eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 12/24

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2009
1224 Dronsch Strecker Vogel

»Lebendige Gerechtigkeit«: Karl Barths christologische Exegese der Bergpredigt

2009
A. Katherine Grieb
32 ZNT 24 (12. Jg. 2009) Von dem Theologen Karl Barth können Bibelwissenschaftler viel über die Strategien lernen, wie man die Bergpredigt verstehen kann. Wie ich an anderer Stelle im Blick auf 1Kor im Besonderen 1 und auf die Schrift im Allgemeinen 2 ausgeführt habe, klammern Barths theologische Exegese und sein Ansatz einer christologischen Schriftlektüre - zumindest in seinem reifen Werk »Kirchliche Dogmatik« - den historischen Rahmen, Wortstudien oder die literarische Analyse nicht aus, die das tägliche Brot der meisten Bibelwissenschaftler sind. Barth ist eindeutig auch an solchen Fragen interessiert. Der Unterschied liegt darin, dass Barth sich konsequent weigert, sich auf diese Fragen zu beschränken, wie es so viele Bibelwissenschaftler tun, als ob der Bibelwissenschaftler eine andere Aufgabe als der Theologe zu erledigen hätte. Barth setzt sich mit historischen, philologischen und literarischen Fragen auseinander, soweit es nötig ist, oft als Einführung. Er formuliert Fragen, während er tiefer in das Textstück eindringt, es in ein Gespräch mit anderen biblischen Texten bringt, Tendenzen der Auslegungsgeschichte bedenkt, die sich als hilfreich oder schädlich erwiesen haben; er beschäftigt sich direkt oder indirekt mit anderen Auslegern des Textstücks und legt uns schließlich eine Lektüre vor, die zutiefst christologisch ist, so dass wir durch die Lektüre des Bibeltexts stärker mit Jesus Christus verbunden werden. Nach einem kurzen Überblick zur augustinischen Lektüretradition, in der Barth steht, werde ich - wenigstens kurz - Barths Lesart der Bergpredigt besprechen, wie sie uns in einem kurzen, kleingedruckten Abschnitt in KD II / 2 begegnet. Ich werde zeigen, dass sie einige exegetische Züge aufweist, die für seine gesamte theologische Exegese charakteristisch sind und dass hier ein wichtiger Unterschied zwischen Barth und Bonhoeffer sichtbar wird. Abschließend werde ich einige Beobachtungen zu der Frage anstellen, warum Barths theologische Exegese für gegenwärtige Studien der Bergpredigt immer noch wichtig ist. Die augustinische Auslegungstradition: Wichtige Vorläufer und Gesprächspartner für Barth Die Bezeichnung »Bergpredigt« (De Sermone Domini in monte) und das erste Buch (oder besser die ersten zwei Bücher) zu Mt 5-7 als Texteinheit (verfasst zwischen 392 und 396 n.Chr.) werden in der Regel Augustinus zugeschrieben. Er beginnt seinen Kommentar zur Bergpredigt, indem er ihr »die höchste Moral, das perfekte Maß des menschlichen Lebens« 3 zuschreibt. Augustinus war nicht der einzige Kirchenvater, der die Bergpredigt schätzte oder kommentierte: »Kein Abschnitt der Schrift wurde von den vornicänischen Vätern häufiger zitiert und herangezogen als die Bergpredigt. Das fünfte Kapitel des Matthäusevangeliums kommt häufiger in ihren Werken vor als jedes andere einzelne Kapitel, und Mt 5-7 häufiger als beliebige andere drei Kapitel der gesamten Bibel.« 4 Die Bergpredigt wurde durch Jahrhunderte beinahe mit der Lehre Jesu für die Kirche identifiziert. Und dennoch war die Bergpredigt für die Kirche während des größten Teils ihrer Geschichte und besonders in der Neuzeit eine Herausforderung. Wie G.K. Chesterton satirisch bemerkte: »Das christliche Ideal wurde nicht ausprobiert und unzureichend gefunden. Es wurde schwierig gefunden und lieber nicht ausprobiert.« 5 Jesu Lehre wird in der Bergpredigt in Imperativen ausgedrückt: Sie scheint Regeln festzulegen, denen man gehorchen muss. Diese Anweisungen erscheinen radikal, kompromisslos und (manchmal) extrem. Man hat die Meinung vertreten, dass keine einzige menschliche Gemeinschaft, die in der Welt, wie wir sie kennen, lebt, ihnen vollständig und allgemein »Gehorsam leisten« kann. Heißt das, dass alle, die Jesus nachfolgen möchten, für immer zu einer Existenz im Unrecht verdammt sind? 6 Zum Thema A. Katherine Grieb »Lebendige Gerechtigkeit«: Karl Barths christologische Exegese der Bergpredigt 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 32 A. Katherine Grieb »Lebendige Gerechtigkeit«: Karl Barths christologische Exegese der Bergpredigt ZNT 24 (12. Jg. 2009) 33 Ja, antwortet eine Tradition der augustinischen Exegese, alle potentiellen Nachfolger Jesu Christi werden durch die Bergpredigt verurteilt. Es geht ihr darum, uns unsere völlige Verderbtheit und unseren Ungehorsam gegenüber dem Willen Gottes zu enthüllen und uns zu zwingen, uns auf das gnädige Erbarmen Gottes zu werfen. 7 Diese Anwendung des Gesetzes ist eine Vorbereitung auf das Evangelium. Für Martin Luther und andere reformatorische Ausleger spielt die Bergpredigt die rhetorische Rolle von Röm 1,18-3,20, nämlich die einer perfekten und ausnahmslosen Anklage der ganzen Menschheit vor Gott. Nein, antwortet eine andere Tradition, diese Gebote waren nie für alle gedacht, sondern nur für die, die ein Leben vollständigen Verzichts auf sich nehmen können 8 (vgl. Thomas von Aquin, Summa 2,1 qu.10 art.4, wo dieser doppelte Standard klar artikuliert wird). Manche Exegeten sehen in der Geschichte vom reichen Jüngling, der sich von der Nachfolge Jesu abwandte, eine Stütze dieser Position. Jesus hatte zu dem Mann gesagt: »Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben und komm, folge mir! « (Mt 19,21). Eine Andeutung dieser Tendenz findet sich schon in der Didache, einer frühchristlichen Schrift, die kurz nach Matthäus und ebenfalls irgendwo in Syrien erschienen sein könnte. In 6,2 heißt es dort: »Wenn du fähig bist, das ganze Joch des Herrn zu tragen, wirst du vollkommen sein; wenn du nicht dazu fähig bist, tu, was du tun kannst.« 9 Eine weitere Tradition vertritt die Auffassung, es sei eine falsche Lektüre, wenn man die Bergpredigt so liest, als fordere sie spezifische Taten des Gehorsams. Jesus sprach nicht von Taten, sondern von inneren Ausrichtungen. Wir »gehorchen«, wenn wir unseren Willen so disziplinieren, dass wir zu solchen Handlungen bereit sind, falls notwendig. 10 Wieder wird auf die Geschichte vom reichen Mann verwiesen, dieses Mal in Verbindung mit dem Rat von 1Tim 6,10, wonach nicht Geld, sondern die Liebe zum Geld die Wurzel alles Bösen ist. Der reiche Mann hätte gerettet werden können, vielleicht sogar mit seinem Reichtum, wenn er es gelernt hätte, sich von seiner unmäßigen Liebe zum Geld zu befreien. Die Antithesen der Bergpredigt richten sich auf unseren inneren Zustand, wie es in Ps 51,6 heißt: »Du begehrst Weisheit im Inneren.« Das war die Ansicht Abaelards und in neuerer Zeit von Wilhelm Herrmann (der sowohl Barths wie Bultmanns Lehrer war) und E.F. Scott. Martin Dibelius hat diese Position folgendermaßen zusammengefasst: Die Bergpredigt »verlangt nicht von uns, dass wir etwas tun, sondern dass wir etwas sind.« 11 Dass Reinhold Niebuhr die Bergpredigt als absolute Ethik behandelte, zeigt das folgende Zitat aus Christianity and Power Politics: »Die Anweisungen ›Leiste dem Bösen keinen Widerstand‹, ›Liebe deine Feinde‹, ›Wenn ihr die liebt, die euch lieben, was für einen Dank habt ihr dafür? ‹, ›Sorgt euch nicht um euer Leben‹ und ›Seid deshalb vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist‹ gehören alle zusammen und sind kompromisslos und absolut.« 12 Dr. A. Katherine Grieb ist seit 1994 Professorin für Neues Testament am Virginia Theological Seminary / USA. Von 1992-1994 lehrte sie am Bangor Theological Seminary in Maine / USA. Neben ihrer akademischen Tätigkeit ist sie außerdem ordinierte Pfarrerin der Diözese von Washington. Regelmäßig unterrichtet sie zudem an der Servant Leadership School of the Church oft the Savior und am Cathedral College of Washington National Cathedral. Katherine Grieb war außerdem eine der sieben in den USA durch den amtierenden Bischof angefragten TheologInnen, die die Schrift »To set our hope on Christ« als Antwort auf den Windsor Report verfassten. Veröffentlichte Monographien: The Story of Romans. A Narrative Defense of God’s Righteousness, Westminster 2002. Zurzeit verfasst Katherine Grieb ein Buch zum Hebräerbrief sowie ein Buch zur Bergpredigt. Für weitere Informationen: www.vts.edu/ podium/ default.aspx? t=105591. A. Katherine Grieb 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 33 Zum Thema 34 ZNT 24 (12. Jg. 2009) Seine eigene Lösung des Problems findet sich in seinem Essay »Die Relevanz eines unmöglichen ethischen Ideals«, einem Kapitel in seinem Buch An Interpretation of Christian Ethics. 13 Hier erklärt Niebuhr, dass die prophetische Ethik Jesu über die Forderungen eines rationalen Universalismus hinausgeht. Sie stellt eine »unmöglichere Möglichkeit« dar als der Universalismus der Stoa. »Der Glaube, der das Liebesgebot als eine einfache Möglichkeit und nicht als eine unmögliche Möglichkeit ansieht, wurzelt in einer fehlerhaften Analyse der menschlichen Natur«, denn das menschliche Wesen bleibt ein begrenztes Geschöpf. »Jesus erhob also Forderungen an den menschlichen Geist, die kein begrenzter Mensch erfüllen kann.« 14 Die Bergpredigt führt uns damit zur »Buße, dem Tor zum Reich Gottes.« Aus der Verzweiflung entsteht Glauben. Niebuhr liest die Bergpredigt in Verbindung mit Röm 7,19: »Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.« Diese sehr knappe Skizze traditioneller augustinischer Lektürestrategien legt nahe, dass der größte Teil der Auslegungsgeschichte der Bergpredigt die Geschichte von Versuchen ist, wenn möglich, sie loszuwerden oder sie wenigstens irgendwie zu isolieren, so dass sie in der Theorie geschätzt und geehrt werden kann, dass man ihr aber aus dem einen oder anderen Grund nicht gehorchen muss. Die bemerkenswerte Ausnahme von diesem Muster innerhalb der augustinischen Tradition ist Dietrich Bonhoeffer. Bonhoeffer übernahm den Ausdruck von Reinhold Niebuhr und stellte ihn auf den Kopf, als er von »der unmöglichen Möglichkeit« eines einfachen Gehorsams gegenüber Gottes »Mandaten« sprach, aber es ist auch hilfreich, sein Denken mit Barth in Verbindung zu bringen. Andreas Pangritz stellt in »Karl Barth in der Theologie Dietrich Bonhoeffers« die These auf, die theologischen Unterschiede zwischen Barth und Bonhoeffer seien übertrieben worden. 15 Bonhoeffers Nachfolge basiert auf Vorlesungen, die er in Finkenwalde zwischen 1935 und 1937 gehalten hat. Sie beinhalten einen umfangreichen Kommentar zur Bergpredigt mit keinem oder geringem Bezug zur Philologie oder zu den üblichen Gegenständen historischer Kritik. Jesus spricht in der Bergpredigt direkt zu jedem Jünger oder vielleicht zu jedem moralisch handelnden Wesen mit Anweisungen, die ebenso eindeutig wie nicht verhandelbar sind. Bonhoeffer fürchtete, die Interpretation der Bergpredigt könne ein Ersatz dafür werden, sie zu tun: »Wer mit Jesu Wort irgendanders umgeht als durchs Tun, gibt Jesus unrecht, sagt Nein zur Bergpredigt, tut sein Wort nicht. Alles Fragen, Problematisieren und Deuten ist Nichttun.« 16 In seinem Kapitel »Der einfältige Gehorsam« erzählt Bonhoeffer ein Gleichnis: Wenn in anderen Lebensbereichen Anordnungen ausgegeben werden, gibt es überhaupt keinen Zweifel an ihrer Bedeutung. Wenn ein Vater seinen Sohn ins Bett schickt, weiß der Junge sofort, was er zu tun hat. Aber nehmen wir an, er hat ein paar Brocken Pseudo-Theologie aufgeschnappt. In diesem Fall würde er mehr oder weniger so argumentieren: »Der Vater sagt: Geh ins Bett. Er meint, du bist müde; er will nicht, dass ich müde bin. Ich kann über meine Müdigkeit auch hinwegkommen, indem ich spielen gehe. Also, der Vater sagt zwar, Geh ins Bett! , er meint aber eigentlich: Geh spielen. Mit einer solchen Argumentation würde das Kind beim Vater, würde der Bürger bei der Obrigkeit auf eine sehr unmißverständliche Sprache stoßen, nämlich auf Strafe. Nur dem Befehl Jesu gegenüber soll das anders sein. [...] Wie ist das möglich? « 17 In seiner Ethik schreibt Bonhoeffer: »Die Bergpredigt ist dazu da, daß sie getan wird (Mat. 7,24ff.). Im Tun allein geschieht die Unterwerfung unter Gottes Willen.« 18 Bethge erläutert, Bonhoeffer habe vor seinen Studien in den Vereinigten Staaten im Jahr 1932 die Bergpredigt auf eine der traditionell »lutherischen« Weisen gelesen, nämlich, dass ein wörtliches Verständnis bedeute, sie zu einem Gesetz zu machen, und dass in Christus das Gesetz aufgehoben sei. Später las Bonhoeffer die Bergpredigt zwar immer noch christologisch, aber er hatte sich von einer Gesetz-Evangelium- Hermeneutik zu einer Kreuzestheologie bewegt. Man muss »Jesus nachfolgen« durch »Gemeinschaft mit dem Gekreuzigten«. Es ist das Kreuz, das einen dazu befähigt, die Bergpredigt »zu tun«. 19 Zu Jesu Verbot des Schwörens sagt Bonhoeffer: 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 34 A. Katherine Grieb »Lebendige Gerechtigkeit«: Karl Barths christologische Exegese der Bergpredigt ZNT 24 (12. Jg. 2009) 35 »Das Kreuz ist Gottes Wahrheit über uns, und deshalb ist es die einzige Macht, die uns wahrhaftig machen kann. Wenn wir das Kreuz kennen, haben wir keine Angst vor der Wahrheit. Wir brauchen keine Eide mehr, um unsere Äußerungen zu bekräftigen, denn wir leben in der absoluten Wahrheit Gottes.« Was Jesu Wort über den Widerstandsverzicht betrifft, so ist das Kreuz die einzige Rechtfertigung für diese Vorschrift, denn das Kreuz allein macht einen Glauben an den Sieg über das Böse möglich, der jemanden befähigen kann, diese Anordnung zu befolgen. Ebenso bringt uns die Feindesliebe auf dem Weg des Kreuzes voran und in Gemeinschaft mit dem Gekreuzigten, weil wir dort sicher sind, dass die Liebe über den Hass des Feindes siegt. 20 Die Eindeutigkeit der göttlichen Entscheidung: Barth und die Bergpredigt Barth hielt Vorlesungen zur Bergpredigt in Göttingen im Sommer 1925 und in Bonn während des Winters 1933 / 34. 21 Im Unterschied zu Bonhoeffer hat er nie eine Abhandlung über sie geschrieben, allerdings gibt es zahlreiche Bezugnahmen auf sie in seiner »Ethik« und besonders in der »Kirchlichen Dogmatik«. Die längste umfasst etwa 16 Seiten Kleindruck in Band II / 2, 766-782. Barth überschreibt § 38 mit »Das Gebot als Gottes Entscheidung«. Im zweiten Unterabschnitt, »Die Bestimmtheit der göttlichen Entscheidung«, finden wir Barths Diskussion der Bergpredigt. Im vorangehenden Kontext hat Barth Gottes Gnadenerweis uns gegenüber in Jesus Christus als einen totalen göttlichen Anspruch auf unseren Gehorsam und eine totale Entscheidung bezüglich gut und böse bei der Wahl unserer Entscheidungen erläutert (Gottes Souveränität). Er besteht darauf, dass die ganze Bibel voll von Ethik ist, aber wir sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht, wenn wir »allgemeine Grundsätze« suchen, die es dort nicht gibt (750). Das Thema der Bibel ist nicht die Proklamation ethischer Prinzipien, ob uns das passt oder nicht (759). Tatsächlich ist das, was wir in den Zehn Geboten und in der Bergpredigt vor uns haben, eine Zusammenfassung oder Sammlung früherer spezifischer Gebote Gottes. Diese Zusammenfassungen oder Sammlungen zielen nicht darauf ab, die Eindeutigkeit, mit der Gott spezifische konkrete Gebote gibt, zu trüben. Stattdessen sollten wir eher sagen, dass sie eine verdichtete Form des göttlichen Gebotes darstellen, wie wenn mehrere Lichtstrahlen durch eine Linse gebündelt oder mehrere Drähte zu einem Kabel verbunden werden (760f.). Hier beginnt Barth den ausgedehnten Exkurs in Kleindruck. Auf den ersten paar Seiten behandelt er die Zehn Gebote und wendet sich dann auf S. 766ff. der Bergpredigt zu. Auf diesen Seiten finden sich mehrere wichtige exegetische Schritte, die darauf hinauslaufen, unsere Lesart der Bergpredigt von der Reihung allgemeiner Regeln oder Prinzipien, die wir vielleicht erwartet haben, in die verdichtete Form des göttlichen Gebots zu transformieren, die er kurz zuvor beschrieben hat. Barths Lesart der Bergpredigt im Gespräch mit anderen biblischen Texten Das ist für Leser der Bergpredigt kein unerwarteter Schritt. Die Bergpredigt wurde von Thomas von Aquin und anderen in Verbindung mit der Geschichte vom reichen Mann und mit Jesu Wort an ihn (»Wenn du vollkommen sein willst ...«) gelesen, um sie auf Ratschläge zur Vollkommenheit für diejenigen zu beschränken, die eine besondere Berufung haben. Abaelard, Herrmann und Dibelius lasen die Bergpredigt mit Ps 51,6 (»Du begehrst Weisheit im Inneren«) oder ähnlichen Texten zusammen, um sie als die Empfehlung von Haltungen statt von Handlungen zu sehen. Niebuhr las die Bergpredigt in Verbindung mit Röm 7,19: »Ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich«, einem Wort, das die Annahme, man könne ihre Gebote nicht erfüllen, unterstützte. Welche anderen biblischen Texte bringt Barth in Verbindung mit der Bergpredigt und warum? Der wichtigste intertextuelle Schritt, den Barth bei der Bergpredigt geht, ist, sie neben den Deka- »Der wichtigste intertextuelle Schritt, den Barth bei der Bergpredigt geht, ist, sie neben den Dekalog zu stellen.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 35 Zum Thema 36 ZNT 24 (12. Jg. 2009) log zu stellen. Hier folgt er Matthäus, der schon früher im Evangelium eine Jesus-Mose-Typologie erstellt hat und sie hier fortführt, indem er Jesus als den neuen Mose zeigt, der den Berg hinaufgeht und uns die Gebote gibt. Indem er Ex 20 neben Mt 5-7 stellt, widmet sich Barth der Frage nach der literarischen Gattung und dem theologischen Zweck dieser Texte als Sammlungen oder Zusammenfassungen der Gebote Gottes. Barth nimmt hier auch einen exegetischen Kontext für die Bergpredigt an: in diesem Fall die Erfüllung des Bundes der Gnade in Jesus Christus. Röm 10,4 scheint im Hintergrund zu stehen, wenn Barth sagt: »Jesus ist selber das Reich des neuen Menschen […] Indem die Bergpredigt von diesem dreimal Einen redet, redet sie von der Vollendung des Gnadenbundes und damit vom Telos des Gesetzes, der Zehn Gebote« (768). Es ist nicht überraschend, dass Barth einen alternativen Schrifttext benutzt, um der Diskussion einen neuen christologischen Rahmen zu geben: Es sind Jesus Christus, die Herrschaft Gottes, die neue Menschheit, alle drei, auf die das Gesetz letztlich abzielt. Im Folgenden führt Barth ein Wort aus Joh 15 an, um eine weitere christologische Realität zu unterstreichen: »Ohne mich könnt ihr nichts tun«. Dieses Wort dient dazu, die Behandlung des Gebets in der Bergpredigt und das Vaterunser einzuführen. Es ist wichtig wahrzunehmen, dass Barth nicht andere biblische Texte mit der Bergpredigt ins Gespräch bringt, um ihre Autorität oder ihren Skopus zu beschränken. Genau das tun viele seiner exegetischen Vorläufer. Stattdessen benutzt er andere biblische Texte, um seine christologische Lesart der Passage zu stützen. »Wie ein gebotenes Schachmatt«: Realität und Illusion in Barths Lesart der Bergpredigt Barth besteht darauf, dass die Bergpredigt wie jeder andere biblische Text im Licht ihres Kontexts gelesen werden muss, das heißt in einer besonderen Verbindung mit dem Thema der Herrschaft Gottes, wie sie in der Person Jesu Christi als Erfüllung der alttestamentlichen Prophetie gekommen ist. Jetzt ist es Jesus selbst, der die Sphäre definiert, in der er bei denen gegenwärtig ist, die er ruft. Die Ordnung, die das Leben des Volkes Gottes bestimmt - denn die Bergpredigt ist genau dies, indem sie die Zehn Gebote und den Rest des Gesetzes wiederholt und bestätigt - ist jetzt durch Gott in Christus zur Rettung der Menschen erfüllt (767). Selbst wenn die Bergpredigt sich mit Problemen des menschlichen Lebens zu beschäftigen scheint (Ehe, Schwören, Almosengeben, Beten und Fasten), ist das also nur nebensächlich und dient der Illustration - das ist der Grund, warum es sich immer als unmöglich erwiesen hat, aus diesen Wegweisungen ein Bild des christlichen Lebens zu erstellen. Das Bild, das sie anbieten, ist das Bild des Einen, der diese Wegweisungen gibt, und des anderen, der sie empfängt. Das Bild zeigt Gottes Herrschaft, Jesus Christus und die neue menschliche Schöpfung. Die Wegweisungen der Bergpredigt verweisen wie die Zehn Gebote auf das, was Gott in Jesus Christus getan hat und tut (768). Deshalb kann Barth sagen: »Wenn die Zehn Gebote sagen, wo der Mensch vor Gott und mit Gott stehen darf und soll, so sagt die Bergpredigt, daß er durch Gottes Tat wirklich dorthin gestellt ist. Wenn die Zehn Gebote eine Vorschrift sind, so ist die Bergpredigt gewissermaßen eine Nachschrift und Abschrift« (768). Die einzige Frage ist jetzt, ob die Kirche in der Fülle des Lebens, die ihr schon gewährt ist, lebt. Die Bergpredigt erklärt: Gott hat unwiderruflich und unauflöslich die Herrschaft seiner Gnade aufgerichtet, »das Reich, das als solches allen jenen anderen Machtbereichen überlegen ist, dem sie trotz ihres Widerstreites angehören und auch dienen müssen« (769). Barth bietet einen Vergleich: Es ist »vergleichbar einem schon gebotenen Schach-Matt [in einem Schachspiel, in dem ein Spieler praktisch gewonnen hat], nach welchem sich dann der geschlagene Gegner, wenn er nicht verständig genug ist, das zu unterlassen, noch einige Minuten überlegen mag, ob da wirklich gar keine Rettung mehr vorhanden sein möchte. Sofern dieser Unverstand des schon geschlagenen Gegners allerdings Tatsache ist, scheint die Partie noch weiter gehen zu wollen und zu 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 36 A. Katherine Grieb »Lebendige Gerechtigkeit«: Karl Barths christologische Exegese der Bergpredigt ZNT 24 (12. Jg. 2009) 37 können, scheint das Himmelreich noch nicht gekommen, erst nahe herbeigekommen zu sein, scheint es erst als Zukunft im Lebensraum des Menschen zu stehen. Diesem allerdings gewaltigen und folgenschweren Schein trägt die Bergpredigt (Matth. 5,4f.) damit Rechnung, daß sie von den Trauernden sagt: sie werden getröstet werden, von den Sanftmütigen: sie werden das Land besitzen, von den nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden: sie werden satt werden usw. Daß dieser Schein ein bloßer Schein ist, bezeugt sie (5,3,10) damit, daß sie das Entscheidende und Übergreifende nicht im Futurum, sondern im Praesens sagt, von den geistlich Armen: ihrer ist das Himmelreich und wieder von den um der Gerechtigkeit willen Verfolgten: ihrer ist das Himmelreich. [...] Indem sie hoffen auf das, was ihnen durch die Verkündigung verheißen wird, haben sie es schon. Indem sie begriffen haben, daß das Himmelreich in ihre direkte Nachbarschaft gerückt ist, sind sie schon berufen zu seinen Bürgern« (769). Was Barth hier tut, ist bemerkenswert. Realität wird definiert als das, was Gott in Jesus Christus schon gewonnen hat, während Illusion die temporäre Blindheit oder Verwirrung ist, durch die wir Menschen und alle anderen Widerstand leistenden Mächte nicht sehen können, dass das Schachspiel eigentlich schon vorbei ist. Es stehen nur noch ein oder zwei Züge aus, und das Ergebnis ist in Gottes gnädiger Bundesliebe festgelegt. Die Seligpreisungen legen von dieser Realität Zeugnis ab und rufen uns dazu auf, sie zu feiern, indem wir in die Herrschaft Gottes hineinleben. Der andere bemerkenswerte Aspekt von Barths Exegese ist seine Personifikation der Bergpredigt, fast als wäre sie ein Handlungsträger in der Geschichte. Die Bergpredigt »sagt«, dass Gottes gnädige Herrschaft begonnen hat; sie »rechnet« mit der Macht der Illusion, dass diese Herrschaft noch nicht angekommen ist; sie »bezeugt«, dass dieser Anschein in Wirklichkeit nur eine Illusion ist. Während das Matthäusevangelium wenig Anhaltspunkte für dieses hermeneutische Mittel enthält, könnte Barth bewusst den Apostel Paulus nachahmen, der die Schrift an Schlüsselstellen seiner Argumentation ebenfalls personifiziert und sogar einen Handlungsträger erfindet (»die Glaubensgerechtigkeit»), dem erlaubt wird, seine eigene Interpretation der Tora zu geben. Vielleicht war gerade die hohe Konzentration des Wortes »Gerechtigkeit« im Paulusbrief an die Römer und im Matthäusevangelium der Grund dafür, dass Barth die Verbindung von Matthäus zu Paulus hergestellt hat. »Die Gnade verfügt selbst darüber, was in ihrem Bereich ordentlich ist«: Die »anstrengenden Gebote« der Bergpredigt Barth weicht der hermeneutischen Frage nicht aus, die für so viele Versuche verantwortlich ist, die Bergpredigt in der Theorie zu ehren, in der Praxis aber zu umgehen: nämlich die scheinbare Unmöglichkeit, ihre Gebote in normalen Lebenssituationen zu erfüllen. Was soll man mit den »anstrengenden Geboten«, wie Harvey sie genannt hat, tun, den rigorosen Vorschriften, jedem, der bittet, zu geben, sich dem Bösen nicht zu widersetzen, seine Feinde zu lieben, keine unwillkommenen sexuellen Gedanken zu haben? Barth schreibt dazu: »Man hat gelegentlich etwas zu laut und zu sicher gesagt, daß die in jenen Beispielen 5,21-48 formulierten Radikalisierungen des alttestamentlichen Gesetzes nicht gesetzlich, d.h. nicht als buchstäblich von uns zu erfüllende Vorschriften gemeint und zu verstehen seien. Es war doch gut, daß es zu allen Zeiten auch immer wieder sogenannte Schwärmer gegeben hat, die jene Forderungen und die der ganzen Bergpredigt nun gerade als buchstäblich zu erfüllendes Gesetz verstanden haben. Denn es ist wohl wahr, daß es sich hier nur um Beispiele handelt. Es ist aber nicht minder wahr, daß an diesen Beispielen klar gemacht werden soll, daß gerade die Gnade Jesu Christi, die Gnade des nahe herbeigekommenen Himmelreichs den ganzen Menschen ganz in Anspruch nimmt. Es ist auch wahr, daß der, der das so verstandene Gesetz wirklich erfüllt, Jesus ganz allein ist [...]. Die Beunruhigung, die von dieser Tatsache ausgeht, ist real und darf nicht wegdiskutiert werden. Wie könnte der mit Jesus beten, der sich dieser Beunruhigung verschlösse oder der sich so mit ihr auseinanderzusetzen wüßte, daß sie für ihn keine Beunruhigung mehr wäre? Diese Forderungen weisen in ihren Spitzen - nochmals: wie sollte es anders sein? - auf außerordentliche Möglichkeiten hin. Es wäre nicht gut, auch nur eine von ihnen und wäre es die vom Ausreißen des Auges und vom Abhauen der rechten Hand (5,29) [...] unter Berufung darauf als für uns Andere ungültig zu erklären, daß sie nun eben durch Jesus erfüllt, von uns also nicht mehr zu erfüllen sei, daß wir 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 37 Zum Thema 38 ZNT 24 (12. Jg. 2009) hier nur zu lesen oder zu hören hätten, wie groß unser Abstand von Jesus und unsere Sündhaftigkeit sei. Allzuviel auch in der übrigen Bergpredigt und im ganzen übrigen Evangelium könnte nach dieser Regel und Auskunft praktisch ebenfalls unter den Tisch fallen! [...] [D]iese Forderungen [...] nehmen [...] uns [...] als Sünder - aber eben als solche, für die Jesus betet und die er zum Beten mit ihm auffordert - in Anspruch. Sie wollen den Gehorsam der Ungehorsamen, dem sich diese mit keiner Berufung auf das Maß und die Schranken ihres Könnens entziehen können. Das Maß ihres Könnens ist in dem Augenblick eine uninteressante Frage, wo wirklich das, was Jesus der Herr an ihrer Stelle kann und tut, in die Mitte des Bildes getreten ist, dem sich auch ihr eigenes Lebensbild einzuordnen hat. Gerade mit der Gnade Gottes läßt sich nicht scherzen: als ob das Außerordentliche, das uns in ihr gegeben ist, nun auf einmal doch nur nach unserem Maßstab ordentliche Konsequenzen haben dürfte. Was in ihrem Bereiche ordentlich ist, darüber verfügt sie selbst. Und so muß man es sich wohl gefallen lassen, daß mit jenen Forderungen - ob ihre Erfüllung uns möglich oder unmöglich erscheint - Handlungsweisen bezeichnet werden, die für den, der die Worte Jesu hören und tun will, auch in ihrem buchstäblichen Sinn möglich und notwendig werden könnten«. 22 Barths Worte sind für jeden ernüchternd, der über die gegenwärtige Fixierung exegetischer und homiletischer Kreise auf das Phänomen »schwieriger Texte« in der Bibel nachdenkt. Natürlich kann ein Text auf verschiedene Weisen für »schwierig« gehalten werden, die zu unterscheiden sich lohnt: (1) Er kann begrifflich schwer zu verstehen sein: Was meint er? (2) Er kann schwer als Gottes Wort zu verstehen sein (Texte, die offensichtlich unsensibel, faktisch falsch oder entstellt, naiv oder blind, vielleicht sogar grausam sind). (3) Er kann schwer zu verstehen sein im Sinne von kontraintuitiv, nicht vernünftig: Kann der Text wirklich so etwas intendieren? (4) Er kann in unserer Vorstellung schwer zu leben oder zu verkörpern sein: Ist eine solche Empfehlung möglich? Ist sie weise? Und (5) kann er wie eine Last schwer zu tragen sein: Die empfohlene Handlung kann ein Ruf sein, auf dem Weg des Kreuzes zu gehen, der viel kostet oder sogar Angst macht. Einige dieser heuristischen Unterscheidungen dürften wohl zusammenfallen, wenn sie praktisch angewendet werden, aber es ist bereits klar, dass es in der Bergpredigt Beispiele für alle gibt. Auf jeder Ebene der Diskussion wird das Gebet wichtig sein, wie Barth deutlich macht. Unerwartete Kraft könnte zur Verfügung stehen, sowohl für das Verstehen wie für das Leisten dessen, was beim ersten Lesen schwierig oder unmöglich scheint. »Lebendige Gerechtigkeit«: Ein Unterschied zwischen den christologischen Lesarten Barths und Bonhoeffers Sowohl Barth wie Bonhoeffer weigern sich hartnäckig, die radikalen Forderungen der Bergpredigt aufzuheben. Barth versichert, dass Bonhoeffer mit den Kosten der Jüngerschaft Recht hatte, selbst wenn er Bonhoeffers Exegese der Bergpredigt nicht folgen will. Beide Theologen »lösen« die hermeneutischen Herausforderungen der Bergpredigt christologisch, aber auf verschiedene Weise: Bonhoeffer verweist auf den Gekreuzigten als den, der im Unterschied zu den Schriftgelehrten exousia, »Autorität« hat (Mt 7,29). Barth verweist zwar ebenfalls auf die »Autorität« Jesu Christi, macht sie aber am Herr-Sein Christi fest. In einem anderen Teil der Kirchlichen Dogmatik II / 2 (»Der Inhalt des göttlichen Anspruchs«) expliziert Barth dieses Fundament: »›Und wo ich bin, da wird mein Diener auch sein.‹ Man kann nicht bei Jesus sein, ohne daß man mit Notwendigkeit in das mit diesen Forderungen angedeutete Geschehen hineingerufen und hineingezogen wird. [...] Diese seine Knechtschaft ist darum seine Herrschaft, weil er eben in ihr mit seinem Gehorsam die Gnade Gottes lebt und verkündigt. Eben damit hat er ›Vollmacht‹ (dynamis), redet er nicht wie die Schriftgelehrten (Matth. 7,29), ist seine Lehre keine Lebenskunde und kein Weltverbesserungsprogramm und ist sein Leben kein Vorbild zu deren Ausführung, sondern schlechterdings das Ereignis des göttlichen Handelns am Menschen, kann man also nicht bei ihm sein, um je nachdem dies und das von ihm zu lernen und anzunehmen, das nicht Konvenierende aber auf sich beruhen zu lassen« (633). »Sowohl Barth wie Bonhoeffer weigern sich hartnäckig, die radikalen Forderungen der Bergpredigt aufzuheben.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 38 A. Katherine Grieb »Lebendige Gerechtigkeit«: Karl Barths christologische Exegese der Bergpredigt ZNT 24 (12. Jg. 2009) 39 Wenn Barth von »lebendiger Gerechtigkeit« spricht, scheint er eine doppelte Bedeutung im Sinn zu haben: die Auferstehung und rehabilitierte Gerechtigkeit Jesu Christi und die Gerechtigkeit, die von denen verlangt wird, die infolge ihrer Taufe »in Christus« leben. Einerseits kann Barth sagen: »Die Gerechtigkeit, die die Bergpredigt fordert, ist [...] von dem, der sie fordert, nicht zu trennen. Sie ist seine Gerechtigkeit [...]. [E]r, dieser Eine, [ist] selber die von ihm geforderte Gerechtigkeit« (773f.) (»der das Gebot verkörpernde Gebieter« 771). Auf der anderen Seite kann er auch sagen: »Und nun sagt die Bergpredigt als Anzeige des neuen Menschen als solchen Folgendes: Es ist der neue Mensch eben damit ins Leben gerufen, daß ihm durch Jesus das Wort von der besseren Gerechtigkeit, der Gerechtigkeit des Reiches als das Wort der ihm zugewendeten Gnade Gottes zugerufen wird.« (774). »So ist die Gnade dieses Wortes selbst die dem Menschen widerfahrende und vom Menschen zu betätigende Gerechtigkeit [...] und sie ist darum (6,33) die Gerechtigkeit des Reiches, weil sie unmittelbar in der Tat und Gabe des Gesetzgebers und Richters selbst besteht, weil sie von ihm machtvoll geschaffen und verliehen, die wirkliche Lebensgerechtigkeit derer ist, denen er sie zusagt« (772). Schluss: Auf die »lebendige Gerechtigkeit« Christi bauen Die Bergpredigt endet mit dem Gleichnis, das die Frage nach Gehorsam oder Ungehorsam dramatisch formuliert: Wer immer »diese meine Worte« hört und sie tut, gleicht dem weisen Menschen, der auf Fels gebaut hat; dieser Fels bleibt mitten in den Fluten und Stürmen stehen; aber wer immer »diese meine Worte« hört, ohne sie zu tun, gleicht dem Narren, der ein Haus auf Sand gebaut hat - und in Zeiten der Unruhe war sein Fall groß. Dieses Gleichnis ist der logische Ausgangspunkt für abschließende Beobachtungen zu der Frage, warum Barths theologische Exegese für gegenwärtige Studien zur Bergpredigt wichtig bleibt. In diesem Aufsatz habe ich die Aufmerksamkeit auf mehrere unverwechselbare Aspekte der theologischen Exegese der Bergpredigt durch Karl Barth gelenkt. Für Barth besteht »die Eindeutigkeit der göttlichen Entscheidung« nicht nur in ihrer historischen und personalen Ausprägung (spezifische Gebote an individuelle Personen in den besonderen Umständen ihrer Geschichte), sondern auch in ihrer Unmissverständlichkeit und Konkretion, sowohl für die, die das Gebot zuerst gehört haben, wie auch für uns, an die es nicht direkt gerichtet ist. Es gibt jedoch einige biblische Kontexte, in denen das Gebot die Form allgemeiner Regeln annimmt, wie die Zehn Gebote und die Bergpredigt. Barths Entscheidung, diese biblischen Abschnitte zusammen zu lesen, folgt nicht nur der matthäischen Jesus-Mose-Typologie, sondern berücksichtigt auch die literarische Gattung der Texte selbst. Sie sind verdichtete Formen des göttlichen Gebots, wie wenn mehrere Lichtstrahlen durch eine Linse gebündelt oder mehrere Drähte verbunden werden, um ein Kabel zu bilden. Im Unterschied zu vielen seiner exegetischen Vorläufer verbindet Barth die Bergpredigt nicht mit einem anderen Bibeltext, um ihre Ansprüche zu unterlaufen, sondern um seine christologische Lesart des Abschnitts zu stützen. Barth beschreibt die rhetorische Situation der Bergpredigt als »ein gebotenes Schachmatt«, wo auf der Seite der Leser / innen ein klares Urteilsvermögen nötig ist, um zu erkennen, dass das Spiel tatsächlich vorbei ist: Die Gottesherrschaft ist da. Barths Entscheidung, die Situation in den Begriffen von Realität oder Illusion zu formulieren, passt zur Aussage des abschließenden Gleichnisses: Baue dein Haus auf feste Realität statt auf Selbsttäuschung. Die Seligpreisungen, die zusammen mit diesem Gleichnis die Bergpredigt rahmen, bezeugen sowohl die fatale Anziehungskraft der Illusion als auch die ihr bestimmte Vernichtung: Die wahrhaft Glücklichen sind die, die scheinbar ihre Energie verschwenden, indem sie Pfähle in den harten Fels treiben, wo doch der weiche Sand so viel leichter zu bearbeiten wäre. Wo ist die Weisheit zu finden? Barths christologische Lesart der Bergpredigt passt zu Matthäus’ eigener Beschreibung der Leichtigkeit »Barth beschreibt die rhetorische Situation der Bergpredigt als ›ein gebotenes Schachmatt‹ …« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 39 Zum Thema 40 ZNT 24 (12. Jg. 2009) dieses Jochs und dieser Last. Und wenn die »anstrengenden Gebote« und die »schwierigen Texte« unrealistisch oder sogar unmöglich erscheinen, warnt uns Barth davor, im Voraus zu entscheiden, dass das übernatürliche Leben, das die Gnade vermittelt, nur natürliche Folgen haben kann. Da »die Gnade selbst darüber verfügt, was in ihrem Bereich ordentlich ist«, wird die gefühlte Begrenztheit unserer Fähigkeit zu gehorchen irrelevant und das Gebet Pflicht. Aber der Ruf zum Gehorsam wird nicht durch die Autorität »des Gekreuzigten« gerechtfertigt, wie Bonhoeffer das sieht. Für Barth beruht die Autorität des Gebots auf dem »Herr-Sein Christi«, dem Gebieter, der das Gebot verkörpert, der »lebendigen Gerechtigkeit« des Wortes Gottes (»er lebt! «). Schließlich ist die Entscheidung, worauf wir unser Leben bauen, eine Entscheidung für Gottes eigene Gerechtigkeit, die sich im Anbruch von Gottes gnädiger Herrschaft zeigt, im Tod und der Auferstehung Jesu Christi, in der Erneuerung der menschlichen Schöpfung. Oder, um Barth zu paraphrasieren: »Uns selbst überlassen, würden wir sicher das Heilige den Hunden geben zugunsten eines Systems von Gesetz oder Gesetzlosigkeit. Unsere Dankbarkeit würde sich sofort in Undankbarkeit verwandeln. Die Güte unserer Taten würde sofort verschwinden. [Wie unser Herr sagt,] ›Ohne mich könnt ihr nichts tun‹«. Der Beitrag wurde übersetzt von Prof. Dr. Thomas Schmeller / Frankfurt a.M. Anmerkungen 1 Vgl. A.K. Grieb, Last Things First: Karl Barth’s Theological Exegesis of 1 Corinthians, in: The Resurrection of the Dead, SJT 56 (2003), 49-64. 2 Vgl. A.K. Grieb, Rezension von Richard E. Burnett, »Karl Barth’s Theological Exegesis: The Hermeneutical Principles of the Römerbrief Period (WUNT II / 145), Tübingen 2001, RBL at SBL Website Fall, 2003. 3 W.S. Kissinger, The Sermon on the Mount: A History of Interpretation and Bibliography, Metuchen 1975, 13. 4 Kissinger, Sermon, 6. 5 A.E. Harvey, Strenuous Commands: The Ethic of Jesus, London 1990, 1. 6 Vgl. Harvey, Ethics, 22. 7 Vgl. Harvey, Ethics, 22. 8 Vgl. Harvey, Ethics, 22. 9 D.C. Allison, The Sermon on the Mount. Inspiring the Moral Imagination, New York 1999, 3. 10 Vgl. Harvey, Ethics, 22. 11 M. Dibelius, The Sermon on the Mount, New York 1940, 137, zitiert nach Allison, 6. 12 R. Niebuhr, Christianity and Power Politics, New York 1940, 8. 13 Vgl. R. Niebuhr, An Interpretation of Christian Ethics, London 1936, 113-145. 14 Niebuhr, Interpretation, 128-9. 15 Vgl. A. Pangritz, Karl Barth in der Theologie Dietrich Bonhoeffers - eine notwendige Klarstellung (Dahlemer Heft 9), Berlin 1989, 58-68. 16 D. Bonhoeffer, Nachfolge (Dietrich Bonhoeffer Werke IV. Taschenbuchausgabe), Gütersloh 3 2008, 191. 17 Bonhoeffer, Nachfolge, 72. K. Barth zitiert dieses Gleichnis in KD IV / 2, 613; in IV / 2, 604 schreibt er zum Ruf in die Nachfolge«: »Mit Abstand das Beste, was dazu geschrieben ist, scheint mir in dem Buch ›Nachfolge‹ von Dietrich Bonhoeffer (1937) vorzuliegen«. 18 D. Bonhoeffer, Ethik, hrsg. v. E. Bethge, München 6 1963, 47. 19 Kissinger, Sermon, 84-86. 20 Vgl. Bonhoeffer, Ethik, 473.475f.476f. 21 Vgl. E. Busch, Karl Barth: His Life from Letters and Autobiographical Texts, übers. v. J. Bowden, Philadelphia 1975, 155.234. 22 K. Barth, KD II / 2, 777f. 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 40