eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 13/25

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2010
1325 Dronsch Strecker Vogel

Vom Geist der Schrift oder: Von der heilsamen Kraft des Unverfügbaren

2010
Stefan Alkier
1. »Ist Geist etwa Sinn in der zweiten Potenz? « (Friedrich Schlegel 1 ) Lesen ist eine komplexe Kulturtechnik. Lesen ist weit mehr als die Aneinanderreihung abstrakter Zeichen. Texte erzeugen Bilder, Stimmungen, Lebensgefühle. Dies trifft nicht erst zu, wenn Künstlerinnen und Künstler den medialen Sprung von den Schriftzeichen zu Gemälden, Plastiken oder Filmen vollziehen. Vielmehr erzeugt Lesen Kino im Kopf, Gedankenexperimente, Sinn und Geschmack für andere Welten. Diese höchst komplexe Kulturtechnik verlangt Kreativität, schlussfolgerndes Denken und kulturelles Wissen und erschließt auf diese Weise die Welt des Textes, sein Diskursuniversum. Diskursuniversum meint die Welt des Textes, so wie er sie setzt und voraussetzt. 2 Die Welt ist hier so, wie der Text sie zu lesen gibt. Allerdings sagen Texte aufgrund der Ökonomie der Zeichen nicht alles, was zur Konstitution des Diskursuniversums im Leseakt notwendig ist. Stets muss bereits erworbenes enzyklopädisches Wissen von den Lesenden eingebracht werden, um die Zeichen mit Vorstellungsbildern zu belegen. Je weniger kulturelles Wissen eingebracht werden kann, desto schwieriger ist es, aus den abstrakten Zeichen ein sinnvoll zusammenhängendes Ganzes zu bauen. Je mehr solch enzyklopädisches Wissen abrufbar ist, je differenzierter und lustvoller wird die Sinnproduktion der Lektüre ausfallen. Schriftzeichen sagen aber nicht nur aufgrund ihrer Ökonomie nicht alles, sondern auch wegen ihrer medialen Grenzen. So können sie zwar den Klang der Stimme beschreiben und sogar die Art und Weise des Sprechens angeben, wie es etwa als Regieanweisung in den Textausgaben von Theaterstücken zu finden ist. Sie lenken damit zwar die Vorstellungskraft der Lesenden, aber sie können nicht den Klang der Stimme selbst erzeugen. Texte sprechen nicht. Dazu bedarf es der Stimme der Schauspieler bzw. der vorgestellten Stimme, wie sie jeder Leser, jede Leserin für sich selbst imaginär erschaffen muss. Lesen ist von schriftlichen Zeichen gelenktes Bilden. Ein Zeichen allein macht noch keinen Text: »Die Zeichen stehen immer in Bezug zu anderen Zeichen, sie existieren nie allein, außer unter einem rein theoretischen Gesichtspunkt« 3 . Auch ein bloßes Nebeneinander von Zeichen ergibt noch keinen Text. Eine Ansammlung von Zeichen erzeugt erst ein sinnvoll zusammenhängendes Ganzes, wenn diese Zeichen syntagmatisch, semantisch und pragmatisch Sinn generierend organisiert wurden bzw. organisiert werden können. »Für uns ist Textualität keine inhärente Eigenschaft verbaler Objekte. Ein Produzent oder ein Rezipient betrachtet ein verbales Objekt als Text, wenn er glaubt, dass dieses verbale Objekt ein zusammenhängendes und vollständiges Ganzes ist, das einer tatsächlichen oder angenommenen kommunikativen Intention in einer tatsächlichen oder angenommenen Kommunikationssituation entspricht. Ein Text ist - gemäß der semiotischen Terminologie - ein komplexes verbales Zeichen (oder ein verbaler Zeichenkomplex), das/ der einer gegebenen Erwartung der Textualität entspricht.« 4 Diese Textdefinition des Texttheoretikers János Petöfi erlaubt es, Texte sowohl bezüglich ihrer »systemimmanenten Konstruktion« als auch hinsichtlich ihrer Funktion in ihrem jeweiligen Produktionsbzw. Rezeptionskontext zu untersuchen. Die Lektüre produziert demgemäß dann Sinn, wenn sie den Aufbau der Zeichen als stimmig konstruieren kann (Syntagmatik), die Bedeutungsfunktion der einzelnen Zeichen diesem Aufbau zuordnen kann (Semantik) und ein Bezug zwischen Text und Leser oder Leserin entsteht (Pragmatik). Die Lektüre produziert jeweils unterschiedliche Sinne, je nachdem, wie sie einen Text gliedert und die einzelnen Zeichen aufeinander bezieht (Syntagmatik), welche Bedeutungseigenschaften eines Zeichens aktualisiert bzw. narkotisiert werden (Semantik; siehe das »Teekesselchen«- Spiel) und wie sich die Lesenden in den Text einschreiben bzw. einschreiben lassen (Pragmatik). Das sind die Grundbedingungen jeder gelingenden Lektüre. Mit »gelingender Lektüre« meine ich dabei zunächst einmal »nur« eine Lektüre, die einen Text mit dem Gefühl verlässt, ein sinnvoll zusammenhängendes Ganzes zusammen gelesen zu haben. Nur wenn sich dieses Gefühl einstellt, kann »Lust am Text« (Roland Barthes) entstehen, die sich wesentlich der Freude an Hermeneutik und Vermittlung Stefan Alkier Vom Geist der Schrift oder: Von der heilsamen Kraft des Unverfügbaren 86 ZNT 25 (13. Jg. 2010) »Lesen ist von schriftlichen Zeichen gelenktes Bilden.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 86 ZNT 25 (13. Jg. 2010) 8 der eigenen Kreativität verdankt, die aus abstrakten Zeichen imaginäre Welten zu schaffen in der Lage ist. Leser sind Regisseure, Bühnenbildner und Schauspieler in einer Person. Lesen ist eine hochkomplexe Kulturtechnik, die erlernt und trainiert werden muss. Lesen ist das Sinn erzeugende Sammeln abstrakter Zeichen mittels ihrer Verknüpfung zu einem homogenen Ganzen, das mehr und anderes ist, als die Summe seiner Zeichen. Lesen versteht sich nicht von selbst und ist keinesfalls kinderleicht. Die Technik des Lesens eröffnet deshalb Welten, weil sie die Kreativität, das schlussfolgernde Denken und das Gedächtnis gleichermaßen schult. Mit dieser Lesekompetenz aber werden die abstrakten Schriftzeichen hörbar, sichtbar, schmeckbar, fühlbar. Es entsteht die Welt des Textes vor den inneren Augen und Ohren der Lesenden. Wenn das im Leseakt gelingt, ist die erste Potenz der Textzeichen aktualisiert worden. Über diese erste Potenz von Textzeichen hinaus, gibt es aber noch eine zweite Potenz des Textes. Wer liest, sieht nicht nur fremde Welten, sondern betrachtet auch die eigene Lebenswelt dann mit anderen Augen, wenn eine solche Beziehung zwischen Text und Leser entsteht, die das Gelesene über den Akt des Lesens hinaus im Leser Wirkung entfalten lässt und ihn bzw. sie verändert. Erzeugt gelingendes Lesen Sinn, so muss dieser erzeugte Sinn den Lesenden noch keineswegs ergreifen. Ich kann einen Text lesen, der mich nicht berührt, auch wenn ich ihn gemäß seiner ersten Potenz sinnvoll zusammengesetzt habe. Sinn im Akt der Lektüre zu erzeugen ist erlernbar, sich von einem bestimmten Text ergreifen zu lassen, entzieht sich aber der Machbarkeit. Sicher, nicht nur engagierte Dichtung, politische Propaganda und kommerzielle Werbung, sondern auch religiöse Texte zielen genau darauf: Menschen zu ergreifen und ihr Handeln zu bestimmen. Es bleibt aber ein kontingentes Geschehen, wenn der eine von diesem Text, der andere von jenem berührt wird. Das Subjekt des Lesens kann sich nicht dazu entscheiden, dass das Gelesene ihm unter die Haut geht. Es ist nicht Souverän der Wirkungen des Textes über die Sinnkonstruktion als erste Potenz des Textes hinaus. Die Wirkkraft eines Textes wirkt über die bloße Sinnkonstruktion im Leseakt hinaus, wenn der Geist des Textes den Geist des Lesers erreicht und ihn zum Umdenken bewegt. Geist ist »Sinn in der zweiten Potenz« (F. Schlegel). 2. Die Kraft des Evangeliums nach Paulus Folgt man den Gliederungen der gängigen Bibelausgaben, also dem Nestle-Aland für den griechischen Text, bzw. der Lutherbibel, der Zürcher Bibel und der Einheitsübersetzung in deutscher Sprache, dann bilden die Verse Röm 1,16-18 einen eigenen, abgegrenzten Sinnabschnitt. Die Zürcher Bibel wählt dafür die Überschrift: »Das Evangelium als Kraft Gottes«. Sie bietet folgende Übersetzung an: »Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; eine Kraft Gottes ist es zur Rettung für jeden, der glaubt, für die Juden zuerst und auch für die Griechen. Gottes Gerechtigkeit nämlich wird in ihm offenbart, aus Glauben zu Glauben, wie geschrieben steht: Der aus Glauben Gerechte wird leben.« Das Wort Evangelium, (gr. euaggelion), meint eine kommunizierbare gute Nachricht, die einen benennbaren Sender und ausmachbare Empfänger aufweist. Eine gute Nachricht ist ein komplexes verbales Zeichen, das seine vom Sender intendierte gute Wirkung entfalten kann, wenn der Empfänger die Zeichen sinnvoll zusammensetzt und sie ihn auf angenehme Weise bewegen. Diese abstrakte Kommunikationsstruktur einer guten Nachricht konkretisiert Paulus mit Blick auf das Evangelium, das er als »Knecht des Christus Jesus, berufen zum Apostel, ausersehen, das Evangelium Gottes Stefan Alkier Vom Geist der Schrift oder: Von der heilsamen Kraft des Unverfügbaren Prof. Dr. Stefan Alkier, Jahrgang 1961, Studium der Evangelischen eologie in Münster, Bonn und Hamburg. Promotion 1993 in Bonn, Habilitation 1999 in Hamburg. 1993-1999 Wiss. Assistent für Neues Testament in Hamburg. Von 2000-2001 Vertretungsprofessur für Bibelwissenschaften an der Universität Gesamthochschule Kassel. Seit 2001 Professor für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche an der Goethe-Universität / Frankfurt. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Wunder, Paulus, Synoptiker, Hermeneutik und Methodologie, Forschungsgeschichte und Rezeption des Neuen Testaments. Weitere Informationen unter: www.evtheol.uni-frankfurt.de. Stefan Alkier 008010 ZNT 25 - Inhalt 09.04.2010 9: 24 Uhr Seite 87 Hermeneutik und Vermittlung 88 ZNT 25 (13. Jg. 2010) zu verkündigen« (Röm 1,1) auch den angeschriebenen Römern übermitteln möchte. Bereits in Röm 1,4 teilt er den Inhalt dieses Evangeliums mit: Es handelt sich um das Evangelium vom Sohn Gottes, der einen doppelten Ursprung hat. Er gehört aufgrund seiner menschlichen Zeugung und Empfängnis zum Haus Davids (in den Paulusbriefen findet sich die Idee der Zeugung durch den Geist kombiniert mit der jungfräulichen Empfängnis nicht). Dem Haus Davids aber gilt die im voran stehenden Vers (Röm 1,2) intertextuell aufgerufene messianische Verheißung in den Schriften der Propheten. Diese Verheißung des Messias aus dem Hause Davids wird durch die Verknüpfung mit Vers 1 selbst als das Evangelium Gottes identifiziert. Das Evangelium Gottes beginnt also mit der messianischen Verheißung in den Schriften der Propheten und Jesus ist als der Christus die Erfüllung dieser Verheißung, denn Christus ist die griechische Übersetzung des hebräischen Wortes meschiach, das wir in den deutschen Übersetzungen als Messias lesen. Jesus, der Davidsohn, ist der durch die Propheten verheißene Messias. Aber darin geht seine Identität nicht auf, denn Röm 1,4 bekundet einen zweiten Ursprung des Sohnes Gottes, der »nach dem Geist der Heiligkeit aber eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht, seit der Auferstehung von den Toten«. Das von Paulus verkündete Evangelium Gottes erzählt also die komplexe Jesus-Christus- Geschichte (E. Reinmuth). Sie beginnt mit den prophetischen Verheißungen des Messias. Sie wird fortgeführt durch den Davidssohn Jesus, mit dessen Leben die Verheißungen erfüllt wurden. Sie erhält ihre ewig währende Fortsetzung durch die vom Geist Gottes bewirkte Auferweckung des gekreuzigten Messias Jesus und dessen Einsetzung zum Sohn Gottes in Macht. Die Verse Röm 1,16f. werden kaum verstehbar, wenn sie als ein in sich geschlossener Abschnitt graphisch abgesetzt werden. Vielmehr schließt Vers 16 syntagmatisch, semantisch und pragmatisch unmittelbar an Röm 1,15 an. Zwischen 1,15 und 1,16 muss ein Komma den Punkt ersetzen! Röm 1,16f. teilen nämlich mit, warum die Jesus-Christus-Geschichte kein Grund zum Schämen ist, obwohl sie doch von einem Davididen erzählt, der als Verbrecher hingerichtet wurde. Der Logik dieser Welt zufolge ist er ein - wie viele vor und nach ihm - gescheiteter »Messias«. Paulus aber schämt sich dieser Geschichte, die sein Evangelium erzählt, nicht, weil er sie als Kraft Gottes weiß, die jeden rettet, der von dieser Geschichte in ihrer dreistufigen Komplexität ergriffen wird und - deshalb gleichursprünglich - glaubt und damit Gott die Ehre gibt. Wer glaubt, dass der hingerichtete Jesus die Erfüllung der messianischen Verheißungen war und Gott diesen Gekreuzigten nicht nur auferweckt, sondern ihn zu seinem Sohn in Macht eingesetzt hat, der wird gerettet. Genau das möchte Paulus auch öffentlich in Rom verkündigen. Diese angebotene Rettung macht die Jesus-Christus-Geschichte zur guten Nachricht, zum Evangelium, wenn sie so zur Wirkung kommt, dass sie den Geist des Hörers bzw. Lesers berührt und ihr auf der Grundlage emotionaler Ergriffenheit geglaubt wird. Erzeugt diese Geschichte aber Glauben, so wird Gott damit die Ehre gegeben, die allein ihm als Gott zukommt. Gott wird als derjenige erfahren, der nicht nur der Sender der messianischen Verheißungen ist, sondern sie auch erfüllt hat und sich damit als treuer Gott erwiesen hat, der sein Wort hält. Nicht einmal der Tod des Messias konnte daran etwas ändern. Gottes Wort ist stärker als der Tod, stärker als alle anderen Mächte. Nur Gott war dazu in der Lage, den Gekreuzigten vom Tod in sein neues, göttliches Leben zu führen. Wer die Jesus-Christus-Geschichte als wahre Geschichte, als gute Nachricht hört, lobt Gott und erkennt ihn als einzigen Gott an. Genau das wird dem Glaubenden als Gerechtigkeit zugesprochen, weil sie Gott Recht geben in seinem Gottsein und genau das rettet vor dem Zorn Gottes, wie er von Paulus dann im Anschluss an 1,16f. entfaltet wird. Das von Paulus verkündete Evangelium Gottes erzählt also die Jesus-Christus-Geschichte vor allem als »Wort vom Kreuz« (1Kor 1,18). Sie lässt Gott auf angemessene Weise erkennen und demjenigen, der sich von ihr erfasst weiß, ermöglicht sie, Gott zu loben. Die Kraft des Evangeliums ist ihre Wirkkraft, die den Hörer bzw. Leser der Jesus-Christus-Geschichte berühren möchte und dann zu nichts anderem führt, als zum Glauben, und genau dieser Glaube wird als Gerechtigkeit anerkannt, weil er den Glaubenden in das rechte Verhältnis zu Gott setzt, indem er Gott zutraut, das getan zu haben, wovon die Jesus-Christus-Geschichte als Wort vom Kreuz erzählt. Diese Jesus-Christus-Geschichte sinnvoll zu konstruieren ist erlernbar. Sich von ihr ergreifen zu lassen, das eigene Leben ganz im Geist dieser Geschichte zu verstehen und sich von ihr bestimmt sein zu lassen, »Die Wirkkraft eines Textes wirkt über die bloße Sinnkonstruktion im Leseakt hinaus, wenn der Geist des Textes den Geist des Lesers erreicht und ihn zum Umdenken bewegt.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 88 Stefan Alkier Vom Geist der Schrift oder: Von der heilsamen Kraft des Unverfügbaren kann nicht gemacht werden. Man kann sich nicht zum Glauben entschließen. Man kann sich nicht dazu entscheiden, sich getroffen, sich betroffen von dieser Geschichte zu fühlen. Man kann sich nicht für den Glauben entscheiden. Dabei bliebe man immer selbstbestimmter Souverän des Glaubens und verstünde sich nach wie vor aus sich selbst heraus. Von der Kraft des Evangeliums zu sprechen, macht nur Sinn, wenn diese Kraft im Leser bzw. Hörer wirkt. Man kann dann nur dankbar feststellen, dass diese Geschichte unter die eigene Haut gegangen ist und sie einem die Augen geöffnet hat, sich selbst und die Welt mit ihrem Geist neu sehen und verstehen lässt. Wenn die Jesus-Christus-Geschichte als Evangelium gelesen werden kann, wird sie zum Ausleger des Lesenden und entfaltet in ihm ihre heilvolle Kraft als zweite Potenz des Textes. Der Geist der Jesus-Christus-Geschichte wirkt auf den Geist des Lesers ein und verändert ihn auf kreative Weise. 3. Eine kurze Geistesgeschichte Was vom Geist der Jesus-Christus-Geschichte gesagt werden kann, gilt nicht nur potentiell von allen Zeichen, sondern in höchst geschichtsmächtiger Weise von vielen Werken. Muslime wissen sich ergriffen vom Koran und legen sich und die Welt im Licht seiner Lektüre aus. Existentialisten werden durch Texte von Camus oder Sartre in ihrem Lebensgefühl bestimmt. Viele Bildungsbürger verstehen sich durch den Geist der Schriften Goethes, oder überhaupt durch den »Geist der Goethezeit«. Barak Obamas Reden sind vielen Amerikanern so unter die Haut gegangen, dass sie sich ein neues Amerika im Geist der Reden Obamas wünschen. Diese kulturelle Verwendung des Begriffs des Geistes, der dann auch zu dem der Geisteswissenschaften und der Geistesgeschichte führte, kann als philosophische Interpretation neutestamentlicher Geistkonzeptionen rekonstruiert werden. Aus der philosophischen Interpretation neutestamentlicher Pneumatologie erfolgte die Singularisierung des Geistes insbesondere durch Hegels Phänomenologie des Geistes, die er als Philosophie der Geschichte des Geistes, als Geistesgeschichte konstruierte. Hegel formuliert mit Blick auf die Philosophiegeschichte: »Die wesentliche Kategorie ist die Einheit aller dieser verschiedenen Gestaltungen, dass Ein Geist nur ist, der sich in verschiedenen Momenten manifestiert und auslegt« 5 . Hegels Gesamtkonzept der Geistesgeschichte setzte sich aber nicht durch, wohl aber die kulturhermeneutische Interpretation des objektiven Geistes durch Wilhelm Dilthey. Die Geisteswissenschaften erforschen demzufolge die Objektivationen des einen Geistes, deren Zusammenspiel die Kultur bilden. »Wir können den objektiven Geist nicht in eine ideale Konstruktion einordnen, vielmehr müssen wir seine Wirklichkeit in der Geschichte zugrunde legen […] In ihm sind Sprache, Sitte, jede Art von Lebensform, von Stil des Lebens ebenso gut umfasst wie Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat und Recht. Und nun fällt auch […] Kunst und Religion und Philosophie unter diesen Begriff.« 6 Die daraus resultierende Diastase der Wissenschaften in die Geisteswissenschaften und die Naturwissenschaften verbannen den Geist aus dem Phänomenbereich der Naturwissenschaften und lassen diese zu geistlosen Disziplinen werden. Die geistlose Natur wird zum bloßen Material des Machbaren. Im Anschluss an den linguistic turn der Philosophie kritisiert der cultural turn seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts das Einheit stiftende Band des Geistes als totalisierendes, metaphysisches Konzept euroamerikanischer Bildungseliten. Kultur wird demnach nicht vom Geist, sondern von den Konflikten widerstreitender Interpretationen gebildet. Nicht nur viele analytische Philosophen wollen deshalb den Begriff des Geistes gänzlich aus der Wissenschaftssprache verabschieden, weil er unklar und mit undurchsichtigen metaphysischen Konnotationen als Begriff unbrauchbar sei. Der daraus resultierende gegenwärtige Trend, den Begriff der Geisteswissenschaften durch den der Kulturwissenschaften zu ersetzen birgt aber die Gefahr, Kultur als geistloses Produkt der Machbarkeit demselben Ungeist auszuliefern, der die Natur als geistlose Ressource der Ausbeutung zu benutzen anempfiehlt. Kultur bzw. ihre Produkte bemessen sich dann nur noch nach ihrem Marktwert. Der Begriff des Geistes hat demgegenüber den Vorzug, das Wirken einer dem Rezipienten vorausgehenden, unverfügbaren Kraft in alle Interpretationsprozesse einzuschreiben und damit die Ideologie der Machbarkeit und Ausbeutung grundsätzlich zu unterlaufen. Die Erfahrung pluraler Gesellschaften in der globalisierten Welt lässt die Kritik des cultural turn an der Einheit stiftenden Idee eines alle kulturellen Erschei- ZNT 25 (13. Jg. 2010) 89 »Wenn die Jesus-Christus-Geschichte als Evangelium gelesen werden kann, wird sie zum Ausleger des Lesenden und entfaltet in ihm ihre heilvolle Kraft als zweite Potenz des Textes.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 89 Hermeneutik und Vermittlung 90 ZNT 25 (13. Jg. 2010) nungen verbindenden Geistes nur solange als plausibel erscheinen, wie dieses Band substanzontologisch und inhaltlich bestimmt gedacht wird. Wird Geist aber als die Kraft verstanden, die in allen Gestaltungen Neues hervorbringt und damit das Vorausliegende erschließt, so wird nicht nur die Einheit aller Interpretationen als realitätserschließende Zeichenoperation begriffen, sondern auch die Diastase von sogenannten Natur- und Geisteswissenschaften überwunden. Damit böte sogar die Ersetzung des Begriffes der Geisteswissenschaften durch den der Kulturwissenschaften die Chance, den Begriff des Geistes für den Phänomenbereich der Naturwissenschaften zurückzugewinnen und Natur und Kultur als Geisteswirkungen zu begreifen. Dafür muss aber das substanzontologische Missverständnis des Geistes zu Gunsten eines relationalen Geistbegriffs überwunden werden, wie ihn Hermann Deuser in seinem Beitrag »Geistesgegenwart« in diesem Heft skizziert hat. Dementsprechend ist der Singular des Geistes auf die formale Kraft jeglicher Zeichenprozesse (Semiose) zu beschränken, die hinreichend zu begründen vermag, warum ein Streit um die wahre Erschließung der Realität überhaupt möglich ist. Vom Geist im Plural zu reden ist dann notwendig, wenn von bestimmten semiotischen Gebilden zu reden ist, also vom Geist des Grundgesetzes oder eben vom Geist der Bibel. Geist meint dann die über den Sinn eines einzelnen Textes bzw. Textabschnittes hinausgehende, unverfügbare Wirkung eines Gesamtwerks, also »Sinn in der zweiten Potenz«. 4. Die formale Dynamis der Zeichen und die Bestimmtheit des Evangeliums Gottes Im Anschluss an die von Deuser in diesem Heft skizzierte kategoriale Semiotik Charles Sanders Peirces möchte ich im Folgenden vor allem eine Unterscheidung in Peirces Zeichenmodell aufgreifen, die sicherlich nicht nur oberflächlich mit dem Kraftbegriff des Neuen Testaments (dynamis) verbunden werden kann. Peirces dreigliedriges Zeichenmodell unterscheidet gemäß seiner drei Kategorien zwischen Zeichen(träger), Objekt und Interpretant. Zeichen bei Peirce meint aber nicht lediglich den Zeichenträger, vielmehr die ganze dreistellige Relation mit den Relata Zeichen(träger), Objekt und Interpretant, die dann mit seiner Kategorienlehre weiter auszudifferenzieren wären. Die einzelnen Relata erhalten ihre Zeichenfunktion nur innerhalb dieser Zeichenrelation. Das Zeichen im Sinne des Zeichenträgers kann nur ein Zeichen sein, wenn es ein Objekt repräsentiert und von einem Interpretanten als Zeichen dieses Objekts interpretiert wird. Ein Objekt kann nur ein Objekt sein, wenn es von einem Zeichen repräsentiert und dieses von einem Interpretanten interpretiert wird. Ein Interpretant kann nur ein Interpretant sein, wenn es ein Objekt und ein Zeichen miteinander als Zeichen und Objekt verknüpft. Die erkenntnistheoretische Pointe der kategorialen Semiotik wird hier deutlich: Ohne Zeichen und Interpretanten ist die Rede von einem Objekt sinnlos. Dasselbe gilt aber auch in die andere Richtung: Ohne Objekt und Zeichen ist die Rede von einem Interpretanten sinnlos, da der Interpretant nichts hätte, was er interpretieren könnte. Und auch das letzte ist folgerichtig: Ohne Objekt und ohne Interpretant ist die Rede von einem Zeichen sinnlos. Das Zeichen repräsentiert das Objekt in einer Hinsicht. Kein Zeichen ist dazu in der Lage, sein Objekt in jeder Hinsicht zu repräsentieren. Es wählt einen bestimmten Gesichtspunkt aus. Dieses in der Zeichenrelation durch die Auswahl einer Hinsicht repräsentierte Objekt nennt Peirce das unmittelbare Objekt. Das unmittelbare Objekt hat seinen Ort innerhalb der Zeichenrelation und zwar nur innerhalb dieser Triade. Das dynamische Objekt hingegen ist das Objekt, das die Erzeugung eines Zeichens motiviert und von dem das unmittelbare Objekt nur eine Hinsicht darstellt. Die Verbindung zwischen dem dynamischen und dem unmittelbaren Objekt wird durch den ground des dynamischen Objekts gewährt. Die Rede von der Hinsicht des unmittelbaren Objekts meint also, dass das dynamische Objekt nicht zur Gänze vom Zeichen repräsentiert werden kann, sondern nur mit Blick auf eine Eigenschaft, die aber wiederum nicht nur diesem einen spezifischen dynamischen Objekt zukommt. Ein dynamisches Objekt kann fiktiv, real, geträumt sein oder auch einem anderen Seinsmodus zugehören. Die Zuordnung zu einem dieser Seinsmodi klärt nicht die semiotische Grammatik, sondern die semiotische Rhetorik, die den Geltungsbereich von Zeichen in konkreten Zeichenzusammenhängen aufgrund ihrer Zuordnung zu Diskursuniversen bzw. Enzyklopädien untersucht. Ich möchte nun vorschlagen, die Kraft (dynamis) des dynamischen Objekts als Geist zu interpretieren. Es ist diese unverfügbare Kraft, die notwendig ist, um »Ich möchte nun vorschlagen, die Kraft (dynamis) des dynamischen Objekts als Geist zu interpretieren.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 90 Stefan Alkier Vom Geist der Schrift oder: Von der heilsamen Kraft des Unverfügbaren ZNT 25 (13. Jg. 2010) 91 überhaupt einen Zeichenprozess, eine Semiose, in Gang zu bringen. Das unmittelbare Objekt ist dann der Aspekt des dynamischen Objekts, der in der jeweils konkreten Semiose durch den Akt der Interpretation bestimmt wird. Geist ist dann zeichentheoretisch abstrakt bestimmt als die unverfügbare Wirkkraft, die das Zeichen überhaupt erst motiviert und seine konkreten Interpretationen als solche überhaupt erst ermöglicht. Im Akt der jeweiligen Interpretation wird diese Wirkkraft dann jeweils konkret bestimmt und damit interpretierend erschlossen. Mit Blick auf Röm 1,16f. heißt das: Das dynamische Objekt des von Paulus verkündeten Evangeliums ist die dem Schreiben vorausliegende Jesus-Christus- Geschichte in ihrer realen Komplexität, die überhaupt erst christliche Zeichenbildungen wie den Römerbrief hervorbringt. Das Zeichen im Sinne des Zeichenträgers ist das materiell durch Abschreiben überlieferte Schriftstück mit all den Problemen, die die Textkritik zu bearbeiten hat. Das unmittelbare Objekt ist in Röm 1,16f. die Jesus-Christus-Geschichte als Evangelium, d.h., als sprachlich formulierbare und kommunizierbare gute Nachricht. Der Interpretant ist die soteriologische These des Paulus, dass das Evangelium als Kraft Gottes Glauben hervorbringt und auf diese Weise vor dem Zorn Gottes rettet. Die unverfügbare Kraft selbst aber wird in diesem Zeichenprozess, in diesem paulinischen Akt der Semiose als derselbe Geist Gottes zu bestimmen sein, der gemäß Röm 1,4 auch die Auferweckung Jesu Christi bewirkte. Der Glaube versteht sich dann nicht allein als die angemessene Antwort auf die ihm vorausliegende Jesus-Christus-Geschichte, sondern als Weise des Miteinbezogenwerdens in diese Geschichte durch das Wirken des Geistes Gottes als derselben Kraft, die die Jesus-Christus-Geschichte, ihre Zeichen und den Glauben als angemessene Interpretanten erzeugte und damit in alle Komplexität und Diversität die Kontinuität der kreativen Kraft Gottes hineinträgt. Der Glaube versteht sich dann nicht als autonome Entscheidung eines souveränen Subjekts, sondern als Ergriffensein vom Geist Gottes, als Geschenk, als gelungene Kommunikation zwischen Gott und Mensch. So kann aber die Bestimmtheit von Röm 1,16f. nur aussehen, wenn die Eingangsbedingung des Schreibens akzeptiert wird: »Paulus, Knecht des Christus Jesus, berufen zum Apostel, ausersehen, das Evangelium Gottes zu verkündigen«. Wir wissen aus den Schreiben des Paulus aber, das bereits zu dessen Lebzeiten von Christen, die die Jesus-Christus-Geschichte offensichtlich anders als Paulus interpretierten, genau das abgesprochen wurde, von Gott berufener Apostel Jesu Christi zu sein. Wir können nur anhand von vagen Vermutungen ein Bild davon entwerfen, wie die sogenannten christlichen Gegner des Paulus die Jesus-Christus-Geschichte interpretierten. Ich wähle hier aber einen anderen Fall, nämlich den eines fiktiven Religionskritikers, der das Christentum gerade nicht als angemessene Antwort auf einen göttlichen Kommunikationsakt - Offenbarung - begreift, sondern als Lug und Trug. Die Evangeliumsverkündigung nicht nur des Paulus, sondern die christliche Botschaft zu allen Zeiten wurde ja nicht nur mit Glauben, sondern auch mit Gleichgültigkeit oder sogar entschiedener Ablehnung beantwortet. Das Wirken aller Zeichen ist ja kein mechanischer Automatismus, sondern birgt in sich selbst die Freiheit der jeweiligen verschiedenen Positionierung. Aber auch für den entschiedenen Christentumskritiker bleibt das dynamische Objekt der neutestamentlichen Schriften die Jesus-Christus-Geschichte, wie sie auf je verschiedene Weise von den Schriften als Zeichenträger überliefert wird. Als unmittelbares Objekt ist auch ihm in Röm 1,16f. die Jesus-Christus- Geschichte als Evangelium, d.h., als sprachlich formulierbare und kommunizierbare gute Nachricht erkennbar. Aber er wird einen anderen Interpretanten als Paulus bilden. Ihm ist das Evangelium nicht die »Kraft Gottes, die jeden rettet, der glaubt«, sondern ein menschliches Erzeugnis, das bestenfalls religionsgeschichtlich und religionspsychologisch erklärbar ist, aber keinen Anspruch auf Wahrheit im Sinne der Erschließung von Realität hat. Egal, ob als »Opium für das Volk«, Vertröstung zu Gunsten bestehender Machtverhältnisse, als Lug und Betrug oder schlicht als krankhafte Phantasterei bezeichnet, das alles sind Interpretanten der Jesus-Christus-Geschichte, die vom Standpunkt des Christentumskritikers aus plausibel erscheinen. Der Geist der Jesus-Christus-Geschichte wird dann nicht als der Geist Gottes, sondern als irrender Geist menschlicher Phantasie bestimmt. Was aber die von der Wahrheit des paulinischen Evangeliums überzeugte Interpretation mit der des Christentumkritikers gemeinsam hat, ist die Unhintergehbarkeit der Semiose. Beide Interpretationen sind Interpretationen der diesen Interpretationen vorausliegenden Schriften. Der Glaube ist ebenso ein Interpre- »Das Wirken aller Zeichen ist ja kein mechanischer Automatismus, sondern birgt in sich selbst die Freiheit der jeweiligen verschiedenen Positionierung.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 91 Hermeneutik und Vermittlung 92 ZNT 25 (13. Jg. 2010) tant wie der Unglaube. Diese Einsicht führt aber nicht zum Konstruktivismus, der ein dynamisches Objekt nicht zu denken erlaubt. Wohl aber nötigt er auch dem Glauben die Bescheidenheit ab, sich als von den Schriftzeichen ermöglichte Interpretation zu verstehen, die durchaus irren kann. Dasselbe aber gilt für den Unglauben. Auch er ist das Resultat eines Interpretationsaktes, der irren kann. Die Einsicht in die Unhintergehbarkeit der Semiose sollte alle Interpretationen diskursfähig machen, um in eine gemeinsame Wahrheitssuche eintreten zu können. So würden aus unvereinbaren Standpunkten öffentlich diskutierbare Positionen jenseits aller Fundamentalismen, die immer vergessen, dass sie Ergebnisse existentieller Positionen sind, über die sie als solche gar nicht frei verfügen können. Diese semiotische Einsicht in die formale Bedingtheit jedes Zeichenprozesses als auch die der Verkündigung des Evangeliums führt theologisch nicht in die Beliebigkeit eines gleichgültigen Relativismus. Vielmehr wird damit die Arbeit der Interpretation zur Bestimmung der eigenen Position von der rein theoretischen in die existentielle Dimension überführt. Dies soll nun abschließend am Zusammenhang von Jesus-Christus-Geschichte und der Feier des Abendmahls exemplarisch aufgezeigt werden. 5. Das Wirken des Geistes der Jesus- Christus-Geschichte im Abendmahl Das Wort vom Kreuz erzählt zunächst einmal die Geschichte eines Verrats und eines Justizmordes, an dem die höchsten einheimischen und römischen Amtsträger in Judäa und damit zwei verschiedene Rechtssysteme beteiligt sind. Daran erinnert die Angabe: »in der Nacht, da er verraten ward« (vgl. 1Kor, 11,23b). Das Wort vom Kreuz aber behauptet eine wunderbare Wende. Gott holt Jesus, das Opfer menschlicher Gewalt, aus dem Tod hinein in sein eigenes göttliches Leben. Gott identifiziert sich mit dem Gekreuzigten und lässt sich dadurch am Kreuz finden. Die Bedeutung des Kreuzes wird damit umcodiert von einem Tod bringenden Marterpfahl zu einem Ort der ewiges Leben eröffnenden Gottesbegegnung. Gott schreibt sich in die Geschichte des Gekreuzigten ein und erklärt damit vom Ort des Kreuzes aus den Lebensweg und die Verkündigung des Gekreuzigten zu seiner Sache. Mit der Identifikation Gottes mit dem Gekreuzigten und der Auferweckung des Gekreuzigten in das göttliche Leben wird das Kreuzesgeschehen zum eschatologischen Heilsereignis, das die Macht der Sünde endgültig bricht. Nicht die Macht der Sünde über ihr am Kreuz hingerichtetes Opfer behält das letzte Wort, sondern das Wort vom Kreuz als das Wort des sich liebevoll mit dem Opfer identifizierenden, neues, ewiges Leben schenkenden und damit in sein Recht setzenden Gottes. Zum eschatologischen und kosmologischen Heilsgeschehen wird das Wort vom Kreuz über Gottes barmherziges Angebot der Teilhabe an der Jesus-Christus-Geschichte an alle, die sich durch den liebevollen Geist der Jesus-Christus-Geschichte mit diesem Opfer menschlicher Gewalt identifizieren und damit die Verkündigung Jesu, seinen Tod und sein Leben zu ihrer eigenen Sache werden lassen. Damit vertrauen sie darauf, dass Gottes gerechte und barmherzige Schöpfermacht und nicht die gnadenlose und erbarmungslose Macht der Sünde Recht behält. Taufe und Abendmahl sind zwei Weisen, in denen die angebotene Teilhabe erfahren und ergriffen werden kann. Keine organisatorische Form oder Reform der Kirche - so notwendig sie auch sein mögen -, sondern das biblisch bezeugte Wort Gottes und diese beiden Sakramente bilden nach protestantischem Verständnis die Grundlage, aus der die Kirche lebt. 7 Das Abendmahl bietet die leibhaftig erinnernde Teilhabe an der Jesus-Christus-Geschichte an. 8 Die Feier des Abendmahls verkündet erinnernd erzählend den Tod des auferweckten Gekreuzigten. In 1Kor 11,26 lesen wir: »Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.« Diese Erinnerung einverleibt durch den Genuss von Brot und Wein die Jesus-Christus-Geschichte derart, dass sie zur eigenen Geschichte wird. In 1Kor 10,16 schreibt Paulus: »Der gesegnete Kelch, den wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? « Wie Gott sich mit dem Opfer von Macht und Gewalt identifizierte und damit seine Sache zur eigenen Sache erklärte, so ergreift der liebevolle und kreative Geist der Jesus-Christus-Geschichte die am Abendmahl Teilnehmenden und lässt das Geschick des Opfers Jesu zur eigenen Erfahrung werden. Jesus stirbt nicht in zweckmäßiger opfertheologischer Logik stellvertretend den Tod für die schuldig gewordenen Menschen, sondern jeder einzelne selbst, der das Abendmahl feiert, erfährt Anteil am Tod des Opfers Jesu von Nazareth. Die durch den Geist der Jesus-Christus-Geschichte konstituierte solidarische Gemeinschaft mit dem Opfer Jesu von Nazareth führt in die Solidarität mit allen Opfern von Unrecht und Gewalt. 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 92 Stefan Alkier Vom Geist der Schrift oder: Von der heilsamen Kraft des Unverfügbaren ZNT 25 (13. Jg. 2010) 93 Die politische Botschaft des Abendmahls besteht in dem Appell, sich in diese Solidarität mit den Opfern hineingeben zu lassen. Der Gekreuzigte ist Opfer einer Unrechtstat, die von Individuen und Institutionen, von innen und außen gemeinsam begangen wurde. Die politische Botschaft des Abendmahls erinnert den Tod des Gekreuzigten als Metonymie von Unrecht und Gewalt, in die alle, auch die Abendmahlsgäste mit Leib und Seele verstrickt sind, und sie verpflichtet die am Tisch des Kyrios Teilnehmenden, sich jetzt und im Alltag des Lebens auf die Seite der Opfer zu stellen und deshalb in allen Lebensentscheidungen und politischen Optionen den Anderen als gleichermaßen geliebtes Geschöpf Gottes so in den Blick zu nehmen, dass er bzw. sie nicht zu einem Opfer menschlicher Gewalt und politischer Machtstrukturen wird. Diese ethische Handlungsmaxime des Abendmahls gründet in der Hoffnung auf den Gott, der alles aus dem Nichts schafft und neu schaffen wird. Sie gründet auf dem liebevollen Schöpfer allen Lebens, der die Toten erwecken wird und den Gekreuzigten bereits auferweckt hat (vgl. Röm 4,17). Sie hofft darauf, dass der barmherzige und gerechte Gott den gekreuzigten Jesus nicht als singulären Ausnahmefall in sein göttliches Leben hinein auferweckt hat, ihm einen neuen Leib geschaffen hat, der nicht mehr aus Fleisch und Blut besteht (vgl. 1Kor 15). Sie hofft vielmehr darauf, dass mit dieser bereits geschehenen Auferweckung erst der Anfang der Neuen Schöpfung Gottes gemacht ist, mit der Gott sein Recht und seine Gerechtigkeit universal, die ganze Schöpfung durchdringend durchsetzt. Sie hofft nicht auf eine bloße Wiederbelebung der Toten und der damit gegebenen Fortsetzung des status quo. Sie hofft auf eine neue Welt, in der Gottes unbedingte Liebe unbeschränkt wirkt und dadurch Frieden und Gerechtigkeit für alle gelten. Wenn die politische Botschaft des Abendmahls nicht in diese universale eschatologische Hoffnung eingebunden bleibt, verkommt sie entweder zum sonntäglichen Lippenbekenntnis oder zum moralischen Aktivismus der Selbstgerechten oder zur unheilvollen Leidensbereitschaft, die sich am eigenen Leiden ergötzt. Ohne die Theologie der Auferweckung bleibt das Kreuz stumm und macht stumm (I. Dalferth). Ohne die Theologie der Auferweckung feiert die Abendmahlsgemeinschaft nicht das Hereinbrechen des Reiches Gottes, sondern sie richtet sich auf Dauer in der Hölle der eigenen Selbstgerechtigkeit oder des eigenen Selbstmitleides ein. Feiert sie aber das Abendmahl im biblischen Wissen um die leibhaftige Gemeinschaft mit dem auferweckten Gekreuzigten, so steht die Abendmahlsgemeinde in der geistgewirkten Kontinuität des letzten Mahles Jesu und seiner Jünger und wird dadurch zum Ereignis des Reiches Gottes. Das so gefeierte Abendmahl praktiziert die Gerechtigkeit, die im Reich Gottes gilt. Jeder bekommt soviel, wie er zum Leben braucht. Es gibt keine Hierarchie mehr zwischen Armen und Reichen, zwischen Frauen und Männern, zwischen Managern und Empfängern von Arbeitslosengeld II, zwischen Amtsträgern und Laien. Dieses Erleben der Gemeinschaft der von Gott zu seinem Tisch Eingeladenen wird auch im Alltag Wirkung zeigen und dieser Satz lässt sich auch umkehren. Nur wenn dieses Erleben im Alltag Wirkung zeitigt, wurde das Abendmahl würdig gefeiert. Wer durch den liebevollen und kreativen Geist der Jesus-Christus- Geschichte im Abendmahl den Tod des Opfers Jesus am eigenen Leib erfährt und durch das Kauen und Schlucken Brot und Wein als Teilhabe am Leib Christi schmeckt und einverleibt, spürt die Kraft neuen, vom gerechten und barmherzigen Gott geschenkten Lebens in sich. Wer in diesem verdichteten Kultgeschehen die Macht der Sünde und die größere Macht der liebevollen Kreativität Gottes erlebt, geht aufmerksam und kritisch nach Innen und Außen in den politischen und privaten Alltag, gestärkt durch die am eigenen Leib erfahrene Gemeinschaft mit dem auferweckten Gekreuzigten. Das Abendmahl lädt dazu ein, dem liebevollen und kreativen Geist der Jesus-Christus-Geschichte zu begegnen. Dass dieser heilsame Geist auf den Geist der Teilnehmer einwirkt, kann nicht gemacht werden. Wer die Welt und sich selbst mit den Augen dieser Geschichte sehen kann, sich von ihr betroffen weiß, lässt sich in das Leben werfen und findet Mut, Stellung zu beziehen. Denn der Geist der Jesus-Christus- Geschichte macht gewiss: Gott hat in seiner barmherzigen Weisheit den ungerechten Tod Jesu Christi am Kreuz zum Heil für seine ganze Schöpfung gewendet. Anmerkungen 1 Fr. Schlegel, Philosophie der Philologie, 51 2 Vgl. dazu St. Alkier, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung, WUNT 134, Tübingen 2001, 74-79. »Die politische Botschaft des Abendmahls besteht in dem Appell, sich in diese Solidarität mit den Opfern hineingeben zu lassen.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 93 Hermeneutik und Vermittlung 94 ZNT 25 (13. Jg. 2010) 3 U. Volli, Semiotik. Eine Einführung in ihre Grundbegriffe, UTB 2318, Tübingen/ Basel 2002, 79. 4 J. Petöfi, Explikative Interpretation. Explikatives Wissen, ined. Ders./ T. Olivi (Hgg.): Von der verbalen Konstitution zur symbolischen Bedeutung - From verbal constitution to symbolic meaning. Papiere zur Textlinguistik 62, Hamburg 1988, 184 - 195: 184. 5 G.W.Fr. Hegel, Phänomenologie des Geistes (stw 8) Frankfurt am Main 1973, 8. 6 Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften Bd. 7, Stuttgart 1992, 150f. 7 Vgl. CA 7. 8 Eine gleichermaßen theologisch komplexe wie verständliche Darstellung des Abendmahls bietet Michael Welker, Was geht vor beim Abendmahl, Gütersloh 3 2005. Diese Studie gehört zur Grundlagenliteratur evangelischer Theologie. Obwohl diese grundlegende Studie bereits 1999 erschien, hat Jörns sie offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen. Sie fehlt im Literaturverzeichnis seines in erster Auflage 2004 erschienenen Buches „Notwendige Abschiede“. Neues Testament aktuell: Ute Eisen, Darstellung gängiger Bibelübersetzungen Zum Thema: Günter Röhser, Kriterien einer guten Bibelübersetzung Francesca Yardenit Albertini; Stefan Alkier; Ömer Özsoy, Gott hat gesprochen - aber zu wem? Das Forschungsprojekt „Hermeneutik, Ethik und Kritik Heiliger Schriften in Judentum, Christentum und Islam“ Charlotte Methuen, Die Lutherbibel, Zur Geschichte und Theologie einer Übersetzung Kontroverse: Verlangen die Schriften des Neuen Testaments danach, den Kanon des Alten Testaments an der LXX auszurichten? Stefan Schorch vs. Adrian Schenker Hermeneutik und Vermittlung: Stefan Alkier, Ethik der Übersetzung Buchreport: I. Dalferth / J. Schröter (Hgg.), Bibel in gerechter Sprache? Kritik eines misslungenen Versuchs, Tübingen 2007 (rez. v. Marco Frenschkowski) Vorschau auf Heft 26 Themenheft: »Bibelübersetzungen« Lesetipp: Dagmar Fenner Einführung in die Angewandte Ethik UTB M 2010, ca. 450 Seiten, €[D] 24,90/ SFr 44,00 ISBN 978-3-8252-3364-8 Dieser Band führt in die Grundlagen und Methoden der Angewandten Ethik ein. Er zeigt auf, wie ethische Normen und Prinzipien auf konkrete menschliche Handlungsweisen angewendet werden können,und bietet einen Überblick über die wichtigsten Bereichsethiken: Medizinethik, Naturethik,Wissenschaftsethik, Technikethik, Wirtschaftsethik und Medienethik. Zahlreiche Beispiele aus der Alltagspraxis, zahlreiche Abbildungen und eine unkomplizierte Sprache erleichtern den Zugang. 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 94