31-16,33) unter besonderer Berücksichtigung ihres Relecture-Charakters (FRLANT 169), Göttingen 1995; J. Zumstein, Ein gewachsenes Evangelium. Der Relecture-Prozess bei Johannes, in: Söding (Hg.), Johannesevangelium, 9-37. 9 Vgl. etwa die unterschiedlichen Modelle bei M. Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium (HBS 34), Freiburg i.B. u.a. 2002; J. Frey, Das vierte Evangelium auf dem Hintergrund der älteren Evangelientradition. Zum Problem: Johannes und die Synoptiker, in: Söding (Hg.), Johannesevangelium, 60-118 (mit einem Überblick zur Forschungsgeschichte). Vgl. auch die »Kontroverse« in diesem Heft. 10 Vgl. z.B. I. Dunderberg, John and Thomas in Conflict? in: J.D. Turner / A. McGuire (Hgg.), The Nag Hammadi Library after Fifty Years (NHMS 44), Leiden u.a. 1997, 361-380. 11 Vgl. G. Theißen / A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996 u.ö., 152-155, 375f. Zum Gesamtproblem der historischen Zuverlässigkeit vgl. den Beitrag von P.N. Anderson in diesem Heft. 12 Für die literaturwissenschaftliche Zugangsweise grundlegend ist: R.A. Culpepper, Anatomy of the Fourth Gospel. A Study in Literary Design, Philadelphia 1983; vgl. auch M.W.G. Stibbe (Hg.), The Gospel of John as Literature. An Anthology of Twentieth- Century Perspectives (NTTS 17), Leiden u.a. 1993; zu den »dynamic tensions« vgl. P.N. Anderson, The Christology of the Fourth Gospel. Its Unity and Disunity in the Light of John 6 (WUNT II / 78), Tübingen 1996, 161 u.ö. 13 Vgl. W. Bauer, Das Johannesevangelium (HNT 6), Tübingen 1912, 2 1925, 3 1933; E. Käsemann, Jesu letzter Wille nach Johannes 17, Tübingen 1966 u.ö.; R. Bultmann, Die Bedeutung der neuerschlossenen mandäischen und manichäischen Quellen für das Verständnis des Johannesevangeliums, ZNW 24 (1925), 100-146; ders., Evangelium; ders., Theologie des Neuen Testaments, 9. Aufl., Tübingen 1984 (1. Aufl.: 1953). 14 Vgl. dazu z.B. U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes (ThHKNT 4), Leipzig 1998; U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes (NTD 4), Göttingen 1998; L. Schenke, Johannes. Kommentar, Düsseldorf 1998; F.J. Moloney, The Gospel of John (Sacra Pagina), New York 1998. 15 Vgl. C. Colpe, Die religionsgeschichtliche Schule. Darstellung und Kritik ihres Bildes vom gnostischen Erlösermythus (FRLANT 78), Göttingen 1961. 16 Vgl. M.A. Williams, Rethinking »Gnosticism«. An Argument for Dismantling a Dubious Category, Princeton 1999; K.L. King, What Is Gnosticism? , Cambridge MA 2003. 17 Ich bevorzuge hier die antike griechische Bezeichnung, um auch sprachlich deutlich zu machen, dass die antijüdische Polemik des Johannesevangeliums nicht gegen alle jüdischen Menschen zu allen Zeiten gerichtet ist, ein einfaches Nachschreiben der johanneischen Aussagen hat schon zu oft und zu lange antijüdische Stereotypen befördert; vgl. zum dahinter stehenden hermeneutischen Problemfeld: A. Reinhartz, A Nice Jewish Girl Reads the Gospel of John, in: Semeia 77: Ethics and Reading the Bible, Atlanta 1997, 177-193. 18 Vgl. K. Wengst, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. Ein Versuch über das Johannesevangelium, München 3 1992; sowie: ders., Das Johannesevangelium, 2 Bde (ThKNT 4,1 / 2), Stuttgart u.a. 2000 / 2001 u.ö.; J.L. Martyn, History and Theology in the Fourth Gospel, New York 1968; T. Nicklas, Ablösung und Verstrickung. »Juden« und Jüngergestalten als Charaktere der erzählten Welt des Johannesevangeliums und ihre Wirkung auf den impliziten Leser (RSTh 60), Frankfurt a. M. u.a. 2001. 19 Vgl. zur Diskussion u.a. E.W. Stegemann, Die Tragödie der Nähe. Zu den judenfeindlichen Aussagen des Johannesevangeliums, KuI 4 (1989), 114-122; D. Rensberger, Anti-Judaism and the Gospel of John, in: W.R. Farmer (Hg.), Anti-Judaism and the Gospels, Harrisburg PA 1999, 120-157; sowie Bieringer u.a. (Hg.), Anti-Judaism; Labahn u.a. (Hg.), Israel. 20 So votieren etwa Hengel, Frage, 298-300; Schnelle, Einleitung, 490. 21 In diesem Sinne schon F.Chr. Baur, Das Christenthum und die christliche Kirche der drei ersten Jahrhunderte, Tübingen 1860 (Nachdruck Stuttgart 1966), 169-172; vgl. auch G. Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 255-280; R. Hakola, Identity Matters. John, the Jews and Jewishness (NT.S 118), Leiden u.a. 2005, bes. 232- 238. 22 Vgl. A. Taschl-Erber, Maria von Magdala - erste Apostolin? Joh 20,1-18: Tradition und Relecture (HBS 51), Freiburg i.B. u.a. 2007; sowie insgesamt zum Thema: A.-J. Levine / M. Blickenstaff (Hgg.), A Feminist Companion to John, 2 Bde, Feminist Companion to the New Testament and Early Christian Writings 4.5, London u.a. 2003. 23 Vgl. J. Hartenstein, Charakterisierung im Dialog. Maria Magdalena, Petrus, Thomas und die Mutter Jesu im Johannesevangelium im Kontext anderer frühchristlicher Darstellungen (NTOA / StUNT 64), Göttingen u.a. 2007; A. Fehribach, The Women in the Life of the Bridegroom. A Feminist Historical-Literary Analysis of the Female Characters in the Fourth Gospel, Collegeville MN 1998. 24 Vgl. u.a. S. Vollenweider, Christus als Weisheit. Gedanken zu einer bedeutsamen Weichenstellung in der frühchristlichen Theologiegeschichte, EvTh 53 (1993), 290- 310; M. Scott, Sophia and the Johannine Jesus (JSNT.S 71), Sheffield 1992; S.H. Ringe, Wisdom’s Friends. Community and Christology in the Fourth Gospel, Louisville KY 1999; S. Petersen, Die Weiblichkeit Jesu Christi, in: E. Klinger / S. Böhm / T. Franz (Hgg.), Die zwei Geschlechter und der eine Gott, Würzburg 2002, 97-123; zum Hintergrund vgl. I. Fischer, Gotteslehre- 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 18 Uhr Seite 10 Silke Petersen Das andere Evangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 11 rinnen. Weise Frauen und Frau Weisheit im Alten Testament, Stuttgart 2006; S. Schroer, Die Weisheit hat ihr Haus gebaut. Studien zur Gestalt der Sophia in den biblischen Schriften, Mainz 1996. 25 Zu Philo und dem Johannesevangelium vgl. z.B. P. Borgen, Bread from Heaven, An Exegetical Study of the Concept of Manna in the Gospel of John and the Writings of Philo (NT.S 10), 2. Aufl., Leiden 1981; sowie die »Logos«-Aufsätze von F. Siegert und J. Leonhardt-Balzer in: Frey u.a. (Hg.), Kontexte, 277-319. 26 Vgl. z.B. J. Beutler, »Und das Wort ist Fleisch geworden ...« Zur Menschwerdung nach dem Johannesprolog, in: ders., Studien zu den johanneischen Schriften (SBAB 25), Stuttgart 1998, 33-42: 37. 27 Zum Folgenden vgl. E. Straub, Kritische Theologie ohne ein Wort vom Kreuz. Zum Verhältnis von Joh 1-12 und 13-20 (FRLANT 203), Göttingen 2003; divergierende Entwürfe z.B. bei H. Kohler, Kreuz und Menschwerdung im Johannesevangelium (AThANT 72), Zürich 1987; U. Schnelle, Theologie als kreative Sinnbildung. Johannes als Weiterbildung von Paulus und Markus, in: Söding (Hg.), Johannesevangelium, 119-145. 28 Vgl. Ch. Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium (WUNT II / 84), Tübingen 1996. 29 Vgl. Bultmann, Evangelium, 95; vgl. auch: J. Rahner, Mißverstehen um zu verstehen. Zur Funktion der Mißverständnisse im Johannesevangelium, BZ 43 (1999), 212-219; K. Scholtissek, Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium, ZNW 89 (1998), 235- 255; P.D. Duke, Irony in the Fourth Gospel, Atlanta 1985; M. Davies, Rhetoric and Reference in the Fourth Gospel (JSNT.S 69), Sheffield 1992; C.R. Koester, Symbolism in the Fourth Gospel: Meaning, Mystery, Community, 2. Aufl., Minneapolis 2003. 30 Vgl. zum Folgenden O. Schwankl, Licht und Finsternis. Ein metaphorisches Paradigma in den johanneischen Schriften (HBS 5), Freiburg u.a. 1995; J.G. Van der Watt, The Family of the King. Dynamics of Metaphor in the Gospel of John (BIS 47), Leiden u.a. 2000; R. Zimmermann, Christologie der Bilder im Johannesevangelium. Die Christopoetik des vierten Evangeliums unter besonderer Berücksichtigung von Joh 10 (WUNT 171), Tübingen 2004; J. Frey u.a. (Hg.), Imagery; S. Petersen, Brot, Licht und Weinstock. Intertextuelle Analysen johanneischer Ich-bin-Worte (NT.S 127), Leiden u.a. 2008. 31 Vgl. Schwankl, Licht, 366f. Dagmar Fenner Ethik Wie soll ich handeln? UTB basics 2008, VIII, 244 Seiten, €[D] 16,90/ SFr 31,00 ISBN 978-3-8252-2989-4 Immer wieder sehen wir uns vor die ethische Grundfrage gestellt: „Wie soll ich handeln? “ Dagmar Fenner definiert alle wichtigen Begriffe der philosophischen Ethik und stellt die bedeutendsten Konzepte vor. Der Band gibt damit einen systematischen Überblick über die ethischen Grundbegriffe und ihre Zusammenhänge untereinander. Eine Fülle von Beispielen aus der ethischen Alltagspraxis und zahlreiche Abbildungen und Tabellen erleichtern den Zugang ebenso wie die unkomplizierte Sprache. Übungsaufgaben mit Lösungen dienen der Kontrolle des Lernfortschritts. UTB Philosophie A. Francke 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 18 Uhr Seite 11