eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 12/24

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2009
1224 Dronsch Strecker Vogel

Bergpredigt – Politik des Evangeliums?

2009
François Vouga
42 ZNT 24 (12. Jg. 2009) Eine klare Vorstellung der Politik der Bergpredigt entwickelt Jay Haley. 1 Als ein Spezialist der Pragmatik der Kommunikation (Gregory Bateson, Paul Watzlawick, Mara Selvini-Palazzoli) beobachtet Haley die paradoxe Logik der Antithesen der Bergpredigt. Die bekannten Anweisungen zur Gewaltlosigkeit (»Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt..., wenn einer dich nötigt, eine Meile mitzugehen...«) gehören zu einem - auch in der Tierwelt bekannten - klassischen Repertoire der Entwaffnung der Mächtigen durch die Schwachen. Das Angebot, mehr zu tun als gefordert ist, führt zu einer Umrahmung der Situation, die die Machtverhältnisse durch eine pragmatische Veränderung der Einstellungen umdreht. Haley vertritt die These, dass Jesus diese Taktik verwendet hat, um die Macht in Palästina zu ergreifen. Als einzigen politischen Fehler hat er seine Volksgenossen überschätzt: Er hatte nämlich nicht damit nicht gerechnet, dass sie sich für die Befreiung von Barabbas einsetzen, sondern er hoffte, von seinem Prozess das für sein messianisches Vorhaben nötige Aufsehen auf sich zu ziehen. Der Radikalismus der Bergpredigt als Paradoxie Der paradoxe Charakter des matthäischen Radikalismus ist in der Interpretation der Bergpredigt nicht immer so klar gesehen worden. Pragmatische Paradoxien der Kommunikation können entweder pathologische Auswirkungen haben, wenn sie ihre Adressaten in die Situation eines doppelten Zwangs (double bind) versetzen (Die Anweisung »sei spontan« verlangt gleichzeitig ein eigenständiges Verhalten und den Gehorsam zum Imperativ), oder die therapeutische Funktion erfüllen, einen sonst unmöglichen Systemwechsel zu ermöglichen. Der Ertrag der Analyse von Jay Haley darf nicht unterschätzt werden: Als Paradoxie der Kommunikation sind die radikalen Forderungen der Bergpredigt nicht wortwörtlich, sondern von ihrem Kommunikationszusammenhang her zu verstehen. In ihrer Rezeptionsgeschichte sind sie oft als pathogene Überforderungen verstanden worden: Jesus verlange von seinen Jüngern und seinen Zuhörern (Mt 5,1 und 7,28-29) ein Verhalten, das aus einer tadellosen Gewaltlosigkeit (Mt 5,21-26), aus einer unbefleckten inneren Askese (Mt 5,27-33) und aus einer reinen Aufrichtigkeit besteht (Mt 5,33-38). Die christliche Vollkommenheit (Mt 5,48) und die Felsen, auf denen die Existenz gründen soll (Mt 7,24-27), setzen als Verhaltensnormen unerreichbare Ideale, die nicht nur menschlich unmöglich, sondern auch politisch irreal sind: Mit der absoluten Gewaltlosigkeit und dem - zumal universal ausgelegten - Liebesgebot (Mt 5,39-48) gestaltet sich keine verantwortliche Politik. These 1: Die Ethik der Bergpredigt begründet und empfiehlt kein System von Werten und Normen. Sie entwickelt vielmehr eine Argumentation, die auf eine Veränderung der Einstellungen - und erst als sekundäre Konsequenz - der Verhaltensweisen hinzielt. Die Frage, die Jay Haley noch einmal mit großer Deutlichkeit stellt, betrifft die der paradoxen Kommunikation der Bergpredigt zugrundeliegende Intentionalität - was will der matthäische Jesus in seinen Lesern erreichen? - und ihre politische Bedeutung. Worin bestehen die bessere Gerechtigkeit und die Vollkommenheit, die die Jünger Jesu kennzeichnen (Mt 5,20), und wie sind sie durchsetzbar? 2 Kontroverse François Vouga Bergpredigt - Politik des Evangeliums? »Als Paradoxie der Kommunikation sind die radikalen Forderungen der Bergpredigt nicht wortwörtlich, sondern von ihrem Kommunikationszusammenhang her zu verstehen.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 42 François Vouga Bergpredigt - Politik des Evangeliums? ZNT 24 (12. Jg. 2009) 43 Die Gerechtigkeit als Vertrauen und Anerkennung Am deutlichsten definiert Matthäus die Gerechtigkeit durch eine Unterscheidung: Die Gerechtigkeit könnte leicht mit der »Heuchelei« verwechselt werden, und die Jünger und Zuhörer Jesu sollen vor der Verwechslung gewarnt werden. Der Grund für die Verwechslung ist leicht ersichtlich: Das religiöse und ethische Verhalten der »Heuchler« ist identisch mit dem, was die Gerechten tun: Sie geben Almosen, beten und fasten (Mt 6,1-18). Dagegen hat der matthäische Jesus nichts einzuwenden, denn der Unterschied zwischen der Gerechtigkeit und der Heuchelei steckt nicht im Verhalten, sondern in der existentiellen Haltung: Zweimal wiederholt er, dass die Heuchler das Gute tun, um es den Menschen zu zeigen (Mt 6,5.16) und um von den Menschen verherrlicht zu werden (Mt 6,2). Matthäus registriert auch sofort dreimal, dass es funktioniert: »Amen, ich sage euch, sie haben ihren Lohn« (Mt 6,2.5.16). Der Fehler liegt nun aber darin, dass sich der Lohn, den sich das Subjekt von den Menschen holt, mit den Gaben des himmlischen Vaters nicht vereinbaren lässt: Das Gute sollen die Jünger und die Zuhörer Jesu im Verborgenen - ungesehen und unsichtbar - tun (Mt 6,3.6.17). Sie sollen es Gott allein zeigen, der ins Verborgene sieht. Der Unterschied zwischen der Gerechtigkeit und der Heuchelei 3 besteht also zunächst darin, dass die Heuchler von Gott und von den Menschen gesehen werden wollen, weil sie sich vorstellen, dass der Lohn von den Menschen mit den Gaben Gottes kompatibel ist. Der Grund der Unvereinbarkeit liegt auf der Hand. Der matthäische Jesus erklärt ihn zunächst in dem betont wiederholten Hinweis auf den Gegensatz zwischen der Verborgenheit, die der himmlische Vater wahrnimmt, und dem »Zeigen«-Wollen der Heuchler, sodann in der zweiten Unterscheidung zwischen den Gerechten und den »Heiden« (Mt 6,7-8). Der Gegensatz zwischen Gerechten und Heuchlern verweist auf eine Unterscheidung zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit; die Gegenüberstellung von den Gerechten, die aus Vertrauen leben, und den Heiden verweist auf eine Unterscheidung zwischen einer Logik der Umsonstheit und einem System des Tauschs: Die Gerechten leben in der Zuversicht, dass ihr himmlischer Vater weiß, was sie brauchen, während sich die Heiden auf das vermeintliche Tauschmittel der Quantität ihrer Worte verlassen. Die Dankbarkeit für die Gaben Gottes und die Erwartung, seinen Lohn von den Menschen zu bekommen, sind deswegen unvereinbar, weil sie zwei existentielle Haltungen voraussetzen, die nicht kompatibel sind. These 2: Mit dem Begriff der Gerechtigkeit definiert die Ethik der Bergpredigt keine Normen und Werte, aus denen praktische Empfehlungen abgeleitet Prof. Dr. theol. Dr. theol. h.c. François Vouga, Jahrgang 1948, ist Professor an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal / Bethel. 1973-1974 Assistent von Christophe Senft in Lausanne; 1975- 1982 Gemeindepastor in Avully und Chancy (Genf); 1982-1985 Maître assistant in Montpellier; 1985 Thèse de doctorat und venia legendi im Fach Neues Testament in Genf; 1984-1985 Gastprofessor in Neuchâtel; 1985-1986 Professor in Montpellier, 1986-2009 an Kirchlichen Hochschule Bethel, seit 2008 in Wuppertal. Seit 1988 regelmäßige Gastprofessuren an der Facoltà Valdese di Teologia in Rom; 1998 Ehrendoktor der Universität Neuchâtel; 1999 und 2001 Gastprofessur, 2008-2010 Honrarprofessur an der Faculté de théologie et de sciences religieuses de Université Laval, Québec. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der frühchristlichen Literatur, Einheit und Vielfalt der neutestamentlichen Theologie, Paulus und die paulinische Theologie, die Petrusbriefe, Theologie und Ästhetik (Kunst und Musik), Theologie und Naturwissenschaften. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: Politique du Nouveau Testament, Genf 2008. Für weitere Informationen siehe: www.kiho.thzw.de François Vouga 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 43 Kontroverse 44 ZNT 24 (12. Jg. 2009) werden könnten, sondern sie unterscheidet zwei existentielle Haltungen: • Die Gerechtigkeit aktualisiert sich im Vertrauen auf die bedingungslose Anerkennung der Personen. • Die Heuchelei - als ernstgemeinte aber unglückliche Variante der Suche nach Gerechtigkeit - besteht in der Identitätsfindung aufgrund von Eigenschaften. Die evangelische Vollkommenheit als Ende der Vollkommenheitsideale Die Einführung in die Antithesen warnt vor dem Gedanken, dass Jesus gekommen sei, um den Gotteswillen, wie er in der Schrift überliefert ist, aufzulösen: Er ist nicht gekommen, um aufzulösen, sondern um zu erfüllen: um die Verheißung, die in der Schrift enthalten ist, von der Intentionalität Gottes her zu verstehen, wie Calvin es in seinem Kommentar der evangelischen Harmonie klar formuliert hat (Mt 5,17). Eine erste Begründung liefert die Zuversicht, dass die Verheißung des Gotteswillens - Matthäus schreibt »Gesetz« und meint den Willen Gottes, den Paulus mit dem Begriff des Evangeliums interpretiert - wahr bleibt, bis Himmel und Erde vergehen (Mt 5,18), so dass die Jünger und Zuhörer Jesu aufgefordert sind, in allem zu vertrauen (Mt 5,19). Die zweite Begründung verweist auf zwei Vorstellungen der Gerechtigkeit (= Eure Gerechtigkeit und die Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer), die die Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Heuchelei ankündigen (Mt 5,20). Die Gegenüberstellung der zwei Vorstellungen der Gerechtigkeit wird in der Gegenüberstellung von zwei Vorstellungen der Vollkommenheit weitergeführt: »Ihr werdet vollkommen sein wie euer himmlischer Vater vollkommen ist« (Mt 5,48). Die Vollkommenheit Gottes des Vaters wird präzise definiert: Die Großzügigkeit der Vorsehung Gottes macht keinen Unterschied zwischen Bösen und Guten und zwischen Gerechten und Ungerechten (Mt 5,45). Deshalb werden die Jünger und die Zuhörer des matthäischen Jesus die Söhne ihres himmlischen Vaters werden, indem sie Freunde und Feinde unabhängig von ihren Eigenschaften (Freund, gut, gerecht oder Feind, böse, ungerecht zu sein) lieben und als Personen anerkennen (Mt 5,44-45). Die Distanz zwischen der Nächstenliebe als Liebe der Freunde und der Feindesliebe reduziert sich nicht auf einen quantitativen Unterschied, sondern sie bedeutet eine Bekehrung des Verhältnisses zu sich selbst und zu den anderen. Die Nächstenliebe als Freundesliebe ist Zuneigung eines Subjekts, das sich über zuweisbare Eigenschaften bildet - Zugehörigkeit zur Erwählung, Gesetzesgehorsam -, die es im anderen feststellen kann. Die Feindesliebe hingegen lebt vom Vertrauen auf die bedingungslose - und folglich universale - Anerkennung der Person. Die Vollkommenheit der Bergpredigt begründet also eine Veränderung des Selbst- und des Menschenverständnisses. 4 Sie bedeutet das selbstverständliche Ende der Identitätsbildungen durch Abgrenzung aufgrund der Eigenschaften. Sie impliziert die Ablehnung aller Vollkommenheitsideale, 5 die die Menschen aufgrund ihrer qualifizierenden oder disqualifizierenden Eigenschaften hierarchisieren und sortieren, und die die Personen disqualifizieren. Diese Definition der Vollkommenheit als Ende der Vollkommenheitsideale ist keine politische Aussage. Sie hat aber unmittelbare politische Konsequenzen. Parallel zu der paulinischen Metapher des Leibes (1Kor 12,1-31) begründet sie den Aufbau einer universalen - bei Paulus: Derselbe Geist verleiht jedem Einzelnen Gaben, die einzigartig sind - und pluralistischen - bei Paulus: Die Einheit des Leibes ergibt sich aus der Vielfalt der Glieder - Gesellschaft. These 3: Der Begriff der Vollkommenheit, den die Bergpredigt durch die Vollkommenheit des himmlischen Vaters begründet, beschreibt keine Norm und keine Hierarchie der Werte. Die Paradoxie des matthäischen Jesus definiert die Gerechtigkeit und die Vollkommenheit als das Ende der Vollkommenheitsideale um. Die Verkündigung der »Die Vollkommenheit der Bergpredigt begründet also eine Veränderung des Selbst- und des Menschenverständnisses.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 44 François Vouga Bergpredigt - Politik des Evangeliums? ZNT 24 (12. Jg. 2009) 45 überreichen Gerechtigkeit der Vorsehung Gottes schafft eine neue Struktur der Wirklichkeit, die den Übergang vom System der »Heuchelei«, des Tausches und der Eigenschaften zum Geist der Umsonstheit und der Gabe, der Ich-Du-Beziehungen aufbaut, erfordert und ermöglicht. Sie setzt eine bedingungslose Anerkennung der Personen voraus, die die Begründung für eine offene, universale und plurale Gesellschaft liefert. 6 Das Vertrauen in die Vorsehung Gottes, die sich in der Schönheit der Schöpfung offenbart Die Verkündigung des matthäischen Jesus gründet, genauso wie das paulinische Evangelium, auf eine Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes. Diese Offenbarung hat für Paulus in der absoluten Singularität des Kreuzes stattgefunden. Mit dem theologischen Begriff des Kreuzes meint Paulus die Offenbarung des durch das Gesetz verfluchten Gekreuzigten als des Sohnes Gottes - und die Offenbarung Gottes als des Vaters des Gekreuzigten. Gott ist kein Gott der Eigenschaften, sondern ein Gott der Personen (Gal 1,12.16; 3,13). Das Matthäusevangelium und die Bergpredigt formulieren keine Kreuzestheologie. Die Gerechtigkeit Gottes zeigt sich nicht im Tod und in der Auferstehung Jesu, die ihre letzten Konsequenzen sind, sondern in der Einladung der Jünger und Zuhörer Jesu zu einer Bekehrung des Blickes, mit dem sie die Wirklichkeit der Schöpfung betrachten: »Beschäftigt nicht eure Seele mit dem, was ihr essen werdet oder womit ihr euren Körper anziehen werdet! « (Mt 6,25) Der Grund, weswegen die Jünger und Zuhörer Jesu ihre inneren Dialoge mit der Frage ihres Überlebens nicht füllen sollten, ist offensichtlich. Aber er ist es nur für diejenigen, die Sehen gelernt haben. Deswegen macht die Bergpredigt auf die Wahrheit der Schöpfung aufmerksam: Die Wahrheit der Schöpfung liegt darin, dass sich die Logik der Vorsehung Gottes in der Großzügigkeit, mit welcher sie Regen und Sonne zum Gedeihen aller bedingungslos verteilt, die Vögel des Himmels ernährt und die Blumen des Feldes schmückt, in Dankbarkeit bewundern lässt. Die Offenbarung findet sich nicht in der Natur, sondern in der Verheißung und in der Einladung der Imperative Jesu, die Schönheit der Schöpfung wahrzunehmen und zu verstehen: »Seht hin die Vögel des Himmels, ... Betrachtet die Lilien des Feldes, ...« (Mt 6,26.28). Was gesehen und betrachtet werden kann, ist explizit gesagt: Die Vögel arbeiten nicht, um zu überleben, und Gott gibt ihnen alles Nötige umsonst. Die Lehre der Blumen des Feldes erklärt es noch deutlicher: Die Jünger und Zuhörer Jesu sollen eine Schönheit wahrnehmen, die präzise an ihrem unnützen, nicht-funktionalen und für eine technische Sichtweise überflüssigen Charakter liegt. Paulus hat den Humor als Fähigkeit der Selbstdistanzierung der christlichen Freiheit erfunden und Matthäus die moderne Ästhetik: Die Schönheit liegt nicht an der Sache als ihre objektive Eigenschaft, sondern sie entsteht aus der Begegnung des Auges, das sich an ihr freut: (28b) Betrachtet die Lilien des Feldes, wie sie wachsen! sie mühen sich nicht noch spinnen sie. (29) Ich sage euch: Auch Salomon in seiner ganzen Herrlichkeit war nicht bekleidet wie eine von diesen. (30) Wenn Gott das Gras des Feldes so kleidet, das heute da ist und morgen in den Ofen geworfen wird, nicht viel mehr euch? Die Lilien des Feldes tun genauso wenig für ihr Überleben wie die Vögel des Himmels. Darüber hinaus aber kleidet sie Gott mit einer Schönheit, die keine andere Funktion und Berechtigung hat, als die maßlose Großzügigkeit der Güte Gottes zu offenbaren. Anders als Paulus entwickelt der matthäische Jesus keine Kreuzestheologie, sondern eine Theologie der Schönheit, die die Schönheit als Offenbarung der Umsonstheit der Gerechtigkeit und der Vollkommenheit der Gnade Gottes wahrnimmt und interpretiert. Gilt die großzügige Umsonstheit der Vorsehung Gottes für die Vögel des Himmels und für die Blumen des Feldes, dann soll sie um so mehr für die gelten, die berufen sind, Söhne des himmlischen Vaters zu werden (Mt 5,45; 6,26.30). 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 45 Kontroverse 46 ZNT 24 (12. Jg. 2009) These 4: Der Wechsel vom System der Vollkommenheitsideale und des Tauschs zum Geist der Umsonstheit, des Vertrauens und der Anerkennung gründet auf der Über-Großzügigkeit der Vorsehung Gottes, die sich in der Schönheit der Schöpfung erkennen lässt. Die Theologie der Schönheit, die in der Bergpredigt entworfen wird, ist indirekt von großer politischer Brisanz. Sie verweist auf eine Logik der Umsonstheit, die das geistige Leben des Einzelnen begründet, aber dadurch die anthropologischen Voraussetzungen für eine menschengerechte Gestaltung der res publica jenseits der Vollkommenheitsideale der Ideologien und der Machtverhältnisse sichert. Sie verbietet sowohl eine Instrumentalisierung der menschlichen Existenz und der Gaben der Schöpfung als auch eine Verabsolutierung des Systems des Tauschs, die die Seelen als Ware behandelt. Die Bergpredigt - Politik des Evangeliums? Nein! Die provokative Auslegung von Jan Haley zeigt a contrario, dass die Bergpredigt weder ein politisches Programm noch eine politische Strategie definiert. Radikale Forderungen der Antithesen (Mt 5,17-48) wenden die von Gregory Bateson oder Paul Watzlawick beschriebene Logik der Paradoxien der Kommunikation an. Solche Paradoxien gehören zu den pragmatischen Formen der Veränderung. Sie können therapeutisch eingesetzt werden, wie es die matthäische Bergpredigt tut, um die Jünger und Zuhörer Jesu vom System des Tauschs und von der Gerechtigkeit aufgrund von Eigenschaften zu befreien. Sie können aber auch pathogen wirken, wie es das Missverständnis ihrer moralischen Rezeption belegt, oder man kann sie manipulativ anwenden, wie es Jay Haley zeigt. Jay Haley hat folglich recht, von einer »Taktik« zu sprechen, denn entscheidend ist die argumentative Strategie, in welcher sie gebraucht werden. Die ethische Argumentation der Bergpredigt begründet kein System von Werten und Normen, sondern lädt die Seele ein, wegen der Übergroßzügigkeit des Vaters im Himmel, die die Betrachtung der Schönheit in der Schöpfung offenbart, aus Vertrauen in die Gerechtigkeit Gottes als von ihm umsonst anerkannte Person zu leben und die anderen logischerweise als Personen bedingungslos anzuerkennen. Die Sorge für die Seelen gehört nicht zum Bereich der Politik. Aber doch! Die Sorge für die Seelen gehört zwar nicht zum Relevanzbereich der Politik. Die Verheißung der bedingungslosen Anerkennung der Personen liefert jedoch die notwendige und ausreichende theologische Begründung für den Universalismus und für den Pluralismus, die offene Gesellschaften kennzeichnen. Gerade diese Begründung leisten weder die politischen Ideologien, wie es das 20. Jahrhundert 7 und Karl Popper 8 veranschaulicht und erklärt haben, noch der wirtschaftliche Liberalismus, wie man sieht. Aus den Neugründung der politischen Kunst und den Aufgaben der Politik durch die evangelische Verheißung und Forderung des universalen Respekts der Bürger als anerkannte Personen folgt die Notwendigkeit einer Neudefinition und einer - auch von Ökonomen wie Joseph Stiglitz längst verlangten - Aufwertung der Politik selbst: Die in der Bergpredigt verkündigte theologische Anthropologie und die ihr zugrunde liegende Theologie der Schönheit setzen eine Gestaltung der menschlichen Gesellschaft, der Verteilung der Ressourcen und der Arbeit sowie der dankbaren Verhältnisse zu der Gabe der Schöpfung voraus, die den Dienst einer offenen, im strengen Sinne politischen Diskussion bestimmen. These 5: Die Bergpredigt definiert keine evangelische Politik, sondern bietet der modernen, universalistischen und pluralistischen demokratischen Republik eine theologisch-anthropologische Begründung, die ihre politische Verantwortung definiert. Diese politische Verantwortung lässt sich auf die unpolitische Parodie von parteiischen Marktkämpfen nicht reduzieren. Sie lässt sich durch kein Programm beschreiben, denn Programme instrumentalisieren die Menschen, sondern durch die Verheißung und die Forderung des universalen »Die Theologie der Schönheit, die in der Bergpredigt entworfen wird, ist indirekt von großer politischer Brisanz.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 46 François Vouga Bergpredigt - Politik des Evangeliums? ZNT 24 (12. Jg. 2009) 47 Respekts für die Personen und des Dialogs, der aus diesem Respekt entsteht. Anmerkungen 1 J. Haley, The Power Tactics of Jesus Christ and Other Essays, New York 1986. Die deutsche Übersetzung ist sehr unvollständig: J. Haley, Die Jesus-Strategie. Die Macht der Ohnmächtigen. Mit einem Vorwort von Fritz B. Simon. Heidelberg 2002. 2 Die exegetischen Begründungen der Thesen, die ich hier vertrete, finden sich in: M. Stiewe und F. Vouga, Die Bergpredigt und ihre Rezeption als kurze Darstellung des Evangeliums (NET 2), Tübingen 2001. 3 Hilfreich ist die Unterscheidung zwischen einer subjektiven Heuchelei, die andere Menschen wissentlich betrügt, und der objektiven Heuchelei, die die Heuchler des Matthäusevangeliums kennzeichnet: Sie betrügen unwissentlich die anderen, weil sie selbst in der Illusion leben. Dazu P. Bonnard, L’évangile selon saint Matthieu (CNT I), Neuchâtel 1963, 2. Aufl. 1970. 4 Die Unterscheidung zwischen Person und Eigenschaften habe ich von Blaise Pascal, Pensées Br 323, übernommen: »Was ist das Ich? - Wenn sich ein Mensch ans Fenster setzt, um die Vorübergehenden zu beobachten, und ich gehe an ihm vorbei, kann ich dann sagen, dass er sich ans Fenster gesetzt hat, um mich zu sehen? Nein, denn er denkt nicht an mich im besonderen. Aber der, welcher jemanden um seiner Schönheit willen liebt, liebt der ihn? Nein; denn die Pocken, welche die Schönheit töten, ohne die Person zu töten, werden bewirken, dass er ihn nicht mehr liebt. - Und wenn man mich um meines Urteils, meines Gedächtnisses willen liebt, liebt man dann mich? Nein! Denn ich kann diese Eigenschaften verlieren, ohne mich selbst zu verlieren. Wo ist also dieses Ich, wenn es weder im Leibe noch in der Seele ist? Und wieso liebt man den Leib und die Seele, wenn nicht um dieser Eigenschaften willen, die nicht das sind, was das Ich konstituiert, da sie vergänglich sind? Könnte man denn die seelische Substanz einer Person abstrakt lieben und unabhängig von den Eigenschaften, die sich darin befinden? Das ist unmöglich und wäre ungerecht. Man liebt also nie jemanden, sondern immer nur Eigenschaften. - Man mache sich also nicht mehr lustig über die, welche sich um ihrer Ämter und Aufgaben willen ehren lassen, denn man liebt die Menschen nur um ihrer Eigenschaften willen«. 5 Viel gelernt habe ich vom kurzen Essay von B. Rordorf, L’idéal de perfection, falsification de l’Evangile, Bulletin du Centre Protestant d’Etudes (Genf) 1981 / 3, 5-22, wiederveröffentlicht in: B. Rordorf, Liberté de parole. Esquisses théologiques, Théologie, Genève 2005, 152-168. 6 Die Unterscheidung zwischen Person und Eigenschaften, wie sie Blaise Pascal nicht ohne Ironie definiert, und die Verheißung der bedingungslosen Anerkennung der Personen unabhängig von ihren Eigenschaften, die ihre theologische Ausformulierung sowohl in der paulinischen These der Rechtfertigung im Vertrauen und unabhängig von Gesetzeswerken (Röm 3,21- 31; Gal 2,14-21) als auch in der matthäischen Theologie der Gerechtigkeit, der Vollkommenheit und der Schönheit finden, liefern eine transzendente Begründung für den universalen Respekt der Personen. Als solche sind sie präziser und weniger flexibel als der römische Begriff der dignitas und der Würde, der eine relative Eigenschaft bezeichnet und in der Immanenz der sozialen Ordnungen verwurzelt bleibt. 7 A. Badiou, Le siècle, L’ordre philosophique, Paris 2005. 8 K. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Gesammelte Werke 5 und 6, 8. Auflage, Tübingen 2003. Neues Testament aktuell: Christian Strecker: „Geist als Thema neutestamentlicher Wissenschaft“ Zum Thema: Werner Kahl: „Geist in interkultureller Hermeneutik: Schwerpunkt Pfingstbewegung“ Richard B. Hays: „Intertextuelle Pneumatologie. Die paulinische Rede vom Heiligen Geist“ Kurt Erlemann: „Geist im Matthäusevangelium“ Kristina Dronsch: „Der Raum des Geistes. Die topographische Struktur der Rede vom Geist im Johannesevangelium“ Volker Rabens: „Die Rede vom Geist im Spiegel der Literatur des römischen Reiches“ Vittorio Hösle: „Ist der Geistbegriff des deutschen Idealismus ein legitimer Erbe des Pneumabegriffs des Neuen Testaments? “ Kontroverse: Ist die Christologie die Grundlage der Pneumatologie des lukanischen Doppelwerkes? Odette Mainville vs. François Vouga Hermeneutik und Vermittlung: Hermann Deuser: „Geistesgegenwart. Pneumatologie und kategoriale Semiotik“ Stefan Alkier: „Der begeisterte Leser. Rezeptionsästhetische Überlegungen zur Pneumatologie“ Buchreport: (N.N.) Vorschau auf Heft 25 Themenheft: »GEIST« Jubiläumsheft 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 47