eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 12/24

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2009
1224 Dronsch Strecker Vogel

Die Bergpredigt: Elementarunterricht des Gottessohnes

2009
Ansgar Wucherpfennig
22 ZNT 24 (12. Jg. 2009) Die gewaltigste Rede, die ich kenne Die Bergpredigt ist die erste Rede, die Jesus im Neuen Testament hält. »Die gewaltigste Rede, die ich kenne« 1 hat der Schweizer Dramatiker und Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt über sie gesagt. Keine Frage, in der Bibel, dem Buch der Bücher, ist die Bergpredigt die »Rede der Reden». 2 Wohl kaum eine andere Rede Jesu hat das Profil des Christlichen so geprägt wie die Bergpredigt. Das erstaunt, weil die Bergpredigt alles andere als leicht verdaulich ist. Sie ist keine auf ein »niederschwelliges Angebot« heruntergedrechselte marktfeile Rede eines Gutmenschen. Sie ist eher das Magenbitter, das dem Seher der Offenbarung als das Wort Gottes gereicht wird (Offb 10,10): In seinem Mund ist es vielleicht noch süß, aber in seinem Magen räumt es kräftig auf und reinigt das gesamte Innere. Kompromisslose Sprache Wer würde an Sätzen Jesu wie diesem nicht kräftig zu schlucken haben (Mt 5,29-30): »Wenn dich dein rechtes Auge zum Bösen führt, dann reiß es aus, und wirf es weg! Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird. Und wenn dich deine Hand zum Bösen verführt, dann hau sie ab und wirf sie weg! Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle kommt.« Sicherlich spricht Jesus hier redegewandt in der Form der Hyperbole, der literarischen Übertreibung. Aber diese rhetorische Beschreibung fängt die Wirkung seines Wortes nicht ein. Jesus beobachtet gut. Sein Wort erinnert an Männergruppen auf südländischen Straßen, deren Köpfe wie magisch von einem vorbeilaufenden Frauenrock gelenkt werden. Er spricht vom Auge, dem Wahrnehmungsorgan, und der Hand, dem Organ der Tat. Sein Wort passt zur kompromisslos leiblichen Sprache seiner Rede. Jesus spricht hier von der Versuchung, einer Versuchung, bei der man verweilt, weil sie sich nicht sofort ablegen lässt. Diese Versuchung drängt vom Auge weiter zur Hand. Vom Blick, über den sie in den Leib einfällt, führt die Versuchung zur Tat. Die Versuchung muss unterbrochen werden. Um des Ganzen willen muss man sich von dem Teil trennen, der der Versuchung die Türen öffnet. Man muss auf seinen Teildienst verzichten, um das Ganze des Leibes zu retten. »Es gibt kein Spiel mit der Versuchung, keine Möglichkeit, einem Teil der Versuchung freien Lauf zu lassen, um sie sicher im gewünschten Moment einzufangen und abzubrechen.« So schreibt die Schweizer Mystikerin und Konvertitin Adrienne von Speyr zur Erklärung dieses Wortes. 3 1948 sind ihre Betrachtungen zur Bergpredigt erschienen. In ihren Betrachtungen legt Adrienne von Speyr Wort für Wort der Rede der Reden aus und entdeckt dabei gerade aus nicht-exegetischer Perspektive vieles, was dem eingespurten Blick von Fachleuten entgeht. 4 Einäugige, Einhändige und Leute mit Brett vorm Kopf Die leiblich konkrete Sprache ist auch typisch für den Humor Jesu. Das zeigt ein anderes Wort Jesu in der Bergpredigt (Mt 7,4-5): »Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! - und dabei steckt in deinem Auge ein Balken? Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen.« Jesus verwendet hier ein Bild, das aus der Welt seines eigenen Handwerkerberufs stammt. Zweifellos, der Dichter Jesus hatte Sprachgewalt. Beide Worte wirken wie ein in Worten gemalter Zum Thema Ansgar Wucherpfennig SJ Die Bergpredigt: Elementarunterricht des Gottessohnes »Die leiblich konkrete Sprache ist auch typisch für den Humor Jesu.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 22 Ansgar Wucherpfennig SJ Die Bergpredigt: Elementarunterricht des Gottessohnes ZNT 24 (12. Jg. 2009) 23 Cartoon: Das erste spricht von lauter Einäugigen und Einhändigen, aber in ihrem Herzen sind sie rein geblieben. Deshalb sind sie im Himmelreich. Im zweiten Wort lässt Jesus seine Zuhörer alle mit einem langen Brett vor dem Kopf herumlaufen. Das Bild stammt aus der Welt seines Handwerkerberufes: Die Sünde ist wie eine lange Zimmermannsbohle. Mit ihrer Kurzsichtigkeit würden seine Hörer einen Splitter im Auge des Anderen nur tiefer hereindrücken, anstatt ihn zu entfernen. Jesus zu folgen, bedeutet nicht, dass einem der Balken ein für alle Mal genommen wäre, weil man auf die Sünde aus eigener Kraft verzichtet hätte, sondern meint die ständige Bereitschaft und Übergabe: »sich von Gott noch tiefer ausbrennen und ausschneiden zu lassen«. 5 Die Bergpredigt als Summarium der Lehre Jesu Das sind nur zwei der kraftvollen Worte Jesu in der Bergpredigt. Woher hat diese erste Rede Jesu die Kraft, die sie zur gewaltigsten Rede macht? Die Bergpredigt hat Jesusworte zusammengestellt und zu einer Rede komponiert. Sie geht auf die Kompositionsarbeit des Evangelisten Matthäus zurück. 6 Als Vorlagen haben ihm dabei vor allem das Markusevangelium und andere Quellen von Worten Jesu gedient. Mehr als in den anderen drei Evangelien im Neuen Testament ist Jesus bei Matthäus Lehrer. Nur bei ihm findet sich das Wort davon, dass Jesus der einzige Lehrer ist (Mt 23,8-10): »Ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder.« Jesus verwendet das Zahlwort »eins«. Im Sch e ma Israel, dem dreimal am Tag zu betenden Glaubensbekenntnis, drückt es das jüdische Bekenntnis zum ächad, zum einen Gott Israels aus (Dtn 6,4). Nach den Worten Jesu gilt es nicht nur für den himmlischen Vater, sondern auch für den einzigen Lehrer Christus: »Auch sollt ihr euch nicht Lehrer nennen lassen; denn nur einer ist euer Lehrer, Christus.« Das Matthäusevangelium selbst ist für die christliche Lehre geschrieben. Es richtet sich an Christen, die sich als Erben des Auftrags Jesu an seine Jünger sehen, alle Menschen zu Jüngern - mathētai - Jesu zu machen. So trägt Jesus seinen Jüngern am Ende des Evangeliums auf. 7 Das schriftliche Evangelium des Matthäus war ihnen Erinnerungsstütze, um dem Auftrag Jesu an seine Jünger nachzukommen (Mt 28,20): »Lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe«. Diese erste Rede Jesu in der Bergpredigt war für sie daher der Elementarunterricht in der Lehre Jesu, nicht nur eine vereinzelte Lehre, sondern seine ganze Lehre ursprünglich und in einem Zusammenhang. 8 In der Tat ist sein Elementarunterricht so gewaltig, dass er Menschen weiter in den Bann zieht. Auch Dürrenmatt schreibt von seinem Wunsch, bei seiner Fahrt durch Israel auf den Berg heraufzusteigen, auf dem diese Rede gehalten wurde. Nur in der letzten Sekunde hält ihn etwas zurück: »Und ich kann mir vorstellen, daß ich auf den Berg hinaufgerannt wäre, nur um mir vorstellen zu können: Hier geschah es. Hier hat er geredet.« Was ihn abhält, ist die orthodoxe Kirche, die in Galiläa heute auf dem Berg der Seligpreisungen in das Land schaut. Dürrenmatt steigt nicht mit den Jüngern Jesu herauf. Unten am Fuß des Berges lässt er seinen Freund Tobias weiterfahren. Prof. Dr. Ansgar Wucherpfennig SJ. Geboren 1965. Studium der katholischen Theologie 1986-1991 in Frankfurt Sankt Georgen und Tübingen. 1994-1996 Lizenziat in Bibelwissenschaften am Bibelinstitut in Rom. 1996-2000 Dissertation bei Hans-Josef Klauck in Würzburg (Heracleon Philologus. Gnostische Johannesexegese im zweiten Jahrhundert). 2008 Habilitation in Mainz (Josef der Gerechte. Eine exegetische Untersuchung zu Mt 1-2). Seit 2003 Dozent, seit 2008 Professor für Neues Testament an der Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt Main. Ansgar Wucherpfennig SJ 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 23 Zum Thema 24 ZNT 24 (12. Jg. 2009) »Der Jude Jesus von Nazareth leuchtet mir ein als der Sohn eines Menschen, nicht eines Gottes, wie ich meinem Zweifel zuliebe annehme«, kommentiert Dürrenmatt seinen Zugang. Damit hat er einen verbreiteten Ansatz historischer Erklärungen der Bergpredigt wiedergegeben: All diese Ansätze versuchen, sie als Rede des Juden Jesus zu erklären. Es ist das große Verdienst ihrer Exegese der letzten Jahre, gezeigt zu haben, wie sehr Jesus seine Rede jüdischer Tradition und allen voran der jüdischen Schrift verdankt. Nichts in dieser Rede kann ohne den Juden Jesus erklärt werden. Nichts darin kann nicht als Weiterführung der Lehre verstanden werden, mit der Gott sein Volk durch die Tora und die Propheten unterwiesen hat, und aus der jüdischen Geschichte heraus erklärt sie sich vollständig. Lehre des Gottessohnes Und dennoch: Diese Rede ist von vornherein mit der Absicht der Katechese komponiert und soll nicht ein zufälliges historisches Redeereignis Jesu wiedergeben. Aber bereits das lässt fragen, ob eigentlich das verbreitete krypto-arianische Verständnis ausreicht, das sie bloß als gewaltige Rede des Juden Jesus versteht, wie es Dürrenmatt in seiner Wertschätzung der Bergpredigt bezeugt. 9 Sie ist Teil des Kompendiums, von dem Jesus am Ende des Matthäusevangeliums wünscht, dass darin alle Völker der Welt unterwiesen werden. Ihre Lehre richtet sich an alle Völker, nicht allein wegen ihrer Sprachgewalt, sondern weil Gottes Sohn darin seine Lehre formuliert. Auch ein historisches Verständnis wird dieser Rede nur gerecht, wenn es diesen Anspruch voraussetzt. 10 Die Bergpredigt verlangt gerade für ein historisches Verständnis nach einer theologischen Deutung, und mit theologischer Deutung ist gemeint, dass ein Verständnis zu kurz greift, dass sie nicht als Lehre des Sohnes sieht, der sie im Angesicht des Vaters empfangen hat, als rettende Lehre eines Gesalbten für sein Volk. Jedes Wort Jesu hat daher unbenommen seiner geschichtlich gewordenen Bedeutung eine Relevanz und Kraft für das Heute. Die Auslegung der Bergpredigt muss Menschen verändern und zu Jüngern Jesu machen, auch heute. Das ist ihr Kriterium. Papst Benedikt hat deshalb in seinem Jesusbuch geschrieben, dass die Geschichte der Heiligen eine lebendige Auslegung der Bergpredigt sei: »Die Heiligen sind die wahren Ausleger der Heiligen Schrift.« 11 Der Papst selbst hat der Bergpredigt in diesem Sinn weite Teile seines Jesusbuches gewidmet. 12 Adrienne von Speyrs Betrachtungen von 1948 folgen genau diesem Anspruch der Bergpredigt als wirkmächtigem Wort des Gottessohnes. Ganz ähnlich wie Papst Benedikt schreibt sie zu Beginn ihrer Auslegung: »Je mehr eines seiner Worte gebraucht, benützt worden ist, je mehr ihm nachgelebt wurde, desto mehr Kraft ist ihm geblieben in uns, weil die, die das Wort aufnahmen und in sich lebendig werden ließen, es lebendig zu uns herübergetragen haben. Es bildete sich wie eine Kette der Wortträger, eine Kette, die in der Kirche immer neu geschmiedet wurde, deren Material immer das Wort des Herrn war, deren Glieder aber durch die Glaubenden gefestigt und ineinandergefügt wurden.« 13 Eine solche Betrachtung weitet die Grenzen ihrer exegetischen Erklärung. Die Seligpreisungen Die Kirche auf dem Berg der Seligpreisungen hatte Dürrenmatt gestört. Jesu Bergpredigt sei »eine Rede aus dem Judentum geboren« hält er mit der Exegese der letzten Jahrzehnte übereinstimmend fest, und ergänzt »sicher hat er nicht in einer Kirche geredet«. Diese Feststellung ist banal. Aber setzt die Bergpredigt Jesu bei Matthäus nicht schon Kirche voraus? Die Bergpredigt entspricht der Feldrede bei Lukas. Beide beginnen mit Seligpreisungen. Allerdings stehen bei Lukas vier Seligpreisungen vier Weherufen gegenüber (Lk 6,20-26). Auch sind die Seligpreisungen und Weherufe bei Lukas prägnanter. Ein historischer Vergleich der beiden Texte macht wahrscheinlich, dass Lukas hier Jesu Wortlaut näher ist als Matthäus. Dies mag auch für andere Teile der Berg- »Diese Rede ist von vornherein mit der Absicht der Katechese komponiert und soll nicht ein zufälliges historisches Redeereignis Jesu wiedergeben.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 24 Ansgar Wucherpfennig SJ Die Bergpredigt: Elementarunterricht des Gottessohnes ZNT 24 (12. Jg. 2009) 25 predigt gelten, etwa für das Vaterunser im Vergleich zu seiner Fassung bei Lukas. Aber bedeutet dies, dass wir deshalb mit der Bergpredigt auch vom Sohn Gottes weiter entfernt sind? Modernem Autorendenken würde diese Annahme entsprechen, aber nicht den Vorstellungen von Heiliger Schrift, so wie sie bereits in der Antike verbreitet sind. Die Schrift ist Wort Gottes und als Wort Gottes hat sie eine Vielfalt von Versionen oft auch ein und desselben Ereignisses überliefert. Nach jüdisch-christlichem Denken widerspricht dies gerade nicht ihrem Charakter als Wort Gottes. Wenn ein einziger Autor ein Recht auf diesen Text hätte, dann dürfte er nicht verändert werden, es wäre sein Text. Aber Gott hat sein Wort durch seinen Sohn in diese Welt hineingesprochen und es menschlicher Überlieferung anvertraut. Durch die Zeugen, die es weitertragen, wird es nicht abgenutzter, sondern lebendiger. Es gilt eben von diesem Wort, was wir schon von Adrienne von Speyr zitiert haben: »Je mehr eines seiner Worte gebraucht, benützt worden ist, je mehr ihm nachgelebt wurde, desto mehr Kraft ist ihm geblieben in uns, weil die, die das Wort aufnahmen und in sich lebendig werden ließen, es lebendig zu uns herübergetragen haben.« Die Überlieferung der Kirche entzieht dem Wort Gottes nicht seine Essenz, sie gibt ihm mehr Kraft. Diese Kraft durch Überlieferung und Interpretation der Kirche lässt sich bereits in den Seligpreisungen am Anfang erkennen. In der neutestamentlichen Exegese ist mehrfach überlegt worden, ob die Seligpreisungen bei Matthäus im Unterschied zu Lukas nicht schon ein liturgischer Text geworden sind. Einiges spricht dafür, vor allem die ebenmäßige Form der ersten acht Seligpreisungen: In der ersten und der achten Seligpreisung spricht Jesus den Glücklichen das »Himmelreich« zu. Die erste und die achte Seligpreisung enthalten im Griechischen genau zwölf Wörter, die Zahl der Stämme Israels. In der vierten und in der achten Seligpreisung spricht Jesus von der Gerechtigkeit, jeweils am Abschluss einer Viererreihe. Die beiden Viererreihen bilden zwei Strophen. Sie enthalten im Griechischen genau 36 Wörter. Auch ist der griechische Text durch Alliterationen verziert: makarioi hoi ptôchoi … makarioi hoi penthountes … makarioi hoi praeis … makarioi hoi peinôntes. Jesus spricht hier zu seinen Hörern, die seine Jünger werden sollen, und die er gleich am Anfang »glücklich« - makarioi - preist. Achtmal spricht er zu Beginn seiner Rede von verschiedenen Gruppen, die zu den Glücklichen gehören. Und beim neunten Mal spricht er seine Hörer sogar direkt an: »Glücklich seid ihr …« Und er fordert sie zum Freudentanz auf (Mt 5,12): »Freut euch und jubelt: Euer Lohn im Himmel wird groß sein.« Selig die Armen im Geist Die Form der Seligpreisungen ist biblisch. 14 Auch das Buch der Psalmen beginnt in Psalm 1 mit einer Seligpreisung. Vielfach kommen sie in den Psalmen wieder, schon am Ende des zweiten Psalms folgt die nächste. Aber selbst wenn die Seligpreisungen schon durch einen liturgischen Gebrauch geformt gewesen sind, ihre Form war auch für alltägliche Glückwünsche verbreitet. Eine Frau preist die Mutter Jesu glücklich, weil sie sieht, welch heilende Kraft von ihm selber ausgeht; Jesus antwortet, indem er die glücklich preist, die das Wort Gottes hören und tun (Lk 11,27-28). Elisabeth preist Maria, die Jesus in ihrem Mutterleib trägt (Lk 1,42 - dort allerdings entsprechend zu makarios wörtlich eulogēmenē sy! ). Jüdische Rabbinen können einer Frau kondolieren, weil sie mit einem Gerber verheiratet ist, einer Frau hingegen gratulieren, wenn sie einen Parfumfabrikanten geheiratet hat. 15 Jesus gratuliert daher seinen Hörern zu Beginn seiner Rede. Und er gratuliert als erstes den »Armen dem Geist nach«. Bei Lukas spricht Jesus einfach von »Armen«, von wirtschaftlich Armen, wohl auch hier bei Matthäus: von Armen, denen alles genommen wurde. Anders als bei Lukas ergänzt Jesus nach Matthäus aber »dem Geist nach« - tō(i) pneumati. Die Bedeutung dieser Ergänzung ist notorisch umstritten. Luther hat übersetzt: »Selig sind, die da geistlich arm sind«. Die sozialkritische Exegese der 68er hat in dieser Ergänzung daher oft negativ eine Spiritualisierung der Seligpreisung des Lukas sehen wollen. Aber Luthers Übersetzung ist hier nicht wörtlich genug. Jesus meint nicht eine ins Spirituelle verdünnisierte »geistliche Armut«. Wie bei den »Reinen im Herzen« in der vorletzten Seligpreisung gibt der Dativ hier die Rücksicht an. Wie bei der Rück- 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 25 Zum Thema 26 ZNT 24 (12. Jg. 2009) sicht des Herzens ist auf der menschlichen Seite ein Organ gemeint, das sich dem Wirken Gottes öffnen kann. Es ist also auch nicht einfach der »Geist Gottes« gemeint. So hat es offenbar die Einheitsübersetzung verstanden, die ganz unwörtlich wiedergibt: »Selig, die arm sind vor Gott«. Mit »dem Geist« meint Jesus den Sitz menschlichen Wollens, das sich dem Geist Gottes öffnen kann. So spricht Jesus auch am Ölberg vom willigen Geist, welcher dem schwachen Fleisch entgegensteht. Die Armen sind die, denen alles genommen wurde, aber auch die, die in der Kraft ihres Geistes auf alles verzichtet haben, und nicht mit ihrem menschlichen Geist dem Heiligen Geist widerstehen. Das ist keine Spiritualisierung, sondern eine Konkretisierung der Armut auf die Nachfolge Jesu hin. Wirtschaftliche Not allein muss im Sinne Jesu nicht glücklich machen. Sie kann sogar zu noch größerer Abhängigkeit von materiellen Gütern führen. Glücklich macht allein die Freiheit, sich dem Himmelreich ganz in die Hände zu geben. Deshalb sind die Armen glücklich. Adrienne von Speyr erklärt: »Sie sind selig, weil sie nichts haben, was sie von der Seligkeit trennt; sie sind offen, sie sind preisgegeben, sie sind nackt und widerstandslos. Sie sind frei, um selber aufgenommen zu werden. « 16 Deshalb eröffnet diese Seligpreisung das Lehren Jesu im gesamten Neuen Testament: Jesu Lehre macht solche Hörer glücklich, die ihren Geist leer werden lassen von menschlichen Phantasien und ihn für den Geist Gottes öffnen. »Der Berg« bei Markus Die Bergpredigt ist die erste von fünf Reden Jesu im Matthäusevangelium. Der Evangelist hat die fünf Reden Jesu gekennzeichnet, indem er sie jeweils durch dieselben Worte ausgeleitet hat: »und es geschah, als Jesus diese Worte beendet hatte …« in 7,28; 11,1; 13,53; 19,1 und beim letzten Mal in 26,1 schreibt er sogar: »und es geschah als Jesus alle diese Worte beendet hatte«. Diese fünf Reden entsprechen der Anlage des Pentateuchs, der Tora der Juden. Bereits Franz Delitzsch hat 1853 im Matthäusevangelium eine Anordnung nach dem Vorbild der fünf Bücher der Tora erkennen wollen. 17 Ihren Namen hat die Bergpredigt von dem Ort, wo Matthäus sie im Unterschied zu Lukas situiert. Jesus steigt für seine Rede auf einen Berg. Es sieht so aus, als ob Matthäus hier das Markusevangelium voraussetzt. Wörtlich schreibt Matthäus nicht, dass Jesus auf »einen«, sondern dass er auf »den Berg« steige (eis to oros). Markus schreibt fast wortgleich (3,13). Hier kann zwar eine allgemeine griechische Ausdrucksweise gemeint sein, wie man im Deutschen davon spricht, dass man in »die Berge« geht. Aber beide Evangelisten sprechen sicher nicht von irgendeinem, sondern von »dem Berg«, weil dieser eine besondere Bedeutung hat. Wenn Jesus bei Markus auf den Berg geht, wählt er aus den Jüngern »die Zwölf« aus. Sie sind seine besondere task force, um die Ankunft des Reiches Gottes zu verbreiten. Zwölf ist eine Zahl für eine kampagnenfähige Gruppe. Sie passen gut in ein Fischerboot, wie es auf dem See Genesaret üblich war und das ihnen mit Jesus als Reisegefährt diente, aber genauso gut auch für den Privatunterricht in den Geheimnissen des Gottesreichs in ein damals übliches Ein-Raum-Haus. Zwölf sind noch nicht zu viele, um leicht von Ort zu Ort ziehen, und genug, um sie in kleinen Pioniergruppen ins Land vorauszuschicken. Aber »die Zwölf« und »der Berg« erinnert jeden Leser, der mit dem Alten Testament nur halbwegs vertraut ist, auch an die Versammlung der zwölf Stämme Israels auf dem Berg Sinai. Markus schreibt kai epoiēsen dōdeka. Das klingt holperig »er schuf Zwölf«, erinnert aber wohl gezielt an Gottes Schaffen, an seinen Bundesschluss auf dem Berg Exodus. Auf dem Berg Sinai erhält Mose von Gott das Bundesgesetz und schreibt alle Worte des Herrn auf. Am nächsten Morgen steigt er vom Berg herab und errichtet am Fuß des Berges zwölf Steinmale für die zwölf Stämme Israels. Die zwölf Stelen sind steinerne Zeugen, die an den Bund Gottes mit den zwölf Stämmen erinnern. Die zwölf Jünger, die Jesus bei Markus auf dem Berg auswählt, sind hingegen lebendige Zeugen seiner Lehre. Er sendet sie wie bevollmächtigte Botschafter des Himmelreiches aus, ausgestattet mit der Vollmacht, Dämonen auszutreiben. »Der Berg« bei Matthäus Matthäus hat die besondere Bedeutung erkannt, die der Berg bereits bei Markus hatte, aber den 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 26 Ansgar Wucherpfennig SJ Die Bergpredigt: Elementarunterricht des Gottessohnes ZNT 24 (12. Jg. 2009) 27 Akzent seinem Evangelium entsprechend anders gesetzt. Die Auswahl der Zwölf erfolgt erst viel später (10,1-4). Matthäus betont den Unterricht der Jünger. Sie brauchen erst Elementarunterricht (Mt 5,1-7,27) und darauf einige Zeit des Anschauungsunterrichts (8,1-9,38), ehe Jesus Zwölf von ihnen auswählen kann. Bei Matthäus ist Jesus der eine Lehrer, der in die Einzigkeit Gottes hineingehört. Jesus steigt auf den Berg und setzt sich. Natürlich ist das auch ein bequemer Sitz für eine so lange Rede. Aber vor allem ist das Sitzen in Eretz Israel die übliche Haltung für autoritatives Sprechen. Dies setzt andere als die heutigen Gewohnheiten voraus. Heute spricht das Gericht sein Urteil in der Regel im Stehen. Diejenigen, über die es ergeht, sitzen. Anders im antiken Orient: Wenn Pilatus das Urteil über Jesus spricht, setzt er sich dazu auf dem Richterstuhl nieder. Jesus steht vor ihm. Wenn sich Jesus auf dem Berg hingegen setzt, nimmt er also die Haltung einer Autorität ein. Der Berg ist seine Kathedra. Später spricht Jesus von den Schriftgelehrten, die die Kathedra des Mose eingenommen haben (Mt 23,2), obwohl ihr Leben der Tora widerspricht. Aber wenn Jesus auf dem Berg seine Kathedra einnimmt, geht seine Autorität noch weiter als die des Mose. Auf dem Berg Sinai ist es nicht Mose, der lehrt, sondern er ist es, der belehrt wird. Mose wird aus dem Wolkendunkel heraus belehrt, in dem Gott ihm erscheint. Das Volk soll Gott hören, wenn er mit Mose redet, darf sich aber Gott nicht nahen. Nur Mose darf ihm unter den schweren Wolken auf dem Berg nahen (Ex 19,18): »Der ganze Sinai war in Rauch gehüllt, denn der Herr war im Feuer auf ihn herabgestiegen. Der Rauch stieg vom Berg auf wie Rauch aus einem Schmelzofen. Der ganze Berg bebte gewaltig.« In der Bergpredigt hat die Lehrsituation gewechselt. Jetzt sitzt Jesus, der Sohn Gottes, auf dem Berg auf der Kathedra. Der Evangelist schreibt, dass Jesus die Volksmenge sieht und sich auf den Berg setzt. Vorher hatte er geschrieben, woher die Volksmenge kommt. Aus ganz Israel, Galiläa im Norden und Judäa, aber auch aus der Dekapolis, von jenseits des Jordan also (4,25), und sogar aus »ganz Syrien« (4,24). Jesus sieht die Volksmenge, und die Jünger kommen ihm näher. Man hat deshalb oft gemeint, Jesus würde sich mit der Bergpredigt an seine Jünger wenden, und ihnen eine Jüngerethik verkünden im Unterschied zu einer Volksethik. Am Ende ist aber das ganze Volk von seiner Lehre betroffen. Im Unterschied zu ihren Schriftgelehrten erkennen sie seine Vollmacht, später, nachdem sie ihm weiter gefolgt sind, sagen sie sogar: »So etwas ist in Israel noch nie geschehen« (Mt 9,33). Jesus sieht diese Volksmengen, steigt auf den Berg und die Jünger kommen zu ihm. Sie nähern sich von selbst, wie ungerufen. »Denn (…) mit dem Wort ›Jünger‹ grenzt Matthäus den Kreis der Adressaten dieser Rede nicht ein, sondern weitet ihn aus. Jeder, der hört und das Wort annimmt, kann ein ›Jünger‹ werden.« 18 Jesus nimmt dem Volk gegenüber den Platz des Lehrers ein, von dem aus jeder sein Jünger werden kann. Damit spricht er so, wie er es selber später im Evangelium über Gottes Gesalbten als dem einen Lehrer sagt: Jesu Unterschied zu den Schriftgelehrten ist nicht, dass er gebildeter, wohlgefeilter, klüger spricht. Im Unterschied zu ihnen spricht er mit Vollmacht. Er hat Teil an der Einzigkeit Gottes als der eine Lehrer seines Volkes, das die Grenzen von Eretz Israel bereits überschritten hat. Jesus der Immanu-el Man könnte einwenden: Überfordert ein solches Verständnis nicht die Sicht Jesu im Matthäusevangelium? Tritt Jesus dort nicht einfach als Mensch auf? Ist nicht gerade das Charakteristikum des Matthäus und der synoptischen Evangelien, dass sie Jesus in seiner Menschlichkeit darstellen? Ist nicht die Betrachtung Jesu in seiner Gottheit eine Sichtweise Jesu, die sich erst in Spätschichten des Neuen Testamentes zeigt? Etwa im Johannesprolog oder im Bekenntnis des Thomas zu Jesus als »mein Herr und mein Gott« im gleichen Johannesevangelium, das man dann sehr spät datiert? Tatsächlich beginnt Matthäus mit dem Stammbaum Jesu und stellt ihn so in die gesamte Geschichte des Volkes Israel mit Gott hinein. So hält Irenäus sogar noch im zweiten Jahrhundert über das Matthäusevangelium fest (Irenäus, Adversus Haereses III 11): »Matthäus verkündet seine menschliche Geburt mit den Worten: ›Buch der Abstammung Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams ... Und mit der Geburt Jesu Christi verhielt es sich folgendermaßen‹ (vgl. Mt 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 27 Zum Thema 28 ZNT 24 (12. Jg. 2009) 1,2 und 1,18) Dieses Evangelium hat also die menschliche Gestalt, und in seinem ganzen Verlauf ist der sanfte und demütige Mensch beibehalten worden.« Müsste man daher nicht zumindest in Einzelworten der Bergpredigt die gewaltige Macht der Rede geschichtlich erklären können? Eine geschichtliche Erklärung ist sicherlich erfordert, aber sie kann ohne die theologische Voraussetzung der Gottheit Jesu der eigentlichen Macht der Rede Jesu nicht gerecht werden. Ein theologiegeschichtliches Modell, das von Jesus als »bloßem Menschen« ausgeht, wie es die Arianer im 4. Jahrhundert taten, wird kein Wort der Bergpredigt verstehbar machen können. So fragt Joseph Ratzinger in seinem Jesusbuch: »Ist es nicht auch historisch viel logischer, dass das Große am Anfang steht und dass die Gestalt Jesu in der Tat alle verfügbaren Kategorien sprengte und sich nur vom Geheimnis Gottes her verstehen ließ? « 19 Bei Matthäus ist Jesus tatsächlich ein sanftmütiger und demütiger Lehrer. Wie ein wandernder Volkslehrer zieht er durch die Straßen, sammelt liebevoll seine Zuhörer um sich (Mt 11,28-30). Wenn er den Menschen sein »süßes Joch« 20 anpreist, wirbt er mit einem verbreiteten jüdischen Bild für seine Lehre der Tora. Sie lässt die Menschen Gottes Tora als Weg des Lebens erfahren. Aber unmittelbar vorher spricht Jesus von der Autorität, die er zu diesem Lehren hat. Im himmlischen Thronrat hat er den Ratschluss des Vaters erfahren, die Strategie der königlichen Regierung Gottes, all die Menschen mit einem einfachen Herzen für sich zu gewinnen (Mt 11,28-30). Von dieser Autorität des sanftmütigen Gottessohnes spricht das Matthäusevangelium von Anfang an: Die Kette der Zeugungen, die mit Abraham begonnen hat, bricht im Stammbaum mit Josef ab. Josef zeugt Jesus nicht. Seine Verlobte Maria ist schwanger, weil sie vom Heiligen Geist empfangen hat. Der Engel des Herrn, ein Diener des Angesichts Gottes, kennt den Namen ihres Kindes. Er teilt Josef den Namen mit, der in der himmlischen Gegenwart des Vaters schon bekannt ist. Und er sagt ihm gleichzeitig das Geheimnis dieses Kindes: Er ist der Immanu-el - »der Gott mit uns«, den der Prophet Jesaja dem König Achas verheißen hat (Mt 1,23). Von nun an spricht Gottes Weisheit durch seinen Mensch gewordenen Sohn, und die Bergpredigt ist die erste Rede, die er hält. Wie der Vater die Propheten gesandt hat, so sendet jetzt der Sohn »Propheten, Weise und Schriftgelehrte« (Mt, 23,34). Dazu unterweist er sie selbst in den fünf zusammenhängenden Reden des Evangeliums. »Antithesen«? Eine solche Sicht der Bergpredigt hat vor allem Konsequenzen in dem Abschnitt, der gewöhnlich als »Antithesen« der Bergpredigt bezeichnet wird. Der Begriff »Antithese« setzt einen populär-idealistischen Gedanken der Höherentwicklung der Menschheit voraus, die sich über These, Antithese und Synthese auf immer höhere Stufen hinausschraubt. 21 Die Bezeichnung ist hochproblematisch und sollte aus der Exegese der Bergpredigt verschwinden. Jesu Intention in seiner ersten Rede entspricht sie nicht. Sechsmal wendet sich Jesus in diesem Abschnitt seiner Rede an seine Zuhörer und zitiert ihnen Worte aus der Tora (Mt 5,21-6,48). Zweimal leitet er sie dabei mit »Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist …« (5,21. 31) ein, dreimal einfach nur mit »Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist« (5,27.38.43), ein sechstes Mal darunter sogar nur mit »es ist gesagt worden« (5,31). Hinter diesen Einleitungen steckt System: Die Fünfzahl, die im Matthäusevangelium besonders wichtig ist, gibt auch hier wieder die Struktur vor. Fünfmal zitiert Jesus ein Wort aus den fünf Büchern der Tora. Er zitiert allerdings nicht wahllos aus allen fünf Büchern, sondern wählt die Zitate offenbar gezielt aus. Die ersten beiden Zitate sind Dekaloggebote: »Du sollst nicht töten« (Mt 5,21 = Ex 20,13) und »Du sollst nicht ehebrechen« (Mt 5,27 = Ex 20,14). Die letzten drei Zitate sind Gebote aus dem Buch Leviticus: »Du sollst keinen Meineid schwören« (Mt 5,33 = Lev 19,12), »Auge für Auge und Zahn für Zahn« (Mt 5,38 = Lev »Eine geschichtliche Erklärung ist sicherlich erfordert, aber sie kann ohne die theologische Voraussetzung der Gottheit Jesu der eigentlichen Macht der Rede Jesu nicht gerecht werden.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 28 Ansgar Wucherpfennig SJ Die Bergpredigt: Elementarunterricht des Gottessohnes ZNT 24 (12. Jg. 2009) 29 24,20) und »Du sollst deinen Nächsten lieben, und deinen Feind hassen« (Mt 5,43 = Lev 19,18). Das sechste Zitat mit der abgekürzten Einleitung (Mt 5,31 aus Dtn 24,1) ergänzt das Thema des Ehebruchs aus dem Dekalog, es ist eigentlich nur eine Parenthese und fokussiert ein Specificum der Lehre Jesu: Jesus ist der einzige Lehrer der Antike, der das Verbot der Ehescheidung auch auf den Mann ausweitet und somit ein beidseitiges Scheidungsverbot lehrt. Dekalog und das Buch Leviticus, die Fundorte der Zitate sind nicht von ungefähr. Jesus führt seine Hörer mit der Reihenfolge seiner Torazitate vom Dekalog, der als jüdisches Menschheitsgesetz verstanden wurde, in das Herz der Gesetzgebung Israels, das Buch Leviticus. Bereits auf der Ebene der Komposition ihrer fünf Bücher bildet das Buch Leviticus die Mitte der Tora. Fast die Hälfte (247) der 613 Gebote Israels stammt aus dem Buch Leviticus. Es war das erste Buch, in dem Kinder in der jüdischen Schule unterrichtet wurden (LevR 7, 3). Die Tannaiten, die jüdischen Schriftgelehrten des ersten und zweiten Jahrhunderts, nennen es in ihrem Kommentar einfach nur »das Buch« (Sifra). Es galt als die Tora der Priester, die der kultischen Heiligkeit Israels dienten. Gerade so garantierte es die Heiligkeit Israels vor allen Völkern. Aber Jesus zitiert aus dem Herzen der Tora keine priesterlich kultischen Ritualgebote, sondern nur solche, die eine allgemein verbindliche Heiligkeit im Menschen einpflanzen. Als Letztes zitiert er das Gebot der Nächstenliebe, das er selbst als das zentrale Gebot der Tora gelehrt hat, das doppelte Hauptgebot, an dem das gesamte Gesetz hängt samt den Propheten (vgl. 22,40). »Amen, ich aber sage euch« - »ich aber sage euch« Die fünf bzw. sechs Gebote der Tora führt Jesus darauf mit einem egō de legō hymin weiter. Im Deutschen wird es oft mit »Ich aber sage euch« übersetzt. Wenn die Tannaiten in ihren schriftgelehrten Diskussionen ihre unterschiedlichen Meinungen gegenüberstellen, klingt das ganz ähnlich. Ihre Gegenrede leiten sie mit »ich aber sage« (wa- ᾽anî ᾽ômer) ein. 22 Wenn man das griechische de mit »aber« übersetzt, könnte Jesus tatsächlich in einem adversativen Sinn seinen eigenen Kommentar dem von ihm zitierten Gebot der Tora entgegenstellen. Die Bezeichnung »Antithese« mit ihren Haftpunkten in der idealistischen Philosophie legt ein solches Verständnis nahe. Jesus stellt dem Gebot der Tora sein eigenes Gegengebot gegenüber. Aber schon ein oberflächlicher Blick in Jesu Worte, die diesen Einleitungen folgen, zeigt, dass er hier an keiner Stelle dem Gebot der Tora etwas gegenüberstellt. Wenn Jesus in seinen Worten zum fünften Gebot auch den Zorn untersagt, verfolgt er den Mord zurück bis in seine innersten Herkünfte und deckt auf, dass »die gleiche Essenz des Bösen« 23 im Zorn wie im Mord lebt. Seine Lehre gibt kein Gegengebot, sondern geht dem Bösen, das die Tora bereits umsichtig einschränkt, an seine innerste Wurzel. 24 Das griechische de in egō de legō hymin ist mit einer adversativen Bedeutung zu scharf verstanden. Im Stammbaum ist es bei jeder Zeugung im Sinne einer gewöhnlichen Aufzählung genannt. Man kann besser mit »und ich sage euch« übersetzen, und hätte den Anschein einer »Antithese« herausgenommen. Jesus führt die Tora weiter, er führt sie bis auf ihren Grund und setzt ihr nichts entgegen. Im Zusammenhang seiner Rede hatte Jesus seinen Worten zur Tora in diesem Abschnitt seinen Grundsatz vorangestellt (5,17-18): »Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht ein Iota und ein Häkchen des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist.« Das ist die Sendung Jesu: In seinem Leben geschieht Erfüllung, von Anfang an. Sie beginnt nicht erst hier. Die Schriftzitate, mit denen Matthäus das Wirken Jesu reflektiert, sind so eingeleitet: »Dieses ist geschehen, damit sich erfülle, was (…) geschrieben steht.« Es sind zehn, also wiederum 2 x 5 Schriftzitate, die Matthäus so einleitet. Sie beginnen bereits in Mt 1,22. Aber nun bezeichnet Jesus dies auch als seine Sendung. Alles, was Mose, Jesaja (1,23), Hosea (2,15) und Jeremia (2,18) und jeder einzelne Prophet getan, gesagt und geschrieben, aber auch alles, woraufhin Abraham, Isaak, Jakob, Juda und seine Brüder, Tamar, Rachab, Rut, David, Batscheba, Urija bis Jojachin, Jojachin bis Jakob, Josef und Maria (1,2-16) gelebt 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 29 Zum Thema 30 ZNT 24 (12. Jg. 2009) haben, kommt in Jesus zur Erfüllung. Adrienne von Speyr hat Jesus hier mit dem Bild eines Dirigenten verglichen, der die verschiedenen Stimmen seines Orchesters beim Publikumsapplaus aufstehen und zeigen lässt, was sie einzeln zu dem aufgeführten Musikwerk beigetragen haben: »Er nimmt dabei das Alte mit hinein, wie ein Dirigent, dem man Beifall spendet und der das ganze Orchester aufstehen lässt und in den Jubel hineinzieht, wie ein Forscher, der die Arbeiten der Früheren in sein Werk einbaut und lobend erwähnt.« 25 Im folgenden Satz konkretisiert es Jesus noch: Erde und Himmel werden vergehen, alles wird geschehen, aber auch dann wird weder ein einzelnes Jota noch ein Häkchen von dem weggefallen oder vergangen sein, was geschrieben ist. In die Mitte dieses Grundsatzes stellt er sein Amēn de legō hymin. Mit dem egō de legō hymin (»und ich sage euch«) führt er dieses Amen-Wort fort. Was Jesus in Kapitel 5,21-48 zu den Geboten der Tora sagt, ist aber auch nicht einfach eine Auslegung. Jesus gibt keinen wissenschaftlichen oder schriftgelehrten Kommentar. Es sind Anwendungsfälle des Grundsatzes in 5,17-20: »Lehrfälle«, mit denen der Lehrer seinen Grundsatz den Schülern demonstriert. Es ist Teil seiner Lehre, Teil seiner exemplarischen Tora, die von seinen Schülern weitergeführt werden kann: Bei ihm erhält jeder kleinste Buchstabe seine neue göttliche Bedeutung. Nicht so, als ob die Buchstaben vorher nutzlos gewesen wären, aber so, dass Jesus mit seiner Tora die Erfüllung beginnt, in der alle kleinen Buchstaben und Häkchen am Ende ihren endgültigen Platz finden werden. Tora des Gottessohnes für Gotteskinder Dem Immanuel, dem Gottessohn, ist jedes Jota und jedes Häkchen der Tora wichtig. Das griechische iōta meint das hebräische yod. Es ist der kleinste Buchstabe in der hebräischen Schrift. Innerhalb des Quadrats, in dem sich die hebräischen Buchstaben darstellen lassen, nimmt es nur den Raum eines Viertelquadrates ein. Das Häkchen, eine keraia, ist wohl das »hängende Bein«, der Beistrich, des hebräischen he 26 , nur noch ein kleiner Buchstabenstrich. Jesus hat diese Liebe für das konkrete Kleine. Er schätzt Lehrer, die auch die kleinste Gebote Gottes in ihrer Lehre ehren und nicht jede kniffelige Differenz in den Einheitsbrei ihrer eigenen Lehre unterrühren (Mt 5,19). In dieser Liebe Jesu zum kleinsten Buchstaben der Tora liegt das schwerwiegendste Problem, wenn seine Lehre in Mt 5 in der modernen Exegese als »Antithese« bezeichnet wird. Dies könnte implizieren, dass der Sohn Gottes sich gegen seinen Vater stellen könnte, der dem Volk Israel die Tora gegeben hat. Durch die höher entwickelte Antithese des Sohnes Gottes würde die These des Vaters entwertet. Dass dies inhaltlich der Bergpredigt nicht gerecht wird, ist schon gezeigt. Theologisch würde es einen Bruch mit dem Monotheismus und der Geschichte Gottes mit Israel bedeuten. Dies wäre ein antisemitischer Di-theismus, in dem sich Jesus als neuer Lehrer gegen den Gott Israels positioniert. Adrienne von Speyr hat in ihrer Betrachtung der Stelle gezeigt, wie Jesu Lehre hier die trinitarische Beziehung des Vaters zum Sohn voraussetzt. »Der Vater hatte ja das Gesetz und die Propheten nur um des Sohnes willen gesendet, damit sie ihm den Weg bereiten und seine Sendung ermöglichen. Die ganze Liebe des Vaters gilt dem Sohn und geht durch die Gesetze und Propheten hindurch auf den Sohn. Der Sohn aber kommt, um den Vater in Liebe zu verherrlichen, um zu zeigen wie vollkommen die Werke des Vaters sind. Und so hebt er in Liebe und Ehrfurcht jeden kleinsten Buchstaben auf als ein Zeichen und eine Spur seines Vaters, mit einer so großen Liebe und Ehrfurcht, wie der Vater sie noch nie erlebte, und wie sie gerade das unerhört Neue und Erfüllende ist.« 27 Wenn Jesus in seiner ersten Rede die Tora zitiert und kommentiert, wird jedes kleinste Gebot in ihr aus der Liebe zum Vater zur Tora des Gottessohns. Nach der Gliederung von Ulrich Luz steht das Vater-Unser im Zentrum der Bergpredigt. 28 Sicherlich steht das Vater Unser den Seligpreisungen als anderer Pol gegenüber. Es ist ähnlich wie sie bereits liturgisch geformt, sehr wahrscheinlich den Hörern bereits durch das eigene Gebet vertraut. Am Anfang von Kapitel 6 steht es tatsächlich auch weitgehend in der Mitte der Rede. Das Königreich der Himmel, das die Seligpreisungen rahmt, steht im Vater Unser wiederum in der Mitte. In der dritten Bitte lehrt Jesus beten: »Vater 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 30 Ansgar Wucherpfennig SJ Die Bergpredigt: Elementarunterricht des Gottessohnes ZNT 24 (12. Jg. 2009) 31 Unser … dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.« Hier bittet ein dem Geiste Armer, dass sich der Wille Gottes an seinem Flecken Erde erfülle. Das Stück Erde des Armen wird mit dem Himmel verbunden, weil sich dort der Wille des Vaters erfüllt. So wird der Arme zum Erben des Himmelreichs. Mit dem kleinsten Buchstaben der Tora des Vaters, den er erfüllt, führt er Gottes himmlisches Reich weiter seiner Vollendung entgegen. Dies geschieht hier allerdings nur unter Verfolgungen. So steht die Seligpreisung der Verfolgten am Ende der Seligpreisungen: »Selig die wegen der Gerechtigkeit verfolgt werden, denn ihrer ist das Himmelreich … jauchzt und jubelt, denn euer Lohn im Himmel ist groß! « Anmerkungen 1 F. Dürrenmatt, Zusammenhänge, Diogenes 1980, 15f. Hans Weder beginnt mit diesem spannungsvollen literarischen Zeugnis seine Monographie über die Bergpredigt (ders., Die ›Rede der Reden‹. Eine Auslegung der Bergpredigt heute, 3. Aufl., Zürich 1994, 11f). 2 Vgl. den Titel bei Weder, Anm. 1, eine solide allgemein verständliche Einführung in die Bergpredigt. Vgl. dazu die Bemerkungen bei M. Hengel, Zur matthäischen Bergpredigt und ihrem jüdischen Hintergrund, in: ders., Judaica, Hellenistica et Christiana. Kleine Schriften II, unter Mitarbeit von J. Frey u. D. Betz u. mit Beiträgen von H. Bloedhorn u. M. Küchler (WUNT 109), Tübingen 1999, 219-292 (urspr. ThR 52/ 4 [1987], 327-400). 3 A. von Speyr, Bergpredigt. Betrachtungen über Matthäus 5-7, Einsiedeln 1948, 100. 4 Vgl. oben Anm. 3. 5 Speyr, Bergpredigt, 238. 6 Vgl. die vorsichtige Beurteilung der Verfasserfrage von R. Deines, Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias: Mt 5,13-20 als Schlüsseltext der matthäischen Theologie (WUNT 177), Tübingen 2004, 653f., Anm. 19. 7 Vgl. auch Mt 13,52. 8 Gleich im Anfangsteil der Bergpredigt spricht Jesus zu Jüngern, die andere in seiner Lehre unterrichten (Mt 5,19). Vgl. hierzu Deines, Gerechtigkeit, 407-412. 9 So auch Weder, Rede der Reden, 15: »Ist es sinnvoll, Gott von diesem Redner fern zu halten? Wer anders könnte denn die Rede der Reden gesprochen haben, wenn nicht der Gottessohn, Gott in Person? « 10 Vgl. J. Ratzinger - Papst Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg / Basel / Wien 2006, 20-21. Mein Beitrag greift die Anregungen dieses Jesusbuches auf und versucht, von ihnen aus weiterzudenken. Sicherlich gibt es auch kritische Stellungnahmen dazu, vgl. etwa M. Ebner / R. Hoppe / Th. Schmeller, Der »historische Jesus« aus der Sicht Joseph Ratzingers. Rückfragen von Neutestamentlern zum päpstlichen Jesusbuch, BZ 52 (2008), 64-81. 11 Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, 108. 12 Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, 93-203. 13 Speyr, Bergpredigt, 7f. 14 Vgl. Weder, Rede der Reden, 41f. und vor allem Hengel, Zur matthäischen Bergpredigt, 224-233. 15 Vgl. die Nachweise bei Hengel, Zur matthäischen Bergpredigt, 224-233. 16 Speyr, Bergpredigt, 10. 17 F. Delitzsch, Die pentateuchische Anlage des Matthäus-Evangeliums nach dem Vorbilde der Thora, in: Neue Untersuchungen über Entstehung und Anlage der kanonischen Evangelien. Erster Theil. Das Matthäus-Evangelium, Leipzig, 1853. Vgl. Deines, Gerechtigkeit, 48, Anm. 138. 18 Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, 95. 19 Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, 21. 20 Vgl. die lateinische Vulgata-Übersetzung von Mt 11,30: Iugum meum suave et onus meum leve est. 21 Vgl. D. Schellong, Christus fides interpres Legis. Zur Auslegung von Mt 5,17-20, in: Ch. Landmesser / H.-J. Eckstein / H. Lichtenberger (Hgg.), Jesus Christus als die Mitte der Schrift. Studien zur Hermeneutik des Evangeliums (BZNW 86), Berlin u.a.1997, 659-687: 659. 22 Vgl. E. Lohse, ›Ich aber sage euch‹, in: Der Ruf Jesu und die Antwort der Gemeinde. Exegetische Untersuchungen J. Jeremias zum 60. Geburtstag gewidmet, Göttingen 1970, 189-203. 23 Speyr, Bergpredigt, 76. 24 Dieter Schellong hat daher von »Radikalisierung« gesprochen (vgl. ders., Christus fides interpres Legis, 679), aber auch dieser Ausdruck ist in der politischen Sprache anders konnotiert, als es der Absicht Jesu hier entspricht. 25 Speyr, Bergpredigt, 61. 26 Vgl. Deines, Gerechtigkeit, 332f. 27 Speyr, Bergpredigt, 62. 28 Vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/ 1, 5. völlig neubearbeitete Auflage, Neukirchen- Vluyn u. a. 2002, 254. Vgl. zu anderen Vorschlägen Deines, Gerechtigkeit, 183, Anm. 240. Luz’ Vorschlag mag etwas zu feingliedrig sein, um für einen Leser ohne gründliche Recherche noch nachvollziehbar zu sein (Vgl. den Kommentar von Deines, a.a.O.). 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 31