eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 13/25

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2010
1325 Dronsch Strecker Vogel

Lukas nach einem Dialog mit Paulus und Johannes

2010
François Vouga
ZNT 25 (13. Jg. 2010) 73 Odette Mainville vertritt mit großer Klarheit folgende Thesen: (1) Lukas hat keine neue Theologie des Geistes entwickelt. Er hat vielmehr die alttestamentliche Pneumatologie in den Dienst der Christologie in dem doppelten Sinne der Verkündigung Jesu als des Messias und der messianischen Präsenz des Auferstandenen im Zeugnis seiner Gesandten gestellt. (2) Folglich bildet nicht die Christologie, sondern die Theologie als die Geschichte des Handelns Gottes die Grundlage der lukanischen Pneumatologie. (3) Die Auswirkungen des Geistes in der Kirchengeschichte sind jedoch insofern an die Person Jesu zurückgekoppelt, als Gott den Auferstandenen als Vermittler der Geistesgabe eingesetzt hat: Der auferstandene und an der Rechten Gottes erhöhte Christus, der den Geist vom Vater bekommen hat, schüttete ihn auf den Aposteln aus (Apg 2,32-33). (4) Daraus folgt das theologische Urteil, dass kein anderer neutestamentlicher Schriftsteller die Verbindung zwischen der Geistesgabe und der Auferstehung / Erhöhung Jesu und die Ausübung der Herrschaft des Auferstandenen durch den Geist in der Geschichte des Aufbaus der Kirche wie Lukas gezeigt hat. Die für die interpretative Diskussion entscheidende, kritische und gleichzeitig weiterführende Frage bezieht sich auf die Bedeutung des »wie Lukas«. Genauer gesagt: Was kennzeichnet die lukanische Bestimmung des Verhältnisses zwischen Christologie und Pneumatologie, und was unterscheidet sie von anderen Geistesverständnissen der frühchristlichen Theologie? Der mit Apg 2,32-33 begründete doppelte Hinweis von Odette Mainville auf die Verbindung zwischen der Osterbotschaft und der Theologie des Geistes einerseits und auf die Vergegenwärtigung der Präsenz des Auferstandenen durch den Geist andererseits verlangt die fiktionale Inszenierung eines innerkanonischen Dialogs zwischen Paulus, Lukas und Johannes. 1. Der lukanische Geist und der Geist des Paulus Als ersten Beitrag zum Dialog mit den Thesen von Odette Mainville schlage ich folgende Hypothese vor: Kein neutestamentlicher Denker hat deutlicher als Paulus das triangulare Verhältnis zwischen a) der Osterbotschaft, b) der Erfahrung des Geistes und c) der gemeinsamen Erkenntnis Gottes und des Menschen reflektiert. Der Geist des Paulus... Ausgangspunkt des paulinischen Denkens ist die österliche Offenbarung des Gekreuzigten als des Sohnes Gottes (Gal 1,12.16): Der auferstandene Christus hat die Menschheit vom Fluch des Gesetzes und der Vollkommenheitsideale befreit, indem Gott den Menschen, der jede Form der möglichen Vollkommenheit am Kreuz verloren hatte, als seinen Sohn geoffenbart hat (Gal 3,13). Ostern bedeutet folglich: die Offenbarung des Gekreuzigten als des Sohnes Gottes, die Offenbarung Gottes als des Vaters des Gekreuzigten und als Person eines Gottes, der die Personen unabhängig von ihren Eigenschaften anerkennt, die Offenbarung des menschlichen Subjektes, dem durch die neue Schöpfung (Gal 6,15; 2 Kor 5,17) eine bedingungslose Anerkennung seiner Person unabhängig von seinen Eigenschaften konstituiert wird. Wenn also Paulus die Galater fragt, ob sie den Geist aus Gesetzeswerken oder aus dem Hören des Vertrauens empfangen haben (Gal 3,1-5), wird klar, dass der Geist als die Kraft Gottes zu verstehen ist, die dem »Ich« seine neue Identität und ein neues Verhältnis zu sich selbst durch die gute Nachricht einer bedingungslosen Anerkennung verleiht. Die Konsequenzen sind zum einen die Universalität des Liebesgebotes als Aufforderung zur bedingungslosen Anerkennung jeder Person unabhängig von ihren Eigenschaften (Gal 5,13-15), zum ande- Kontroverse François Vouga Lukas nach einem Dialog mit Paulus und Johannes »Der Geist [ist] als die Kraft Gottes zu verstehen [...], die dem ›Ich‹ seine neue Identität und ein neues Verhältnis zu sich selbst durch die gute Nachricht einer bedingungslosen Anerkennung verleiht.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 73 74 ZNT 25 (13. Jg. 2010) ren die Dankbarkeit für die vielfältige Frucht, die der Geist in den Glaubenden trägt (Gal 5,16-24) und endlich, weil die Anerkennung der Person unabhängig von ihren Eigenschaften die Anerkennung der Person mit ihren Eigenschaften logisch voraussetzt (Gal 3,28), die Anerkennung der Eigenschaften jedes Einzelnen als Gabe des Geistes (1Kor 12,1-31). ... und der lukanische Geist Dem paulinischen Denken und dem lukanischen Doppelwerk sind sowohl die Rückkoppelung der Geisterfahrung der Glaubenden mit der Osterbotschaft als auch die Definition des Geistes als Veränderungskraft der befreienden Gegenwart des Auferstandenen oder des Gottes, der seinen Sohn von den Toten auferweckt hat (Gal 1,1; Apg 2,32-33), gemeinsam. Anders als es Paulus denkt, konzentriert sich das Interesse des lukanischen Doppelwerks auf die neue Schöpfung des Verhältnisses des »Ich« zu sich selbst (»Nicht mehr ich lebe: Christus lebt in mir«, Gal 2,19-20), sondern, wie es Odette Mainville in ihrem schönen Buch 1 und in ihrer Stellungnahme deutlich gezeigt hat, auf die Kontinuität des Handelns desselben Gottes der Propheten, des Messias und seiner Zeugen - oder, wie es Odette Mainville interpretiert: der Kirche - in der Universalität der Menschengeschichte. Der Beitrag des Lukas und seine Kernaussage bestehen nicht nur in der bereits von Paulus vorausgesetzten Abhängigkeit des christlichen Geistverständnisses von der Osterbotschaft, sondern in der Darstellung der Bedeutung und der Relevanz des Geistes des Auferstandenen oder des Gottes, der ihn auferweckt hat, für die Entwicklung der Welt. In diesem Sinne hat Odette Mainville recht, wenn sie schreibt: »Kein anderer hat wie Lukas die kirchliche Konsequenz der Herrschaft, die Christus durch die Kraft seines Geistes ausübt, gezeigt.« 2. Der Geist im lukanischen Doppelwerk und der johanneische Geist Als zweiten Beitrag zum Dialog mit den Thesen von Odette Mainville schlage ich folgende Hypothese vor: Kein neutestamentlicher Schriftsteller hat deutlicher als Johannes die Funktion des Geistes mit der Verbindung a) der Osterbotschaft, mit b) der absoluten Singularität der historischen Person Jesu als fleischgewordenes Wort und mit c) der Gegenwart des Erhöhten in und unter den Glaubenden definiert 2 . Der johanneische Geist... Im Johannesevangelium wird die Aussage des lukanischen Petrus, nach welcher der Erhöhte den Geist von seinem Vater bekommen und ihn auf seine Jünger ausgegossen hat (Apg 2,32-33), unmittelbar in Szene gesetzt (Joh 20,19-23): Der Auferstandene erscheint vor den Jüngern, er lässt sich von ihnen erkennen, er sendet sie, wie der Vater ihn gesandt hat (Joh 20,21) und er pustet auf sie den Heiligen Geist (Joh 20,22). Damit erfüllt sich die Verheißung, die in den Abschiedsreden wiederholt wird: Der Vater, der Vater auf Bitten des Sohnes oder der Sohn selbst werden den Glaubenden einen anderen Parakleten schicken, der sie an alles, was Jesus geoffenbart hat, erinnern und sie zur ganzen Wahrheit hinführen wird (Joh 14,16-17; 14,25-26; 15,26-27; 16,7-15). In seinen klassisch gewordenen Aufsätzen, die die Rezeptions- und die Wirkungsgeschichte der johanneischen Theologie des Geistes von Joachim von Fiora bis zum deutschen Idealismus sowie den historischen Ideologien des 20. Jahrhunderts umfassen, hat Günther Bornkamm auf die Paradoxie hingewiesen, dass der johanneische Geist gleichzeitig mit der Person des fleischgewordenen und erhöhten Jesu identisch ist (in der Argumentation der ersten Abschiedsrede ist die Verheißung des Geistes deckungsgleich mit der Ankündigung der Rückkehr des Erlösers zu den Seinen, Joh 14,15-31) und dass die Zeit des Geistes eine neue Epoche der Gemeinschaft mit dem Sohn und mit dem Vater, der ihn gesandt hat, bildet. 3 ... und der Geist im lukanischen Doppelwerk Die Vorstellung, dass das johanneische Offenbarungsbuch des vierten Evangeliums die lukanische Theorie des Geistes (Apg 2,32-33) in seinen Ostererzählungen historisiert und konkretisiert, mag überraschen. Wenn man die immer plausiblere Hypothese der literarischen Abhängigkeit des Johannesevangeliums von den drei ersten Evangelien voraussetzt, 4 versteht man die Entsprechungen, die die Offenbarungstradition des Lieblingsjüngers zwischen dem heilsgeschichtlichen Programm des Lukas und ihrem eigenen hermeneutischen »Diese [historische] Kohärenz wird im lukanischen Doppelwerk nicht diskursiv und systematisch re\ektiert, sondern narrativ dargestellt.« Kontroverse 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 74 François Vouga Lukas nach einem Dialog mit Paulus und Johannes Selbstverständnis, in der Gleichzeitigkeit mit dem Erlöser zu schreiben, die der Paraklet gibt, entdecken und weiterentwickeln konnte. Die These von Odette Mainville, »kein anderer neutestamentlicher Verfasser, nicht einmal Paulus,« habe »diese Übertragung des Geistes Gottes auf Christus in seiner Auferstehung / Erhöhung so explizit ausgedrückt, wie es Lukas getan hat (Apg 2,33)«, muss insofern ergänzt werden, als die christologische Vermittlung des Geistes, die Lukas am Anfang der Apostelgeschichte entwirft, ihre konsequente, systematisch durchdachte, trinitarische Form in der johanneischen Figur des Parakleten findet. 5 Johanneische Diskontinuität und lukanische Kontinuität Die lukanische und die johanneische Perspektive unterscheiden sich allerdings dadurch, dass der Beitrag und die Kernaussage des Lukas nicht im Bekenntnis der absoluten Singularität der Offenbarung in der Menschwerdung und in der Rückkehr des vom Himmel herabgestiegenen Gottessohnes zum Vater bestehen, sondern in der Herstellung einer Kontinuität, die von Ostern her bis zu der Zeit der Propheten zurückgeht. Kein frühchristlicher Theologe hat wie Lukas versucht, die christologische Definition des Geistes, die das Ereignis der Auferstehung Jesu als Diskontinuität voraussetzt, mit einer Kontinuität der durch die Kraft des Geistes vermittelten Heilsgeschichte, die sich mit Abraham beginnend (Apg 7,2) bis zur Einsetzung der endzeitlichen Königsherrschaft Israel (Apg 1,6-11) erstreckt und erstrecken wird, miteinander zu verbinden. Die johanneische Gemeinschaft der Glaubenden mit dem Vater, die vermittels der durch den Geist ermöglichten Gleichzeitigkeit des Glaubens mit dem Sohn gegeben wird, setzt eine qualitative Diskontinuität der Offenbarung des vom Himmel her Gesandten mit dem Alten Testament voraus. Im Johannesevangelium gehört die Geschichte Israels zu dieser Welt: Sie erfüllt die Funktion eines diesseitigen Zeichens, wie Mose und das Manna als ein Verweis auf das Brot des Lebens zu verstehen sind, das von Gott von oben her gegeben wird (Joh 6,25-65), so liefert die Schrift als Ganze ein Zeugnis, das von Ostern her verstanden werden muss (Joh 12,16; 20,10). Die lukanische Kombination der nachösterlichen, christologischen Einsetzung des Heiligen Geistes in der Kirche (Apg 2,32-33) mit der stark betonten Anlehnung an die alttestamentliche Sprache und Theologie des Geistes konstruiert eine historische Kohärenz, die sich in der Theologiegeschichte durchgesetzt hat. Diese Kohärenz wird im lukanischen Doppelwerk nicht diskursiv und systematisch reflektiert, sondern narrativ dargestellt. Odette Mainville ist recht zu geben: Die Erzählung der Taten des Heiligen Geistes im Evangelium und in der Apostelgeschichte bestätigen sie, indem sie ihr ihre Plausibilität verleihen. Odette Mainville möchte ich also folgende, leicht ergänzte Formulierung vorschlagen: »Kein anderer neutestamentlicher Schriftsteller hat die Kontinuität zwischen der Geistesgabe und der Auferstehung / Erhöhung Jesu, seiner Vorbereitung im Alten Testament, unter anderem in der alttestamentlichen Prophetie, und der Ausübung der Herrschaft des Auferstandenen durch den Geist in der Geschichte des Aufbaus der Kirche so deutlich wie Lukas gezeigt«. Prof. Dr. theol. Dr. theol. h.c. François Vouga, Jahrgang 1948, ist Professor an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal / Bethel. 1973-1974 Assistent von Christophe Senft in Lausanne; 1975-1982 Gemeindepastor in Avully und Chancy (Genf ); 1982-1985 Maître assistant in Montpellier; 1985 èse de doctorat und venia legendi im Fach Neues Testament in Genf; 1984-1985 Gastprofessor in Neuchâtel; 1985- 1986 Professor in Montpellier, 1986-2009 an der Kirchlichen Hochschule Bethel, seit 2008 in Wuppertal. Seit 1988 regelmäßige Gastprofessuren an der Facoltà Valdese di Teologia in Rom; 1998 Ehrendoktor der Universität Neuchâtel; 1999 und 2001 Gastprofessur, 2008-2010 Honorarprofessur an der Faculté de théologie et de sciences religieuses de Université Laval, Québec. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der frühchristlichen Literatur, Einheit und Vielfalt der neutestamentlichen eologie, Paulus und die paulinische eologie, die Petrusbriefe, eologie und Ästhetik (Kunst und Musik), eologie und Naturwissenschaften. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: Politique du Nouveau Testament, Genf 2008, und Pâques ou rien. La Résurrection au coeur du Nouveau Testament, Genf 2010. Für weitere Informationen siehe: www.kiho.thzw.de François Vouga ZNT 25 (13. Jg. 2010) 75 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 75 Kontroverse 76 ZNT 25 (13. Jg. 2010) 3. Die christologische Singularität als Grundlage der Kontinuität des lukanischen Geistes Als dritten Beitrag zum Dialog mit den Thesen von Odette Mainville und gleichzeitig als Antwort auf die Ausgangsfrage, ob die Christologie die Grundlage der lukanischen Theologie des Geistes bildet, schlage ich folgende Hypothese vor: Kein neutestamentlicher Schriftsteller hat mit einer so großen Selbstverständlichkeit die alttestamentliche Pneumatologie übernommen, um sie von seinem Verständnis der Verkündigung Jesu als des Messias und von der messianischen Präsenz des Auferstandenen und Erhöhten her konsequent darzustellen. Im lukanischen Doppelwerk bildet zwar nicht die Christologie, sondern die Theologie die explizite Grundlage der Pneumatologie. Seine Darstellung der Heilsgeschichte Gottes, der durch seinen Geist handelt, kann aber nur dadurch ihre entscheidenden Knotenpunkte in Lk 1,35 und in Apg 2,32-33 finden, weil sowohl die Theologie als auch die Pneumatologie durch die Christologie bestimmt sind. Das Bekenntnis Jesu als des Messias und des Auferstandenen bildet also die implizite, für Lukas selbstverständliche und außerhalb der Eisbergsspitze der Ankündigung des Engels und der Pfingstrede des Petrus nicht diskursiv thematisierte Grundlage der lukanischen Theologie des Geistes. Die Erzählung als Gründung einer christologischen Struktur der Wirklichkeit Die exegetische Beweisführung von Odette Mainville zeigt sorgfältig, dass Lukas keine neue Theologie des Geistes entwickelt hat, sondern dass er nur die alttestamentliche Pneumatologie in den Dienst der Christologie gestellt hat. Präzise darin besteht jedoch das radikale Novum seiner Darstellung. Von der Logik der Kommunikation her betrachtet ist diese scheinbare Paradoxie gut zu verstehen, denn auch und gerade durch die Fiktion baut die Erzählung - hier: christologische - Sinnzusammenhänge pragmatisch auf, die sich dann als Selbstverständlichkeiten vorstellen und einprägen, obwohl sie keineswegs evident sind. - Paulus und der johanneische Jesus argumentieren diskursiv. Klare Schlussfolgerungen führen die Leser von anerkannten Annahmen zu neuen Thesen, so dass sich Aussagen über den Geist aus christologischen Voraussetzungen ableiten lassen. - Lukas argumentiert pragmatisch durch die selbstverständliche Darstellung der Wirklichkeit, die durch die Erzählung konstituiert und plausibilisiert - Odette Mainville sagt: bestätigt - wird. In Anschluss an die Rhetorik von Aristoteles unterscheidet Chaim Perelman zwei Klassen von Argumenten: 6 - Die diskursiven Argumente, die auf der Struktur der Wirklichkeit basieren, die den Formgesetzen der formalen Logik folgen und auf der Grundlage von Prämissen, denen die Adressaten zustimmen können, logische Verbindungen herstellen. - Die Argumente, die durch die Einsetzung von Bildern und Erzählungen die Basis für eine neue Wahrnehmung der Wirklichkeit bereiten. Indem Lukas keine neue Theologie des Geistes entwickelt, sondern die Geistesvorstellungen der LXX aufnimmt, um sie in den Dienst der Christologie zu stellen, setzt die lukanische Erzählung ein von der LXX her weder ableitbares noch vorstellbares Verständnis des Geistes durch, das von der Geburt Jesu, von seiner Auferstehung und von der apostolischen Geisterfahrung an Pfingsten her die Geschichte der pneumatischen Tätigkeit der alttestamentlichen Propheten - und das Alte Testament selbst, Lk 24,25-27.44-47 - als Christuszeugnis interpretiert. In dieser Hinsicht stellt sich das lukanische Doppelwerk als die systematische Darstellung einer auf der Grundlage der Christologie neu zusammengefassten Heilsgeschichte Gottes und seines Geistes vor. Die Kraft der durch die Erzählung entstandenen Selbstverständlichkeit Odette Mainville schätzt vorsichtige Formulierungen: Nicht die lukanische Christologie bilde die Grundlage seiner Pneumatologie, sondern die pneumatische Kraft befinde sich umgekehrt im Dienste der Christologie. Die beiden Sätze sollten nicht als eine exklusive Alternative gelesen werden, weil sie sich auf zwei verschiedenen Ebenen gegenseitig bedingen: Die Deutung des prophetischen Geistes des Alten Testaments und der nachösterlichen Geisterfahrungen als Christuszeugnis setzt einerseits eine christologische Grundlegung der Pneumatologie voraus. Aber das Zeugnis des Geistes erfüllt deswegen seine pragmatische Funktion, weil es die Kraft Gottes ist, die die messianische Singularität der Geschichte des Kommens und der Auferstehung Jesu verkündigt. Auf einer christologischen Grundlage wird diese Geschichte durch die Propheten, die vom Geist Gottes erfüllt sind, als das heilsbringende Ereignis autorisiert. Auffällig ist in dieser Hinsicht die Konzentration des Heiligen Geistes auf die Figur Simeons; diese Figur 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 76 François Vouga Lukas nach einem Dialog mit Paulus und Johannes ZNT 25 (13. Jg. 2010) 77 wird somit zu einem Protagonisten, der die Bedeutung der Person Jesu programmatisch vorausdeutet (Lk 2,25-35): (1) Die Gegenwart des Geistes in Simeon zeigt sich zunächst daran, dass dieser gerechte und gottesfürchtige Mensch auf den Trost Israels wartete: »Und siehe, es gab einen Menschen in Jerusalem mit dem Namen Simeon, und dieser Mensch war gerecht und gottesfürchtig, wartend auf den Trost Israels, und der Geist war auf ihm« (Lk 2,25): Damit wird der Erwartungshorizont des Lesers auf die Verheißung des Heils gelenkt. (2) Diese Erwartung nimmt dann dadurch eine präzise Form an, dass sich die Erscheinung dieses Heils in der Verheißung der Begegnung mit einer Person, welcher der Messias des Herrn sein wird, konkretisiert: »Und es war ihm verheißen worden vom Heiligen Geist, er werde den Tod nicht sehen, bevor er gesehen habe den Messias des Herrn« (Lk 2,26). (3) Zuständig ist aber der Geist nicht nur für die Verheißung, sondern auch für die Erfüllung, die den Trost Israels und die Figur des Messias mit dem Kind Jesu identifiziert: »Und er kam im Geiste in den Tempel. Und während die Eltern das Kind Jesus in den Tempel herein trugen (...), nahm er es auf seine Arme und pries Gott und erklärte (...)« (Lk 2,27-28). (4) Mit diesen letzten Worten werden nicht nur das Kommen des Simeon in den Tempel und seine Danksagung, sondern auch seine beiden prophetischen Sprüche unter die Autorität des Geistes gestellt. Der erste Spruch verkündigt die Universalität des Heils - Offenbarung für die Heiden und Herrlichkeit für Israel: »Jetzt entlässt du deinen Knecht, Herr, nach deinem Wort, in Frieden, denn meine Augen haben geschaut dein Heil, das du bereitet hast im Angesicht aller Völker, Licht zur Offenbarung für die Heiden und Herrlichkeit deines Volkes Israel! « (Lk 2,29-32) Der zweite Spruch begründet die Universalität des Heils auf seine Individualisierung: Das Kommen Jesu fordert eine Entscheidung heraus, in der die Gedanken jedes einzelnen Herzens geoffenbart werden: »Siehe, dieser ist gesetzt zum Fall und zum Auferstehen vieler in Israel - und zum Widerspruchszeichen, und auch deine Seele wird ein Schwert durchdringen, damit offenbar werden aus vielen Herzen die Gedanken« (Lk 2,34-35). Das Wort des Propheten ist wahr, weil er es in der Autorität des Geistes spricht, und der Geist inspiriert ihm genau dieses Wort, weil die Tätigkeit des Geistes christologisch definiert ist. Diese Definition erhält dadurch ihre pragmatische Kraft, weil sie nicht explizit formuliert wird, 7 sondern sich aus der Kohärenz der Geschichtsschreibung entwickelt. Noch einmal: Lukas bestätigt sie - wie es Odette Mainville schreibt, und aufgrund ihrer Thesen füge ich hinzu: als durch die Erzählung erzeugte Selbstverständlichkeit - sowohl in seinem Evangelium als auch in der Apostelgeschichte. These Die Christologie ist insofern die Grundlage der lukanischen Pneumatologie, als Lukas keine eigene Pneumatologie entwickelt hat, sondern von einem christologischen Bekenntnis her die alttestamentliche Theologie des heilsbringenden Geistes Gottes und die Geisterfahrung der Kirche als die Autorität darstellt, die die Messianität des Sohnes von Maria und die messianische Herrschaft des Auferstandenen bezeugt. Anmerkungen 1 O. Mainville, L’Esprit dans l’œuvre de Luc (Héritage et projet 45), Montréal 1991. 2 Vgl. K. Dronsch, Der Raum des Geistes. Die topographische Struktur der Rede vom Geist im Johannesevangelium, in diesem Heft. 3 G. Bornkamm, Der Paraklet im Johannesevangelium und Die Zeit des Geistes. Ein johanneisches Wort und seine Geschichte, in: ders., Geschichte und Glaube I, Gesammelte Aufsätze III, München 1968, 68-89 und 90-103. 4 F. Vouga, Le quatrième évangile comme interprète de la tradition synoptique: Jean 6, in: A. Denaux (Hg.), John and the Synoptics (BEThL 101), Leuven 1992, 261-279; H. Thyen, Das Johannesevangelium (HNT 6), Tübingen 2005. 5 Exegetische und systematische Argumentation, in: P.-A. Stucki und F. Vouga, La trinité au musée? , EThR 61 (1986), 195-212. 6 Ch. Perelman und L. Olbrechts-Tyteca, Die neue Rhetorik, 2 Bände (Problemata 149), Stuttgart 24. 7 Ch. Perelman nennt es »das Argument durch die Definition«. »Das Wort des Propheten ist wahr, weil er es unter der Autorität des Geistes spricht, und der Geist inspiriert ihm genau dieses Wort, weil die Tätigkeit des Geistes christologisch de[niert ist.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 77