eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 12/24

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2009
1224 Dronsch Strecker Vogel

Politik der Bergpredigt

2009
Thomas Macho
ZNT 24 (12. Jg. 2009) 55 1. Vor 76 Jahren hielt der gebürtige Berliner Arthur Oncken Lovejoy die »Willliam James Lectures« an der Harvard Universität; das aus diesen Vorlesungen hervorgegangene Buch - The Great Chain of Being (von 1936) - gilt bis heute als grundlegendes Werk der Ideengeschichte. Lovejoy untersuchte darin die historischen Wandlungen der im Neoplatonismus ausgebildeten Vorstellung von einer subtil und kontinuierlich abgestuften Hierarchie der Schöpfung, einer »großen Kette der Wesen«. 1 Maßgeblich für diese Vorstellung war einerseits, was Lovejoy als »jenseitiges Denken« bezeichnete: nämlich die Idee, dass alles Seiende auf ein überzeitliches Absolutes zurückgeführt werden kann, auf Gott oder das Gute schlechthin, andererseits die Behauptung, alles Mögliche sei geschaffen worden und eben darum auch wirklich. Erst im Mittelalter begann die theologisch heikle Debatte um die Frage, ob die Konvergenz von Möglichem und Wirklichem die schöpferische Freiheit Gottes einschränke; Thomas von Aquin vertrat damals die These, Gott habe zwar eine unendliche Vielfalt möglicher Dinge gedacht, aber nicht alle zur Verwirklichung ausgewählt - was im Gegenzug allerdings das Theodizee-Problem verschärfte: Wenn Gott frei gewählt hat, warum hat er dann die Existenz böser (oder zumindest mangelhaft guter) Existenzen gewählt und womöglich auf die Verwirklichung unendlicher Möglichkeiten von guten Dingen verzichtet? Entscheidend transformiert oder gar gesprengt wurde die »Chain of Being« erst im 19. Jahrhundert, und zwar durch ihre Verzeitlichung. Noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts galt selbst für Wissenschaften wie die Archäologie oder die Paläontologie ein präzis errechnetes Schöpfungsdatum - etwa der 7. Oktober 3.761 v.Chr., acht Uhr und elf Minuten. 2 Zu dieser Zeit sei erschaffen worden, was seither als statische und ewige Ordnung der Dinge betrachtet werden müsse; und nach der formalen Logik des ontologischen Gottesbeweises - Gott existiert, wie schon der Name sagt - durfte weder das Dasein denkmöglicher Meerjungfrauen bestritten noch die dauerhafte Fortdauer offenkundig bloß als Fossilien auffindbarer Organismen in Frage gestellt werden. Nur allmählich und zunächst ohne tiefgreifende Wirkung konnte der Gedanke artikuliert werden, dass manche Möglichkeiten einmal wirklich waren - aber beispielsweise wie viele Schalentiere inzwischen ausgestorben sind -, und dass andere Möglichkeiten erst in der Zukunft Wirklichkeit erlangen werden. Das traditionelle Wissenssystem wurde zögerlich revidiert: als Projektion eines räumlich gedachten Zusammenhangs - in der ars memoriae verkörpert als imaginäre Architektur - in eine zeitliche Abfolge. Was bisher ins Nebeneinander einer göttlichen Simultanschöpfung gestellt worden war, sollte nun im Nacheinander chronologischer Sequenzen und Fortschrittsmodelle interpretiert werden. Zunächst wurde die Natur historisiert; noch das Hauptwerk des Comte de Buffon, Georges-Louis Leclerc - die Histoire naturelle, générale et particulière, erschienen in 44 Bänden zwischen 1749 und 1804 in Paris - bezog allerdings die Rede von den »époques de la nature« auf die Systematik des königlichen Naturalienkabinetts. Somit blieb die zeitliche Ordnung, die Buffon immerhin den Ruf eines Vorläufers der Evolutionstheorien Lamarcks oder Darwins eintragen sollte, orientiert an den älteren chronologischen Modellen. Buffons Zeitbegriff wurde »vom Festhalten an der auf Moses und der Genesis basierenden Zeitrechnung, der traditionellen Chronologie, bestimmt: Die Schöpfung währte sechs Tage und einen, und seit der Entstehung des Menschen seien sechsbis achttausend Jahre vergangen«. 3 Immerhin wurde zugestanden, dass gleichsam die »Proportionen« der Schöpfungsgeschichte »gedehnt« werden könnten, so dass sich auch längere Perioden mit dem biblischen Text in Übereinstimmung bringen ließen; von einer »offenen« Zeit - im Sinne späterer Fortschrittsvorstellungen - war noch keine Rede. Erst im 19. Jahrhundert wurden die Zeiten Hermeneutik und Vermittlung Thomas Macho Politik der Bergpredigt 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 55 Hermeneutik und Vermittlung 56 ZNT 24 (12. Jg. 2009) etwa der Erdgeschichte immer tiefer in die Vergangenheit erstreckt, während die Zukunft zum unabsehbaren Projekt einer »Verbesserung« der Menschengattung geriet. Der Umsturz gültiger Wissensordnungen durch die Temporalisierung der »Chain of Being« setzte die Innovationen der Zeitrechnung und Zeitmessung voraus, die seit dem späten 16. Jahrhundert - nach der Gregorianischen Kalenderreform von 1582 und nach der Erfindung tragbarer Uhren (um 1550 etwa der Nürnberger »Eierlein«) - konzipiert werden konnten. Bekanntlich wurde die Konstruktion einer präzisen Uhr - zu Zwecken der Navigation und der Längengradbestimmung auf See - überhaupt erst zwischen 1735 und 1761 (durch den Uhrmacher John Harrison) bewältigt, 4 während der gregorianische Kalender keineswegs sofort zu einer chronologischen Integration beitrug, sondern einen ausgesprochen langatmigen Siegeszug antrat: Nach mehr als hundert Jahren - um 1699 / 1700 - wurde er in Dänemark und in den protestantischen Teilen Deutschlands und der Niederlande eingeführt, 1752 in England und in den amerikanischen Kolonien, 1812 in der Schweiz, zwischen 1912 und 1917 in Osteuropa, 1918 in Sowjetrussland, und schließlich 1923 in Griechenland. 5 An dieser langsamen Entwicklung muss die ideenhistorische Rekonstruktion Lovejoys ein wenig relativiert werden; denn sie übersieht, dass die Berechnungsmethoden und Instrumente eine unverzichtbare Voraussetzung für die Temporalisierung in den Wissenschaften bildeten. Solange kein einheitliches Kalendersystem und keine einheitliche Zeitmessung etabliert waren, bestand die vordringlichste Aufgabe der Chronologie und Annalistik nicht im Entwurf diachroner Entwicklungsprozesse, sondern in der komparatistischen Synchronisation unterschiedlicher Zeitrechnungen und Jahreszählungen. 2. Die Darstellung Lovejoys kann wissenschafts- und technikgeschichtlich vertieft werden; aber sie kann noch in eine andere, mindestens ebenso bedeutsame Richtung verlängert werden. Obwohl Lovejoy die enge Verknüpfung zwischen der »Chain of Being« und dem Begriff eines »jenseitig« Guten häufig betonte, vermied er doch die Anwendung dieses Gedankens auf die Geschichte der Ethik. Dabei ist evident, dass die Zeit nicht nur in die Wissenschaften »eingedrungen« ist, sondern auch in die Philosophie - einerseits in Gestalt der Geschichtsphilosophie, andererseits in Gestalt der utilitaristischen Ethik. So wie die Geschichtsphilosophie davon ausging, dass alle Wirklichkeit nur »Möglichkeit des Folgenden« 6 sei, vertrat die utilitaristische Ethik, dass alles Handeln nur die Möglichkeit des Guten bezwecken könne: Was wirklich gut sei, werde sich erst herausstellen. Darin bestand die eigentlich innovative Pointe des Utilitarismus. Die Nützlichkeitsregel Jeremy Benthams forderte das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl von Menschen, aber in - so müsste ergänzt werden - möglichst naher Zukunft. Die Erwirkung des größtmöglichen Glücks für eine größtmögliche Anzahl von Menschen figurierte - ganz abgesehen von den kulturellen Techniken, deren Anwendung vorausgesetzt werden musste: Pädagogik, Mathematik, Psychologie, Statistik - als ein zeitliches Projekt, ein Unternehmen für die Zukunft; auf vergleichbare Weise markierte Benthams panoptische Gefängnisarchitektur den Übergang vom körperlichen Strafen (als rituell inszeniertem Ereignis) zum zeitlichen Überwachen (als Prozess). 7 Mit Benthams Introduction to the Principles of Morals and Legislation von 1789 begann die Futurisierung des Guten, etwa auch der Besserung von Verbrechern. Denn die Erreichung des größtmöglichen Glücks der größtmöglichen Anzahl von Menschen ist zeitlich offen - ganz im Gegensatz etwa zu Kants kategorischem Imperativ, der eine Reflexion auf die mögliche Universalisierung der eigenen Maximen postuliert. Sie ist zeitlich so offen, dass John Stuart Mill die Frage aufwerfen konnte, ob der Verzicht auf persönliches Glück - zugunsten einer künftigen Glücksmaximierung für die Menschheit - nicht eine hohe Tugend sei; er unterstrich zwar, dass Selbstaufgabe kein Selbstzweck und jedes Opfer »vergeudet« sei, das »den Gesamtbetrag an Glück nicht erhöht«, aber er betonte zugleich, dass »das Glück, das den utilitaristischen Maßstab des moralisch richtigen Handelns darstellt, nicht das Glück des Handelnden selbst, sondern das Glück aller Betroffenen ist«. Glück ist eben keine ewige Idee, sondern ein empirisches Gut, auf das - in der 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 56 Thomas Macho Politik der Bergpredigt ZNT 24 (12. Jg. 2009) 57 Hingabe an das zukünftige Glück der anderen - auch verzichtet werden kann. 8 Glück kann bilanziert werden; aber womöglich muss diese Bilanz antizipiert werden. Im extremsten Fall gestattet die temporale »Jenseitigkeit« einer solchen Bilanz die Preisgabe des Glücks zahlreicher gegenwärtig lebender Menschen, und zwar im Namen eines maximal gesteigerten und kollektivierten Glücks in der Zukunft. Der Prozess einer Temporalisierung der Ethik spiegelt sich nirgendwo deutlicher als in der häufig zitierten Differenz zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkriegs referierte Max Weber - im Münchner Freistudentischen Bund - über den Beruf des Politikers; in dieser Rede kam er gegen Ende auf den »entscheidenden Punkt«: »Wir müssen uns klar machen, dass alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann: Es kann ›gesinnungsethisch‹ oder ›verantwortungsethisch‹ orientiert sein. Nicht, dass Gesinnungsethik mit Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsethik mit Gesinnungslosigkeit identisch wäre. Davon ist natürlich keine Rede. Aber es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt - religiös geredet -: ›der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‹, oder unter der verantwortungsethischen: dass man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat.« 9 In der anschließenden Argumentation ging es ihm um die Relation von Mitteln und Zwecken: Während der Gesinnungsethiker die unsittlichen Mittel (beispielsweise die gewaltsame Durchsetzung seiner Ziele) von vornherein verwerfe, komme der Verantwortungsethiker nicht um die »Tatsache herum, dass die Erreichung ›guter‹ Zwecke in zahlreichen Fällen daran gebunden ist, dass man sittlich bedenkliche oder mindestens gefährliche Mittel und die Möglichkeit oder auch die Wahrscheinlichkeit übler Nebenerfolge mit in Kauf nimmt«. 10 Dabei gehe es um das »Augenmaß«, um den Versuch, die »ethische Paradoxie« anzuerkennen, dass eine nur begrenzt kalkulierbare Zukunft das eigene Handeln nachträglich legitimiert: Das »Prinzip Verantwortung« ist nach dem »Prinzip Hoffnung« getauft. Genau diese Konsequenz wollte Kant - mehr als ein Jahrhundert zuvor - vermeiden, als er dekretierte, es sei »überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille«. 11 Max Webers Rede - gesprochen angesichts von Weltkrieg, Oktober- und Novemberrevolution, bayerischer Räterepublik - richtete sich freilich nicht nur gegen Kant, sondern auch gerade gegen die »Ethik der Bergpredigt«, von der er sagte, sie sei »eine ernstere Sache, als die glauben, die diese Gebote gern zitieren. Mit ihr ist nicht zu spaßen. Von ihr gilt, was man von der Kausalität in der Wissenschaft gesagt hat: Sie ist kein Fiaker, den man beliebig halten lassen Thomas Macho, Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, promovierte 1976 mit einer Dissertation über die »Dialektik des musikalischen Kunstwerks« an der Universität Wien. Er habilitierte sich 1983 in Klagenfurt für das Fach Philosophie mit einer Schrift »Von den Metaphern des Todes. Eine Phänomenologie der Grenzerfahrung«. Macho ist Mitbegründer des »Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik« und war 2006-2008 Dekan der Philosophischen Fakultät III. Weitere Informationen zu den Forschungsschwerpunkten sowie den Publikationen von Thomas Macho unter: www.culture.hu-berlin.de/ tm/ Thomas Macho »Der Name ›Bergpredigt‹ passt ausgezeichnet, verweist er doch auf einen räumlichen Topos. Die ethischen Systeme vormoderner, agrarischer Kulturen waren topologisch organisiert …« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 57 Hermeneutik und Vermittlung 58 ZNT 24 (12. Jg. 2009) kann, um nach Befinden ein- und auszusteigen. Sondern: ganz oder gar nicht, das gerade ist ihr Sinn.« 12 Der Name »Bergpredigt« passt ausgezeichnet, verweist er doch auf einen räumlichen Topos. Die ethischen Systeme vormoderner, agrarischer Kulturen waren topologisch organisiert; sie betrafen ein Gutes, das »überall« (wie in Kants Formulierung) und zu jeder Zeit gelten sollte - »ganz oder gar nicht«. Eine zeitliche Dimension der Ethik wurde nicht einmal im Ahnenkult, in dieser Pflichtenlehre der Genealogie, postuliert: Denn erstens richtete sich eine Verwandtschaftsethik zumeist auf die gleichzeitig anwesenden Eltern, Geschwister oder Kinder, zweitens betraf sie nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit, und drittens wurde das Verhältnis von Lebenden und Toten ebenfalls topologisch organisiert. Der Leichnam des Bruders von Antigone lag vor den Toren der Stadt; die genealogische Pflicht forderte seine reguläre Bestattung, die rituelle Übersiedlung in ein räumlich imaginiertes Totenreich. Abgesehen davon wendeten sich ethische Reformen - sei es im antiken Griechenland oder in der christlichen Religion - oft genug gegen die Geltung genealogischer Moral: So demonstrierte Kleisthenes mit seiner Gliederung Attikas in zehn Phylen, warum Nomos »Boden« heißt, aber auch »Gesetz«; und in den synoptischen Evangelien verdeutlichen zahlreiche Gleichnisse Jesu, dass das Gebot der Nächstenliebe auf den räumlich Nächsten bezogen werden muss - und nicht auf die zeitlich Nächsten, die Verwandten. Von Mutter und Brüdern will Jesus bekanntlich nichts wissen; dem Boten, der ihm mitteilt, sie wollten ihn sprechen, antwortet er beinahe lakonisch: »Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? « (Mt 12,48) Die einzige Kriegserklärung im Kontext der Bergpredigt gilt den Verwandten: »Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig.« (Mt 10,34-37) Und im koptischen Thomasevangelium heißt es, womöglich noch deutlicher: »Wer nicht seinen Vater und seine Mutter hasst, wird nicht [mein Jünger] werden können.« 13 Schon der Ansatz einer Temporalisierung der Ethik wird also bekämpft; das Gute darf nicht temporal, sondern nur topologisch gegliedert und interpretiert werden. 3. Die Frage nach einer Politik der Bergpredigt stellt sich unabweisbar und dringlich an der Grenze zwischen topologischer und temporaler Ethik. In den aktuellsten und brennendsten Diskussionen wird die Beziehung zwischen Werten und der Zeit verhandelt, oft jedoch ohne Ergebnis; denn die Argumente einer topologischen und einer temporalen Ethik sind wenig kompatibel: »Es ist nicht möglich, Gesinnungsethik und Verantwortungsethik unter einen Hut zu bringen«. 14 Berg- oder Zukunftspredigt? Bis heute haben wir noch nicht ganz verstanden, was es eigentlich bedeutet, das Gute zu historisieren und der Zeit zu unterwerfen. Auf der einen Seite berufen wir uns auf die zeitlos gültigen Grundwerte der Menschenrechtserklärungen, auf der anderen Seite bleibt Thomas Jeffersons Frage offen, ob nicht alle Gesetze - in den zeitlichen Rhythmen der Generationenfolge - neu abgestimmt werden müssten, um dauerhaft gelten zu können. In einem Brief an John Wayles Eppes (vom 24. Juni 1813) bemerkte Jefferson: »We may consider each generation as a distinct nation, with a right, by the will of its majority, to bind themselves, but none to bind the succeeding generation, more than the inhabitants of another country.« Neunzehn Jahre nach Abschluß eines Vertrags »the majority of the contractors are dead, and their contract with them«. 15 Wie sollen wir antizipieren können, was unsere Enkel für wahr »Die Frage nach einer Politik der Bergpredigt stellt sich unabweisbar und dringlich an der Grenze zwischen topologischer und temporaler Ethik.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 58 Thomas Macho Politik der Bergpredigt ZNT 24 (12. Jg. 2009) 59 und gut halten werden? Wie können wir beispielsweise sicher sein, so fragt Peter Singer in Practical Ethics, »daß zukünftige Generationen Wert auf unberührte Natur legen«? Womöglich werden sie sich in »klimatisierten Einkaufszentren« wohler fühlen, »wo sie vor für uns unvorstellbar raffinierten Computerspielen sitzen«. 16 Es ist nicht die räumliche Reichweite ethischer Regeln (im Sinne der Unterscheidung zwischen Mikro- und Makroethik), die unsere Debatten erschwert, sondern die Differenz zwischen einer topologischen und einer temporalen Ethik. Denken Sie an das bekannte Beispiel der Triage im Katastrophenschutz. Wie soll denn ein Anhänger der Bergpredigt und des Gebots der topologisch gedachten Nächstenliebe die Selektion vornehmen zwischen Opfern, die sicher überleben werden, die sicher nicht überleben werden und die vielleicht überleben werden - um vorrangig eben die Opfer der letztgenannten Kategorie zu bergen und zu retten? Muss er nicht, ganz im Gegensatz zum Vorschlag des Evangeliums, unentwegt an den »Sabbat« denken, an die Zukunft der guten Tat, an die möglichen Konsequenzen seiner spontanen Entscheidung? Es sind nicht zufällig solche und ähnliche Fragen, die zur Verschärfung der elementaren Opposition zwischen topologischer und temporaler Ethik beitragen. Im agrarischen System einer topologischen Ethik konnten die Grenzen des Lebens - die Passagen der Geburt und des Todes - nur auf einen mythisch (als Schicksal) oder theologisch (als Vorsehung) markierten Horizont der Unverfügbarkeit bezogen werden; und diese Unverfügbarkeit wurde sogar gegen die Techniken der Viehzucht verteidigt: Der »gute Hirte« rettet bekanntlich jedes abgestürzte Schaf, anstatt die Reproduktionsrate seiner Herde zu steigern. 17 Dagegen begann die Moderne - im Zeichen temporalisierter Ethik - geradezu als eine Epoche der Experimentalisierung von Lebensgrenzen. Im Blick auf das futurisierte Gute wurde machbar, was früher nur passiv ertragen und rituell bewältigt werden konnte. Nicht nur wurde die Kindersterblichkeit gesenkt und das durchschnittliche Lebensalter gesteigert, nicht nur wurden bestimmte Todesursachen erfolgreich bekämpft und Geburtsrisiken verringert, sondern die Lebensgrenzen selbst konnten zunehmend manipuliert, verschoben oder vorübergehend außer Kraft gesetzt werden. Die steigende Manipulierbarkeit der Lebensgrenzen ermöglichte die Einrichtung und strategische Nutzung von Zuständen zwischen Leben und Tod, die sich von befruchteten Eiern in der Tiefkühltruhe bis zu künstlich beatmeten, hirntoten Menschen erstrecken. Genau dann werden heute die Ethiker befragt: Ab wann ist ein befruchtetes Ei tatsächlich »am Leben«? Ist der atmende Mensch mit durchbluteter Haut und spinalen Reflexen tatsächlich »gestorben«? Gerade diese Fragen erzwingen den Rekurs auf die Zeit, auf eine temporalisierte Ethik; sie lassen sich nicht im Geist der Bergpredigt, nach den Geboten einer topologischen Ethik beantworten. Die agrarisch-topologische Ethik setzte die Anerkennung einer schicksalhaften oder göttlich gebotenen Unverfügbarkeit der Lebensgrenzen voraus; den universellen Tötungsverboten entsprachen darum verschiedene Einschränkungen der Zeugung von Kindern. Neues Leben durfte nicht per imitationem dei aktiv produziert, sondern lediglich als Gabe angenommen werden: Kinder wurden »bekommen« und nicht »gemacht«. Erst die moderne Biologie und Gynäkologie ermöglicht strategische Familienplanung, eine pharmakologisch und zunehmend auch gentechnologisch unterstützte Erzeugung von »Wunschkindern«. Dagegen wäre auf den ersten Blick gar nichts einzuwenden: »Wunschkinder« werden doch gewöhnlich besser versorgt, erzogen und intensiver geliebt. Allerdings konstituiert die Bemühung um die »Wunschkinder« erst das gegenüberliegende Feld der unerwünschten Kinder. Die Planungsanstrengungen und Erwartungen generieren strukturell die Möglichkeit der Planungsfehler und Enttäuschungen. Nicht selten konvertieren darum gerade die besonders heiß ersehnten Kinder zu unerwünschten Kobolden, sobald sie nämlich die Projektionen und Hoffnungen ihrer Eltern frustrieren. Die »Machbarkeit« der Nachkommen überträgt die Logik des zukünftig Guten auf die »Die agrarisch-topologische Ethik setzte die Anerkennung einer schicksalhaften oder göttlich gebotenen Unverfügbarkeit der Lebensgrenzen voraus …« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 59 Hermeneutik und Vermittlung 60 ZNT 24 (12. Jg. 2009) Kinder, die dann halten oder nicht halten können, was sie versprechen: »They are my friends: I made them«, heißt es an einer Schlüsselstelle des Films »Bladerunner«. Der Plot des Films von Ridley Scott ergibt sich nicht umsonst aus der kurzen Lebensdauer der Replikanten; die Kurzlebigkeit der gemachten Menschen erzeugt und löst alle auftretenden Konflikte. Nur darum kann die christliche Ikonographie, beispielsweise in der Sterbeszene des Replikanten Roy Batty, auch in Science Fiction transponiert werden: In einer Welt temporalisierter Normen triumphiert ein letztes Mal die topologische Politik der Bergpredigt. Anmerkungen 1 A.O. Lovejoy, Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, übers. v. D. Turck, Frankfurt a.M. 1985. 2 Vgl. H. Schlag, Ein Tag zuviel. Aus der Geschichte des Kalenders, Würzburg 1998, 147. 3 D.J. Meijers, Kunst als Natur. Die Habsburger Gemäldegalerie in Wien um 1780, übers. v. R. Wiegmann, Wien 1995, 131. 4 Vgl. D. Sobel, Längengrad. Die wahre Geschichte eines einsamen Genies, welches das größte wissenschaftliche Problem seiner Zeit löste, übers. v. M. Fienbork, Berlin 1996. 5 Vgl. M. Westrheim, Kalender der Welt. Eine Reise durch Zeiten und Kulturen, übers. v. B. Schellenberger, Freiburg i.B. / Basel / Wien 1999, 104. 6 G.W.F. Hegel, Philosophische Enzyklopädie für die Oberklasse, in: Nürnberger und Heidelberger Schriften, Theorie-Werkausgabe Band IV, hg. v. E. Moldenhauer u. K.M. Michel, Frankfurt a.M. 1970, 48 (§ 151). 7 Vgl. M. Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. v. W. Seitter, Frankfurt a.M. 1976, 251-292. 8 J.S. Mill, Der Utilitarismus, übers. v. D. Birnbacher, Stuttgart 1976, 29f. 9 M. Weber, Politik als Beruf, Stuttgart 1992, 70f. 10 Weber, Politik, 71. 11 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Theorie-Werkausgabe Band VII, hg. v. W. Weischedel, Frankfurt a.M. 1968, 18. 12 Weber, Politik, 68. 13 Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. I., hg. v. W. Schneemelcher, Tübingen 1987, 112 (§ 101). 14 Weber, Politik, 73. 15 Th. Jefferson, Writings. Ausgewählt und kommentiert v. M.D. Peterson, New York 1984, 1280f. 16 P. Singer, Praktische Ethik. Neuausgabe, übers. v. O. Bischoff / J.-C. Wolf / D. Klose, Stuttgart 1996, 343. 17 Vgl. Th. Macho, Gute Hirten, schlechte Hirten. Zu einem Leitmotiv politischer Zoologie, in: A. von der Heiden / J. Vogl (Hgg.), Politische Zoologie, Zürich / Berlin 2007, 71-88. 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 60