eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 13/25

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2010
1325 Dronsch Strecker Vogel

Intertextuelle Pneumatologie

2010
Richard B. Hays
1. Einführung: Eine intertextuelle Annäherung an Paulus’ Rede vom Geist Die neutestamentliche Forschung hat Schwierigkeiten, angemessene Kategorien zu entwickeln, um zu verstehen, wie der Apostel Paulus vom Geist redet. Über beinahe zehn Jahre in den 1980ern und 1990ern, war ich Mitglied einer Arbeitsgruppe von Neutestamentlern der Society of Biblical Literature, die das Thema paulinische Theologie bearbeitete. Wir diskutierten endlos die Bedeutung von Begriffen wie »Rechtfertigung«, »Glaube« und »Gesetz«. Wenn man jedoch auf die Bände mit Beiträgen zurückblickt, die aus dieser Gruppe hervorgingen, dann sieht man, dass wir dem Thema Geist bei Paulus bemerkenswert wenig Aufmerksamkeit schenkten. 1 Hätte Paulus selbst bei einem unserer Treffen vorbeigeschaut und diese distinguierte Gruppe von Neutestamentlern gefragt, ob wir denn die Bedeutung des Geistes in seiner Gedankenwelt bedacht hätten, so vermute ich, dass so mancher von uns mit den verwunderten Jüngern in Ephesus geantwortet hätte: »Nein, wir haben nicht einmal gehört, dass es einen Heiligen Geist gibt! « (Apg 19,2). Diese kleine Übertreibung hilft, den Gegenstand meiner Ausführungen näher zu bezeichnen. Es fällt uns schwer, die paulinische Lehre vom Geist klar zu beschreiben - oder vielleicht ist es präziser, nicht von der paulinische »Lehre« zu sprechen, sondern eher von der paulinischen Rede vom Heiligen Geist, denn der Geist ist fast nie Gegenstand der Lehre des Paulus für seine Gemeinden. Stattdessen scheint er anzunehmen, dass seine Leser schon gründliche Kenntnisse vom Geist besitzen. So hören wir nur Anspielungen: Paulus benutzt Aussagen über den Heiligen Geist, um seine Argumente bezüglich anderer Themen zu stärken. So fordert Paulus etwa von den »unverständigen Galatern«, dass sie nur eine entscheidende Frage beantworten: »Habt ihr den Geist aus Werken des Gesetzes empfangen, oder durch die Verkündigung des Glaubens? « (Gal 3,2). Die Form der Frage setzt voraus, dass der Empfang des Geistes eine derart klare und kraftvolle Erfahrung ist, dass er einen festen Angelpunkt bildet, von dem aus Paulus die nachfolgenden Lehren entwickeln kann. Die Bedeutung jeglicher Erfahrung ist freilich schwer zu greifen: Wir müssen Worte und Konzepte finden, um sie zu interpretieren. In diesem Fall versteht Paulus den Geist als die Erfüllung von Gottes Verheißung an Abraham (Gal 3,14). Aber in welchem Sinn kann der Segen, der Abraham versprochen wird (viele Nachkommen und ein Heimatland [Gen 15,5, 26,5]), identifiziert werden mit der Geisterfahrung von Heiden in einer viel späteren Zeit? Was genau ist der Geist (gr. pneuma), von dem Paulus meint, dass seine Leser ihn empfangen hätten? Ist es eine unpersönliche, übernatürliche Kraft oder Substanz? Und in welcher Beziehung steht er zu Gottes eigener Gegenwart oder zur Person und zum Werk Jesu? Es gibt selbstverständlich Versuche, solche Fragen in gründlicher Weise zu bearbeiten und die verschiedenen Bedeutungen von pneuma in den paulinischen Briefen zusammenhängend darzustellen. 2 Doch haben solche Untersuchungen dem intertextuellen Charakter der paulinischen Rede vom Geist relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Insbesondere hat die Bedeutung des Alten Testaments als der sprachlichen Matrix für Paulus’ Rede vom Geist nur eine recht untergeordnete Rolle in den meisten Studien gespielt. Mein Beitrag wird daher untersuchen, welche Implikationen es hat, über paulinische Pneumatologie von einer intertextuellen Perspektive her nachzudenken. Es ist wichtig, an dieser Stelle eine genaue Bestimmung vorzunehmen. Einer intertextuellen Lektüre von Paulus’ Rede vom Geist ist es nicht einfach nur darum getan, die Quellen der paulinischen Aussagen ausfindig zu machen. Noch wird man sich mit denjenigen Passagen begnügen, in denen Paulus explizit die Schrift zitiert. Stattdessen bietet der intertextuelle Ansatz eine Lektüre, die die paulinischen Briefe in eine dialogische Beziehung mit anderen Texten setzt, von denen wir annehmen können, dass sie zum kulturellen Rahmen (oder zur »Enzyklopädie«) des Paulus selbst und seiner frühen Leser gehörten. 3 Die intertextuelle Lektüre kann z.B. die paulinischen Briefe in ein Entsprechungsverhältnis zu Jesaja - besonders zu Passagen wie Zum Thema Richard B. Hays Intertextuelle Pneumatologie Die paulinische Rede vom Heiligen Geist 30 ZNT 25 (13. Jg. 2010) »Nein, wir haben nicht einmal gehört, dass es einen Heiligen Geist gibt! « (Apg 19,2) 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 30 Richard B. Hays Intertextuelle Pneumatologie Jes 44,2-3 - setzen und untersuchen, ob ein solches Lesen Licht auf die paulinische Rede vom Geist wirft. 4 Weiterhin fragt die intertextuelle Lektüre nach den semantischen Effekten, die entstehen, wenn die beiden Texte im Dialog miteinander gelesen werden. Stefan Alkier formuliert hilfreich: »Von Intertextualität sollte man nur sprechen, wenn das Interesse an der Erforschung von Sinneffekten besteht, die durch die Beziehung mindestens zweier Texte entstehen und zwar von Sinneffekten, die keiner der beiden Texte für sich allein gesehen eröffnet.« 5 Daher heißt, die intertextuelle Pneumatologie bei Paulus zu untersuchen, die metaphorische Auswirkung der poetischen Verschmelzung zweier Diskurswelten zu bedenken (nämlich der des Jesaja im 8. Jh.v.Chr. und der des Paulus im 1. Jh.n.Chr.), oder vielleicht dreier Welten (die unsrige eingerechnet). Natürlich ist die intertextuelle Lektüre prinzipiell nicht auf die Frage beschränkt, wie die neutestamentlichen Autoren Israels Schrift lasen. Man könnte z.B. auch eine intertextuelle Lektüre von Paulus’ Rede vom Geist vornehmen, in der man stoische Texte heranzieht, die von pneuma sprechen. 6 Unsere sehr begrenzte Untersuchung hier kann leider nicht eine umfassende Behandlung aller möglichen Berührungspunkte zwischen Briefen des Paulus und den verschiedenen antiken kulturellen Repertoires leisten. Stattdessen möchte ich eine Stichprobe vornehmen, die einige der Möglichkeiten einer intertextuellen Lektüre paulinischer Pneumatologie aufzeigt. Zu diesem Zweck werde ich mich auf eine einzige paulinische Passage beschränken, die eine starke Konzentration von Bezugnahmen auf den Geist aufweist, nämlich Röm 8. 7 Die intertextuelle Lektüre, die ich hier vorstellen möchte, wird sich auf den intertextuellen Dialog zwischen diesem Text und einigen wenigen alttestamentlichen Schlüsseltexten konzentrieren und dabei auch der Art, in der die alttestamentlichen Texte in anderen jüdischen Schriften der Zeit des zweiten Tempels gehört und angeeignet wurden, Aufmerksamkeit schenken. 8 2. Das Wirken des Geistes in Röm 8 Das Wort pneuma (»Geist«) begegnet nicht weniger als zwanzig Mal in Röm 8. Obwohl der Ausdruck »Heiliger Geist« im ganzen Kapitel nicht benutzt wird, bezieht sich die überwiegende Mehrzahl der Vorkommen von pneuma deutlich auf den »Geist Gottes« (Röm 8,9; im selben Vers auch als »Geist Christi« bezeichnet). Für die Analyse werde ich die eng zusammenhängenden paulinischen Aussagen zum Wirken des Geistes in drei Kategorien einordnen: der Geist gibt Leben, der Geist leitet Gottes Kinder, und der Geist seufzt und tritt ein für uns. In jedem Fall schwingen in Paulus’ Formulierungen reiche Anspielungen an Israels Heilige Schrift mit. 1. Der Geist gibt Leben Die Rolle des Geistes als Lebensspender ist der Grundgedanke von Röm 8, denn hier wird der Geist zuallererst als »Geist des Lebens« eingeführt (8,2). Es ist das »Gesetz« (gr. nomos) des »Geistes des Lebens in Christus Jesus«, das »euch vom Gesetz der Sünde und des Todes Richard B. Hays, Jahrgang 1948, Professor für Neues Testament an der Duke University in Durham, North Carolina, USA. Vorher Associate Professor für Neues Testament an der Yale Divinity School. Sein Forschungsansatz ist interdisziplinär; Hays’ Augenmerk liegt auf der Erarbeitung biblisch-theologischer Fragen mittels literaturwissenschaftlicher Methoden. Sein Hauptforschungsgebiet sind die paulinischen Briefe sowie neutestamentliche Ethik. Veröffentlichungen, zu denen »e Faith of Jesus Christ«, »Echoes of Scripture in the Letters of Paul«, »e Moral Vision of the New Testament«, »First Corinthians (IC)«, »e Letter to the Galatians (NIB)«, »e Conversion of the Imagination» und »Seeking the Identity of Jesus: A Pilgrimage« zählen. Zur Zeit arbeitet Richard B. Hays an einem Buchprojekt über die vier Evangelisten als Interpreten der Schriften Israels. In 2009 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Goethe-Universität, Frankfurt am Main, verliehen. Richard B. Hays ZNT 25 (13. Jg. 2010) 31 »[D]ie intertextuelle Pneumatologie bei Paulus zu untersuchen [heißt], die metaphorische Auswirkung der poetischen Verschmelzung zweier Diskurswelten zu bedenken« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 31 Zum Thema 32 ZNT 25 (13. Jg. 2010) freigemacht hat« - von jener repressiven Gegebenheit, die Paulus gerade zuvor so einsichtsvoll in Röm 7 beschrieben hat. Röm 8,2 ist manchmal so verstanden worden, als wäre hier die Rede von einem noetischen Prinzip eines Lebens in Christus, das Gefangene befreit. Allerdings machen die nachfolgenden Bezugnahmen auf das lebenspendende Wirken des Geistes klar, dass diese Interpretation von Röm 8,2 nicht zutreffend sein kann. Eher ist der Geist, der die geistige Haltung (phronēma) vermittelt, die Leben und Frieden bewirkt (8,6), eine Kraft, die im Gläubigen wohnt (8,9). Weiter: Obwohl der menschliche Körper aufgrund der Sünde tot ist, sagt Paulus nicht, wie wir erwarten würden, dass der menschliche Geist lebendig ist, sondern dass der Geist selbst Leben ist »um [Gottes] Gerechtigkeit willen« (8,10). Dies zeigt, dass man Röm 8,10 nicht im Sinne eines anthropologischen Dualismus missverstehen sollte: Paulus sagt nicht, dass unser menschlicher Geist weiterleben wird, selbst wenn unser Körper stirbt. Dagegen sagt er, dass der Geist Gottes die Kraft des Lebens ist, die unsere Versklavung an den Tod überwindet. Dies wird ganz unmissverständlich im nächsten Satz: Der Geist ist »der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat«, und daher können wir vertrauen, dass dieser selbe Geist auch unsere »sterblichen Leiber lebendig machen« wird (8,11). Dies ist eine vorausgreifende Bezugnahme auf die Auferstehung des Leibes - eine Hoffnung, die Paulus nachdrücklich in 8,23 wiederholt (die »Erlösung unserer Leiber« von der Knechtschaft der Vergänglichkeit). 9 Die lebenspendende Rolle des Geistes wird letztlich durch die endzeitliche Auferstehung des Leibes bestätigt, aber dieselbe Leben vermittelnde Kraft des Geistes ist schon in der Gegenwart wirkmächtig, um Gottes Volk zu formen und zu verwandeln; daher sind sie nicht mehr von der Sünde beherrscht, sondern sind befreit, den gerechten Willen Gottes zu erfüllen, indem sie in der Kraft des Geistes wandeln (8,4). Nirgends in Röm 8,1-11 zitiert Paulus einen Schrifttext oder spielt deutlich darauf an. Dennoch gewinnt seine Darstellung vom Wirken des Geistes ein deutlich schärferes Profil, wenn wir einige alttestamentliche Passagen daneben legen, insbesondere Ez 36,26-28: »Und ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben und will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben. Ich will meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten und danach tun. Und ihr sollt wohnen im Lande, das ich euren Vätern gegeben habe, und sollt mein Volk sein, und ich will euer Gott sein.« Im originalen Zusammenhang ist dies ein Wort göttlicher Zusage über die Wiederherstellung Israels nach dem Exil. Gemäß Ezechiels Prophezeiung verunreinigte Israels Ungehorsam das Land und daher richtete Gott sie »nach ihrem Wandel und Tun« und zerstreute sie unter die Völker (Ez 36,16-19). Aber nun erklärt Gott seine Absicht, Israel aus der Diaspora zu sammeln, sie ins Land zurückzubringen und sie zu reinigen (36,22-25). Das Versprechen eines »neuen Geistes« soll dann sicherstellen, dass das Volk Gottes Geboten treu folgen und in einer erneuerten Bundesbeziehung mit Gott leben wird. Es ist interessant, dass der »neue Geist« von V.26 dann in V.27 weiterhin als »mein Geist« näher bestimmt wird - d.h. als der Geist Gottes, den Gott verspricht »in euch« zu legen. Dasselbe Versprechen wird im folgenden Kapitel bei Ezechiel wiederholt, und zwar im Anschluss an die großartige Vision vom Totenfeld. Der Prophet befolgt Gottes Gebot, über die Knochen zu prophezeien und »[d]a kam der Odem/ Geist (Masoretischer Text: ruach; Septuaginta [LXX]: pneuma) und sie wurden wieder lebendig (LXX: ezēsan), und stellten sich auf ihre Füße, ein überaus großes Heer« (Ez 37,10). In den abschließenden Worten dieser Texteinheit bietet Gott dem Propheten eine ausdrückliche Deutung der Vision an: Die Knochen sind das Haus Israel und Gott will ihre Gräber öffnen, sie auferwecken und sie ins Land zurückführen (37,11-12). Und, am wichtigsten für unsere Lektüre von Röm 8, Gott instruiert Ezechiel, dem Volk zu sagen: »[I]ch will meinen Odem in euch geben, dass ihr wieder leben sollt (LXX: zēsesthe)« (37,14). Mithin verspricht Gott in Ez 36 und 37, Israel wiederherzustellen, indem er seinen Geist in sein Volk legt, um sie von den Toten zu erwecken, ihnen neues Leben zu geben und einen neuen Herzensgehorsam zu ermöglichen (vgl. auch Jer 31,31-34). Die Übereinstimmung dieser Motive mit Röm 8,1-11 ist beeindruckend: Genauso wie Gottes Geist trockenen Knochen Leben gibt, so wird der Geist dessen, der Jesus von den Toten erweckt hat, in Gottes Volk wohnen und »eure sterblichen Leiber lebendig machen« (Röm 8, 11). Dies erklärt Gottes Antwort auf Paulus’ Ruf: »Wer wird mich erretten von diesem Leib des Todes? « (7,24) Darüber hinaus wird dieser lebenspendende Geist auch einen radikal neuen Gehorsam in denen bewirken, die nach dem Geist leben, einen Gehorsam, den das Gesetz nicht imstande war zu erzeugen (8,3-4). Was ist nun das Ergebnis der Lektüre von Röm 8 in intertextueller Entsprechung zu Ez 36-37? Es scheint, dass Paulus mehr verkündet als die Errettung einzelner von der Macht der Sünde; sein Ausblick ist 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 32 Richard B. Hays Intertextuelle Pneumatologie ZNT 25 (13. Jg. 2010) 33 auch korporativ und kosmisch. Die Erlösung in Jesus Christus ist auf eine Weise mit der Wiederherstellung eines Volkes verbunden, das Gottes Name Ehre geben wird, indem es in der Kraft des Geistes wandelt; daher die Betonung, die Paulus auf das verwandelte Verhalten legt, das den Wandel in der Kraft des Geistes kennzeichnet (8,3-13 passim). Und wenn Paulus sagt, dass es »keine Verdammung für die, die in Christus Jesus sind« gibt (8,1), dann steht deren Begnadigung vom Gericht in Parallele zum Schicksal Israels nach Ezechiel: Israel wurde gemäß seiner Taten gerichtet und zerstreut, aber es wird zurückgebracht werden, schlicht und einfach aufgrund von Gottes freier und barmherziger, Leben gewährender Tat. Ezechiel beschreibt diese lebenspendende Wiederherstellung, indem er das Bild von der Auferstehung benutzt. Für Paulus jedoch ist das Bild nicht mehr nur eine Metapher: Weil Gott Jesus von den Toten auferweckt hat, erwartet er nun eine eschatologische Zukunft in der die »Erlösung unserer Leiber« tatsächlich in einer wiederhergestellten und befreiten neuen Schöpfung stattfinden wird (8,18-25). Zum einen beleiht Paulus die Bildsprache des Ezechiel also, zum anderen transformiert er sie hermeneutisch durch das Evangelium von Tod und Auferstehung Jesu. Vor allem hallt in Röm 8 Ezechiels Bild vom Geist wider, der in Gottes Volk gelegt wird als eine Quelle neuen Lebens: »Ich will meinen Odem in euch geben, dass ihr wieder leben sollt.« (Ez 37,14) Paulus zitiert diesen Text nicht ausdrücklich, aber in allem, was er in Röm 8 über die lebenspendende Kraft des Geistes zu sagen hat, schwingt stark diese Verheißung mit. 10 Leben ist das Ergebnis der von Gott gegebenen innewohnenden Präsenz von Gottes eigenem Geist. Angesichts der beeindruckenden Parallelen muss man sich fragen, warum Paulus die Passage aus Ezechiel hier nicht zitiert. Wir können recht sicher sein, dass er den Text kennt, denn er spielt in 2Kor 3,3 gezielt auf ihn an, wenn er davon spricht, dass Christus »mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf fleischerne Tafeln des Herzens« schreibe. Diese komplexe Anspielung zielt sowohl auf Jeremias Bild vom neuen Bund, der auf das Herz geschrieben wird (Jer 31,33), als auch auf Ezechiels Verheißung, dass Gott Israels steinernes Herz durch ein neues aus Fleisch ersetzen wird (36,26; vgl. 11,19). 11 Diese zweite unabhängige Anspielung verstärkt die Wahrscheinlichkeit, dass Paulus den Text gut kannte. Warum nimmt er dann nicht ausdrücklicher auf ihn Bezug? Derartige Fragen nach dem, was Paulus sich entschied nicht zu schreiben, sind unmöglich zu beantworten. Vielleicht bezog sich Paulus in Röm 8 überhaupt nicht bewusst auf Ezechiel; vielleicht war die Art und Weise, wie dieser Text den Geist als Spender des Auferstehungslebens darstellt, einfach Teil seiner Enzyklopädie und zwar auf unterbewusster Ebene. Jedoch ist es wahrscheinlicher, dass der paulinische Diskurs hier bewusst poetischkünstlerisch agiert. Schließlich liegt in Röm 8 eine sehr kunstvolle und erhabene rhetorische Komposition vor. Dichter und Prediger wissen schon lange, dass manchmal die wirkungsvollsten intertextuellen Anspielungen unterschwellig sind: Jede poetische Anspielung zu erklären ist gleichbedeutend damit, den metaphorischen Diskurs abzutöten. In seiner Siegesrede am Wahlabend zitierte Präsident Barack Obama Martin Luther King, Jr. nicht ausdrücklich, aber seine Rede enthielt eine Anzahl elegant anspielender Abwandlungen von Wendungen aus Kings berühmtesten Reden. 12 Obama machte nicht eigens auf seine Anspielungen aufmerksam, aber wer Ohren hatte zu hören, hörte sehr wohl. Vielleicht tat Paulus etwas Ähnliches in Röm 8. Wir können über Paulus’ Absicht keine Sicherheit erlangen. Wir können allerdings dies sagen: Eine intertextuelle Lektüre von Ez 36-37 und Röm 8 ist sowohl literarisch als auch theologisch aufschlussreich. Natürlich fußt die paulinische Auffassung vom Geist als einer lebenspendenen Kraft nicht allein auf diesem einen intertextuellen Echo. Ein weitaus verhalteneres kommt für Röm 5,5 in Frage: »Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist«, wiederum eine Reminiszenz an die Verheißung eines neuen Geistes in Gottes Volk. Näher liegt indes Jes 44,3: »Ich will meinen Geist auf deine Kinder gießen und meinen Segen auf deine Nachkommen«. Wie bei Ezechiel ist diese Verheißung auch bei Jesaja Teil einer größeren Prophetie über das Ende des Exils und die Wiederherstellung Israels (Interessanterweise ist dies die einzige alttestamentliche Stelle, die »Geist« und »Segen« direkt, nämlich im synonymen Parallelismus, miteinander verbindet). Wenn also Paulus das Bild von der Ausgießung des Heiligen Geistes verwendet, mag wohl dieses Wort aus Jesaja anklingen. »Es scheint, dass Paulus mehr verkündet als die Errettung einzelner von der Macht der Sünde […]« »[…] aber wer Ohren hatte zu hören, hörte sehr wohl.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 33 Zum Thema 34 ZNT 25 (13. Jg. 2010) Für diese Lektüre sprechen Beobachtungen, die neuerdings Rodrigo Morales in einer wichtigen Studie vorgetragen hat. Er hat gezeigt, dass Jes 44,3 auch von einem liturgischen Fragment aus Qumran, bekannt unter dem Titel Worte der Lichter, in Anspruch genommen wurde. Der Text enthält ein Gebet, das Gott dafür dankt, dass er seines Bundes gedenkt, das Volk wieder sammelt und in ihm den Wunsch nach Erfüllung der Gebote weckt. Das weist zunächst natürlich große Nähe zu Ez 36 auf. Dann aber wird erklärt, wie Gott das ehedem ungehorsame Herz Israels verändert hat: »[Den]n Du gossest den Geist Deiner Heiligkeit unter uns aus, [um] Deine Segnungen über uns [zu b]ringen« (4Q504 frg. 2, V.15-16; Übers. J. Maier). Morales stellt fest, dass dieser Passus einen eindeutigen Beleg dafür liefert, dass neben Paulus auch andere jüdische Stimmen Jes 44,3 als Verheißung der eschatologischen Erlösung Israels durch den Heiligen Geist gelesen haben. 13 Damit wird auch deutlich, dass auch Jes 44 zum intertextuellen Feld gehört, in welchem wir die paulinische Auffassung vom Geist als in die Herzen gegossene lebenspendende Kraft lesen sollten. Die bedeutendste hermeneutische Transformation dieser Tradition in Röm 5 besteht nun darin, dass Paulus die Ausgießung des Geistes mit der Liebe Gottes identifiziert, ein Motiv, das sich ausdrücklich weder in Jes 44 noch in 4Q504 findet. 2. Der Geist Gottes führt Gottes Kinder Wir kehren zu Röm 8 zurück und nehmen Röm 8,14- 15 in den Blick, wo wir eine neue und besondere Aktivität des Geistes entdecken, nämlich, dass er die »Söhne Gottes« führt, eine Sprache, die an den Exodus Israels aus Ägypten erinnert, als Gott seinem Volk vorausging, »am Tag in einer Wolkensäule, um ihnen den Weg zu zeigen, in der Nacht aber in einer Feuersäule« (Ex 13,21). Von besonderer Bedeutung ist die rückblickende Darstellung in Dtn 32, denn hier wird das Volk Israel als »Gottes Kinder« bezeichnet (32,5), seine Söhne und Töchter (32,19-20). Gott wird ihr »Vater« genannt (LXX: patēr, 32,6; vgl. 32,18), der allein sie geführt hat (LXX: ēgen, 32,12). Wenn Paulus also schreibt, dass »alle, die von Gottes Geist geleitet waren, Gottes Kinder sind« (Röm 8,14), dann gibt es, wie Sylvia Keesmaat beobachtet hat, »zahlreiche Echos aus Dtn 32 in Röm 8«. 14 Solche Echos sind nicht zuletzt wegen der herausragenden Stellung von Dtn 32 (Lied des Mose) in der jüdischen Tradition zu erwarten, sondern auch wegen Paulus’ eigener Zitate und Anspielungen an diesen Text. 15 Diese intertextuelle Verknüpfung wird durch den folgenden Satz zusätzlich verstärkt: »Denn ihr habt nicht einen Geist der Skalverei empfangen, der euch in die Furcht zurück führt, sondern ihr habt den Geist der Annahme an Kindes Statt [oder: Sohnschaft] erhalten, in welchem wir rufen ›Abba, Vater [gr. patēr]‹« (Röm 8,15). Hier verwendet Paulus zur Beschreibung der Situation seiner römischen Adressaten allem Anschein nach erneut Exodus-Metaphorik. Sie sollen sich nicht fürchten und nach der Rückkehr in das »Sklavenhaus« verlangen, so wie es die Israeliten in der Wüste taten (Vgl. etwa Ex 14,10-12: »Und in großer Furcht schrieen die Israeliten zu dem Herrn. Sie sagten zu Mose: ›Was hast du uns angetan, dass du uns aus Ägypten geführt hast? […] Denn es wäre besser für uns gewesen, Sklaven der Ägypter zu sein als in der Wüste zu sterben‹«). Statt dessen sollen sie sich beständig der Führung des Geistes Gottes anvertrauen, der ihren Status als »Söhne« bestätigt, sie Gott als Vater anrufen lässt und ihnen den Weg zur Freiheit weist. Auf eine ganz ähnliche Motivik stoßen wir auch in einer anderen Nacherzählung der Exodus-Geschichte, nämlich in Jes 63,7-14, einem Passus, der Israels Unglauben beklagt und Gott bittet, ihrer zu gedenken und sie zu retten. Der Prophet stellt fest, dass die Israeliten, obwohl sie Gottes Kinder waren, »rebelliert und [Gottes] Heiligen Geist betrübt haben« und er fragt, »Wo ist der, der seinen heiligen Geist in sie gab? « Dann erinnert er sich an die Teilung des Meeres und fragt sich, wo Gott ist, »der sie durch die Fluten führte«. Die Prophetie mündet dann in einen schmerzvollen Schrei zu Gott als Vater mit der Bitte um sein gegenwärtiges rettendes Eingreifen: »Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, Herr, bist unser Vater; ›Unser Erlöser‹, das ist von alters her dein Name.« (Jes 63,15; vgl. auch 64,8) Wir finden also in Jes 63 ein Cluster an Exodus- Motiven, das in Röm 8,14-15 einen deutlichen Widerhall findet. Der Geist steht für den gegenwärtigen Gott, der seine Kinder/ Söhne in den Exodus führt, und Jesaja sehnt sich nach einer erneuten Gottesgegenwart (vgl. Jes 64,1), die einen neuen Exodus der Befreiung Israels heraufführt und Gottes mitleidsvolles Vatersein für sein Volk aufs neue unter Beweis stellt. Genau dies ist, so Paulus, in Jesus Christus und durch die Gegenwart des Heiligen Geistes in der Gemeinde des Gottesvolkes geschehen. Das Motiv eines neuen Exodus liegt auch in Jes 43,1-7 vor, einem Text, der mit Nachdruck erklärt: »Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir« (Jes 43,5; vgl. 43,1). Bemerkenswert ist, dass in der LXX-Fassung dieses Textes versichert wird, dass Gott seine »Söhne 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 34 Richard B. Hays Intertextuelle Pneumatologie ZNT 25 (13. Jg. 2010) 35 und Töchter« »führen« wird (43,5), die er »erlöst« und »gerufen« hat (43,1.7), aber auch, dass sie »verherrlicht« werden, weil Gott sie »liebt« (43,5). Alle diese Stellen weisen auf den paulinischen Gedankengang in Röm 8 voraus, denn Paulus sagt nicht nur, dass die Söhne Gottes von Gottes Geist geleitet und dazu bewegt werden, Gott »zu nennen« (8,14-15), sondern er fügt auch hinzu, dass sie die gegenwärtigen Leiden nicht zu fürchten brauchen, denn Gott hat sie berufen, gerechtfertigt und verherrlicht, und nichts kann sie aus seiner Hand reißen (vgl. v.a. 8,30.39). Hat Paulus bewusst auf diese Exodustexte aus Ex, Dtn und Jes angespielt, und dies in der Erwartung, dass seine Leser diese Anspielungen verstanden? Wir können das nicht mit Sicherheit sagen. Was wir aber wissen, ist dies, dass die Exodus-Tradition das Zentrum der nationalen Identität und Erinnerung Israels bildete, ja sogar im Zentrum ihres Gottesverständnisses stand. Es handelt sich also nicht um abseitige, obskure Textstellen, sondern gerade weil sie einen solch wichtigen Platz in der geschichtlichen Imagination Israels einnehmen, kann Paulus (wie schon die Verfasser des Dtn und des Jesajabuches vor ihm - die Verhältnisse seiner Leser metaphorisch in die symbolische Welt der Exodus-Geschichte einzeichnen. Michael Fishbane spricht im Hinblick auf die vielfältigen metaphorischen Transformationen der Exodus-Tradition innerhalb der Hebräischen Bibel von »der Fähigkeit des Exodus-Paradigmas, Erinnerung und Erwartung zu wecken«. Weiterhin stellt er fest: »Die besondere Fähigkeit eines geschichtlichen Ereignisses, Erwartungen an die Zukunft zu erzeugen, basiert auf der Transfiguration dieses Ereignisses durch die theologische Intuition, die ihm innewohnt und durch es wirkt und so die einstige und künftige Macht des Gottes der Geschichte offenbar macht. Ohne eine solche symbolische Transformation wäre der Exodus niemals zu einer Hoffnungsgeschichte geworden« 16 . Paulus teilt die Überzeugung Israels, dass die Macht Gottes im Exodus enthüllt wurde, und Röm 8 ist ein machtvolles Beispiel jener »symbolischen Transformation«, von der Fishbane spricht. Dementsprechend vermag nur eine intertextuelle Lektüre der paulinischen Rede vom Geist in Röm 8 die ganze Reichweite und Tiefe seiner Vision von der Kirche als einem eschatologisch erlösten Volk zu enthüllen, das von demselben lebendigen Gott erlöst wurde, der Israel aus Ägypten geführt hat. Im Licht der angeführten intertextuellen Lektüren der paulinischen Rede vom Geist scheint ein etwas spekulativer Vorschlag statthaft, der ein weiteres sonderbares Detail aus Röm 8 erklären könnte, nämlich Paulus’ Gedanke vom Eintreten des Geistes für die Gläubigen mit »unartikulierten Seufzern« (8,26-27). Die Formulierung ist exegetisch notorisch schwierig: Wie ist der paulinische Ausdruck stenagmois alalētois zu übersetzen? Ist mit einigen englischen Übersetzungen an Seufzer zu denken, die »zu tief für Worte sind«, entsprechend der Lutherübersetzung »mit unaussprechlichem Seufzen«? Geht es Paulus um eine stille, innerliche Form des Gebets? Oder meint er, so einige Ausleger, das vom Geist inspirierte Phänomen des lauten Redens in unverständlichen Rufen und Sprachen? 17 Gleichviel, was motiviert ihn dazu, dieses ungewöhnliche Bild für die Fürsprache des Geistes zu verwenden? Wichtig ist zunächst, dass Paulus das Geräusch des Seufzens bereits in 8,19-23 in den Text eingebracht hat, wo von der Sehnsucht der ganzen Schöpfung nach Befreiung von der »Sklaverei der Vergänglichkeit« die Rede ist. Wenn unsere fortschreitende Analyse von Echos des Exodus in Röm 8 zutreffend ist, ist anzunehmen, dass Paulus das Exodus-Paradigma nun in einen neuen Vorstellungszusammenhang überführt, wenn er die Todverfallenheit der Schöpfung zu Israels Sklaverei in Ägypten in Beziehung setzt und die eschatologische Erlösung der ganzen Schöpfung als einen neuen und endgültigen Exodus auffasst, in dem die ganze geschaffene Welt teilhat an der erlösenden und befreienden Erfahrung Israels. Jeder Leser, der Ohren hat zu hören, wird dann in der Aussage, dass die Schöpfung »insgesamt seufzt« (gr. systenazei), das Seufzen Israels in der ägyptischen Sklaverei vernehmen: »Die Israeliten stöhnten [LXX: katestenaxan] unter der Arbeit und schrien, und von der Arbeit stieg ihr Hilferuf auf zu Gott. Und Gott hörte ihr Seufzen [LXX: stenagmon], und Gott gedachte seines Bundes mit Abraham, Isaak und Jakob« (Ex 2,23- 24; vgl. auch Ex 6,5; Apg 7,34). Dann ist es umso bemerkenswerter, dass Paulus, der gerade von der Führung und Vergewisserung der Kinder Gottes durch den innewohnenden Geist Gottes gesprochen hat, nun betont, dass nicht nur die versklavte »Hat Paulus bewusst auf diese Exodustexte aus Ex, Dtn und Jes angespielt, und dies in der Erwartung, dass seine Leser diese Anspielungen verstanden? « »Das gegenwärtige Leiden ist nicht einfach ein bedeutungsloses, zufälliges Leiden, sondern es ist Teil eines so schmerzlichen wie hoffnungsvollen Prozesses, der zur Geburt eines neuen Zeitalters führt.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 35 Zum Thema 36 ZNT 25 (13. Jg. 2010) Schöpfung seufzt, sondern auch »wir selbst, die die Erstlingsgabe des Geistes empfangen haben«. Auch diejenigen, die den Geist empfangen haben, »seufzen [gr. stenazomen] in uns selbst und warten auf die Annahme an Sohnes Statt« (Röm 8,23). Das heißt: Die Kinder Gottes sind ganz und gar betroffen vom Leiden und gequälten Stöhnen der Schöpfung, und insofern gleicht ihre Situation derjenigen Israels, als sie Gefangene in Ägypten waren und auf Gottes Rettungstat warteten. Dieses Stöhnen der Schöpfung wird sodann als »Geburtsschmerzen« (8,22) beschrieben. Das gegenwärtige Leiden ist nicht einfach ein bedeutungsloses, zufälliges Leiden, sondern es ist Teil eines so schmerzlichen wie hoffnungsvollen Prozesses, der zur Geburt eines neuen Zeitalters führt. Paulus verwendet hier ein geläufiges apokalyptisches Bild (vgl. etwa Mk 13,8; Apk 12,2; 1QH a 11,6-8). 19 In Röm 8 überlagern sich Exodus-Motivik und das apokalyptische Bild kosmischer Geburtswehen. Die Fusion dieser Bildfelder stellt die Interpretation vor Schwierigkeiten, wenn sie nach einem einfachen Schlüssel ihrer vielschichtigen Metaphorik sucht. Dagegen wird eine intertextuelle Lektüre den verschiedenen symbolischen Ebenen Rechnung tragen und den komplexen semantischen Effekt bedenken, der durch ihre gleichzeitige Verwendung entsteht, vergleichbar dissonanten Noten in einem einzigen Akkord. Den dramatischsten intertextuellen Effekt hat sich Paulus indes für seine Darstellung der Aktivität des Geistes aufgehoben. Gott hört nicht bloß das Seufzen der Schöpfung und der zusammen mit ihr seufzenden Kinder Gottes (wie in der Exodus-Geschichte). Vielmehr stimmt Gottes Geist in dieses Seufzen ein: »In gleicher Weise aber nimmt sich der Geist unserer Schwachheit an; denn wir wissen nicht, was wir eigentlich beten sollen; der Geist selber jedoch tritt für uns ein mit wortlosen Seufzern [gr. stenagmois alalētois] […]. Der Geist tritt für die Heiligen ein gemäß Gottes Willen« (8,26-27). Angesichts dieser bemerkenswerten Sätze wird einem Leser, dem Paulus’ wiederholte Anspielungen auf Prophetien aus Jesaja über die Erlösung Israels aufgefallen sind, auch die folgende in den Sinn kommen: »Lange bin ich still gewesen, habe ich geschwiegen, habe ich mich zurückgehalten, wie die Gebärende werde ich nun schreien, werde so sehr schnauben, dass ich um Luft ringen muss.« (Jes 42,14) Gott erklärt durch Jesaja, dass sein Handeln in Gericht und Erlösung ihn schreien macht wie eine Gebärende, und Paulus sagt nun, dass der Geist eben dieses erlösenden Gottes in das Seufzen der in Wehen liegenden Schöpfung einstimmt, um (auf paradoxe Art) für die endgültige Erlösung der Welt und der Heiligen Fürbitte zu leisten. Die vorhandenen Texte lassen nicht die Behauptung zu, Paulus hätte all dies bewusst durchdacht und sich gezielt auf diese Stellen bezogen, um seine Auffassung vom erlösenden Mitleiden des Geistes zu untermauern, doch hat er durch die Verwendung einer Sprache, die von diesen Traditionen der Schriften Israels widerhallt und sie wach ruft, gewiss einen Text voller intertextueller Resonanzen geschaffen. Zweifellos gehörten die genannten Passagen zu Paulus’ produktiver Enzyklopädie, und darüber hinaus können wir mit Grund annehmen, dass in Lesern, deren rezeptive Enzyklopädie dieselben kanonischen Texte enthält, eine kreative theologische Reflexion innerhalb des metaphorischen Feldes angestoßen wird, das sich diesen intertextuellen resonanten Bildern verdankt. Solche Lektüren sind geeignet, eine nuancierte Pneumatologie hervorzubringen, denn die Leser werden zu der Einsicht geführt, dass der Heilige Geist, von dem Paulus schreibt, zugleich aufzufassen ist als der Atem, der den Totengebeinen Leben einhaucht und die Toten auferweckt, als die Wolken- und Feuersäule, die die Kinder Gottes aus der Sklaverei und durch das Meer geführt hat, und als die innerliche Gegenwart Gottes selbst, der an unserer Mühe und unserem Seufzen teilhat, die wir die endgültige Enthüllung der Freiheit der Schöpfung erwarten. Der Beitrag wurde übersetzt von Gabriele Faßbeck und Manuel Vogel Anmerkungen 1 Die SBL Gruppe zur paulinischen Theologie produzierte vier Bände: J. Bassler (Hg.), Pauline Theology, Volume I, Minneapolis 1991; D.M. Hay (Hg.), Pauline Theology, Volume II, Minneapolis 1993; D.M. Hay and E.E. Johnson (Hgg.), Pauline Theology, Volume III, Minneapolis 1995; E.E. Johnson and D.M. Hay, Pauline Theology, Volume IV (SBL Symposium Series 4), Atlanta 1997. Die ersten drei Bände sind nachfolgend als Bände 21-23 in der SBL Symposium Series, 2002, nachgedruckt worden. 2 Man denke besonders an den langen Artikel im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament: pneuma ktl. (H. Kleinknecht/ F. Baumgärtel/ W. Bieder/ E. Sjöberg/ E. Schweitzer) ThWNT 6, 330-453. Wichtige neuere Stu- »[Paulus hat] durch die Verwendung einer Sprache, die von diesen Traditionen der Schriften Israels widerhallt und sie wach ruft, gewiss einen Text voller intertextueller Resonanzen geschaffen.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 36 Richard B. Hays Intertextuelle Pneumatologie ZNT 25 (13. Jg. 2010) 37 dien sind zu finden bei F.W. Horn, Das Angeld des Geistes. Studien zur paulinischen Pneumatologie (FRLANT 154) Göttingen 1992; G.D. Fee, God’s Empowering Presence: The Holy Spirit in the Letters of Paul, Peabody 1994. Ein Forschungsüberblick jetzt bei V. Rabens, The Holy Spirit and Religious-Ethical Life in Paul. The Transforming and Empowering Work of the Spirit in Paul’s Ethics (WUNT II) Tübingen 2010, Appendix. 3 Den Begriff »Enzyklopädie«, insofern er den kulturellen Rahmen eines Textes bezeichnet, hat Umberto Eco geprägt. Vgl. S. Alkier, Die Bibel im Dialog der Schriften und das Problem der Verstockung in Mk 4, in: ders./ R.B. Hays (Hgg.), Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre, Tübingen 2005, 8: »Die Enzyklopädie ist dabei der kulturelle Rahmen, in den der Text eingestellt wird und von dem aus sich Leerstellen des Textes füllen lassen.« 4 Zur Jesajaauslegung des Paulus vgl. F. Wilk, Die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus (FRLANT 179), Göttingen 1998; ders., Paulus als Nutzer, Interpret und Leser des Jesajabuches, in: S. Alkier/ R.B. Hays, Die Bibel im Dialog der Schriften, 93-116; J.R. Wagner, Heralds of the Good News. Isaiah and Paul »in Concert« in the Letter to the Romans (NTSup 101), Leiden 2002; R.B. Hays, ›Who Has Believed Our Message? ‹ Paul’s Reading of Isaiah, in: ders., The Conversion of the Imagination. Paul as Interpreter of Israel’s Scripture, Grand Rapids 2005, 25-49. 5 Alkier, Bibel im Dialog, 8. 6 Zur stoischen Rede vom pneuma vgl. die präzise Diskussion bei H. Kleinknecht in ThWNT 6, 350-55. Bemerkenswerterweise beachtet die bedeutende vergleichende Studie von Troels Engberg-Pedersen, Paul and the Stoics, Edinburgh 2000, das stoische Konzept des pneuma kaum. Vgl. dazu die wichtige Kritik von L. Louis Martyn, De-apocalypticizing Paul. An Essay Focused on Paul and the Stoics by Troels Engberg-Pedersen (JSNT 86) 2002, 61-102. 7 Horns ausführliche Studie, Angeld des Geistes, beinhaltet Kapitel zu 1Thess, 1 und 2Kor, Gal, Phil, aber überraschenderweise keine vollständige Behandlung des Römerbriefes. Für eine Analyse von Röm 8 mit Schwerpunkt auf ethischen Themen vgl. Rabens, Holy Spirit and Religious-Ethical Life, Kapitel 6. 8 Mein Nachdenken über dieses Thema ist beeinflusst von zwei Neutestamentlern, die ihre Beiträge auf Englisch veröffentlicht haben und die daher vielleicht in Deutschland noch nicht so gut bekannt sind: Sylvia C. Keesmaat, Paul and His Story. (Re)Interpreting the Exodus Tradition (JSNTSup 181), Sheffield 1999, und Rodrigo J. Morales, The Spirit and the Restoration of Israel. New Exodus and New Creation Motifs in Galatians (WUNT II) Tübingen 2010. Keesmaat’s Studie war ursprünglich eine Doktorarbeit, bei N.T. Wright an der Universität von Oxford angefertigt, und ich hatte die Freude, Morales’ Doktorarbeit an der Duke University zu betreuen. 9 Zur zentralen Rolle der Auferstehung im Römerbrief vgl. N. T. Wright, The Resurrection of the Son of God, Minneapolis 2003, 241-66; J.R.D. Kirk, Unlocking Romans. Resurrection and the Justification of God, Grand Rapids 2008. 10 Es ist ebenso wert festzuhalten, dass Ezechiel das Versprechen des Geistes unmittelbar mit dem Versprechen des Neubesitzes des Landes verbindet (z.B. Ez 36,24-30; 37,14b). Dies mag in einem tieferen Sinn eine teilweise Erklärung für die verwirrende Gleichsetzung von Empfang des Geistes und Erfüllung der Verheißung an Abraham (Nachkommen und Land) bieten, die Paulus im Galaterbrief vornimmt. Wenn in Ezechiel das Land mit dem Geist verbunden wird, dann entwickelte sich vielleicht per Metonomie der Geist zu einer Größe, die nicht nur das Land repräsentierte, sondern letztlich dieses dann verdeckte und ersetzte. Sollte dies der Fall sein, dann erklärt Paulus jedenfalls seinen Gedankengang nicht. 11 Für eine Analyse der alttestamentlichen Echos in der Passage vgl. R.B. Hays, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, New Haven 1989, 122-53. 12 Zum Beispiel Obamas an das amerikanische Volk gerichteter Aufruf, ihre Hände »an den Bogen der Geschichte zu legen, um ihn noch einmal in Richtung auf die Hoffnung auf einen besseren Tag hin zu beugen«, war ein deutliches Echo von Kings berühmter Formulierung, dass »der Bogen des moralischen Universums lang ist, aber er biegt sich in Richtung auf Gerechtigkeit.« 13 R.J. Morales, The Words of the Luminaries, the Curse of the Law, and the Outpouring of the Spirit in Gal 3,10- 14, ZNW 100 (2009), 268-78. Zu vergleichen ist auch TestXII, Jud 24,2-3: »Und der Himmel wird über ihm geöffnet werden, um den Geist als Segen des heiligen Vaters auszugießen. Und er wird den Geist der Gnade über euch ausgießen. Und ihr werdet ihm Söhne in Wahrheit sein und werdet in seinen ersten und letzten Geboten wandeln.« (Übers. J. Becker). Zwar kann das Testament Judas, wie Morales zutreffend feststellt, nicht mit Sicherheit als vorchristliche jüdische Quelle betrachtet werden, da mit der Möglichkeit zu rechnen ist, dass es sich ganz oder teilweise um einen christlichen Text handelt, doch wenn wir unsere Perspektive von der Quellenfrage auf das Phänomen intertextueller Lektüren verlagern, bietet die Stelle immerhin einen Einblick in die Enzyklopädie der frühen Rezeption der Paulusbriefe. 14 Keesmaat, Paul and His Story, 61. 15 Näheres zum paulinischen Gebrauch von Dtn 32 bei Hays, Echoes, 93-94.163-64. 16 M. Fishbane, Text and Texture. Close Readings of Selected Biblical Texts, New York 1979, 140. 17 Vgl. etwa E. Käsemann, Der gottesdienstliche Schrei nach der Freiheit, in: ders., Paulinische Perspektiven, Tübingen 1969, 211-236. 18 Vorformen des apokalyptischen Gebrauchs des Bildes der »Wehen« finden sich in der prophetischen Literatur Israels (vgl. etwa Jes 13,6-8; 26,16-18; Jer 6,24; Mi 4,9-10). In diesen Texten steht das Bild hauptsächlich für das Leiden Israels unter Gottes Gericht, aber in Micha 4,10 geht es um ein Leiden, das die Erlösung vorbereitet, und in Jes 26 folgt auf die Beschreibung vergeblicher Geburtsschmerzen unmittelbar die Verheißung der Auferstehung: »Die Erde wird die gebären, die lange tot waren« (Jes 26,19). Zum paulinischen Gebrauch dieses Bildes vgl. B.R. Gaventa, Our Mother Saint Paul, Louisville 2007, 32-34.56-59. 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 37