eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 13/26

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2010
1326 Dronsch Strecker Vogel

Über Treue und Freiheit – oder: Vom Desiderat einer Ethik der Übersetzung in den Bibelwissenschaften

2010
Stefan Alkier
1. Kritische Anmerkungen zur Diskussion um die »Bibel in gerechter Sprache« 1 Wie keine andere Übersetzung der letzten Jahrzehnte hat die »Bibel in gerechter Sprache« einen Streit über die Übersetzungspraxis hervorgerufen, der nicht nur unter philologisch geschulten Fachleuten geführt wurde, sondern eine breite gebildete Öffentlichkeit zum Teil heftig erregte. Die Irritationen, die so manche Entscheidung der Übersetzer hervorbrachte, wurden nicht nur auf philologischer Ebene diskutiert. Auch die theoretische Komplexität des Übersetzungsprozesses stand nur zu selten im Mittelpunkt der Kontroversen. Vielmehr wurde zu häufig mit komplexitätsreduzierender Beschwörung der notwendigen »Treue« des Übersetzers zu seinem Übersetzungsgegenstand die Überschreitung der verantwortbaren »Freiheit« durch das Übersetzungsprojekt der »Bibel in gerechter Sprache« angeprangert. Und zu häufig wurde auf Seiten der Akteure und Sympathisanten der »Bibel in gerechter Sprache« mit einer allzu undifferenzierten Inanspruchnahme der »Freiheit« die eingeforderte philologische »Treue« als Kennzeichen konservativen Denkens diffamiert. Die erstaunliche Intensität so mancher Polemik der Kritiker mag auch als Reaktion auf den mit dem Titel der umstrittenen Übersetzung erzeugten moralischen Vorwurf zu erklären sein, die bisherigen Übersetzungen seien in »ungerechter« Sprache gehalten. Vermutlich brach hier auch ein jahrzehntelang eingeübtes Schubladendenken hervor, das schon fast klischeehaft zwischen manchen Vertreterinnen und Vertretern befreiungstheologischer Ansätze 2 und ihren Kritikern immer wieder mal aktiviert wird. Die 2006 erschienene »Bibel in gerechter Sprache« ist nämlich eine der Befreiungstheologie und der feministischen Theologie verpflichtete Übersetzung von verschiedenen Übersetzerinnen und Übersetzern mit sehr unterschiedlichen philologischen, ästhetischen, ideologiekritischen und theologischen Kompetenzen. Protagonisten befreiungstheologischer Ansätze inszenieren sich gern als fortschrittliche Kämpfer für eine gerechtere Welt, um sich von ihren anders denkenden Kollegen abzugrenzen, die nicht einmal inklusive Sprachformen zu benutzen bereit sind und sich schon damit als Vertreter der bestehenden Machtverhältnisse und damit als nutznießende Komplizen des Kapitalismus in einer von Männern beherrschten Welt zeigten. Ihre Kritiker hingegen lieben es, sich als philologischen Fels in der Brandung ideologischer Stürme zu sehen, als neutrale, objektiv urteilende »Anwälte des Textes«, die allein ihn vor politischem Missbrauch von wem und was auch immer zu schützen in der Lage seien. Wie man auch zu der umstrittenen Übersetzung stehen mag, so dürfte auf beiden Seiten neben der Theorievergessenheit eine erstaunliche Überschätzung der Bedeutung der »Bibel in gerechter Sprache« die Hauptursache für die allzu heftigen polemischen Attacken vorliegen. Die »Bibel in gerechter Sprache« ist aber weder die »Lutherbibel des 21.-25. Jahrhunderts« noch ein Anzeichen für den »Untergang des Abendlandes«. Nicht die sachlichen Auseinandersetzungen über bestimmte philologische Entscheidungen und auch nicht die notwendigen Grundsatzdiskussionen über das neue Konzept der »Bibel in gerechter Sprache«, das mit einigen Konventionen der Übersetzungsliteratur bricht, 3 sondern der Mangel an theoretischer Differenziertheit der Mehrheit der Diskussionsbeiträge auf beiden Seiten verlangt nach einer Theoriedebatte über die Komplexität der Übersetzungsproblematik überhaupt. Dass es dabei immer auch um ethische Fragen geht, wird nicht nur aus den Schlagwörtern der Debatte ersichtlich wie »Treue«, »Freiheit«, »Gerechtigkeit«. Vielmehr geht es bei der Übersetzungsproblematik immer auch um den Umgang mit dem Gegebenen, dem Fremden, dem Anderen. In einem 1997 - also deutlich vor den um die »Bibel in gerechter Sprache« geführten Debatten - erschienenen Aufsatz schreibt der Germanist Alfred Hirsch: »Wie kaum eine andere text- und reproduktionstheoretische Hermeneutik und Vermittlung Stefan Alkier Über Treue und Freiheit - oder: Vom Desiderat einer Ethik der Übersetzung in den Bibelwissenschaften 60 ZNT 26 (13. Jg. 2010) »Wie kaum eine andere text- und reproduktionstheoretische Tradition haben sich die Rebexionen zur eorie der Übersetzung einer Moralisierung ihres Diskurses unterzogen, die in mehr als einer Hinsicht erstaunlich ist.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 60 Stefan Alkier Über Treue und Freiheit - oder: Vom Desiderat einer Ethik der Übersetzung in den Bibelwissenschaften Tradition haben sich die Reflexionen zur Theorie der Übersetzung einer Moralisierung ihres Diskurses unterzogen, die in mehr als einer Hinsicht erstaunlich ist. Immer wieder münden die übersetzungstheoretischen Überlegungen in den unterschiedlichsten Epochen und bei den unterschiedlichsten Autoren in einen Gestus präskriptiven Vorgehens und textpraktischer Handlungsanweisungen. Die Frage nach dem rechten Handeln scheint am Anfang aller Überlegungen zur Problematik der Übersetzung zu stehen, und es ist nur allzu offensichtlich, dass diese hochgewichtige ethische Fundierung in umgekehrtem Verhältnis zur Differenziertheit und Komplexität des gesamten übersetzungstheoretischen Diskurses steht. Selten hat man sich zumindest bei der Explikation übersetzungstheoretischer Überlegungen um eine Kontextualisierung derselben mit differenzierten text- und sprachtheoretischen Konzeptionen bemüht. Hingegen gibt es kaum einen Text, der nicht jene übermächtigen Embleme des Übersetzungsdenkens unterstreicht und einfordert: Treue und Freiheit.« 4 2. Bekenntnisse - oder: Von den Nöten der Übersetzer Liest man die in übersetzungstheoretischen Debatten stereotyp herangezogenen Texte, so ist es erstaunlich, wie sehr sich die Einschätzung Hirschs dadurch bestätigt. Tatsächlich handelt es sich zumeist weniger um sachliche Reflexionen der Probleme einer differenzierten Übersetzungstheorie, als vielmehr um Bekenntnisse von Übersetzern, die ihre übersetzungspraktischen Erfahrungen verarbeiten und ihren Kritikern vor allem die Zwickmühlen vor Augen malen, die die Übersetzungsarbeit mit sich bringt. Hieronymus (um 347 ca. 420), der bedeutendste Übersetzer der Alten Kirche, der im Auftrag des Papstes Damasus I. (um 305 - 384) die Vulgata, die lateinische Bibel, schuf, klagt: »[…] wenn ich wörtlich übersetze, klingt es sinnlos, wenn ich aber aus Not etwas in der Wortfolge, im Stil ändere, wird es so aussehen, als hätte ich meine Pflicht als Übersetzer verletzt.« 5 Er bekennt: »Ich gebe es nicht nur zu, sondern bekenne es frei heraus, dass ich bei der Übersetzung […] nicht ein Wort durch das andere, sondern einen Sinn durch den anderen ausdrücke; und ich habe in dieser Sache als Meister den Tullius [Cicero]« 6 . Hieronymus zitiert Cicero als Autorität für seine eigene Übersetzungspraxis: »[…] ich habe sie [die griechischen Redner] aber nicht als Dolmetsch übertragen, sondern als Redner, mit denselben Gedanken samt ihren Redeformen und Wendungen, wobei die Wörter unserer Gewohnheit angepasst wurden. Hierin habe ich es nicht für notwendig erachtet, ein Wort durch das andere wiederzugeben, sondern ich habe die Ausdrucksweise im ganzen und die Bedeutung aller Wörter beibehalten: denn ich meinte, man solle dies dem Leser nicht vorzählen, sondern gleichsam vorwägen.« 7 Hieronymus gibt deshalb zu bedenken: »Wenn es jemanden so scheinen will, als werde der Reiz einer Sprache durch die Übersetzung nicht verändert, so möge er den Homer wörtlich lateinisch wiedergeben, ja noch mehr, er möge ihn in seiner eigenen Sprache in Prosa übersetzen; er wird sehen, dass sich eine lächerliche Wortfolge ergibt, und dass aus dem sprachgewaltigsten Dichter ein Stammler wird.« 8 Hieronymus beansprucht, er habe »nicht Wörter, sondern Sinngehalte übertragen.« 9 Seine Kritiker sollen einsehen, »dass man nicht die Worte in den Texten beachten soll, sondern den Sinn.« 10 Hieronymus wird immer wieder als Kronzeuge bemüht für die Notwendigkeit einer Übersetzung des Sinns, die die Freiheit des Übersetzers notwendig macht, um das Gemeinte des übersetzten Werkes in der Zielsprache zum Ausdruck zu bringen. Dabei wird Dr. Stefan Alkier ist seit 2001 Professor für Neues Testament am Fachbereich Evangelische eologie der Goethe-Universität Frankfurt/ Main. 2009 erschien im Francke-Verlag als NET 12 seine Monographie »Die Realität der Auferweckung in, mit und nach den Schriften des Neuen Testaments«. Zur Frankfurter Buchmesse in diesem Jahr erscheint wieder im Francke Verlag sein Lehrbuch »Neues Testament«, UTB Basics. Er ist seit Heft 1 der ZNT einer ihrer drei geschäftsführenden Herausgeber. Seit 2008 gibt er zudem den neutestamentlichen Teil des bibelwissenschaftlichen Internetlexikons www.wibilex.de heraus. Prof. Dr. Stefan Alkier ZNT 26 (13. Jg. 2010) 61 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 61 Hermeneutik und Vermittlung 62 ZNT 26 (13. Jg. 2010) aber übersehen, wie sehr auch Hieronymus damit ringt, nur auf diese Weise seine Aufgabe als Übersetzer erfüllen zu können, weiß er doch um die Differenzen, die dadurch zwischen dem Übersetzten und der Übersetzung entstehen. Sein Eintreten für die Freiheit ist notgedrungen der unhintergehbaren Differenz der Sprachen geschuldet. Die vom Wortlaut und der Syntax des Übersetzten abweichende Sinn-für-Sinn- Übersetzung ist für Hieronymus eher die Wahl des weniger Schlechten als die Lösung des Problems. Die Sinn-für-Sinn-Übersetzung ist Hieronymus zufolge näher am Übersetzten als eine Wort-für-Wort-Übersetzung. Beide aber leiden unter der unhintergehbaren Differenz zwischen Übersetztem und Übersetzung. Hieronymus jedenfalls darf nicht als Kronzeuge für ein unbeschwertes Plädoyer für eine »Freiheit« der Übersetzung herangezogen werden, die nicht mehr zwischen Übersetzung, Auslegung und interpretierendem Kommentar unterscheidet. Es handelt sich nämlich bei ihm wie auch bei anderen bedeutenden Übersetzern um Berichte, denen man die Anstrengung ihres Schaffens anmerkt. Stolz über das Erreichte mischt sich mit dem Gefühl des Scheiterns, der Unzulänglichkeit angesichts der Begegnung mit dem Fremden und dem Versuch, es anders aber doch auch genauso zu sagen. Deswegen ist auch Martin Luther kein Zeuge für die unbeschwerte Freiheit der Übersetzer. In seinem Sendbrief vom Dolmetschen und Fürbitte der Heiligen (1530) verteidigt Luther seine Übersetzung von Röm 3,28: »Ebenso habe ich hier, Römer 3 sehr wohl gewußt, daß im lateinischen und griechischen Text das Wort ›solum‹ nicht stehet, und hätten mich solches die Papisten nicht brauchen lehren. Wahr ist’s: Diese vier Buchstaben ›s-o-l-a‹ stehen nicht drinnen, welche Buchstaben die Eselsköpfe ansehen, wie die Kühe ein neu Tor. Sehen aber nicht, daß es gleichwohl dem Sinn des Textes entspricht, und wenn man’s will klar und eindringlich verdeutschen, so gehöret es hinein, denn ich habe deutsch, nicht lateinisch noch griechisch reden wollen, als ich deutsch zu reden beim Dolmetschen mir vorgenommen hatte. […] Denn man muß nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man soll deutsch reden, wie diese Esel tun, sondern man muß die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen, und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen; da verstehen sie es denn und merken, dass man deutsch mit ihnen redet.« 11 Luther argumentiert hier ähnlich wie Hieronymus. Zugleich aber plädiert er für die weitest mögliche Bindung an den Wortlaut und die Syntax des zu übersetzenden Textes: »Doch hab ich wiederum nicht allzu frei die Buchstaben lassen fahren, sondern mit großer Sorgfalt samt meinen Gehilfen darauf gesehen, so daß, wo es etwa drauf ankam, da hab ich’s nach den Buchstaben behalten und bin nicht so frei davon abgewichen [… ] Aber ich habe eher wollen der deutschen Sprache Abbruch tun, denn von dem Wort weichen. Ach, es ist Dolmetschen keineswegs eines jeglichen Kunst, wie die tollen Heiligen meinen; es gehöret dazu ein recht, fromm, treu, fleißig, furchtsam, christlich, gelehret, erfahren, geübet Herz.« 12 Gerade die bedeutenden Übersetzer wie Hieronymus, Martin Luther, August Wilhelm Schlegel, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Walter Benjamin erscheinen wie große Entdecker fremder Welten, deren Erkundungsreise aber auch mit größten Anstrengungen und permanentem Scheitern verbunden war. Es ist das »Ach« Luthers, das größere Aufmerksamkeit für die Theorie und Ethik der Übersetzung verlangt: Die Begegnung mit dem Fremden hat Spuren hinterlassen, Wunden geschlagen, zu erfahrungsgesättigter Bescheidenheit geführt. Man ist froh, der unlösbaren Aufgabe ein vorzeigbares Ergebnis abgerungen zu haben, das all die Mühe lohnt. Man weiß aber auch um die Schwächen des Erreichten. Einen der komplexesten Texte zur Übersetzungstheorie hat Friedrich Schleiermacher verfasst. Er unterscheidet nicht nur verschiedene Arten des Übersetzens, sondern verbindet seine Fremdheitserfahrungen als Übersetzer mit denen des Hermeneuten, der nicht erst in der Begegnung mit dem anderen zur Übersetzung gezwungen ist, sondern vielmehr sich selbst immer auch als Fremden wahrnimmt: In seiner Abhandlung Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens gibt er zu bedenken: »Ja unsere eigene Reden müssen wir bisweilen nach einiger Zeit übersezen, wenn wir sie uns recht wieder aneignen wollen.« 13 Georg Steiner vertritt in seiner Monographie Nach Babel ebenfalls diese »These, dass das Übersetzen formal ebenso wie praktisch Teil eines jeglichen Kommunikationsaktes ist, beim Senden wie beim Empfangen jeder Form von ›Bedeutung‹, sei es im umfassenderen semiotischen Sinne »Es ist das ›Ach‹ Luthers, das größere Aufmerksamkeit für die eorie und Ethik der Übersetzung verlangt: Die Begegnung mit dem Fremden hat Spuren hinterlassen, Wunden geschlagen, zu erfahrungsgesättigter Bescheidenheit geführt.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 62 Stefan Alkier Über Treue und Freiheit - oder: Vom Desiderat einer Ethik der Übersetzung in den Bibelwissenschaften ZNT 26 (13. Jg. 2010) 63 oder im engeren des sprachlichen Austauschs. Verstehen bedeutet dechiffrieren. Bedeutung zu hören, heißt übersetzen. Folglich sind die wesentlichen strukturellen wie praktischen Mittel und Probleme des Übersetzens Teil eines jeden Sprech- und Schreibaktes und einer jeden bildlichen Codierung, in welcher Sprache auch immer. Das Übersetzen von einer Sprache in die andere ist nur die bestimmte Form der Anwendung einer Konfiguration, eines Modells, das selbst das menschliche Sprechen in nur einer Sprache bestimmt.« 14 Schärfer als Steiner begreift Schleiermacher, das Übersetzen wie Verstehen kein bloßes Dechiffrieren von Zeichen ist, sondern einer kreativen Neugestaltung bedarf und deshalb eine »Kunst« ist, die wie jede andere Kunst durch technisches Können bestimmt ist, darin aber nicht aufgeht. Schleiermachers hermeneutischer Begriff der »Divination« als notwendiger kontingenter und kreativer Sprung von den methodisch erarbeiteten Möglichkeiten des Verstehens bzw. Übersetzens hin zu einer Entscheidung, die den Fluss der Möglichkeiten zum Stillstand bringt durch die Setzung der Interpretation bzw. der Übersetzung, weiß gleichermaßen um die kreative Freiheit und die damit gegebene Unzulänglichkeit jeder Übersetzung. 15 Fast wie ein Hilfeschrei schreibt Schleiermacher: »Wie oft, wenn er [der Übersetzer] auch neues durch neues wiedergeben kann, wird doch das der Zusammensezung und Abstammung nach ähnlichste Wort nicht den Sinn am treusten wiedergeben, und er also doch andere Anklänge aufregen müssen, wenn er den unmittelbaren Zusammenhang nicht verlezen will! […] wie will der Uebersezer sich hier glükklich durchfinden, da das System der Begriffe und ihrer Zeichen in seiner Sprache ein ganz anderes ist, als in der Ursprache, und die Wortstämme, anstatt sich gleichlaufend zu dekken, vielmehr einander in den wunderlichsten Richtungen durchschneiden. […] Aber wie oft, ja es ist schon fast ein Wunder, wenn man nicht sagen muß immer, werden nicht die rhythmische und melodische Treue und die dialektische und grammatische in unversöhnlichem Streit gegen einander liegen! « 16 Der Übersetzer steht in der ständigen Gefahr, das von ihm Übersetzte durch seine Wahl der Setzung zu verletzen. Die differente Komplexität der verschiedenen Sprachsysteme überfordert jeden Übersetzer. Er kann die Differenz der Sprachen nicht überwinden. Er muss die unhintergehbare Gewalt der Übersetzung schon als Leser in Kauf nehmen, und mehr noch, wenn er seinen Sprachgenossen, die das unübersetzte Werk nicht lesen können, die Begegnung mit diesem Werk ermöglichen möchte. Schleiermacher sah wie viele andere gerade in der Übersetzung großer Werke die Möglichkeit der Begegnung mit dem Fremden, die die eigene Sprache und damit die eigene Kultur erweitern könne. Den auf die Übersetzung angewiesenen Lesern wird damit eine zwar abgeschwächte aber dennoch sie weiterbildende Fremdheitserfahrung ermöglicht. Übersetzen war für Schleiermacher nicht zuletzt eine volkserzieherische, bildungspolitische Aufgabe. Wer nicht übersetzt, weil ihn die Differenz zwischen Übersetztem und Übersetzten um der Reinheit des Ursprünglichen willen davon abhält, verstellt denjenigen die Begegnung mit dem Anderen, die nicht selbst über die erforderliche Sprachkompetenz verfügen. Folgt man Schleiermachers Einsichten insgesamt, so beruht die elitäre Position der Übersetzungsverweigerung letztlich auf einer krassen Selbsttäuschung, denn auch der sprachkompetente Leser übersetzt in jedem Akt des Lesens. Wollte man die sich in den Texten der großen Übersetzer bekundete Fremdheitserfahrung im Akt des Übersetzens bildlich zum Ausdruck bringen, so könnte man formulieren: Die verlustfreie Übersetzung des Fremden ist unmöglich, weil die doppelte Überfahrt beide verändert: Der Übersetzende wird durch sein Übersetzen in ein anderes Land ein anderer. Ebenso bleibt das Werk aus dem anderen Land durch seine Überfahrt, durch seine Transposition in eine andere Welt, in eine andere Enzyklopädie, nicht einfach das, was es war. Die Übersetzung ist ein Prozess, der verändert. Das Ergebnis der Übersetzung ist eine »Allegorie des Lesens« (Paul de Man), oder - um es mit einem Buchtitel von Umberto Eco zu sagen -: »Quasi dasselbe mit anderen Worten«. 17 Das Anderssagen der Übersetzung ist eine kreative neue Setzung, die unhintergehbar von Identität und Differenz des Übersetzten geprägt wurde. Die Übersetzung sagt »es« nicht nur anders, sie bedeutet auch anderes. Die Nöte des Übersetzers, als desjenigen der es eigentlich nur anders sagen will, nur in der eigenen Sprache das ausdrücken möchte, was er übersetzen möchte, sind Erfahrungen der Differenz, die die Sehnsucht nach dem Identischen enttäuscht. Der belgische Literaturwissenschaftler Paul de Man brachte das in seinem Aufsatz Schlussfolgerungen: Walter Benjamins »Die Aufgabe des Übersetzers«, anschaulich zum Ausdruck: »Wie sollen wir diese Unstimmigkeit »Die differente Komplexität der verschiedenen Sprachsysteme überfordert jeden Übersetzer. Er kann die Differenz der Sprachen nicht überwinden.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 63 Hermeneutik und Vermittlung 64 ZNT 26 (13. Jg. 2010) zwischen ›das Gemeinte‹ und ›Art des Meinens‹, zwischen dire und vouloir dire verstehen? Benjamins Beispiel ist das deutsche Wort Brot und das französische Wort pain. Um ›Brot‹ zu bedeuten, wenn ich Brot benennen muß, habe ich das Wort Brot, so dass die Art des Meinens in der Benutzung des Wortes Brot besteht. Die Übersetzung wird eine fundamentale Unstimmigkeit enthüllen, zwischen der Absicht Brot zu benennen, und dem Wort Brot in seiner Materialität selbst, als einem Mittel des Bedeutens. Wenn man hier, im Kontext von Hölderlin, der in diesem Text so oft erwähnt wird, Brot hört, höre ich notwendig Brot und Wein, den großen Hölderlin-Text, der hier sehr gegenwärtig ist - woraus auf Französisch Pain et vin wird. ›Pain et vin‹ ist das, was man in einem Restaurant umsonst bekommt, in einem billigen Restaurant, wo es noch im Preis inbegriffen ist, also hat pain et vin ganz andere Konnotationen als Brot und Wein. Es erinnert an das pain francais, baguette, ficelle, bâtard, all diese Dinge - jetzt höre ich in Brot ›Bastard‹. Das erschüttert die Stabilität des Alltäglichen. Mit dem Wort Brot war ich völlig zufrieden, da ich es als Einheimischer höre, denn meine Muttersprache ist Flämisch, und man sagt brood, genau wie im Deutschen, aber wenn ich daran denken muß, dass Brot [brood] und pain dasselbe sind, komme ich ganz durcheinander. Auf Englisch ist das nicht problematisch, weil ›bread‹ nah genug an Brot [brood] ist, trotz des idiomatischen Gebrauchs von ›bread‹ für Geld, was gewisse Probleme schafft. Aber die Stabilität des Alltäglichen, meines täglichen Brotes, die beruhigend alltäglichen Aspekte des Wortes ›Brot‹, täglich Brot, werden durch das französische Wort pain erschüttert. Was ich meine, wird durch die Art, wie ich es meine, erschüttert - die Art, auf die es pain ist, das Phonem, der Ausdruck pain, der seine Reihe von Konnotationen hat, die in eine völlig andere Richtung gehen.« 18 Angesichts der in den Bekenntnissen der großen Übersetzer aufscheinenden Komplexität des Übersetzungsprozesses und seiner semiotischen Bedingungen erscheint der bloß moralisierende Rekurs auf die »Treue« ebenso naiv wie der unbeschwerte Rekurs auf die »Freiheit« des Übersetzers. So titelte die EKD ihre Stellungnahme zur »Bibel in gerechter Sprache« plakativ: Die Qualität einer Bibelübersetzung hängt an der Treue zum Text. Stellungnahme des Rates der EKD zur »Bibel in gerechter Sprache«, 30. u. 31. März 2007. Auf dem Niveau der Überschrift bewegt sich dann auch folgende Passage: »3.c Wenn man im Zusammenhang mit der Aufgabe einer Übersetzung von Gerechtigkeit sprechen will, dann in dem Sinne, dass eine Übersetzung dem zu übersetzenden Text gerecht werden muss. Nicht zuletzt darum geht es beim reformatorischen Schriftprinzip. Es ist auf die Formel gebracht worden: sola scriptura, ›allein die Schrift‹. Die Bibel ist nach reformatorischem Verständnis kritisches Gegenüber und Korrektiv allen kirchlichen Handelns und theologischen Redens. Diese Funktion aber kann sie nur erfüllen, wenn ihr Inhalt und ihre Aussageabsicht durch eine Übersetzung sachgemäß und unverfälscht zur Sprache gebracht werden.« Was aber »sachgemäß und unverfälscht« angesichts der unhintergehbaren Differenz der Sprachen und der notwendigen Kreativität jedes Zeichenhandelns heißen kann, bleibt diese Stellungnahme ebenso schuldig wie viele andere Treueforderungen. 3. Übersetzen und Verstehen Wie jedes Sprechen grammatischen Regeln unterliegt, auch dann, wenn diese Regeln den Sprechenden unbekannt bleiben, so folgt jedes Lesen oder Hören, also auch das der Übersetzer biblischer Texte, kulturellen Regeln des Interpretierens, selbst dann, wenn die Interpreten ihre hermeneutischen Voraussetzungen und methodischen Verfahren nicht reflektieren. Wissenschaftliches Arbeiten aber besteht nicht zuletzt darin, Rechenschaft über die gewählten Verfahren, Vorannahmen und Ziele abgeben zu können, damit ein öffentlicher Wissensdiskurs dazu Stellung beziehen kann. Wissenschaftliches Arbeiten verlangt die Offenlegung und Ausarbeitung von Übersetzungsbzw. Interpretationsverfahren und ihren Implikationen. Der öffentliche Diskurs bedarf der kritischen Begleitung wissenschaftlicher Bibelauslegung, um die jeweils veröffentlichten Positionen auf ihren Erkenntnisertrag und die Reichweite ihrer Wahrheitsfähigkeit hin zu prüfen. Wissenschaft schafft Öffentlichkeit der Auslegung und trägt damit zur kritischen Reflexion derjenigen Wissensbestände bei, die zur weiteren Gestaltung gesellschaftlichen Lebens dienen sollen. »Es gibt kein allgemein geltendes Lesen […] Lesen ist eine freye Operation. Wie ich und was ich lesen soll, kann mir keiner vorschreiben.« 19 Dieser Aphorismus »Aber die Stabilität des Alltäglichen, meines täglichen Brotes, die beruhigend alltäglichen Aspekte des Wortes ›Brot‹, täglich Brot, werden durch das französische Wort pain erschüttert.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 64 Stefan Alkier Über Treue und Freiheit - oder: Vom Desiderat einer Ethik der Übersetzung in den Bibelwissenschaften ZNT 26 (13. Jg. 2010) 65 des frühromantischen Dichters Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg (1772-1801), der unter dem Namen Novalis in die Literaturgeschichte eingegangen ist, bringt zum Ausdruck, was auch heute noch viele denken. So vertritt etwa der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929) in seinem lesenswerten Essay Bescheidener Vorschlag zum Schutze der Jugend vor den Erzeugnissen der Poesie, 20 die Haltung des Novalis und weiß sich damit mit einigen rezeptionsästhetischen Entwürfen einig, die einem - allerdings überdehnten - Reader-Response-Criticism zuzuordnen sind. Novalis und seinen Gefolgsleuten geht es vor allem darum, die schöpferische Kraft der Rezipienten hervorzuheben und sie gegen die Werkherrschaft des Autors 21 auszuspielen, die gerade zu Lebzeiten des Novalis auch vertragsrechtlich institutionalisiert wurde. Demgemäß sind geistige Erzeugnisse Besitz dessen, der sie hervorgebracht hat. Nichts scheint näher zu liegen, als dem Erzeuger eines Gedichtes, eines Bildes, eines Musikstückes auch die Deutungshoheit über sein Erzeugnis zu überlassen. Ein Zeichengebilde, sei es ein Text, ein Gemälde, eine Münze oder was auch immer bedeutete dann genau das, was sein Erzeuger damit ausdrücken wollte. Der Sinn eines Textes würde demzufolge erschlossen, indem die Intention des Autors rekonstruiert wird. Dadurch soll das Werk vor der Beliebigkeit uferloser Interpretationen und fälschlicher Übersetzungen geschützt werden. Autorschaft wird zur Werkherrschaft und der Rezipient bzw. der Übersetzer soll nur wiederfinden, was der Autor sagen wollte. Dagegen wendet sich die frühromantische Hermeneutik und Literaturtheorie, wie sie etwa von Novalis und Friedrich Schlegel (1772-1829) vertreten wurde. Sie waren sich über die notwendige Kreativität der Lesenden ebenso einig wie über die Kraft des Werkes, das nach seiner Veröffentlichung unabhängig vom Autor ein Eigenleben entwickelt. Das Werk übersteigt die Intention des Autors, weil es im Vollzug seiner Rezeption seine potentiellen Bedeutungen erst im Laufe der Zeit voll entfalten kann. Dazu gehören auch seine Übersetzungen in andere Sprachen. Die Kreativität der Lesenden gehört demnach ebenso zur Erzeugung des Sinns wie die des Autors. Diese durch die intentionale Werkherrschaft zu beschneiden, zerstört geradezu die Sinnerzeugungskraft des Werkes und verstößt gegen die Würde des selbst bestimmten Lesens. Enzensberger hat diese Gefahr in seinem oben genannten Essay köstlich in Szene gesetzt. Er erzählt davon, wie Schüler, Eltern und Lehrer ihn peinlich bedrängen, die Intention seiner Gedichte preiszugeben, damit sie die »richtige« Interpretation erfahren, nämlich die von der Autorität des Autors legitimierte. Diese »Methode« der Interpretation kennen wohl viele immer noch aus eigener Schulerfahrung, wenn etwa eine Kurzgeschichte oder ein Gedicht im Deutschunterricht interpretiert werden soll. Der Lehrer fragt: Was wollte der Autor damit sagen? Die Schüler beginnen nun angestrengt darüber nachzudenken, was wohl der Meinung des Lehrers zufolge der Autor sagen wollte. Interpretieren wird so zum Ratespiel, das nicht nur die Würde der Rezipienten und das Bedeutungspotential des Textes untergräbt, sondern überhaupt die Freude am eigenen entdeckenden Lesen, am eigenen Interpretieren im Keim erstickt. Demgegenüber betonen Novalis wie Enzensberger die Freiheit des Lesens. Nichts scheint dann näher zu liegen, als die Interpretation dem jeweiligen Leser zu überlassen. Dennoch verfehlen beide Positionen die Komplexität des Interpretationsprozesses. Weder die Werkherrschaft des Autors noch ihre Ersetzung durch die Willkür der Leser werden dem Reichtum der Texte, der Kreativität von Autor und Leser und den formalen Bedingungen wie der Würde des Kommunizierens gerecht. Gerade deswegen ist die Thematisierung der von Novalis verworfenen Frage nach dem Wie des Lesens notwendig. Auf diese Frage antworten Methoden. Das Wort »Methode« stammt aus dem Griechischen: met’ hodos bedeutet mit einem Weg. Methoden sind Wegweiser des Interpretierens. Sie geben darüber Auskunft, welche Schritte gegangen werden müssen, um das Ziel des Interpretierens zu erreichen. Sie sind immer schon der Erfahrung geschuldet, dass es eine verwirrende Vielfalt verschiedener Auslegungen desselben Auslegungsgegenstandes gibt. Sie wollen sich aber mit dem gleichgültigen Nebeneinander sich widersprechender Sinnzuschreibungen nicht abfinden. Sie suchen vielmehr nach Klarheit und nachvollziehbarer Ordnung in den Interpretationsprozessen und bemühen sich darum, diese intersubjektiv kommunizierbar zu gestalten. Methoden sind daher kommunikative Spielregeln, die das Spiel erst ermöglichen und die der notwendigen »Das Werk übersteigt die Intention des Autors, weil es im Vollzug seiner Rezeption seine potentiellen Bedeutungen erst im Laufe der Zeit voll entfalten kann. Dazu gehören auch seine Übersetzungen in andere Sprachen.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 65 Hermeneutik und Vermittlung 66 ZNT 26 (13. Jg. 2010) Ernsthaftigkeit jedes Spieles entsprechen. Sie begrenzen die Willkür des Einzelnen zu Gunsten der Vor-Gabe des Auslegungsgegenstandes (Realitätskriterium) und zu Gunsten der Gemeinschaft der Rezipierenden (Sozietätskriterium). Sie fungieren als die gemeinschaftliche Wahrheitssuche ermöglichende Diskursregeln, die offenlegen sollen, wie es zur je eigenen Interpretation gekommen ist. Sie sind die Absage an jede Genieästhetik, die immer behaupten muss, geistige Prozesse seien nicht erlernbar. Gegen die Aristokratie der Genieästhetik setzten sie die von allen einseh- und erlernbaren Regeln des plausibel argumentierenden und deshalb Gemeinschaft bildenden Diskurses (Kontextualitätskriterium). Die Ausarbeitung und die Anwendung von Methoden gehören daher zum Erkennungszeichen wissenschaftlichen Arbeitens überhaupt. Wissenschaft bearbeitet Probleme vor allem durch überlegte Problemlösungsstrategien, also durch methodisches Denken. Methoden sind daher kein Selbstzweck. Methoden reagieren auf Fragestellungen, die sich aus der Realität des Lebens ergeben. Bevor Methoden entwickelt werden, werden Probleme wahrgenommen, die durch die Anwendung der Methoden gelöst werden sollen. Methoden sind operative Verfahren. Sie benennen weder das Problem, auf das sie hin konstruiert werden, noch ihr Ziel und nicht einmal die Bedingungen, unter denen dieses Ziel erreicht werden kann. Diese prinzipiellen Aufgaben bearbeitet die Hermeneutik, die Lehre vom Verstehen. Sie fragt etwa danach, was denn überhaupt Verstehen ist und unter welchen Bedingungen Verstehen möglich wird. Heißt einen Text zu verstehen, seinen Autor zu verstehen? Gibt es nur eine oder doch mehrere plausible und akzeptable Möglichkeiten, einen Text zu verstehen? Ebenso muss gefragt werden: Was heißt überhaupt »Übersetzen« und unter welchen Bedingungen wird Übersetzen ermöglicht? Ist Übersetzen überhaupt möglich? Heißt einen Text zu übersetzen, die Intention des Autors in die neue Sprache zu transponieren? Gibt es dann idealiter nur eine wahre Übersetzung, oder lässt sich das in einer anderen Sprache Formulierte auf verschiedene, aber gleichermaßen legitime Art und Weise in der neuen Sprache zum Ausdruck bringen? Solche Fragen können nicht methodisch, sondern nur hermeneutisch bzw. übersetzungstheoretisch beantwortet werden und von ihrer Beantwortung hängt die Konstruktion bzw. die Wahl von Methoden ab. Vertritt z.B. jemand die hermeneutische Position, einen Text zu verstehen heißt, die Intention des Autors zu rekonstruieren, so muss er nun Methoden finden, die dieses Ziel zu realisieren helfen. Wer hingegen der hermeneutischen Auffassung ist, einen Text zu verstehen heißt, seine Zeichenbezüge zu erforschen, wird nach Methoden suchen müssen, die das leisten. Methoden basieren auf expliziten oder auch impliziten hermeneutischen Grundentscheidungen. Diese wiederum verdanken sich häufig ethischer Überzeugungen. Der Appell etwa, dem Text gerecht zu werden und ihm durch die eigene Auslegung keine Gewalt anzutun, lässt sich nicht hermeneutisch, sondern nur ethisch begründen. Hier kommen dann interpretationsethische Grundentscheidungen zum Tragen, wie ich sie in einem früheren Aufsatz in der ZNT formuliert habe: 22 1) Realitätskriterium: Eine Interpretation ist gut, wenn sie danach strebt, den Interpretationsgegenstand als real vorgegebenes Anderes, vom Ausleger Unterschiedenes in gewisser Hinsicht darzustellen und diesem Anderen mit Respekt gegenübertritt. 2) Sozietätskriterium: Eine Interpretation ist gut, wenn sie sich als ein Beitrag zu einer gemeinschaftlichen Wahrheitssuche versteht, und andere Interpretationen, auch wenn sie im Ergebnis nicht geteilt werden, als Beitrag zu dieser vom Objekt motivierten Wahrheitssuche respektiert. 3) Kontextualitätskriterium: Eine Interpretation ist gut, wenn sie ihre kulturelle und das heißt auch ihre politische Verortung offenlegt und sich als ein Beitrag zur kommunikativen Erschließung der Welt präsentiert. Erst Methodik, Hermeneutik und Ethik der Interpretation zusammen ergeben einen tragfähigen Grund wissenschaftlichen Arbeitens in einer der Aufklärung verpflichteten Diskurstradition. Bei allen Unterschieden teilen der historisch-kritische und der semiotisch-kritische Ansatz die mit dem Realitätskriterium formulierte ethische »Der Appell etwa, dem Text gerecht zu werden und ihm durch die eigene Auslegung keine Gewalt anzutun, lässt sich nicht hermeneutisch, sondern nur ethisch begründen.« »Erst Methodik, Hermeneutik und Ethik der Interpretation zusammen ergeben einen tragfähigen Grund wissenschaftlichen Arbeitens in einer der Aufklärung verpbichteten Diskurstradition.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 66 Stefan Alkier Über Treue und Freiheit - oder: Vom Desiderat einer Ethik der Übersetzung in den Bibelwissenschaften ZNT 26 (13. Jg. 2010) 67 Grundüberzeugung. Das Wort »Kritik« geht zurück auf das griechische Verb krinein und bedeutet »unterscheiden« bzw. »urteilen«. Die Auslegung hat den Auslegungsgegenstand vom Ausleger zu unterscheiden, weil dem Auslegungsgegenstand als solchem mit Respekt und Anerkennung seiner Andersheit zu begegnen ist. Das Adjektiv »kritisch« meint also nicht im umgangssprachlichen Sinn, am Auslegungsgegenstand »herumzumäkeln«. Es geht auch nicht darum, Positionen des auszulegenden Textes zu kritisieren. Dafür hat sich der Terminus »Sachkritik« etabliert. Die im Namen der beiden Methoden eingeschriebene Kritik möchte vielmehr den Auslegungsgegenstand vor der Gewalt der Auslegung schützen. Er soll als Eigenes durch die Interpretation überhaupt erst in den Blick geraten, damit nicht immer schon die den Ausleger leitenden Interessen, Traditionen und Positionen dem Text vorgeordnet werden und ihn dann genau das sagen lassen, was der Ausleger selbst immer schon gedacht hat. Historisch-kritische und semiotisch-kritische Exegese sind in ihrem Verständnis dessen, was mit dem Begriff »Kritik« angesagt ist, der Aufklärung verpflichtet und insbesondere der kritischen Philosophie Immanuel Kants (1724-1804). Die Frage lautet daher stets: Was lässt sich wirklich über den Auslegungsgegenstand sagen, ohne ihn mit den eigenen Vorurteilen zu belasten? Solche Vorurteile können theologische Dogmen, bürgerliche Moralvorstellungen, politische Überzeugungen, wirtschaftliche Interessen, wissenschaftliche Positionen oder religiöse Empfindungen sein. Vor all dem will eine dem Realitätskriterium verpflichtete kritische Hermeneutik den Auslegungsgegenstand schützen, um ihn um seiner selbst willen zu erforschen. In diesem ethisch begründeten Interpretationsziel sind sich die historisch-kritische wie die semiotisch-kritische Exegese bei allen Differenzen einig. Das Realitätskriterium muss daher auch Ausgangspunkt einer Ethik der Übersetzung sein. 4. Die kreative Kraft der Zeichen als Ermöglichung der Übersetzung Wer übersetzt, muss den übersetzten Text verstehen. Die im voranstehenden Abschnitt skizzierten Problemzusammenhänge von Hermeneutik, Ethik und Kritik gelten gerade auch für den Übersetzer, ist er doch immer auch ein Leser des zu übersetzenden Textes. Dennoch sind Übersetzungen keine Interpretationen, vielmehr beruhen sie auf Interpretationen, die dem Akt der Übersetzung vorausgehen. Gerade aber die Unmöglichkeit einer Übersetzung, dasselbe wie das Übersetzte zu sagen, sondern bestenfalls »quasi« dasselbe, zeugt von einer Begegnung mit dem Fremden, die die Andersheit des Fremden nicht vollends aufzusaugen in der Lage ist. Der fremde Text widersteht seiner interpretierenden und übersetzenden Vereinnahmung, weil es keine Übersetzung gibt, die den Vorgang des Übersetzens ein für alle mal erledigen könnte. Dass es eine Geschichte der Bibelübersetzungen gibt und nicht lediglich pro Sprache eine »richtige« Übersetzung, zwingt jede Übersetzung und damit auch jede Interpretation zur Bescheidenheit. Das, was bei einer Übersetzung nicht übersetzt werden kann, garantiert die Fremdheit des Anderen. Seine unüberwindliche Kraft erzeugt zugleich die Faszination jeder Übersetzungsaufgabe. Wer in der vom Realitätskriterium geforderten Haltung übersetzt, kennt die Ursache seines notwendigen Scheiterns: Es ist die Kraft der Fremdheit des Textes, die ihm weitgehend die Kraft der anderen Sprache verliehen hat. Sprachen sind nicht ineinander abbildbar. Brot, bread und pain bedeuten nicht dasselbe. Wenn das schon von einzelnen Worten gilt, wie sehr dann erst von Wortzusammenhängen und ganzen Texten! Das, was aber bei einer Übersetzung übersetzt werden kann, erzeugt die Möglichkeit der Begegnung des Fremden in der eigenen Sprache. Deshalb können wir überhaupt eine Übersetzung als Übersetzung von einer Paraphrase oder einer Nachdichtung unterscheiden. Und deshalb kann man auch angemessenere von unangemesseneren oder gar schlicht falschen Übersetzungen unterscheiden. Was die Übersetzung überhaupt ermöglicht, ist nicht die Kraft der Fremdheit der anderen Sprache. Es ist die kreative Kraft der Semiose 23 (des Zeichenprozesses), die jeden Zeichengebrauch ermöglicht. Der fremde Text motiviert die notwendige Kreativität der Übersetzung und erzeugt im Aufeinandertreffen von Sagbarem und Unsagbarem die neue Übersetzung, der im besten Fall ihr Scheitern wie ihr Gelingen gleichermaßen eingeschrieben sind. Genau das ist »Weil jeder Zeichengebrauch Kreativität verlangt, die von dem Vorgegebenen in Bewegung gebracht wird, ist immer mit der Möglichkeit mehrerer gelungener Übersetzungen und mehrerer gelungener Interpretationen zu rechnen und jeder Ideologie der Beliebigkeit zu wehren.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 67 Hermeneutik und Vermittlung 68 ZNT 26 (13. Jg. 2010) der Grund, warum es nicht nur eine »richtige« Übersetzung, wohl aber mehrere treffliche und eben auch unzutreffende, den übersetzten Text verfehlende Übersetzungen gibt. Weil jeder Zeichengebrauch Kreativität verlangt, die von dem Vorgegebenen in Bewegung gebracht wird, ist immer mit der Möglichkeit mehrerer gelungener Übersetzungen und mehrerer gelungener Interpretationen zu rechnen und jeder Ideologie der Beliebigkeit zu wehren. Der Übersetzer, der sich zum Herrn über das Übersetzte erhebt, wie auch der Interpret, der mit seiner Interpretation die Werkherrschaft für sich in Anspruch nimmt, werden weder der Realität des Anderen als Anderem noch der Komplexität der durch Zeichen ermöglichten Kommunikation gerecht. Das Desiderat einer Theorie, Ethik und Kritik der Übersetzung in den Bibelwissenschaften kann nur bearbeitet werden, wenn sich die Bibelwissenschaften konsequenter als bisher »bei der Explikation übersetzungstheoretischer Überlegungen um eine Kontextualisierung derselben mit differenzierten text- und sprachtheoretischen Konzeptionen« 24 bemühen. Sie wird einen übersetzungstheoretischen Diskurs zeitigen, der angesichts der unhintergehbaren Kreativität jeglichen Zeichengebrauchs Vielfalt begrüßen und Beliebigkeit sachlich begründet kritisieren wird. Die mit dem Realitätskriterium formulierte Achtung der Fremdheit des Anderen wird die Basis auch einer Ethik der Übersetzung bilden. In derselben ethischen Grundhaltung sollte das im Sozietätskriterium formulierte respektvolle Miteinander der konkurrierenden Forschungspositionen überheftige Polemisierungen vermeiden helfen. Dass angesichts der unhintergehbaren Vielfalt der Zeichen jedes Zeichenhandeln von Wahlmöglichkeiten und Positionierungen geprägt ist, formuliert das Kontextualitätskriterium. Konsequent verstanden führt es weder zu einer ideologisch erstarrten und selbstgerechten political correctness noch zur Selbsttäuschung einer interessefreien »reinen« Philologie oder Geschichtswissenschaft. Weil uns alles gegebene Wahlmöglichkeiten zuwachsen lässt, wird die Theorie, Ethik und Kritik der Übersetzung in den Bibelwissenschaften zur Ausbildung eines qualifizierten Pluralismus führen, der Positionalität und Vielfalt zusammen zu denken erlaubt. Anmerkungen 1 Hg. v. U. Bail u.a., Gütersloh/ München 2 2006. 2 Vor allem in Lateinamerika in den 60er und 70er Jahren des 20. Jh.s entstand die Bewegung der Befreiungstheologie, die die soziale Botschaft der Bibel direkt auf bestehende Unterdrückungsverhältnisse anwendet und deshalb Kirche und Theologie dazu aufruft, wie der Gott der Bibel auf die Seite der Schwachen und Entrechteten zu treten und gemeinsam mit ihnen die Befreiung aus allen Unrechtsstrukturen auch mit politischen und zum Teil sogar mit militanten Mitteln herbeizuführen. Bald schon adaptierten auch nordamerikanische und europäische Theologen dieses Konzept. Mit der Befreiungstheologie verwandt ist die feministische Exegese. Sie ist eine Auslegungspraxis, die insbesondere die Unterdrückung von Frauen zum Thema macht und aus ihr herausführen will. Es ist maßgeblich feministischer Exegese zu verdanken, dass die Standortgebundenheit jeder Interpretation in das Bewusstsein von Exegetinnen und Exegeten gerückt ist. Innerhalb der feministischen Exegese gibt es zahlreiche, zum Teil auch in Konflikt miteinander stehende Richtungen. 3 Es wäre von daher unaufgeregt zu diskutieren, ob das Konzept der »Bibel in gerechter Sprache« nicht eine neue Gattung der Übersetzungsliteratur begründet hat, die zwischen den bisherigen engen Konzepten der Bibelübersetzungen und den freieren Kinder- und Jugendbibeln einzuordnen wäre. Die »Bibel in gerechter Sprache« ist vielleicht eine »Kinderbibel« für Erwachsene, die sich darum bemüht, befreiungstheologisch gestimmte Lesergruppen anzusprechen, die von den konventionellen Übersetzungen nicht mehr erreicht werden. Diese Einschätzung meine ich schon deshalb nicht polemisch, weil ich größte Wertschätzung für Kinderbibeln habe. Ich meine das auch nicht als abschließendes Urteil, sondern als einen Gedanken, der vielleicht das Verständnis des Konzeptes der »Bibel in gerechter Sprache« klären könnte und den Vorwurf, sie vermische Übersetzung und Interpretation, von ihrer neuen Gattung aus erklären könnte, denn dieses Ineinander von Übersetzung und Interpretation ist ja gerade ein Merkmal der Gattung von publikumsorientierten Kinderbibeln. Der heftige Streit wäre dann auch damit zu erklären, dass die »Bibel in gerechter Sprache« konventionelle Gattungserwartungen enttäuscht hat. 4 A. Hirsch, Die geschuldete Übersetzung. Von der ethischen Grundlosigkeit des Übersetzens, in: Ders. (Hg.), Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt a. M. 1997, 396-428, hier: 396. 5 Hieronymus, Über die beste Art des Übersetzens, in: H. J. Störig, Das Problem des Übersetzens, WDF VIII, Darmstadt 1973, 1-13, hier: 2f. 6 Hieronymus, ebd., 1. 7 Hieronymus, ebd., 1f. 8 Hieronymus, ebd., 3. 9 Hieronymus, ebd., 3. 10 Hieronymus, ebd. 10. 11 Ein Sendbrief D. Martin Luthers vom Dolmetschen und Fürbitte der Heiligen (1530) WA 30,2; 632-646, zit. nach Martin Luther, Sendbrief vom Dolmetschen, in: H. J. Störig, Das Problem des Übersetzens, a.a.O., 14-32, hier: 20. 12 M. Luther, Sendbrief vom Dolmetschen, 25. 13 Friedrich Schleiermacher, Ueber die verschiedenen 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 68 Stefan Alkier Über Treue und Freiheit - oder: Vom Desiderat einer Ethik der Übersetzung in den Bibelwissenschaften ZNT 26 (13. Jg. 2010) 69 Methoden des Uebersezens, in: H. J. Störig, Das Problem des Übersetzens, 38-70, hier: 39. 14 G. Steiner, Nach Babel. Aspekte der Sprache und des Übersetzens, übers. v. M. Plessner unter Mitw. v. H. Beese, Frankfurt a. M. 2 1992, 83. 15 Friedrich D. E. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. Mit e. Anh. Sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, hg. u. eingel. von M. Frank, Frankfurt a. M. 1977, 80: »Das Auslegen ist Kunst.« Ebd., 170: »Das Allgemeine und das Besondere müssen einander durchdringen, und dies geschieht immer nur durch die Divination.« Vgl. S. Alkier, Verstehen zwischen Rekonstruktion und Schöpfung. Der hermeneutische Ansatz Friedrich Schleiermachers als Vorlage einer Praktisch-theologischen Hermeneutik, in: S. Alkier u.a., Praktisch-theologische Hermeneutik. Ansätze - Anregungen - Aufgaben, FS. H. Schröer, Rheinbach-Merzbach 1991, 3-22. 16 F. Schleiermacher, Methoden des Uebersezens, 52ff. 17 Umberto Eco, Quasi dasselbe mit anderen Worten. Über das Übersetzen, aus dem Ital. v. B. Kroeber, Müchen/ Wien 2006. Sicher gehört Umberto Eco zu den klügsten Köpfen gegenwärtiger Texttheorien. Auch seine zahlreichen Essays und seine Romane sind mit großem Gewinn zu lesen. Um so erstaunlicher ist es, wie sehr auch Ecos Buch über das Übersetzen den Eindruck Alfred Hirschs aus dem im Text abgedruckten Zitat bestätigt, allerdings mit dem Unterschied, dass hier ein Autor über seine Übersetzer plaudert. Sicher ist Ecos Buch durchaus lesenswert, aber weniger Geschwätzigkeit hätte das Buch auf die Hälfte kürzen können. 18 P. de Man, Schlussfolgerungen: Walter Benjamins »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: A. Hirsch (Hg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 182-210, hier: 201f. 19 Novalis, Schriften 2. Das philosophische Werk I, hg. v. R. Samuel, Darmstadt 3 1981, 609. 20 H.M. Enzensberger, Bescheidener Vorschlag zum Schutze der Jugend vor den Erzeugnissen der Poesie, in: Ders., Mittelmaß und Wahn, Frankfurt a. M. 1988, 23-41. 21 Vgl. H. Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Paderborn 1981. 22 S. Alkier, Fremdes Verstehen - Überlegungen auf dem Weg zu einer Ethik der Interpretation biblischer Schriften. Eine Antwort an L.L. Welborn, Themenheft Ethik, ZNT 11 (2003), 48-59. 23 Die semiotischen Zusammenhänge habe ich erläutert in meinen Monographien: Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung (WUNT 134), Tübingen 2001; Die Realität der Auferweckung in, nach und mit den Schriften des Neuen Testaments (NET 12), Tübingen/ Basel 2009. Eine einführende, elementarisierende Darstellung der semiotisch-kritischen Methode - wie auch der historisch-kritischen Methode - findet sich in meinem Lehrbuch: Neues Testament, Tübingen/ Basel 2010 (im Druck). 24 A. Hirsch, Die geschuldete Übersetzung, 396. 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 69