eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 12/24

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2009
1224 Dronsch Strecker Vogel

Die Bergpredigt als das ganz Andere der – modernen – Politik

2009
Tine Stein
48 ZNT 24 (12. Jg. 2009) Kann man plausibel von der Bergpredigt als einer »Politik« des Evangeliums reden? Wenn die Bergpredigt als »Politik« des Evangeliums angesprochen wird, so wie in der (mit einem Fragezeichen versehenen) Überschrift des Beitrags von François Vouga, dann liegt es nahe, darunter ein Programm für die ordnende Gestaltung der Gesellschaft zu verstehen im Sinne einer regulativen Anleitung für menschliches Verhalten. Und die Bergpredigt enthält grundlegende Anweisungen für das zwischenmenschliche Verhalten, die die hergebrachten ablösen sollen: Im Kern sind es Gebote, die Friedfertigkeit, Vergeltungsverzicht und ein Verhalten der unbedingten Solidarität, ja sogar Liebe gegenüber dem Anderen einfordern. Nicht nur der Inhalt, auch die Form von Matthäus 5-7 als Rede weist entsprechende Elemente auf, die die Assoziation mit Politik wachrufen. Für das öffentliche Wirken Jesu ist dieses Instrument eher ungewöhnlich, da er seine ethische Lehre vornehmlich entweder durch Praxis vermittelt hat, indem er in dem sorgenden Umgang mit den Schwachen, Kranken, Armen und generell sozial Deklassierten ein Beispiel gegeben hat, oder indem er mit dem Mittel des Geschichten-Erzählens die ethischen Maßstäbe in Gleichnissen entwickelte. Doch in der Bergpredigt ist als Vermittlungsform der ethischen Lehre die programmatische Rede gewählt und so stellt sich eine gedankliche Verbindung zur Politik ein, da diese Form für die Politik typisch ist. Dass es sich um eine Rede handelt, wird zu Beginn und am Ende markiert, wenn das Verhältnis des Sprechers zu den Zuhörern Thema ist. Zu Beginn wird deutlich, dass hier ein Anführer zu seiner Gefolgschaft spricht, allerdings mit einer über die Gefolgschaft hinausweisenden Botschaft (Mt 5,1), und zum Ende wird betont, dass dieser Anführer nicht einer der traditionellen Schriftgelehrten ist, der eine religiöse Belehrung dargeboten hat, sondern aus eigener Vollmacht heraus spricht beziehungsweise Macht hat (Mt 7,29). Aber das grundstürzend Neue des gesamten Kontextes, in dem diese Rede steht, ist, dass es dem Sprecher gerade nicht darum geht, diese Autorität einzusetzen, um die vorhandene weltliche Machtordnung als solche und wie ein politischer Führer zu übernehmen. Denn mit dem Evangelium als der geoffenbarten Verheißung auf das kommende Gottesreich wird eine Unterscheidung von Politik und Religion getroffen, die in der Konsequenz auch eine institutionelle Trennung von weltlich-politischer Ordnung und religiöser Gemeinschaft nach sich zieht. Freilich bedeutet diese gedankliche Unterscheidung und institutionelle Trennung auf der anderen Seite nicht, dass die Offenbarung über die göttliche Schöpfung der Welt und des Menschen, seine Bindung an das göttliche Gesetz sowie die Aussicht auf das Gottesreich ohne Belang für die Politik seien. Dafür ist der Inhalt der frohen Botschaft wie auch der Normen für das menschliche Verhalten zu revolutionär - so ungeheuerlich, so umstürzend müssen die Worte der Bergpredigt den Zuhörern erschienen sein, dass diese »außer sich gerieten« (Mt 7,28). Das kann nicht ohne Wirkung auf die Politik bleiben. Aber deswegen sollte man nicht den Inhalt der Botschaft mit Politik verwechseln. Die Bergpredigt mit ihrer Verbindung von Gesetz und Evangelium kann sowohl das Verhältnis der christlichen Religion zur weltlichen Politik als auch die Bedeutung der ersteren für letztere wie mit einem Vergrößerungsglas erhellen. Das ist im Folgenden in drei Schritten zu zeigen, in denen deutlich werden sollte, dass hier die Grundthese von François Vouga bekräftigt und vertieft wird, wonach nämlich die Relevanz der Bergpredigt für die Politik nicht darin liegt, ein politisches Programm oder eine politische Strategie bereitzuhalten, sondern in den Konsequenzen, die von dem dort zu bergenden Menschenbild und Weltverhältnis für die Politik ausgehen. Eine weiterführende These von Jay Haley, die Vouga eingangs zitiert, nach der Kontroverse Tine Stein Die Bergpredigt als das ganz Andere der - modernen - Politik 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 48 Tine Stein Die Bergpredigt als das ganz Andere der - modernen - Politik ZNT 24 (12. Jg. 2009) 49 Jesus auch die politische Macht in Palästina habe ergreifen wollen, überzeugt allerdings nicht, was es zunächst zu zeigen gilt. 1. Unterscheidung und Trennung der weltlichen von der geistlichen Sphäre Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass der erste Eindruck eines politischen Führers, der das Formmittel der programmatischen Rede wählt, im Verlauf der Darstellung des öffentlichen Wirkens Jesu nicht vertieft wird. Anders als am Berg Sinai wird auf dem Berg am See Genezareth nicht die Verkündung der Heilsbotschaft und die Darlegung religiöser Normen mit der Gründung einer politischen Gemeinschaft verknüpft. Der Bundesschluss am Sinai lässt die Stämme Israels zu einem Volk werden, das auf ein Ziel hin orientiert ist, nämlich das gelobte Land zu erreichen, und das sich durch den gemeinsamen, nämlich »einmütigen« und »wie mit einer Stimme« gesprochenen (Ex 19,8; 24,3) Willensentschluss, den Bund mit Gott einzugehen und seine Gebote zu achten, als Volk unter den besonderen Schutz Gottes gestellt weiß. Das Versprechen Gottes an das Volk Israel für die Einhaltung des Bundes verknüpft durchaus eine materielle Dimension, nämlich den exklusiv für das auserwählte Volk vorgesehenen Ort zu erreichen, der ihm eine Heimat geben soll, mit einer immateriellen Dimension, nämlich dass sich das Volk gerecht verhalten und damit dieses verheißenen Landes auch würdig erweisen soll. Als die Israeliten es nach den langen Jahren der Wanderschaft endlich erreichen, ist das Land bekanntlich nicht so großartig wie ausgemalt. Denn es sind nicht nur gerechte Menschen, die das Land neu besiedeln, da sie den Bund mit Gott nicht mehr durchgängig einhalten. Ja, einige nehmen sogar Züge der ägyptischen Sklavenhalter an. Es kommt aber, wie Michael Walzer in seiner Studie über Exodus und Revolution herausgestellt hat, darauf an, nicht nur das Land physisch in Besitz zu nehmen, sondern sein Verhalten nach den göttlichen Geboten auszurichten: »Das Land würde nie das sein, was es sein könnte, bis seine neuen Bewohner all das waren, was sie sein sollten.« 1 Damit aus dem versprochenen Land auch wirklich das gelobte Land der Verheißung werden kann, müssen sich die Israeliten gerecht verhalten. Es geht also nicht allein um ein Territorium, das den Israeliten als rettendes Handeln Gottes versprochen ist, sondern um eine Ordnung, die sich durch die Geltung von Gottes Geboten als gerechte Ordnung erweist. 2 Aber das verheißene Land ist durchaus ein irdisch bestimmbarer Ort. Von anderer Qualität ist die Verheißung des Reiches Gottes in der Bergpredigt, welche dort in der Verknüpfung mit dem göttlichen Gesetz im Mittelpunkt steht. Das Reich Gottes, dessen Kommen die Christen im Vaterunser erbitten, weist nicht die irdische Qualität eines verheißenen Landes auf, das sich mit einem topographisch bestimmbaren Ort verbindet. Hier wird keine Prof. Dr. phil.; geb. 1965, Professorin für Politikwissenschaft an der Christian-Albrechts- Universität zu Kiel; Studium der Politikwissenschaft, Philosophie und Germanistik an der Universität Köln, M.A. und Promotion ebd., Habilitation an der FU Berlin. 1996 / 7 Visiting Scholar an der New School for Social Research, New York, 2005-2007 Vertretungsprofessorin für Politische Theorie an der Universität Bremen, 2007-2008 Forschungsprojekt am WZB; WS 08 / 09 Vertretungsprofessorin für Vergleichende Regierungslehre an der Universität Hamburg. Forschungsgebiete: Politik und Religion, Politik und Natur, Rechtliche Grundlagen der Politik, Kosmopolitismus. Wichtigste Veröffentlichungen: Himmlische Quellen und irdisches Recht. Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates, Frankfurt am Main / New York 2007; Interessenvertretung der Natur in den USA. Mit vergleichendem Blick auf die deutsche Rechtslage, Baden-Baden 2002; Demokratie und Verfassung an den Grenzen des Wachstums. Zur ökologischen Kritik und Reform des demokratischen Verfassungsstaates, Opladen 1998. Tine Stein Foto: WZB / D. Ausserhofer 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 49 Kontroverse 50 ZNT 24 (12. Jg. 2009) politische Gemeinschaft im Sinne eines exklusiv erwählten Volkes begründet, 3 sondern die Botschaft ist eine universale, die sich an alle richtet und die die Völker zu einer Gemeinschaft, zur Menschheit umgreift. Vor allem ist der Inhalt der Botschaft nicht politisch im engeren Sinne. Denn trotz des revolutionären Charakters der Forderungen ist die Intention nicht, ein weltlich-politisches Reich zu begründen. Die Unterscheidung von geistlicher und weltlich-politischer Sphäre wird im Verlauf der Berichte über Wirken und Leben Jesu vertieft. So sind die Anforderungen, die sich hinsichtlich des Reiches Gottes stellen, ganz anderer Art, als die, die es dem weltlichpolitischen Reich gegenüber zu erfüllen gilt. In der Zinsperikope bringt es Jesus auf die viel zitierte Formel, dass dem Kaiser zu geben sei, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist (Mk 12, 13- 17; Mt 22, 15-22): Steuern sind dem Kaiser zu entrichten, damit die weltlich-politische Ordnung ihre Aufgaben erfüllen kann, aber keine Anbetung. Denn dem Kaiser kommen weder göttliche Qualitäten zu, noch kann die weltlich-politische Ordnung legitimerweise eine Aufgabe übernehmen wollen, die auf die »letzten Fragen« des Lebens zielt. Der johanneische Jesus lässt diese Unterscheidung noch deutlicher hervortreten. In der Gerichtsszene erwidert er Pilatus auf dessen Frage, ob er denn nun der König der Juden sei, dass sein Reich beziehungsweise Königtum nicht von dieser Welt sei (Joh 18,36). Auf das Insistieren des Pilatus, ob er denn nun doch ein König sei - und damit eine Bedrohung für den Machtanspruch des römischen Reiches darstellte -, gibt Jesus eine Antwort, die Pilatus als Zeichen seiner Unschuld werten wird: »Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich Zeugnis gebe für die Wahrheit. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme« (Joh 18,37). Wahrheit ist keine Kategorie, die in den Zuständigkeitsbereich der Politik fällt, was, wie es scheint, selbst Pilatus anerkennt, der auf seine Frage »Was ist Wahrheit? « eine Antwort gar nicht erst abbeziehungsweise erwartet. Wahrheit wird im Johannes-Evangelium als der Weg, der zum Heil, zum Vater führt, vorgestellt (Joh 14,6). Das Heil fällt damit in den Kompetenzbereich des Himmelreiches, wohingegen eine weltlich-politische Ordnung irdische Zwecke zu erfüllen hat. Damit wird die Politik relativiert und begrenzt und die religionspolitische Einheit der römischen Welt mit ihrer Verschmelzung von Religion und Polis, die für das antike politische Denken kennzeichnend ist, aufgebrochen. Im römischen Imperium übernahm die (später so genannte) Zivilreligion eine Funktion für die Integration des Reiches. Einer solchen Funktionalisierung der Religion für politische Zwecke steht das jesuanische Denken entgegen. Die christlich geprägte Geschichte der Spätantike und des Hochmittelalters hat bekanntlich die umgekehrte Fluchtrichtung aufgewiesen, nämlich die der Einbindung der weltlich-politischen Ordnung für religiöse Zwecke, genauer: der Zuweisung einer Aufgabe im Rahmen der Erreichung des Seelenheils. Die »res publica christiana« und das Ringen um die Vormachtstellung zwischen Papst und Kaiser darf freilich nicht den Blick darauf verstellen, das mit dem christlichen Denken eine grundlegende Unterscheidung von Politik und Religion Einzug gehalten hat, die in der Konsequenz auch eine institutionelle Trennung nach sich zieht. Die Notwendigkeit einer institutionellen Trennung ist auch eine Konsequenz aus dem biblischen Menschenbild, was nun in einem zweiten Schritt im Fokus auf die Bergpredigt zu erörtern sein wird. Für den ersten Punkt bleibt festzuhalten, dass die eingangs von François Vouga vorgetragene These Haleys, wonach Jesus die paradoxe Taktik der Ent-Mächtigung der Machtvollen durch die Schwachen nicht bloß im Sinne einer generellen Irritation angewandt habe, um den Mächtigen in seiner Seins-Gewissheit zu erschüttern, sondern um schließlich selbst die Macht in Palästina zu ergreifen, nicht plausibel erscheint. 2. Menschenbild François Vouga ist zuzustimmen: Das Menschenbild, das in der Bergpredigt öffentlich präsentiert wird, hat seinen ethischen Kern in der Anerkennung des Anderen als Person. Das stellt eine im antiken Kontext ungeheure Veränderung dar: Dass die Hinwendung zum Anderen nicht von dessen sozialem Status abhängig ist. Denn damit geht eine Abwertung der den sozialen Status begründenden Kriterien, nämlich Macht, Reichtum, Weisheit einher. Die Anerkennung des Anderen 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 50 Tine Stein Die Bergpredigt als das ganz Andere der - modernen - Politik ZNT 24 (12. Jg. 2009) 51 ist unbedingt, denn seine besondere Qualität als Mensch - jedes Menschen - ist in Gott verankert, da alle Menschen gleich in ihrer Geschöpflichkeit und Ebenbildlichkeit zu Gott sind. Es ist für den Wert des Menschen daher unerheblich, ob er reich, glücklich oder mächtig ist: Denn selig sind die, die arm, traurig, machtlos sind (Mt 5, 3-5). Die Unbedingtheit der Anerkennung wird in der Bergpredigt insbesondere in zwei Dimensionen entfaltet, sie ist erstens nicht auf Reziprozität angewiesen und sie gilt zweitens selbst den Feinden. Zunächst zur Überwindung der Reziprozität: Gewiss beruht die ideale Ordnung der Gemeinschaft auf der »Gleichheit wechselseitiger Hilfe« 4 und etwa nicht auf Hierarchie. Auch soll man das Verhalten, das man selber gerne erfahren würde, selbst gegenüber anderen an den Tag legen, wie es in der Goldenen Regel formuliert ist, die in allen Weltreligionen eine Entsprechung findet: »Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! « (Mt 7,12). 5 Aber das Besondere an dem ersten ethischen Imperativ der Bergpredigt ist, dass die Hilfe für den Anderen nicht bedingt durch sein Hilfsangebot ist - es ist kein Tauschgeschäft. Die Zurückweisung der Reziprozität wird mit dem Gebot der Feindesliebe verknüpft. Denn in den Antithesen stellt Jesus dem alttestamentlichen Liebesgebot das umfassendere Gebot der Feindesliebe gegenüber, nach dem auch die zu lieben sind, von denen man selbst verfolgt wird (Mt 5,44), um dann die Begründung gleich nachzuliefern: »Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? « (Mt 5,46-47). Auch die vorangehende Antithese geht über die dort insinuierte alttestamentliche Äquivalenz des Talionsprinzips, des Auge-um-Auge- Zahn-um-Zahn-Prinzips hinaus: »Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei« (Mt 5,40-41). Eine sprachliche Erinnerung an das Talionsprinzip blitzt allerdings in der Vaterunser-Bitte auf, nun jedoch in ganz anderer Konstellation, in der zwischen Gott und den Menschen: »Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern« (Mt 6,12). Die Menschen untereinander versprechen sich also, die Schuld des jeweils anderen zu vergeben - ohne aber, dass eine Entschädigung, Wiedergutmachung oder entsprechende Bitte um Vergebung Voraussetzung ist. Die angesprochene Schuld wird gemeinhin im moralischen Sinn verstanden, worauf auch der nach dem Vaterunser stehende Vers hinweist: »Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben« (Mt 6,14). Aber daneben sollte auch die Bedeutung von Schuld im ökonomischen Sinne nicht vergessen werden, womit eine Kontinuität gegenüber den alttestamentlichen Bestimmungen gegeben ist, die vor Not und Armut durch Verschuldung schützen sollen. 6 Wie die in der Bergpredigt im Zentrum stehende Forderung nach Nächstenliebe die zwischenmenschlichen Beziehungen in sozialer Hinsicht strukturieren soll, wird im Weinberg- Gleichnis und in der Geschichte vom barmherzigen Samariter illustriert. Im Weinberg-Gleichnis soll auch derjenige vom Weinbergbesitzer den Lohn für einen ganzen Tag erhalten, der nur eine Stunde gearbeitet hat, denn dieser Lohn ist als Existenzminimum notwendig, um eine Familie zu ernähren (Mt 20,1-16). 7 Damit wird das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit (gleicher Lohn für gleiche Arbeit) hier nicht nur im übertragenen Sinn, nämlich in religiöser Hinsicht relativiert, dass also gerade »die Letzten« auf die göttliche Gerechtigkeit und einen Platz im Himmelreich hoffen können, sondern auch in irdischer Hinsicht: Auch die, denen bislang keine Arbeit für einen ganzen Tag angeboten wurde, haben allein aufgrund ihres Menschseins Anspruch auf die Sicherung ihrer Existenz. In der Geschichte vom barmherzigen Samariter lässt sich eine eindringliche Antwort finden, wer denn der Nächste ist, den es zu lieben gilt (Lk 10,25-37). Jesus dreht hier nämlich die Relation um: Auf die Frage des Pharisäers, wer denn sein Nächster sei, gibt er am Ende die Frage zurück, und fragt den Gesetzeslehrer, wer sich als der Nächste desjenigen erwiesen habe, der in Not war und dem selbstlos und fürsorglich geholfen wurde, und das ist, wie auch der Pharisäer zugeben muss, ausgerechnet ein Vertreter jener Gruppe, die als Häretiker und damit feindlich galt. 8 Der Überfallene wird im Übrigen nicht näher nach Gruppenzugehörigkeit identifiziert. Für die gebotene Hilfeleistung soll 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 51 Kontroverse 52 ZNT 24 (12. Jg. 2009) also die soziale Nähe oder Ferne desjenigen, der in Not ist, zu dem, der die Hilfe erbringen kann, keine Rolle spielen. Die ethische Forderung nach der Anerkennung des Anderen als Person hat ihr begründendes Fundament in der gleichen Geschöpflichkeit des Menschen, die in der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus bekräftigt wird. Diese Gleichheit ist unhintergehbar und sie schließt auch jene ein, die von der Heilsbotschaft nicht berührt sind. Der Wert eines Menschen ist auch nicht von den äußeren Leistungen und Eigenschaften abhängig, schließlich lässt Gott »seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte« (Mt 5,45). Das ist ein kategorial anderes Menschenbild als eines, bei dem nur jene Träger von Würde sind, die sich um das Gemeinwesen verdient gemacht haben beziehungsweise aus solchen verdienstvollen Familien kommen. Die römische Begriffsbestimmung dignitas drückt in der Tat die Anerkennung für die für das Gemeinwesen erbrachte Leistung aus und wurzelt damit, wie François Vouga richtig anspricht, in der Immanenz der sozialen Ordnung. Aber das Interessante ist ja, dass heute neben der Bedeutungsdimension von »Amt und Würden«, würdevollem Auftreten und eben solchen auf Verdiensten und Leistung beruhenden Würdezuschreibungen es eine weitere und ganz andere Würdeauffassung gibt, nämlich jene, die das Wesen der menschlichen Person in seiner unantastbaren Würde liegen sieht und zwar allein aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Gattung Mensch. Dieses Würdeverständnis ist für viele Rechtsordnungen heute leitend, es zeigt sich besonders eindringlich im deutschen Grundgesetz und auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Von dem vorchristlichen römischen auf Leistung und Verdienst beruhendem Begriff dignitas führt dahin kein Weg. Das Verständnis der Würde als jedem Menschen qua Menschsein zukommende Auszeichnung hat vielmehr seine Wurzeln in der Transformation des vorchristlich-römischen Begriffs durch das christliche Menschenbild mit der Bestimmung des Menschen als Gottes Ebenbild, was dann in der Vernunftmetaphysik Kants eine säkulare Entsprechung gefunden hat. 9 Die politische Bedeutung des in der Bibel bewahrten Menschenbildes, welches in der Bergpredigt als unbedingte Forderung nach Anerkennung des Anderen als Person und Verantwortung für dessen Wohlergehen konkretisiert wird, zeigt sich in solchen Entscheidungen über die rechtlichen Grundlagen, die unser Zusammenleben ordnen - und die auch anders hätten ausfallen können. Damit soll keineswegs behauptet werden, dass die Idee einer dem Menschen als Menschen zukommenden unantastbaren Würde und daraus abzuleitenden Rechten nur exklusiv mit einem biblischen Verständnis unterfüttert werden kann, noch dass diese Entscheidungen etwa wegen einer überwiegend christlichen Prägung der Akteure (was im übrigen bei der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auch nicht der Fall gewesen ist) quasi mit Notwendigkeit so ausfallen mussten. Aber eine wesentliche Quelle, der eine Bedeutung für die Fortdauer dieses Menschenwürdeverständnisses als Schutz der Schwachen zukommt, stellt die Sicht auf den Menschen in der Bergpredigt schon dar. Damit ist der dritte und letzte Schritt der Erörterung erreicht. 3. Die Bedeutung der Bergpredigt als Spannungspol zur weltlich-politischen Ordnung Die Kontroverse über das rechte Verständnis der Bergpredigt zwischen Programmschrift oder Utopie, zwischen kollektiver Handlungsanforderung für das Christenvolk oder Individualethik, zwischen unmittelbarem Verbindlichkeitsanspruch oder in jedem Kontext neu zu bergendem Sinngehalt der Normen ist so intensiv geführt, dass es erscheinen mag: Es ist zum Thema alles gesagt. Entsprechend vielschichtig und beeindruckend sind die Interpretationsvorschläge, die das Dilemma zwischen der so wahrgenommenen moralischen Überforderung des Einzelnen einerseits und einer die Bergpredigt zur Beliebigkeit ver- »Die politische Bedeutung des in der Bibel bewahrten Menschenbildes (…) zeigt sich in solchen Entscheidungen über die rechtlichen Grundlagen, die unser Zusammenleben ordnen - und die auch anders hätten ausfallen können.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 52 Tine Stein Die Bergpredigt als das ganz Andere der - modernen - Politik ZNT 24 (12. Jg. 2009) 53 dammenden Lesart andererseits entschärfen wollen, und die auch eine Antwort suchen auf die vermeintliche oder tatsächliche Unangemessenheit insbesondere der Forderung nach Gewaltlosigkeit für das gesellschaftliche und politische Leben. 10 In all den hermeneutischen Aneignungsversuchen, von der katholischen Zweistufen-Ethik über die Luther’sche Unterscheidung von Amt und Person und den damit korrespondierenden unterschiedlichen ethischen Anforderungen, von der Verinnerlichung der wahren Gesinnung, auf die es ankomme, über die demütige Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit zur Vermeidung von Selbstgerechtigkeit, bis hin zur Lesart des Ausnahmezustands in Erwartung des nahen Weltenendes und bis hin zur Betonung der kritischen Funktion, die in dem gelebten Radikalismus derer liege, die nach der Bergpredigt zu leben suchten - in all diesen Interpretationsversuchen sei ein Wahrheitsmoment enthalten, sagen theologische Stimmen. 11 Mit diesen Interpretationen hat man sich in der sozialwissenschaftlichen und politiktheoretischen Literatur gar nicht erst lange aufgehalten, wie überhaupt das schwache Interesse dort für die Bergpredigt als einen für die so genannte abendländische Geschichte so bedeutsamen Text erstaunlich ist. Dies hängt auch mit einem herausragenden und einflussreichen Denker des 20. Jahrhunderts zusammen. Max Weber hielt der Bergpredigt vor, sie stifte zu einer Gesinnungsethik an, mittels der die Folgen etwa eines Gewaltverzichts ausgeblendet werden und nur die vermeintliche Reinheit des eigenen Handelns relevant ist. Gerade in der Unbedingtheit der Forderungen, die nicht nach den Umständen fragt, sieht Weber das Problem der Bergpredigt, die somit ungeeignet als ethische Richtschnur für die Politik sei, da es dort immer darum gehe, die jeweilige Situation zu bedenken und von den Konsequenzen des Handelns her zu denken. 12 Aber was Weber dabei nicht in den Blick nimmt, ist, dass die Bergpredigt eine fundamentale Kritikfolie zu einem politischen Handlungsmuster bereithält, das auf dem zweckrationalen Kalkül der Nutzenorientierung der Beteiligten beruht und dabei die Frage nach der Güte und Gerechtigkeit des Nutzens nicht mehr stellt. Die Politik bedarf dieser gewissermaßen von einem existentiell anderen Standpunkt formulierten Perspektive, die sie selbst nicht hervorbringen kann, da sie sich nur um vorletzte Fragen kümmern kann und soll. Die Frage nach dem Sinn von allem: Danach, woher wir kommen, warum wir hier sind und wohin wir gehen, welche es uns ermöglicht, das Ganze unserer Existenz zu interpretieren, wird nicht von der Politik beantwortet. Insofern in der Bergpredigt von der eschatologischen Idee des Reiches Gottes die Rede ist - die ja keine Utopie im Sinne eines futuristischen Nirgendwo, eines nicht erreichbaren Zustands ist, sondern eine gegebene Verheißung, welche mit der Menschwerdung Gottes bereits begonnen hat - und dies mit der radikalen Kritik an bestehenden ungerechten Zuständen verbunden wird, kann mit ihr der Politik der Spiegel des ganz Anderen vorgehalten werden, das »Es-soll-anderssein«. Aber entgegen den säkularisierten Heilsideen umfassender gesellschaftlicher Lehren drängt dieses »Essoll-anders-sein« der Bergpredigt nicht darauf, die Blaupause für die Organisation der weltlich-politischen Ordnung abzugeben. Das ist der kardinale Unterschied zu den totalitären säkularen Heilsbotschaften des 20. Jahrhunderts, die die Differenz von Immanenz und Transzendenz versuchten einzuebnen und damit auch die abendländische Grundspannung als einer Gewaltentrennung von weltlich und geistlich, die Jacob Taubes als entscheidend für diese vom biblischen Denken geprägte Kultur angesehen hat. 13 In der Bergpredigt wird noch eine andere Spannungsdimension greifbar, nämlich die, die mit dem verheißenen Gottesreich verbunden ist, das »noch nicht« da, aber zu erwarten ist, und das doch »schon« auf- »Die Frage nach dem Sinn von allem: Danach, woher wir kommen, warum wir hier sind und wohin wir gehen (…) wird nicht von der Politik beantwortet.« »Aber entgegen den säkularisierten Heilsideen umfassender gesellschaftlicher Lehren drängt dieses ›Es-soll-anders-sein‹ der Bergpredigt nicht darauf, die Blaupause für die Organisation der weltlichpolitischen Ordnung abzugeben.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 53 Kontroverse 54 ZNT 24 (12. Jg. 2009) scheint in dem menschlichen Verhalten der Friedfertigkeit, des Vergeltungsverzichts, der unbedingten Solidarität und Liebe zu dem Anderen als gleichem Menschen. So hält die Bergpredigt das ethische Feuer 14 in jedem einzelnen Gläubigen wach, um sowohl das eigene, individuelle Verhalten kritisch zu prüfen, wie auch die weltlich-politische Ordnung mit der Frage nach der wahren Gerechtigkeit zu konfrontieren. Das gehört auch zu den berühmten Voraussetzungen, die der freiheitliche säkularisierte Staat nicht selbst garantieren kann. 15 Anmerkungen 1 M. Walzer, Exodus und Revolution, Frankfurt a.M. 1995, 109. 2 Mit dieser Kontrastierung der Weisung am Berg Sinai mit der Weisung am Berg des See Genezareth soll keinesfalls der Eindruck erweckt werden, dass die christliche Eschatologie keine jüdische Vorgeschichte habe, insbesondere in der endgeschichtlichen Vorstellung, wie sie in der Apokalyptik des Buchs Daniels entwickelt ist. Dort ist auch vom Menschensohn die Rede, der am Ende der Tage mit den Wolken des Himmels kommt (Dan 7,13). Es ist aber eine sehr ferne Zukunft, in der der Messias kommen wird, und es ist eine diesseitige Vorstellung. 3 Allerdings lässt sich die Erwählung des Volkes Israels auch im Sinne einer Stellvertretung für die Menschheit deuten; dass es also nicht darum geht, andere auszuschließen, sondern das Volk Israel als Repräsentant aller Menschen handeln zu sehen; siehe zu dieser Deutung H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Wiesbaden ³1995 (erstm. 1918), 278f. u. 502. 4 W. Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh ²1999, 133. 5 Vgl. dazu die Chicagoer »Erklärung zum Weltethos« des Parlaments der Weltreligionen, Chicago 1993. 6 Vgl. dazu auch F. Crüsemann, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, München 1992, 268f: »Wer, wie die Bitte vorher zeigt, um sein tägliches Brot bangt, für den sind Schulden nichts bloß Spirituelles.« 7 Vgl. zu dieser Interpretation des Weinberg-Gleichnisses G. Roellecke: Gerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit, Zeitschrift für Rechtsphilosophie 1 (2004), 17-22. 8 Vgl. hierzu H. Geißler, Glaube und Gerechtigkeit. Ignatianische Impulse, Würzburg ²2005, 33f. 9 Vgl. zu den begriffshistorischen Wegstationen m.w. Lit. T. Stein, Himmlische Quellen und irdisches Recht. Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates, Berlin / New York 2007, 235ff. 10 Vgl. umfassend zu den Interpretationen der Bergpredigt M. Stiewe / F. Vouga, Die Bergpredigt und ihre Rezeption als kurze Darstellung des Christentums (NET 2), Tübingen / Basel 2001. 11 G. Theißen / A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen ³2001, 351f. 12 »Denn wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik heißt: ›dem Übel nicht widerstehen mit Gewalt‹, - so gilt für den Politiker umgekehrt der Satz: du sollst dem Übel gewaltsam widerstehen, sonst - bist du für seine Überhandnahme verantwortlich. (…) [E]s ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt - religiös geredet -: ›der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‹, oder unter der verantwortungsethischen: daß man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat.« M. Weber, Politik als Beruf, München / Leipzig 1919, 56f. 13 »Sie merken ja, was ich will von Schmitt - ihm zeigen, daß die Gewaltentrennung zwischen weltlich und geistlich absolut notwendig ist, diese Grenzziehung, wenn die nicht gemacht wird, geht uns der abendländische Atem aus. Das wollte ich ihm gegen seinen totalitären Begriff zu Gemüte führen.« Taubes berichtet hier von einem Gespräch, das er mit Carl Schmitt geführt hat, siehe J. Taubes, Die Politische Theologie des Paulus, München ²1995, 181. 14 Vgl. R. Leicht, Ihr seid das Salz der Erde, Gütersloh 1999. 15 E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit. Beiträge zur politisch-theologischen Verfassungsgeschichte 1957-2002, Münster 2004, 213-230 (erstm. 1967): 229. 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 54