eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 12/24

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2009
1224 Dronsch Strecker Vogel

Gewaltvermeidung in der Bergpredigt

2009
Moisés Mayordomo
12 ZNT 24 (12. Jg. 2009) Fragen von Gewalt und Gewaltvermeidung sind derart eng mit der Bergpredigt in Mt 5-7 verbunden, dass in der populären Verwendung »Bergpredigt« geradezu zum Inbegriff einer radikalen Form pazifistischer Lebenshaltung werden kann. Dabei konzentriert sich die Diskussion im Wesentlichen auf die Auslegungsprobleme um Mt 5,38-48. Angesichts der literarischen Kunst, mit welcher der Evangelist »Matthäus« die erste Rede Jesu komponiert und in den Gesamtrahmen seiner Erzählung integriert hat, birgt die Herauslösung eines einzelnen Textabschnitts die Gefahr, dass viele Sinnzusammenhänge, die der Gesamttext seinen Rezipienten anbietet, unerkannt bleiben. Da auch die Wirkungsgeschichte zu einem nicht unerheblichen Maß jede Annäherung an diesen Text prägt, möchte ich mich im Folgenden aus unterschiedlichen Richtungen der Gewaltfrage nähern. Was die definitorischen Probleme des Gewaltbegriffs anbelangt, 1 soll hier die grundlegendste Erfahrung von Gewalt im Vordergrund stehen: die physische Schädigung einer anderen Person. 1. Wirkungsgeschichtliche Typologien »So werden dann auch zweifellos die unchristlichen, ja teuflischen Waffen der Gewalt von uns fallen, als da sind Schwert, Harnisch und dergleichen und jede Anwendung davon, sei es für Freunde oder gegen die Feinde - kraft des Wortes Christi: Ihr sollt dem Übel nicht widerstehen.« (Mt 5,39) So formulierte 1527 der Schweizer Täuferführer und frühere Benediktinermönch Michael Sattler im Schleitheimer Bekenntnis (Art. 4). Noch im gleichen Jahr bezahlte er seine Glaubensüberzeugungen mit dem Leben. In den Wirren der Reformationszeit galt eine solche Form des Gewaltverzichts als staatsgefährdend. 2 Gegen diese radikalen Lehren haben die Reformatoren ihre Stimme erhoben. Stellvertretend sei Luther zitiert: »Vielleicht wollte nun jemand die Welt nach dem Evangelium regieren und alles weltliche Recht und Schwert aufheben... Bitte, rate einmal: Was würde ein solcher damit anstellen? Er würde den wilden bösen Tieren die Bande und Ketten auflösen, dass sie jedermann zerrissen und zerbissen... So würden die Bösen unter der Decke des Christennamens die evangelische Freiheit missbrauchen, ihre Bubenstücke treiben und behaupten, sie seien Christen und darum keinem Gesetz und Schwert unterworfen; so toll und närrisch sind jetzt schon einige.« (1523: Von weltlicher Obrigkeit, wieweit man ihr Gehorsam schuldig sei = WA 11,245-280) Verrückte Narren… Dieses Urteil gilt jenen, die sich in ihrem politischen Handeln nach dem einfachen Wortlaut der Bergpredigt zu richten versuchen. Wie beunruhigend diese Haltung wirkte, lässt sich der Anklageakte entnehmen, die in Mai 1527 in Rottenburg am Neckar Michael Sattler die Verurteilung zum Scheiterhaufen einbrachte. Der letzte von neun Anklagepunkten lautete: »Er hat gesagt: Wenn die Türken ins Land kämen, solle man keinen Widerstand leisten, und wenn Krieg führen recht wäre, wolle er lieber gegen die Christen als gegen die Türken ziehen, was doch ein starkes Stück ist, den größten Feind unseres heiligen Glaubens uns vorzuziehen.« 3 Wer damals Gewaltlosigkeit ins Zentrum christlicher Identität rückte, musste mit einem gewaltsamen Tod rechnen. Die historische Konstellation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts war gewiss einmalig, aber die sachliche Auseinandersetzung um die Bergpredigt ist so alt wie das Christentum selbst. Über 1100 Jahre vorher, im Jahre 412, schrieb Flavius Marcellinus († 413), ein hoher Beamter am Kaiserhof, an den angesehenen Bischof und Theologen Aurelius Augustinus einen Brief mit der Bitte, Fragen eines befreundeten Nichtchristen namens Volusianus zu beantworten. Dieser hatte, unter anderem, als Einwand gegen die christliche Moral das Argument vorgebracht, dass sie ganz offensichtlich unvereinbar sei mit den staatlichen Rechten und Pflichten Zum Thema Moisés Mayordomo Gewaltvermeidung in der Bergpredigt 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 12 Moisés Mayordomo Gewaltvermeidung in der Bergpredigt ZNT 24 (12. Jg. 2009) 13 eines freien römischen Bürgers (Augustin, Ep. 136,2 = PL 33,515). Volusianus bezieht sich direkt auf Texte aus der Bergpredigt, besonders auch auf die Anweisung, die andere Wange hinzuhalten. Wer würde, so fragt der Christentumskritiker, ernsthaft davon Abstand nehmen wollen, einem Angreifer, der eine römische Provinz geplündert hat, diese Untat mit allen Übeln des Krieges heimzuzahlen? Augustin hat auf diese Frage geantwortet: Es geht bei dem Hinhalten der anderen Wange um die Ausübung von wahrer Tugendhaftigkeit, von Selbstbeherrschung und Geduld angesichts persönlicher Leiderfahrungen. Damit gelingt es ihm, die Worte Jesu im Rahmen spätantiker Wertvorstellungen neu zu verorten (Ep. 138,12 = PL 33,530). Er geht noch einen Schritt weiter: Die Anweisungen Jesu beziehen sich nicht auf das Gebiet äußerlich sichtbarer Handlungen, sondern auf die innere Charakterdisposition (Ep. 138,13). Selbstverständlich wird der Christ als vorbildhafter Bürger das Reich mit kriegerischen Mitteln zu verteidigen suchen, er wird jedoch der Anweisung Jesu dadurch gerecht, dass er barmherzig mit den Besiegten umgehen und von brutalen Vergel tungsaktionen Abstand nehmen wird (Ep. 138,14). Sattler, Luther, Augustin und der kritische Volusianus verkörpern unterschiedliche Positionen im Hinblick auf die direkten Implikationen christlicher Gewaltlosigkeit: die idealistische, beinahe jugendliche Radikalität der frühen Täufer; den verantwortungsethischen, beinahe abgebrühten Realismus Luthers; die tugendethische, beinahe beruhigende Verinnerlichung Augustins und die kritische und keineswegs böswillige Feststellung eines unauflösbaren Widerspruchs zwischen den Grundsätzen Jesu und den Erfordernissen politischen Handelns durch Volusianus. Es gibt in der bewegten Auslegungsgeschichte der Bergpredigt noch viele andere Positionen, 4 aber mit diesen vier Optionen möchte ich nicht nur historisch relevante Stationen markieren, sondern zugleich auf die unterschiedlichen Reaktionen aufmerksam machen, welche die Worte Jesu auch in der Neuzeit auszulösen vermögen. Für Max Weber war die Bergpredigt eine »Ethik der Würdelosigkeit« für Heilige, für Altkanzler Helmut Schmidt war sie angesichts von Verdichtungen des Bösen wie Hitler und Stalin ebenso naiv wie absurd, für Tolstoj, Mahatma Gandhi, Martin Luther King und einen Teil der frühen Friedensbewegung war sie ein Grundlagendokument des passiven Widerstands und der Kritik am Rüstungswettlauf. Insgesamt ist die Stabilität der Auslegungstypologien erstaunlich. Die Worte Jesu sind über die Jahrhunderte hinweg offenbar in der Lage gleichermaßen zu motivieren, zu irritieren und zu polarisieren. An den Rändern der Bergpredigt bilden sich stets die Gräben zwischen Idealisten und Realisten, zwischen alternativen Lebensent- Doz. Dr. Habil. Moisés Mayordomo, 1966 in Barcelona (Spanien) geboren, nach Schulausbildung in Mannheim Studium der Theologie in Gießen, Heidelberg, London (King’s College) und Bern, 1997 Promotion, 2004 Habilitation, von 1996-2006 Assistent und Oberassistent bei Prof. Dr. U. Luz, seit 2006 Dozent für Neues Testament und Antike Religionsgeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Bern. Veröffentlichungen u.a.: Den Anfang hören. Leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthäus 1-2 (FRLANT 180), Göttingen 1998; Argumentiert Paulus logisch? Eine Analyse vor dem Hintergrund antiker Logik (WUNT 188), Tübingen 2005; mit W. Dietrich: Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel, Zürich 2005; Konstruktionen von Männlichkeit in der Antike und in der paulinischen Korintherkorrespondenz, EvTh 68 (2008), 99-115; Gewalt in der Johannesoffenbarung als Problem ethischer Kritik, in: M. Mayordomo / P. Lampe / M. Sato (Hgg.), Neutestamentliche Exegese im Dialog: Hermeneutik - Wirkungsgeschichte - Matthäusevangelium (FS U. Luz), Neukirchen- Vluyn 2008, 45-70; Möglichkeiten und Grenzen einer neutestamentlich orientierten Tugendethik. Ein programmatischer Entwurf, ThZ 64 (2008), 213-257. Moisés Mayordomo 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 13 Zum Thema 14 ZNT 24 (12. Jg. 2009) würfen und der Bestrebung, bestehende Verhältnisse zu regeln, zwischen radikaler Nachfolge und Verantwortungsethik. Dabei sind alle »Lager« auf die diskursiven Grenzziehungen dieser Alternativen angewiesen. 2. Kontexte der Gewaltvermeidung im Matthäusevangelium 2.1. Friedenstugenden Im Sinne aktueller tugendethischer Fragestellungen lässt sich unter Tugend eine Charakterdisposition verstehen, die Urteile und Emotionen umfasst und dadurch moralisches Handeln intrinsisch motiviert. 5 Bevor die Frage nach abstrakten Normen oder nach konkreten Imperativen aufgeworfen wird, ist in der Bergpredigt und in ihrem Umfeld nach Spuren einer tugendethisch verwertbaren Auffassung zu suchen. 6 Der feierliche Auftakt der Bergpredigt mit einer Reihe von acht Seligpreisungen (5,3-12) beschreibt in paradoxer Sprache einen Zustand von Glückseligkeit, der in dieser Spannung nicht an kulturell akzeptierte Konzepte eines glücklichen Lebens anknüpft. Die Gottesherrschaft - oder wie es der Evangelist bevorzugt: die Himmelsherrschaft - in ihrer schwer fassbaren Spannung von jenseitiger und diesseitiger, zukünftiger und gegenwärtiger Existenz bildet den Rahmen, in dem sich das seltsame Zueinander von »Tugend« und »Glück« einzeichnet. Die typisch protestantische Alternative, ob es sich dabei um Heilsverheißungen oder um Einlassbedingungen handelt, legt dem Text ein binäres Raster auf, welches m.E. der Bergpredigt und dem Ethos des Matthäusevangeliums in dieser Form fremd ist. Es geht nicht um das Sollen, sondern um das Sein des Menschen. Die Frage ist nicht, wer aufgrund welcher Handlungen in die Himmelsherrschaft gelangt, sondern zu welcher Art Menschen die Himmelsherrschaft kommt. Für die Gewaltthematik sind einige Seligpreisungen direkt relevant: Die erste Seligpreisung (5,3) hat eine Reihe von ganz unterschiedlichen Auslegungen hervorgerufen. Die Wendung »Arme im Geiste« kann im gegenwärtigen Textzusammenhang und im Vergleich zu ähnlichen Texten auf Demut vor Gott bezogen werden. 7 Aus dieser Grundhaltung der Abhängigkeit entwickelt sich das gesamte moralische Charakterbild der Bergpredigt. Es stellt sich bereits hier die Frage, ob die Anwendung von Gewalt als Mittel eigenständiger Weltgestaltung und Durchsetzung des eigenen Machtwillens mit »geistlicher Armut« vereinbar ist. Die weiteren Seligpreisungen werden zeigen, dass dies in der Tat nicht der Fall ist. Die dritte Seligpreisung (5,5) nimmt durch den direkten Bezug auf Ps 37,11 die den ganzen Psalm leitende Gegenüberstellung von gewalttätigen Übeltätern und auf Gott vertrauenden Gerechten auf. Die »Armen im Geist« und die »Sanftmütigen« liegen damit inhaltlich auf einer Linie. Sanftmut schließt als soziale Tugend Gewaltlosigkeit mit ein. Bedenkt man die Definition des Aristoteles, Sanftmut sei »die Mitte beim Zorn« (vgl. Nik. Ethik IV 11 1125b27-1126b10), dann steht die dritte Seligpreisung in direktem Bezug zur ersten »Antithese« (5,21-26). Die fünfte Seligpreisung (5,7) hebt Barmherzigkeit hervor. Es geht dabei um konkrete Liebeswerke (wie etwa Almosen in 6,2-4) in der Hinwendung zu den Armen (9,27-31; 15,21-8; 17,14- 18; 20,29-34), aber auch um gegenseitige Vergebung (18,33). So steht im Matthäusevangelium die Barmherzigkeit über dem formellen Opfer (9,13; 12,7) und zählt zu den gewichtigsten Aspekten der Torahtreue in der Nachfolge Jesu (23,23). Die siebte Seligpreisung (5,9) spricht direkt das Gewaltproblem an: Ins Zentrum des »Glücks« werden diejenigen gerückt, die sich aktiv für zwischenmenschliche Versöhnung einsetzen (Friedensstifter). Die Verheißung der Gotteskindschaft knüpft zudem direkt an das Gebot der Feindesliebe in der letzten »Antithese« an (5,45). 8 Die letzte Seligpreisung (5,10) mit ihrer direkten Ausweitung auf die zweite Person Plural (5,11f.) führt die Abhängigkeit der ersten Seligpreisung bis zum Extrem der Erfahrung von öffentlicher Schmähung, übler Nachrede und physischer Schädigung. 9 Die Verfolgung des Gerechten ist ein Topos der weisheitlichen Tradition (Ps 37; SapSal 1,16-5,23), die auch in der Prophetenmordtradition zum Ausdruck kommt (vgl. Neh 9,26; Mt 23,34f.; Apg 7,52; 1Thess 2,14-16). Sie setzt die Wehrlosigkeit der Ausgegrenzten und Verfolgten voraus. 10 In diesem Sinne formuliert 1Petr 3,14a: »Aber wenn ihr auch leiden solltet um der Gerechtigkeit willen, glückselig seid ihr! « 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 14 Moisés Mayordomo Gewaltvermeidung in der Bergpredigt ZNT 24 (12. Jg. 2009) 15 Das Charakterbild der Seligpreisungen geht von der grundlegenden Erfahrung der Abhängigkeit des Menschen von Gott aus und damit zugleich vom Eingeständnis an die eigene Begrenztheit. Im Horizont dieser Selbstwahrnehmung entwickeln sich Sanftmut, Mitgefühl, Versöhnungsbereitschaft und Wehrlosigkeit trotz Anfeindungen als wesentliche Eigenschaften, die mit dem Glück der Himmelsherrschaft bedacht werden. Als feierliche Eröffnung der Bergpredigt sind die Seligpreisungen der »Charakterboden«, aus dem heraus die Befolgung der Anweisungen zum Sozialverhalten in 5,21- 48 (in den sog. »Antithesen«) natürlich herauswachsen kann. Der Spitzensatz in 5,48 (»Seid nun vollkommen / vollendet / ganzheitlich [gr. teleios], wie euer himmlischer Vater vollkommen / vollendet / ganzheitlich ist«) umfasst nicht nur das Sollen der »Antithesen«, sondern auch das Sein der Seligpreisungen. Auch die Zusammenfassung der Bergpredigt in der moralischen Maxime in 7,12 betont die Tugend der Empathie als Grundlage für eine Ethik der Reziprozität. Verfolgung und Martyrium waren für viele Täufer der konsequent zu Ende gedachte Weg der gewaltlosen Christusnachfolge. 11 So schreibt Conrad Grebel (ca. 1498-1526), eine der wichtigsten Gestalten des süddeutsch-schweizerischen Täufertums, 1524 in einen Brief an Thomas Müntzer: »Man soll auch das Evangelium und seine Anhänger nicht mit dem Schwert schirmen, und sie sollen es auch selbst nicht tun. Wie wir durch unsern Bruder vernommen haben, ist das auch Deine Meinung und Haltung. Rechte gläubige Christen sind Schafe mitten unter den Wölfen, Schafe zum Schlachten, müssen in Angst und Not, Trübsal, Verfolgung, Leiden und Sterben getauft werden, sich im Feuer bewähren und das Vaterland der ewigen Ruhe nicht durch Erwürgen leiblicher Feinde erlangen, sondern durch Tötung der geistlichen. Auch gebrauchen sie weder weltliches Schwert noch Krieg. Denn bei ihnen ist das Töten ganz abgeschafft - es sei denn, wir gehörten noch dem alten Gesetz an. Aber auch dort [im Alten Testament] ist (wenn wir es recht überlegen) der Krieg, nachdem sie das gelobte Land erobert hatten, nur eine Plage gewesen. Von dem nicht mehr.« 12 Es ist ein besonders perfider Angriff gegen das Täufertum, wenn Calvin in seiner Auslegung der Seligpreisungen die Täufer ausdrücklich von der letzten Seligpreisung ausschließt: »Zu beachten sind dagegen diese Zusätze um meinetwillen oder um des Menschensohnes willen und ebenso: wenn sie euch schmähen, so sie daran lügen. Es soll sich nur nicht gleich als Märtyrer Christi brüsten, wer durch eigene Schuld Verfolgung leidet (ne se protinus Christi martyrem esse iactet, qui sua culpa sustinet persequutionem); einst gaben sich die Donatisten nur mit diesem Titel zufrieden, weil sie die Obrigkeit gegen sich hatten. Und heute bringen die Wiedertäufer das Evangelium in Verruf, wenn sie mit ihren Phantasien die Kirche verwirren; dennoch rühmen sie sich, die Wundmale Christi zu tragen, wo sie doch zu Recht verdammt werden (Et hodie Anabaptistae, quum perturbant suis deliriis ecclesiam, evangelium infamant, gloriantur tamen se ferre Christi insignia, ubi iuste damnantur). Aber Christus preist nur die selig, die seine Sache in rechter Weise verteidigen.« 13 2.2. Gemeinschaftliche Existenz als Aufgabe Das Doppelbildwort vom Salz und Licht wirkt zwischen den Seligpreisungen (5,3-12) und den sog. »Antithesen« (5,17-48) wie ein unscheinbarer Übergangsblock. Es umschreibt jedoch das Programm wenn nicht der gesamten Bergpredigt so doch zumindest der Anweisungen in 5,21-48. 14 Die in den Seligpreisungen beschriebene Menschengruppe wird als das »Salz der Erde« und das »Licht der Welt« herausgehoben. Die Voranstellung der Personalpronomina im Griechischen dient einer besonders starken Betonung: »Ausgerechnet ihr - die ihr verfolgt und geschmäht werdet - ihr seid das Salz der Erde.« Die in den Seligpreisungen zugesprochene Identität soll sich nun in der Praxis bewahrheiten. 15 Die merkwürdige Spannung zwischen bereits angebrochenem Himmelreich und künftiger »Erbschaft«, zwischen Trauer und Verfolgung hier und Lohn im Himmel ist deswegen auszuhalten, weil die Gemeinschaft eine Funktion in und für die Welt hat. Auf der Bildebene werden zwei Elemente herausgegriffen, die durch ihre charakteristische Beschaffenheit eine eindeutige Funktion haben: Salz und Licht. Salz kann nicht anders als salzen und eine beleuchtete Stadt kann nicht verborgen »Auch die Zusammenfassung der Bergpredigt in der moralischen Maxime in 7,12 betont die Tugend der Empathie als Grundlage für eine Ethik der Reziprozität.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 15 Zum Thema 16 ZNT 24 (12. Jg. 2009) bleiben. Es geht an dieser Stelle jedoch nicht um konkretes moralisches Handeln, sondern um so etwas wie »funktionale Identität«. Dass es hier um eine Funktion geht, die nur die Jünger und Jüngerinnen wahrnehmen können, macht der bestimmte Artikel deutlich: »Ihr seid das Salz und das Licht - und niemand anderes.« Die vielen Bildkonnotationen, die sowohl Salz als auch Licht hervorrufen können, sollen hier nicht weiter interessieren, denn jeder Versuch, diese im Sinne einer materialen Ethik aus sich selbst heraus zu füllen, ist zum Scheitern verurteilt. Was Salz- und Lichtsein konkret bedeutet, ist aus 5,17-48 präzise zu erheben. Negativ malt 5,13b die absurde Situation aus, dass Salz nicht mehr salzt. Es hätte dann jegliche Daseinsberechtigung verloren (der bedrohliche Ton der Bilder ist offensichtlich). Dass das Salz wörtlich dumm wird (griech. mōrainō), kann ein Vorverweis auf das Abschlussgleichnis sein (7,24- 27: ein dummer Mann [griech. mōros] baut auf Sand). Ebenso absurd wie das geschmacklose Salz wäre es, ein Licht unter einen Scheffel zu stellen (5,15). Stellt man die Lampe - man wird wohl an eine Öllampe zu denken haben - unter einen solchen Behälter, wird sie nicht nur ihre Leuchtkraft einbüßen, sondern mit der Zeit auch ausgehen. Es ist selbstverständlich, dass man die Lampe auf den dafür vorgesehenen Leuchter stellt, damit alle im Haus davon profitieren. Ebenso soll die Existenz der Nachfolgegemeinschaft eine Existenz-für-die- Welt sein. Diese Thematik wird, verbunden mit der Lichtmetaphorik, wieder im Gleichnis von den »zehn Jungfrauen« aufgenommen (25,1-13). Positiv formuliert schließlich 5,16, was in 5,13- 15 gemeint ist. Die Lichtmetapher dient bereits im AT zur Beschreibung des Lebenswandels: »Aber der Pfad der Gerechten ist wie das glänzende Morgenlicht, heller und heller erstrahlt es bis zur Tageshöhe.« (Spr 4,18) In diesem Fall ist ausdrücklich geboten, das eigene Licht vor den Menschen leuchten zu lassen. Damit sind alle Außenstehenden gemeint. 16 Der allgemeine Hinweis auf die Menschen stellt die Jüngergemeinde der Welt gegenüber und mutet dieser eine besondere Rolle zu. Das »Leuchten« besteht konkret in den »guten Werken«, von denen in 5,21-48 die Rede sein wird. Auffällig ist der dreifache Genitiv: Die Jünger und Jüngerinnen sollen ihr Licht leuchten lassen, damit die Menschen ihre guten Werke sehen, aber dann nicht sie, sondern ihren himmlischen Vater loben. Das Sehen der guten Werke verhilft nicht ihnen zu Ruhm und Anerkennung (vgl. 6,1-18; 23,5), sondern regt zum Gotteslob an. In ihrem Verhalten sind sie »transparent«, d.h. sie weisen auf Gott hin; sie sind offene Fenster, durch welche Gottes Licht erkennbar wird. Ihr Licht ist nicht eigene Gerechtigkeit, sondern Spiegelung von Gottes Licht. Die Verschiebung von 5,14a (Licht = die Jünger) zu 5,16 (Licht = ihre Werke) ist »nur eine scheinbare; die Person ist nicht eine Größe, die außerhalb ihrer Werke existent ist. Im Bild: das Licht ist nicht von der Lichtquelle zu lösen.« 17 Die Verhältnisbestimmung zwischen »Licht sein« und »gute Werke tun« ist »nicht so, dass die Jünger dadurch ihr Licht leuchten lassen, dass sie gute Werke tun, sondern wenn sie ihr Licht leuchten lassen, tun sie gute Werke.« 18 Der Verzicht auf Gewalt ist Teil einer bezeugenden, hinweisenden, geradezu »semiotischen« Existenz von Menschen, welche Jesus in der Welt nachfolgen. Dass dies das Ziel der Jüngerschaft ist, macht auch der Abschluss in 28,18-20 deutlich. Das Gebot, alles zu halten, was »ich euch geboten habe«, ist ein Rückverweis auf die großen Reden im Matthäusevangelium besonders aber auf die erste und grundlegende unter ihnen: die Bergpredigt. 2.3. Das Gericht als Horizont menschlichen Handelns Die Bergpredigt endet mit einem Ausblick auf das Gericht (7,13-27). Segen am Anfang und Gericht am Ende stehen keineswegs in Spannung zueinander. Gericht und Ethik bilden im Matthäusevangelium einen ganz engen Zusammenhang. So warnt Jesus am Ende des Gleichnisses vom unbarmherzigen Knecht: »So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht ein jeder seinem Bruder von Herzen vergebt.« (18,35) In der großen Endgerichtsszene in 25,31-46 werden die Menschen danach gerichtet, ob sie karitativ mit anderen umgegangen sind. Auch in der Bergpredigt bildet das göttliche Gericht den Horizont des Handelns (vgl. 5,22b; 6,16; 7,1; usw.). Der Gerichtsgedanke zielt keineswegs auf das Erzeugen lähmender Angst vor Bestrafung. Vielmehr wird menschliches Handeln in der Gegenwart in den Horizont eines jenseitigen Urteils eingezeichnet. 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 16 Moisés Mayordomo Gewaltvermeidung in der Bergpredigt ZNT 24 (12. Jg. 2009) 17 Der Gerichtsgedanke fokussiert moralisches Handeln auf ein Entweder-Oder: Es gibt nur zwei Wege (7,13-14), zwei Früchte (7,15-20), zwei Haltungen vor Gott (7,21-23) und zwei Fundamente (7,24-27). Diese Form von »Schwarzweißmalerei«, die der Ethik zwei deutlich ausdifferenzierte Wege vorzeichnet, erscheint heute vielleicht naiv. Es geht jedoch darum, im Horizont göttlichen Richtens zu moralischen Entscheidungen zu motivieren. Menschliches Handeln und Sein unterliegt damit dem göttlichen Urteil. Dass die guten Taten jedoch nicht aus reiner Pflichterfüllung geschehen, macht die metaphorische »Logik« von Baum und Frucht deutlich. Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte hervorbringen - und umgekehrt (7,18). Der moralische Wert einer Tat leitet sich von ihrem personalen Ursprung her, dem moralisch fühlenden, denkenden und handelnden Menschen. Umgekehrt lässt sich von den Taten auch auf das Gutsein eines Menschen schließen. Diese Einheit von Hören und Tun wird in der Abschlussparabel von den beiden Hausbauern in Bilder gefasst (7,24-27). Der vorbildhafte Erbauer wird als »zielgerichtet klug und besonnen« (griech. phronimos) bezeichnet (7,24; s.a. 10,16; 24,45; 25,2.4.8f.) und damit gerade in seiner Charakterdisposition hervorgehoben. 19 Für die Frage der Gewalt hält die matthäische Gerichtsperspektive jedoch einen beunruhigenden Befund parat. Das Gerichtshandeln Gottes ist nicht frei von Bildern der Gewalt. So enden einige Gleichnisse mit Gewalthandlungen gegen die Bösen, die an plastischer Brutalität wenig zu wünschen übrig lassen (13,41f.49f.; 18,35; 21,41.44; 22,7.13f.; 24,48-51; 25,30). 20 Hinzu kommt die Verstärkung der Rede von der Hölle im Matthäusevangelium, die zu einer ethischen Kritik drängt. 21 2.4. Der erzählte Jesus Die Bergpredigt ist zwar ein Text, dessen Geschlossenheit die Auslegung manchmal dazu führt, dass die gesamte matthäische Jesusgeschichte als literarische Rahmenvorgabe in Vergessenheit gerät. 22 Sie ist jedoch im Sinne des Erzählers eine Sprachhandlung Jesu und ist damit eingebettet in das Gesamtbild der narrativen Hauptfigur. Wenn in 7,28f. die Menschenmenge als Reaktion auf das Gehörte ins Staunen verfällt, dann soll damit auch die Reaktion der externen Rezipienten vorstrukturiert werden. Sie sollen an dieser Stelle über Jesu Worte mitstaunen. Es gibt also deutlich eine christologische Dimension in der Bergpredigt; sie ist insgesamt ein Mittel der Charakterisierung Jesu. Die Einsicht der Menge, dass Jesus - im Gegensatz zu ihren Lehrern - mit Vollmacht lehre, dient der Abgrenzung von den jüdischen Lehrern, die bereits in 5,20 leitend war. Grundlage der überragenden Lehre Jesu ist seine Vollmacht (exousía). Von der Vollmacht Jesu ist am Ende des Evangeliums auch die Rede: »Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden.« (28,18b; vgl. 11,27) Die Bergpredigt erweist sich damit als eine Manifestation der in Jesu wirksamen Macht Gottes. Diese Macht gibt sich in anderen Lehrhandlungen (21,23f.27), in der Sündenvergebung (9,6.8) und in seinen Heilungen (8,9; 10,1) zu erkennen. Die Reaktion der Menge und der Vergleich mit anderen Lehrern erweist letztendlich die überragende Qualität des Lehrers und seiner Lehre. Der Blick über die Bergpredigt hinaus auf die matthäische Gesamterzählung zeigt eine Jesusfigur, die sich als Modell zum Nachahmen eignet. Jesus selbst lädt alle durch Gesetzesrigorismus Beladenen dazu ein, in seiner Anwesenheit zur Ruhe zu kommen. Dabei charakterisiert er sich selbst als »sanftmütig und von Herzen demütig« (11,28-30) und begründet damit seine Position als Lehrer. Jesus dient als Modell für den in der Bergpredigt geforderten Charakter. 23 Nachfolge in Gemeinschaft wird zum eigentlichen Ort der Charakterbildung. 3. Mt 5,38-48: Gewaltverzicht und Feindesliebe Die konkreten Weisungen zum Umgang mit Gewalt sind in der Bergpredigt vernetzt mit Friedenstugenden, einer spezifischen Aufgabe für die Gemeinschaft in der Welt, dem narrativen Vorbild Jesu und dem Gerichtswirken Gottes als Horizont menschlichen Handelns. Relevante Texte wären 5,21-26 (Umgang mit Zorn und Versöhnungsbereitschaft), 7,1-5 (nicht richten) oder 7,12 (die »Goldene Regel«). Im Folgenden möchte ich mich jedoch auf den Abschnitt konzentrieren, der am deutlichsten (überhaupt von allen neutestamentlichen Texten) mit dem Thema der Gewalt- 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 17 Zum Thema 18 ZNT 24 (12. Jg. 2009) überwindung verknüpft wird: Mt 5,38-48. Dieser Abschnitt gilt zu Recht als die für Jesus charakteristische Position zum Problem der Gewaltüberwindung und verdient daher besondere Aufmerksamkeit. 3.1. Widersteht nicht dem Bösen! (Mt 5,38-42) 38 Ihr habt gehört, dass gesprochen wurde: »Auge um Auge« und »Zahn um Zahn«. 39 Ich sage euch: Widersteht nicht dem Bösen! Sondern wer auch immer dich schlägt auf deine rechte Wange: Halte ihm auch die andere hin! 40 Und dem, der dir vor Gericht dein Unterkleid nehmen will: Überlass ihm auch den Mantel! 41 Und wer auch immer dich zu einer Meile (als Lastenträger) zwingt: Geh’ mit ihm zwei. 42 Dem, der dich bittet, gib! Und den, der von dir borgen will, weise nicht ab! Wie in den anderen Weisungen dieser Reihe setzt Jesus mit einem Hinweis auf eine Rechtssatzung aus der Torah ein: Das Auge-um-Auge-Prinzip (Ex 21,23-25; Lev 24,19-21; Dtn 19,18-21) ist ursprünglich eine juristische Maßnahme zur Humanisierung legaler Sanktionierungsmittel. 24 Eine Legitimierung privater Vergeltung ist damit zwar nicht intendiert, dennoch muss angesichts der »natürlichen« Neigung zur Vergeltung genau eine solche Fehldeutung ausgeschlossen werden. 25 Die absolute Weisung Jesu, dem Bösen nicht zu widerstehen (5,39a), ist m.E. in den thematisch vorgegebenen Rahmen der Vergeltung einzuordnen. Nicht widerstehen bedeutet, dem Bösen nicht mit gleichen Mitteln entgegenzutreten. 26 Dieses »Basisprinzip« wird durch eine Reihe übertriebener Illustrationen pädagogisch einprägsam ausgeleuchtet. Darin wird auch deutlich, dass es sich bei dem »Bösen« nicht abstrakt um das Böse handelt, sondern konkret um Menschen, die sich anderen gegenüber böse verhalten (schlagen, pfänden, zwingen). Die Illustrationen in 5,39b-42 haben in der Wirkungsgeschichte häufig als Angriffsfläche für all jene gedient, die dem Christentum Naivität und Realitätsverlust vorwerfen wollen. Sie sind im gegenwärtigen Textzusammenhang m.E. am sinnvollsten als Illustrationen für den Verzicht auf Vergeltung zu verstehen. a) Die Ohrfeige (5,39b): Der Schlag mit dem Handrücken auf die rechte Wange ist eine öffentliche Ehrverletzung. Als eine Form von Demütigung bringt eine solche Handlung nicht nur das Gefüge von Ehre und Schande durcheinander, sie eignet sich auch psychologisch als Auslöser von Gegengewalt. In allen Kulturen ist Gewalt als Antwort eine geradezu erforderliche Form, um den Statusverlust wieder herzustellen. Die Aufforderung, die andere Wange hinzuhalten, ist in erster Linie nichts anderes als ein Aufruf zum Verzicht auf Rache. Es ist zugleich eine Absage an die geltende »Grammatik der Gewalt«, die in den meisten Kulturen derart eingeschrieben ist, dass sie das Zerstörerische an der Anwendung physischer Gewalt kaum erkennbar werden lässt. Die andere Wange ist eine Provokation, die »weder die eigene Ehre zu erhalten, noch die eigene Machtstellung durchzusetzen sucht«. 27 b) Das Pfänden des Gewandes (5,40): Die zweite Illustration situiert die Rezipienten in einen Gerichtskontext, in dem (wieder) die Akteure als Männer vorzustellen sind. Damals (wie heute) diente das Strafrecht dazu, den Wunsch nach persönlicher Rache in (halbwegs) geordnete Bahnen zu lenken. Für einen armen Menschen gab es im römischen Rechtssystem jedoch keine Rechtssicherheit. Jesus konstruiert den Fall, dass jemand das Gewand pfänden will. Statt auf Rache zu sinnen, soll man ihm das noch kostbarere Obergewand dazu geben. Das Pfänden des Obergewandes ist in der Torah aus humanitären Gründen - weil der Arme sich nachts damit zudeckt - verboten (Ex 22,26; Dtn 24,12f.). Wörtlich sollte man diese Anweisung nicht nehmen, denn damals kleideten sich die Männer mit diesen beiden Kleidungsstücken. Die Aussagerichtung ist wie im Falle der Ohrfeige: Zahle nicht mit gleicher Münze zurück! Setze Zwang und Gewalt (auch aus einer Situation der Unterlegenheit) etwas Kreatives entgegen! c) Nötigung (5,41): In der dritten Illustration kommt eine Situation ins Blickfeld, die auf das Problem der römischen Besatzungsmacht anspielt. Römische Soldaten und öffentliche Beamte hatten das Recht, Menschen der von ihnen besetzten Gebiete zu kleinen Abgaben (z.B. Verpflegung) und Dienstleistungen (z.B. als Lastenträger) zu zwingen. Aus der Passionsgeschichte ist ein Fall bekannt: Simon von Kyrene wird von Solda- 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 18 Moisés Mayordomo Gewaltvermeidung in der Bergpredigt ZNT 24 (12. Jg. 2009) 19 ten gezwungen, das Kreuz Jesu zu tragen (Mk 15,21). Wieder wird der Verzicht auf gewaltsame Vergeltung für eine solche Verletzung des Nationalgefühls durch eine »unnatürliche« Reaktion illustriert: eine freiwillige zweite Meile. Damit stellt der Text zugleich die unbequeme Frage, ob der Eifer für das eigene Volk und die berechtigte Sehnsucht nach Freiheit vor politischer Unterdrückung ausreichende Gründe darstellen, um Gewalt mit Gewalt zu beantworten. Diese Frage hat nichts an Aktualität eingebüßt ... d) Mahnung zu Großzügigkeit (5,42): Man soll je nach Bedarf geben und leihen (selbstverständlich ohne Zins). Auch diese Anweisung ist eine Richtungsanweisung, denn wir würden bald alle eigenen Ressourcen aufbrauchen, wenn wir alle Bedürfnisse zu beheben suchten. Jesus erinnert aber daran, auf dem Weg der Gewaltüberwindung etwas so Elementares wie die Nöte der Anderen nicht zu vergessen. Hält man sich den Zusammenhang zwischen Gewalt und Armut vor Augen, dann ist der Hinweis auf einen großzügigen Güterausgleich vielleicht keine Beiläufigkeit im Gedankengang von Mt 5,38-42. Es ist durchaus bedeutsam, welche Kontexte in den vier Illustrationen aufgerufen werden: Die Spielregeln der Ehre, das Unrecht der Rechtspraxis, die Verletzlichkeit ethnischer Identitäten und die Dynamik des ökonomischen Gefälles. All diese Kontexte waren und sind ausgesprochen produktive Brutstätten für zwischenmenschliche Rache- und Gewaltakte. Im Grundsatz gibt Jesus in übertriebenen Bildern eine Ahnung dessen, was es bedeutet, Böses nicht mit Bösem zu vergelten. Gewaltlosigkeit kann sich jedoch nicht in einfachen Regeln zur Sprache bringen, sondern bewegt sich außerhalb des Reglementierbaren auf der Ebene kreativer Überraschung. Dieser »symbolische […] Protest gegen den Regelkreis der Gewalt« 28 setzt den Menschen dem Risiko der Lächerlichkeit aus, denn zur »Grammatik« der Gewalt gehört, dass Vergeltung als mannhaft, vernünftig und angemessen erscheint. 3.2. Liebt eure Feinde! (Mt 5,43-47) 43 Ihr habt gehört, dass gesprochen wurde: »Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.« 44 Ich sage euch: Liebt eure Feinde, und betet für die, die euch verfolgen, 45 so dass ihr Kinder eures himmlischen Vaters werdet. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und bringt Regen über Gerechte und Ungerechte. 46 Wenn ihr nämlich die liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr? Tun die Zöllner nicht auch dasselbe? 47 Und wenn ihr nur eure Geschwister grüsst, was macht ihr Besonderes? Tun die von den Nationen nicht auch dasselbe? Die letzte »Antithese« ist der Kulminationspunkt der gesamten Reihe. Das Thema des konkreten Verhaltens in sozialen Konfliktsituationen wird in diesem letzten Abschnitt auf das Gebot der Feindesliebe zugespitzt. Lev 19,18 dient dabei als Themen-Vorgabe. Ohne auf die Einzelheiten dieser grundlegenden Torah-Weisung einzugehen, lässt die Formulierung offen, wer der »Nächste« ist und wie man sich gegenüber »Nicht-Nächsten« zu verhalten habe. Die Weisung Jesu argumentiert aus der Perspektive einer Gemeinschaftserfahrung, in der Feindschaft in erster Linie als »Verfolgung« (5,43f.) wahrgenommen wird. Die Gemeinde steht also nicht jenseits der Kategorien von Freund und Feind, sondern sie anerkennt die Realität von Feindschaft und nimmt damit unweigerlich auch eine politische Haltung ein. Die Pointe der Anweisung Jesu liegt daher nicht darin, dass man Feinde wie Freunde behandelt, sondern dass man den Feinden als Feinden mit Liebe begegnet. 29 »Nicht die Leugnung oder Verharmlosung der Feindschaft ist in der Feindesliebe gemeint, sondern eine Zuwendung, die erkannt hat, dass gerade der Hassende der Liebe am meisten bedarf. Jesu Gebot zielt auf eine ungeteilte Liebe […], die auf die Einseitigkeit der erfahrenen Feindschaft mit einer unkalkulierten Einseitigkeit der »Die Gewaltlosigkeit kann sich jedoch nicht in einfachen Regeln zur Sprache bringen, sondern bewegt sich außerhalb des Reglementierbaren auf der Ebene kreativer Überraschung.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 19 Zum Thema 20 ZNT 24 (12. Jg. 2009) Liebe antwortet. In dieser das natürliche Ethos überschreitenden Einseitigkeit liegt das ›Ausserordentliche‹ (perisson, Mt 5,47), durch das sich das Handeln des Jüngers auszeichnet.« 30 Als konkretes Beispiel für Feindesliebe nennt Jesus die Fürbitte. Das ist insofern bedeutsam, als durch das Gebet die Wahrnehmung des »Feindes« geändert wird. Der Text stellt jedoch nicht in Aussicht, dass sich die Person in ihrer Feindseligkeit durch Liebe ändert (zu einer solchen »Entfeindungsliebe« vgl. Röm 12,21; 1Petr 2,12; Justin, Apol. I,14,3). Als Ziel der Feindesliebe gibt 5,45 die Transparenz des Familienbezugs zum himmlischen Vater an (in Wiederaufnahme von 5,9). Nicht-selektive Liebe ist jene Verhaltensweise, durch welche die Jünger und Jüngerinnen als Gottes Kinder erkennbar und damit als Salz und Licht wirksam werden. Nicht-selektive Liebe verweist auf Gott, weil Gott selbst uneingeschränkt Gutes schenkt: »Er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte« (45b; vgl. Ps 145,9). Regen und Sonne werden damit zu Symbolen der Liebe Gottes zu seiner gesamten Schöpfung, zu Menschen, Tieren und Pflanzen gleichfalls. Die selektive und eigennützige Liebe wird in 5,46f. in Frage gestellt. Grüßt man nur jene, die einen selbst grüßen, dann hat man nichts auffällig anderes gemacht. Im Himmelreich geht es aber um den Einbruch des »auffällig Anderen« in den Alltag dieser Welt. Licht der Welt kann die Nachfolgegemeinschaft nicht sein, indem sie so handelt wie alle anderen - wie die Heiden und Zöllner -, sondern nur, indem sie »außergewöhnlich« handelt (vgl. perisson in 5,47 und perisseuō in 5,20). In dieser Liebe kommt der Mensch (nach 5,48) zur Vollendung (vgl. die Parallelen in Lk 6,36 und Justin, Apologie I,15,13). 4. Abschlussüberlegungen Die verschiedenen Haltungen, die aus der Wirkungsgeschichte erkennbar werden (s.o.), sind nicht nur exegetisch im Lichte von Mt 5,38-48 zu bedenken, sondern auch in Auseinandersetzung mit dem gesamten theologischen Feld des Matthäusevangeliums zu reflektieren. 31 Die Bergpredigt präsentiert keine leicht operationalisierbaren Modelle zur Gewaltüberwindung. Die schillernden Illustrationen in 5,39b-42 eignen sich kaum als kasuistische Einzelgebote zur wörtlichen Befolgung. Sie dienen eher der kritischen Analyse der Entstehungsmuster von gesellschaftlich anerkannter Gewalt. Damit provozieren sie zu einer Haltung, welche in Entsprechung der »Andersheit« der Gottesherrschaft vermeintliche Sachzwänge von Gewalt und Gegengewalt kreativ außer Kraft setzt. Die Bergpredigt arbeitet damit an der theologischen Grundlegung einer gewaltfreien Lebenspraxis. Das literarische Verknüpfungsraster des gesamten Evangeliums lässt daher jede Isolierung von 5,38-48 als Einzelweisung unsinnig erscheinen. Die Absage an Gewalt steht im Zusammenhang mit dem Charakterbild der Seligpreisungen, mit der bezeugenden Existenz der Gemeinschaft in und für die Welt, mit dem Gerichtswirken Gottes, mit der narrativen Charakterisierung Jesu, mit der göttlichen Vollendung des Menschen in der Praxis nicht-selektiver Liebe und mit dem Prinzip der Reziprozität in der »Goldenen Regel«. Anmerkungen 1 Vgl. W. Dietrich / M. Mayordomo, Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel, Zürich 2005, 11-23; zusammenfassend in: W. Dietrich / M. Mayordomo, Art. Gewalt, Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009, 210f. Ich danke Raphael Reift für seine Korrekturarbeiten. 2 Eidesverweigerung und Pazifismus galten als »besonders staatsgefährdende[s] Ärgernis« und wurden daher mit Todesstrafe verfolgt (vgl. C. Bauman, Gewaltlosigkeit im Täufertum, Leiden 1968, 33). 3 Text in modernem Deutsch nach U. Bister / U.B. Leu, Verborgene Schätze des Täufertums. Seltene Dokumente zur Täufergeschichte des 16. Jahrhunderts, Herborn 2001, 24. 4 Vgl. an neuerer Literatur: J.P. Greenman, u.a. (Hg.), The Sermon on the Mount through the Centuries. From the Early Church to John Paul II, Grand Rapids 2007; U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 1 (EKK I / 1), Neukirchen-Vluyn 5 2002, 252-265; M. Stiewe / F. Vouga, Die Bergpredigt und ihre Rezeption als kurze Darstellung des Christentums (NET 2), Tübingen 2001. 5 Ausführlich dazu M. Mayordomo, Möglichkeiten und »Im Himmelreich geht es aber um den Einbruch des ›auffällig Anderen‹ in den Alltag dieser Welt.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 20 Moisés Mayordomo Gewaltvermeidung in der Bergpredigt ZNT 24 (12. Jg. 2009) 21 Grenzen einer neutestamentlich orientierten Tugendethik. Ein programmatischer Entwurf, ThZ 64 (2008), 213-257. 6 Versuchsweise in Mayordomo, Tugendethik, 248-252. Zum Präventivcharakter von Tugenden in der Bibel s. W. Dietrich / M. Mayordomo, Vertrauen schaffen - Sanftmut üben - Gerechtigkeit suchen. Wege der Gewaltprävention in der Bibel, in: W. Dietrich / W. Lienemann (Hgg.), Gewalt wahrnehmen - von Gewalt heilen, Stuttgart 2004, 168-185: 175-179. 7 Ps 34(33),19: »zerbrochenen Herzens«; Pred 7,8: »stolz im Geist«; 1QM 14,7: »Und er verleiht denen, deren Knie wanken, festen Standort und Festigkeit der Lenden den zerschlagenen Nacken. Und durch die, die demütigen Geistes sind [....] das verstockte Herz. Und durch die, die vollkommenen Wandels sind, werden alle Völker des Frevels vertilgt.« 8 Gotteskindschaft erscheint im Matthäusevangelium nur an diesen beiden Stellen; vgl. R. Schnackenburg, Die Seligpreisung der Friedensstifter (Mt 5,9) im mattäischen Kontext, BZ 26 (1982), 161-178. 9 Vgl. allgemein dazu: W. Dietrich / M. Mayordomo, Art. Verfolgung, Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009, 604-608. 10 Dass die Boten schutzlos sind, ist sowohl an den Ausstattungsregeln in Mt 10 als auch an den Leidenskatalogen des Paulus (2Kor 4,7-10; 6,4-10; 11,21-29) ablesbar. 11 E. Stauffer, Märtyrertheologie und Täufertum, ZKG 42 (1933), 545-598. 12 Zitiert nach H. Fast (Hg.), Der linke Flügel der Reformation. Glaubenszeugnisse der Täufer, Spiritualisten, Schwärmer und Antitrinitarier (Klassiker des Protestantismus 4), Bremen 1962, 20. 13 Johannes Calvins Auslegung der Evangelien-Harmonie, übers. H. Stadtland-Neuland / G. Vogelbusch (Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift 12), Neukirchen-Vluyn 1966, Teil 1, 174f. (lat.: CR 73: 165). 14 Dafür spricht der Kontrast zwischen 5,16 und 6,1, der eine differenzierte Bedeutung des matthäischen Gerechtigkeitsvokabulars nahe legt. 15 R. Heiligenthal, Werke als Zeichen. Untersuchungen zur Bedeutung der menschlichen Taten im Frühjudentum, Neuen Testament und Frühchristentum (WUNT II / 9), Tübingen 1983, 115f. 16 In 5,10-12 wird bereits eine außen stehende Menschengruppe impliziert, die auf der Erzähloberfläche eine Leerstelle bildet. Hier wird explizit von »Menschen« gesprochen (vgl. auch 5,19; 6,1.2.5.14-16.18; 7,12; dazu: 23,4-5.7.13-28). Die »Menschen« können als Verfolger auch eine Bedrohung darstellen (10,17: »Hütet euch vor den Menschen! «; 17,22). Die Gruppe der Pharisäer und Schriftgelehrten setzt sich deutlich von den »Menschen« ab (5,19-20; 6,1-5). 17 H. Conzelmann, Art. Phōs , ThWNT 9, Stuttgart 1973, 302-349: 335 / 28-30 und Anm. 271. 18 S. Aalen, Der Begriff des Lichtes in den synoptischen Evangelien, SEA 22 / 23 (1957 / 58), 17-31: 31. 19 Vgl. zu diesem Gleichnis und zu Mt 25,1-13 M. Mayordomo, Einstürzende Neubauten (Hausbau auf Fels oder Sand) Q 6,47-49 (Mt 7,24-27 / Lk 6,46-49), in: R. Zimmermann u.a. (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 92-99; Kluge Mädchen kommen überall hin… (Von den zehn Jungfrauen) - Mt 25,1-13, in: Ebda., 488-503. 20 Vgl. B.E. Reid, Violent Endings in Matthew’s Parables and Christian Nonviolence, CBQ 66 (2004), 237-255. 21 Vgl. H. Räisänen, Matthäus und die Hölle. Von Wirkungsgeschichte zur ethischen Kritik, in: M. Mayordomo (Hg.), Die prägende Kraft der Texte: Hermeneutik und Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. Ein Symposium zu Ehren von Ulrich Luz (SBS 199), Stuttgart 2005, 103-124. 22 Augustin war bekanntlich der erste, der die Bergpredigt als in sich geschlossenen Einzeltext kommentiert hat. 23 Vgl. z.B. zur Sanftmut den Einzug in Jerusalem (21,5) und zur Barmherzigkeit seine Heilungen (9,27-31; 15,21-8; 17,14-18; 20,29-34). 24 Vgl. zum antiken Bereich H.D. Betz, A Commentary on the Sermon on the Mount (Hermeneia), Minneapolis 1995, 275-277. 25 Warnungen vor Vergeltung begegnen häufig in der jüdisch-christlichen Literatur; vgl. Ps 7,5f.; Spr 20,22; 24,29; 25,21-22; 1QS 10,17f. (»Nicht will ich jemandem seine böse Tat vergelten, mit Gutem will ich jeden verfolgen. Denn bei Gott ist das Gericht über alles Lebendige, und er vergilt dem Mann seine Tat.«); JosAs 19,3; 23,9; 28,5.10.14; Röm 12,17-19; 1Thess 5,15; 1Petr 3,9. 26 Das griech. anthistēmi wird hier negativ-feindlich im Sinne von »wider-stehen«, »gegen jemanden stehen« gebraucht. 27 G. Strecker, Die Bergpredigt. Ein exegetischer Kommentar, Göttingen 1984, 87. 28 Luz, Matthäus, 388. 29 Ansätze zur Feindesliebe sind auch in der alttestamentlich-jüdischen Tradition nicht selten: M. Ebersohn, Das Nächstenliebegebot in der synoptischen Tradition (MThS 37), Marburg 1993, 16-142; M. Konradt, »…damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet«. Erwägungen zur »Logik« von Gewaltverzicht und Feindesliebe in Mt 5,38-48, in: Dietrich / Lienemann, Gewalt wahrnehmen, 70-92: 71-77; L. Schottroff, Gewaltverzicht und Feindesliebe in der urchristlichen Jesustradition. Mt 5,38-48; Lk 6,27-36, in: G. Strecker (Hg.), Jesus Christus in Historie und Theologie (FS H. Conzelmann), Tübingen 1975, 197-221: 204- 213; G.M. Zerbe, Non-Retaliation in Early Jewish and New Testament Texts (JSP.S 13), Sheffield 1993, 34- 173. 30 W. Huber, Feindschaft und Feindesliebe. Notizen zum Problem des ›Feindes‹ in der Theologie, ZEE 26 (1982), 128-158: 153. 31 Vgl. zur Praxis Dietrich / Mayordomo, Gewalt, 211-217. 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 21