eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 13/26

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2010
1326 Dronsch Strecker Vogel

Gott hat gesprochen – aber zu wem?

2010
Francesca Yardenit Albertini
Stefan Alkier
Ömer Özsoy
ZNT 26 (13. Jg. 2010) 27 Religion im Dialog Der Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe- Universität Frankfurt/ Main arbeitet seit einigen Jahren gemeinsam mit dem dortigen Fachbereich Katholische Theologie und dem Institut für Religionsphilosophie am Thema »Religion im Dialog«. Der Singular ist dabei zu beachten. Es handelt sich um ein religionstheoretisches Projekt, das nach Grundlagen und Bedingungen fragt, unter denen das Thema Religion gegenwärtig kommuniziert wird, sei es im Dialog mit den Naturwissenschaften, sei es im interreligiösen Dialog. Das Forschungsprojekt »Hermeneutik, Ethik und Kritik Heiliger Schriften in Judentum, Christentum und Islam« verstehen wir als Teilprojekt der fächerübergreifenden Thematik »Religion im Dialog«. Francesca Yardenit Albertini ist jüdische Religionsphilosophin am Institut für Religionswissenschaft der Universität Potsdam, Stefan Alkier ist Neutestamentler am Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität, Ömer Özsoy ist Stiftungsprofessor für Islamische Religion mit dem Schwerpunkt der Koranauslegung an der Goethe-Universität. Wir sind Wissenschaftler und als solche an einem Forschungsprojekt interessiert, das Grundlagen, Bedingungen und Grenzen der Möglichkeit gelingender Dialoge untersuchen möchte. Wir wollen damit einen Beitrag zum friedlichen Zusammenleben der Verschiedenen in freiheitlichen, pluralen Gesellschaften leisten, die ihre Konflikte offen, argumentativ und ohne Einsatz physischer, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt zu erkennen und zu bearbeiten wissen. Wir sind aber nicht nur Wissenschaftler, sondern auch emotional und praktisch in unseren Glaubenstraditionen verankert. Wir sehen durchaus Gemeinsamkeiten unserer Traditionen, in denen wir leben und mit deren Augen wir die Welt und uns selbst begreifen. Wir sehen aber auch Unterschiede, die uns trennen. Wir glauben nicht dasselbe. Wir nehmen wahr, dass das, was der eine unverzichtbar als wahr empfindet, der andere ganz anders sieht. Dass Gott Jesus aus dem Tod am Kreuz in sein ewiges göttliches Leben erweckt hat, bestreiten Juden und Muslime gleichermaßen. Dass Mohammed eine göttliche Offenbarung erhalten hat, die nun im Medium schriftlicher Zeichen normativ für alle als Koran nachzulesen sei, glauben Juden und Christen nicht. Dass Gottes Wort allein in den Heiligen Schriften Israels gültig zu finden sei, akzeptieren Christen und Muslime nicht. Was uns aber eint, ist der Respekt vor der Frömmigkeit des Anderen. Wir sind davon überzeugt, dass die jeweils andere Glaubensüberzeugung aus aufrichtiger Wahrheitssuche und dem Wunsch nach heilvollem Leben für alle erwächst. Was uns gemeinsam erschüttert, ist, dass Religion - gestern wie heute - mitverantwortlich ist für Angst, Gewalt und Terror. Wir sind empört über die Menschen verachtende, zum Töten bereite terroristische Benutzung von Religionen und wollen mit unserem Projekt zeigen, dass ein gewaltfreier, argumentativer und der Wahrheit verpflichteter Dialog der Verschiedenen möglich ist, ohne Anbiederung an die jeweils andere Tradition, ohne simplifizierende und deshalb nicht tragfähige Floskeln, wie die von den »abrahamitischen Religionen«. Abraham bedeutet für Juden etwas anderes als für Christen und wieder etwas anderes für Muslime. Wir glauben nicht dasselbe, aber wir sind davon überzeugt, dass die plurale Gesellschaft einen unverzichtbaren Teil ihrer emotionalen Basis in gelebter Religiosität findet, diese aber auch ein gefährliches Konfliktpotential darstellt, wenn sie ihre kreative Kraft nicht in solidarischen, konstruktiven und kultivierten Bahnen auslebt. Plurale Gesellschaften brauchen deshalb Theologie als kritische Reflexion der je eigenen Glaubenstraditionen und -praktiken und konfessionsfreie Religionswissenschaft, die in vergleichender Systematisierung dem Phänomen der Religiosität als anthropologische Konstante und Religionen als Kultur bildende Komponente in ihren verschiedensten Ausprägungen erforscht. Ein theologisch und religionswissenschaftlich informierter und zugleich emotional tragfähiger Trialog der drei monotheistischen Weltreligionen trüge erheblich zu einem qualitativen Pluralismus bei, dessen Qualität darin bestünde, auf geistreiche, kultivierte und solidarische Weise wirklich verschiedenen Positionen Raum zum Streit um die Wahr- Zum Thema Francesca Yardenit Albertini, Stefan Alkier, Ömer Özsoy Gott hat gesprochen - aber zu wem? Das Forschungsprojekt »Hermeneutik, Ethik und Kritik Heiliger Schriften in Judentum, Christentum und Islam« »Wir sind davon überzeugt, dass die jeweils andere Glaubensüberzeugung aus aufrichtiger Wahrheitssuche und dem Wunsch nach heilvollem Leben für alle erwächst.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 27 28 ZNT 26 (13. Jg. 2010) heit zum Wohl für alle zu geben. Wir wollen zeigen, dass unsere Theologien in der Lage sind, das Fremde als Fremdes zu respektieren, ohne das Eigene aufzugeben. Dabei wollen wir aber vermeiden, woran so mancher Dialog bzw. Trialog krankt. Häufig wird den jüdischen, christlichen, muslimischen Gesprächspartnern die Rolle der allumfassenden Repräsentantinnen bzw. Repräsentanten ihrer Religion zugeschrieben und nicht selten wird diese Zuschreibung angenommen. Judentum, Christentum und Islam sind aber keineswegs so statische Traditionsblöcke, wie das nicht nur Fundamentalisten, sondern auch manche Vertreter der Massenmedien gern hätten, um die Komplexität von Religionsgesprächen auf die Kurzformate zu reduzieren, mit denen sie so gern arbeiten. Die Komplexitätsreduktion mündet dann allzu häufig in verzerrende, zuweilen sogar gefährliche Simplifizierungen. Die Vielfalt innerhalb jüdischer, christlicher und islamischer Traditionen werten wir hingegen nicht als Schwäche der jeweiligen Religion, sondern als Zeichen ihrer Vitalität, ihrer tiefen Verwobenheit in das individuelle und kulturelle Leben, das sie prägen und von dem sie ebenso geprägt werden. Es gibt nicht das Judentum, das Christentum und den Islam. Und es gibt innerhalb der Religionen nicht nur lebendige Vielfalt und den Streit der Interpretationen um angemessene Auslegungen, sondern auch gewalttätige Auseinandersetzungen bis hin zu tödlichen Konflikten. Juden verfolgen Juden, Christen verfolgen Christen, Muslime verfolgen Muslime, nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in unserer Gegenwart. Hinzu kommt, dass sich das Spektrum von Frömmigkeitshaltungen quer durch die scheinbar so leicht abgrenzbaren monotheistischen Weltreligionen zieht. Eine aufgeklärte religiöse Praxis einer Jüdin, eines Christen und eines Muslims sind sich sicher näher als die eines aufgeklärten Christen und eines fundamentalistischen Christen. Die Lehre, die wir aus dieser realistischen Komplexitätslage ziehen, lautet, dass wir die Rolle der Repräsentantin bzw. des Repräsentanten der eigenen Religion nur gebrochen übernehmen können. Unsere Trialogbereitschaft ist bereits Teil eines spezifischen Verständnisses unserer jeweiligen Religion und auch die der anderen. Wir wissen, dass unser jeweiliges Verständnis der eigenen und der anderen Religion keineswegs alle teilen. Allerdings haben wir den Anspruch, dass unsere jeweilige Interpretation der eigenen Religion sowohl der wissenschaftlichen Prüfung als auch den Bedürfnissen lebendiger Frömmigkeit standhält. Unsere Auffassungen sind sicherlich nicht die einzig möglichen, aber sie ermöglichen, mit dem theologischen Konflikt der drei monotheistischen Weltreligionen auf friedliche Weise umzugehen, ohne diesen Konflikt dreier Wahrheitsansprüche harmonistisch zu entschärfen. Wir wollen für unsere Interpretationen werben, weil sich dann die religiös begründete Gewalt gegen andere nicht nur theologisch als unnötig, sondern sogar als blasphemisch erweisen wird und damit die Gewalt gegen andere ungeschminkt als das zum Vorschein kommt, was sie ist: ein hässliches Verbrechen ohne jeden Glanz, eine Beschmutzung der Religion, Sünde gegen Gott. 2. Der kommunizierende Gott und das hermeneutische Problem der Offenbarung Gottes Die drei monotheistischen Weltreligionen teilen eine Grundüberzeugung: Gott hat gesprochen. Er teilt sich mit. Er wendet sich an seine Geschöpfe und seine Geschöpfe dürfen sich an ihn wenden. Die drei monotheistischen Weltreligionen verstehen ihren Gott, als einen Gott, der in Beziehungen lebt. Er lässt seine Geschöpfe nicht im Unklaren darüber, wie sie leben sollen, damit sie ihrer Geschöpflichkeit gemäß im Frieden mit Gott und den Mitgeschöpfen gut leben können. Gott legt offen, wer er ist, wer seine Geschöpfe sind und wie die angemessene Beziehung zwischen Gott und seinen Geschöpfen gestaltet werden soll. Gott offenbart sich und seinen Willen zum Wohlergehen und zum Heil seiner Geschöpfe. Gottes Offenbarung ist göttliche Kommunikation von Schöpfer zu Geschöpf. Schöpfer und Geschöpf kommunizieren aber mit unterschiedlichen Bedingungen. Gottes Wort ist volles Wort, was er sagt, gilt. Gottes Wort ist kreativ. Er schafft Realität mit seinem Wort. Wenn Gott spricht, wird es hell. Gottes Sprache braucht keine Zeichen, die für etwas anderes stehen, was sie selbst nicht sind. Gott ist so sehr in seinem Wort, dass sein Wort und er eins sind. Gottes Wort ist daher Wahrheit. Gott lügt nicht. Zur Lüge bedarf es einer Sprache, die auf Zeichen angewiesen ist. Menschliche Sprache, sei es gesprochene, geschriebene, gestikulierte, bildhafte, elektronische usw. ist auf Zeichen angewiesen, die nicht selbst das sind, was sie bedeuten. Auch menschliche Sprache ist kreativ, aber nicht im vollen Sinn, wie die Sprache Gottes. Menschliche Sprache ist nämlich immer mehrdeutig, interpretationsbedürftig, zur Lüge fähig, und sie drückt selbst im besten Fall gelingender Kommunikation niemals die ganze Wahrheit aus, weil sie immer perspektivisch, ausschnitthaft und situativ ist. 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 28 Francesca Yardenit Albertini, Stefan Alkier, Ömer Özsoy Gott hat gesprochen - aber zu wem? Im Akt der Offenbarung selbst liegt die Notwendigkeit hermeneutischer, kritischer und interpretationsethischer Reflexion begründet. Offenbarung ist nämlich göttliche Kommunikation im Medium menschlicher Zeichensprache. Gottes Offenbarung ist als Gottes Offenbarung ganz wahr, kreativ, heilvoll. Sie ist aufgrund ihres Eintritts in die Bedingungen menschlicher Kommunikation wie jede andere menschliche Kommunikation den formalen Bedingungen zeichenhafter Kommunikation unterworfen. Wenn Gott spricht, wird es hell. Wenn er aber zu den Menschen in ihrer zeichenförmigen Sprache spricht, müssen sie interpretieren. Juden, Christen und Muslime stimmen darin überein, dass Gott verständlich mit den Menschen gesprochen hat, und sie stimmen darin überein, dass er sich auf die Kommunikation mit den Menschen eingelassen hat, aber sie streiten darüber, an wen er sich gewendet hat und auf welche Weise. Im Tanakh spricht Gott zum ersten Mal bei der Schöpfung des Lichts (»Und Gott sprach: Es werde Licht« [Gen 1,3]), nämlich bei der Schöpfung des Prinzips, welches das Leben auf der Erde ermöglicht (vor der Schöpfung des Lichts war die Erde noch »öd’ und wüst« [Gen 1,2]). Trotz der wichtigen Mitteilung an Abraham, um ihn über die Auserwähltheit seines Nachkommens zu informieren, und trotz der genauso wichtigen und unterschiedlichen Mitteilungen an die Propheten ist die Botschaft Gottes am Berg Sinai, die Botschaft an Moses diejenige, in der sich die theo-ontologische Kraft des göttlichen Wortes ausdrückt: »Ehye asher ehye« (Ex 3,14). Um diesen Ausdruck richtig übersetzen zu können, benötigte man ein Tempus, das zugleich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Verbs »Sein« im Sinne von »Existieren, vorhanden sein« ausdrückt. Diese Verbalkonstruktion vermittelt die überzeitliche Vollkommenheit eines Existierenden, der sich jedoch nicht außerhalb der Zeit bekannt macht, sodass die Möglichkeit einer Kommunikation zwischen ihm und seinen Geschöpfen offenbleibt. Christen teilen mit Juden die Auffassung, dass sich Gott in der Geschichte des jüdischen Volks immer wieder mitgeteilt hat und seine durch die Propheten vermittelten Botschaften bleibende Gültigkeit haben. Sie erkennen ausdrücklich die Erwählung des jüdischen Volks als Gottes besonderes Volk an, aber sie behaupten, dass Gott mit dem Leben Jesu von Nazareth, seinem Kreuzestod und seiner eschatologischen Auferweckung in das göttliche Leben hinein seine Verheißung an das jüdische Volk, den Messias als Retter und Friedensstifter für die Juden und die ganze Schöpfung zu senden, bereits erfüllt hat. Für Christen ist deshalb Prof. Dr. Francesca Yardenit Albertini Francesca Yardenit, geb. 1974. Studium der Philosophie, Judaistik und evangelischen eologie in Rom, Freiburg i. Br., Frankfurt und Jerusalem. Forschungsaufenthalte und Vertretungsprofessuren in Israel, Schweiz, Österreich und USA. Seit 2007 Professorin für Religionswissenschaft (Schwerpunkt: Jüdische Religionsgeschichte) an der Universität Potsdam. Im Jahr 2009 ist ihr Werk »Die Konzeption des Messias bei Maimonides und die frühmittelalterliche islamische Philosophie« erschienen. Im Moment arbeitet sie an einem Buch über die messianische Konzeption der Karäer zwischen dem 7. und dem 9. Jh. im heutigen Iraq. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: jüdische Religionsphilosophie der Spätantike und des Frühmittelalters (im besonderen in Nord-Afrika und im Nahen Osten), islamisch-jüdische Beziehungen im Mittelalter, Jüdische Bioethik, Hermeneutik der Heiligen Texte, Frühchristentum und Judentum. Prof. Dr. Stefan Alkier Stefan Alkier ist seit 2001 Professor für Neues Testament am Fachbereich Evangelische eologie der Goethe-Universität Frankfurt/ Main. 2009 erschien im Francke-Verlag als NET 12 seine Monographie »Die Realität der Auferweckung in, mit und nach den Schriften des Neuen Testaments«. Zur Frankfurter Buchmesse in diesem Jahr erscheint wieder im Francke Verlag sein Lehrbuch »Neues Testament«, UTB Basics. Er ist seit Heft 1 der ZNT einer ihrer drei geschäftsführenden Herausgeber. Seit 2008 gibt er zudem den neutestamentlichen Teil des bibelwissenschaftlichen Internetlexikons www.wibilex.de heraus. Prof. Dr. Ömer Özsoy Ömer Özsoy, geb. 1963, studierte islamische eologie sowie Religionspädagogik in Ankara. 1991 promovierte und 1996 habilitierte er in Ankara. Ankara, Salzburg und Frankfurt a.M. sind Stationen seiner Lehrtätigkeit. Seit 2009 ist er Direktor des Instituts für Studien der Kultur und Religion des Islam am Fachbereich Sprach- und Kulturwissenschaften der Goethe-Universität. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Koranexegese, Genese des Koran, Historische Dimensionen des koranischen Diskurses, Moderne koranhermeneutische Ansätze, Geistiges Erbe des Islam, Klassische Wissenschaftsdisziplinen der islamischen eologie. ZNT 26 (13. Jg. 2010) 29 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 29 Zum Thema 30 ZNT 26 (13. Jg. 2010) Jesus von Nazareth, der auferweckte Gekreuzigte, das letztgültige Wort Gottes. Christen können Gott, seine Geschöpfe, den ganzen Kosmos und auch sich selbst nur noch aus der Perspektive der Jesus- Christus-Geschichte verstehen. Gott ist nicht irgendein Gott, sondern er ist genau der Gott und kein anderer, der den durch menschliche Gewalt ermordeten Jesus von Nazareth vom Tod in das ewige Leben Gottes hinein auferweckt hat und sich seitdem nur noch am Kreuz finden lässt als derjenige Gott, der solidarisch mit den Opfern ist. Christen glauben an den Gott Israels, wie er sich in der Jesus- Christus-Geschichte ein für allemal zu verstehen gegeben hat, sie glauben nicht an den Gott der Juden, der seinen Messias immer noch nicht in die Welt gesendet hat und nicht an den Gott der Muslime, weil sie nur an den Gott glauben, der am Kreuz aus der Tragödie menschlicher Gewalt ewiges Leben zum Heil für alle geschaffen hat, die sich vom Geist der Jesus-Christus- Geschichte angesprochen wissen. Für Muslime beginnt Gottes Mitteilung mit seiner Schöpfung, wobei er alle Menschen seine Existenz bezeugen ließ und schon vor ihrem irdischen Dasein darauf verpflichtete, zu bekennen, dass es den einzigen Gott gibt (Sure 7: 172). Durch diese mythologische Szene wird im Koran begründet, dass der Glaube der Menschen an Gott allen geschichtlichen Ereignissen enthoben ist. Die Muslime glauben, dass Gott sich neben dieser prähistorischen Offenbarung auch in der Geschichte durch seine Gesandten immer wieder mitgeteilt hat, wenn die Botschaft in Vergessenheit geraten war, um die Menschen an ihr ursprüngliches Bekenntnis, den Urvertrag, zu erinnern und ihnen mitzuteilen, dass sie dementsprechend leben sollen. So teilen die Muslime die jüdisch-christliche Auffassung, dass Gott sich und seinen Willen auch in der Geschichte Israels mitgeteilt hat, ferner teilen sie mit Christen die Auffassung, dass Jesus von Nazareth der von Gott gesandte Messias ist, verstehen ihn aber als einen Geist von ihm, der seine göttliche Botschaft wiederbelebte (Sure 4: 171). Sie erkennen an, dass die durch Jesus und durch die früheren Propheten Israels vermittelten Botschaften bleibende Gültigkeit haben, aber sie behaupten, dass Gott seine von früheren Propheten verkündigte frohe Botschaft, sein Licht in der Welt zu vollenden und seine einzige Religion zu vervollkommnen, durch die Sendung Muhammads (Sure 5: 42-49) erfüllt hat. Für Muslime ist deshalb Muhammad das Siegel der Propheten und der Koran die letztgültige Manifestation des Gotteswortes, der die göttliche Botschaft der früheren Schriften zusammenfasst, bestätigt und von Missverständnissen und Verfälschungen reinigt, sie also nicht für ungültig erklärt. Da der Glaube der Muslime nicht in einer Heilsgeschichte, sondern in der von Gott geschaffenen menschlichen Natur gründet, ist die Offenbarung Gottes mit seiner Schöpfung identisch (Sure 30: 30). Denn der Gott, der die Menschen anspricht, ist gerade der Gott, der sie bereits erschuf. Die Muslime sehen daher den Menschen von Natur her in der Lage, Gott, seine Geschöpfe, den ganzen Kosmos und auch sich selber zu verstehen und zu begreifen. Sie glauben, dass es nur einen einzigen Gott gibt, aber Menschen unterschiedliche Vorstellungen von ihm haben. Daher erkennen sie an, dass Juden und Christen gemeinsam mit ihnen an den einzigen Gott glauben, der der Gott aller Geschöpfe ist, auch wenn sie ihn anders begreifen (Sure 2: 163). 3. Tanakh, Bibel und Koran als Interpretanten göttlicher Kommunikation Die Notwendigkeit, über Bedingungen und Grenzen der Kommunikation zwischen Gott und Mensch nachzudenken, wird vervielfältigt durch den Gebrauch schriftlicher Medien, die einen normativen Status erhalten. Tanakh, Bibel und Koran beanspruchen mit normativer Geltung die Offenbarung Gottes, wie sie die jeweilige Religion sieht, auf vollständige, angemessene und gültige Art und Weise zu überliefern. Dennoch haben sie nicht dieselbe Stellung innerhalb ihres jeweiligen religiösen Gesamtzusammenhangs und gerade in der Auffassung der theologischen Funktion der jeweiligen Schrift gibt es erhebliche Differenzen auch innerhalb der drei monotheistischen Weltreligionen. Für Juden ist der Tanakh das schriftliche Wort Gottes, während die Mischna und die Gemara, aus denen der Talmud, nämlich die rabbinische Lehre, besteht, das mündliche Wort sind. Die Rabbinen sind zuerst Juristen, welche die Funktion haben, das Gesetz Gottes zu interpretieren, um es auf konkrete Fälle des menschlichen Lebens anzuwenden. Nur Christen haben eine Bibel. Seit dem Kirchenvater Chrysostomos (gest. 407) wird die Sammlung von grundlegenden Schriften, die als Richtschnur christlichen Glaubens im Gottesdienst verlesen und ausgelegt werden, »die Bücher« (hom. in Col 9.1: PG »Eine aufgeklärte religiöse Praxis einer Jüdin, eines Christen und eines Muslims sind sich sicher näher als die eines aufgeklärten Christen und eines fundamentalistischen Christen.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 30 Francesca Yardenit Albertini, Stefan Alkier, Ömer Özsoy Gott hat gesprochen - aber zu wem? ZNT 26 (13. Jg. 2010) 31 62,361) genannt. Die griechische Bezeichnung »ta biblia« ließ erkennen, was das deutsche Wort »Bibel« verdeckt: Die Bibel ist ein Buch der Bücher. Die Bücher, die sie enthält, wurden nicht für sie geschrieben. Sie stammen von ganz verschiedenen Verfassern aus unterschiedlichen Zeiten, Räumen und Kulturen. Sie wurden bereits in verschiedenen Sprachen geschrieben und in viele weitere Sprachen übersetzt, bevor sie dann von Christen für das Buch der Bücher ausgewählt und zusammengestellt wurden. Aber nicht erst das deutsche Wort »Bibel« führt den Singular ein, sondern auch schon die griechische und die lateinische Kirche des frühen Mittelalters verwenden den Singular. Im Griechischen wird die Sammlung auch liebevoll mit dem Diminutiv biblíon, »Büchlein«, bezeichnet. Singular und Plural bringen erst zusammen sachgemäß zum Ausdruck, worum es sich bei der Bibel handelt: eine Sammlung von Büchern, die durch ihre geordnete Zusammenstellung ein neues Sinnganzes bieten. Die Idee der christlichen Bibel als Richtschnur für den Glauben, die als begrenzte Sammlung die autoritative Quelle der Offenbarung Gottes darstellt, wurde im Verlaufe des 2. Jahrhunderts n. Chr. kreiert. Voraus gingen bereits Sammlungen der Paulusbriefe, die u.a. in 2Petr 3,15f. belegt sind, und die Zusammenstellung der vier Evangelien des Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Zwar ist sich die Christenheit einig über das grundlegende Konzept der Bibel, die aus einer Sammlung der Bücher des Alten Testaments und einer Sammlung der Bücher des Neuen Testaments besteht, die zusammen gelesen die große Geschichte von Gottes Handeln von der Schöpfung bis zur Neuschöpfung erzählen, deuten und besingen. Aber welche Bücher berechtigterweise in der Bibel stehen und welchen Umfang sie haben, darüber gab es nie eine Einigkeit in den verschiedenen Christentümern. Bis auf den heutigen Tag haben etwa römisch-katholische und evangelische Christen ein erheblich voneinander abweichendes Altes Testament. Dabei hat nur die römisch-katholische Kirche den Umfang der Bibel dogmatisch festgelegt und alle, die einen anderen Umfang im Gebrauch haben, mit einem verderbenden Fluch belegt, und dies erst im 15. Jahrhundert n. Chr. Auch die theologische Funktion der Bibel wird von Konfession zu Konfession verschieden bestimmt. Während die römisch-katholische Theologie der Schrift die Tradition in der Form der römisch-katholischen Erinnerung gleichbedeutend an die Seite stellt, kommt für evangelische Christen die Norm gebende Funktion nur der durch den von Gott geschenkten Glauben ausgelegten Schrift zu. Dem römisch-katholischen Prinzip »Schrift und Tradition« steht das auf Martin Luther zurückgehende protestantische Schriftprinzip »sola scriptura« gegenüber. Bei allen Differenzen aber ist für Christen die Bibel ein Buch des Glaubens. In keinem Land der Welt wird die Bibel als Gesetzbuch benutzt. Weitgehende Übereinstimmung besteht auch darin, dass das Alte Testament insofern vom Neuen Testament her gelesen werden muss, als das Neue Testament die Kunde von der letztgültigen Offenbarung Gottes in Jesus Christus, dem auferweckten Gekreuzigten als Gottes letztem Wort über die Realität und die Rettung dieser Welt darstellt. Die christliche Bibel erzählt die große Geschichte von Gottes Schöpfung bis hin zur eschatologischen Neuschöpfung, die durch die Jesus-Christus-Geschichte bereits ihren Anfang genommen hat. Ihre Theologie ist narrativ angelegt und zur Ausdeutung bestimmt. Der Koran gilt im islamischen Glauben als das von Gott an Muhammad offenbarte und von ihm an die Menschen übermittelte Wort. Auch wenn umstritten ist, wem die arabische Formulierung des Offenbarten, ob Gott, dem Erzengel Gabriel oder dem Propheten Muhammad, gehört, glauben alle Muslime von vornherein daran, dass die von Muhammad empfangenen Worte göttlicher Herkunft waren und von Muhammad treu weitergeleitet wurden. Dass die vom Propheten verkündeten koranischen Worte zu uns ohne irgendeine Veränderung gekommen sind, betrachten die Muslime nicht als eine Glaubensangelegenheit, sondern als eine historische Tatsache. Der Korantext besteht aus einzelnen Passagen, die von Muhammad in dem Zeitraum von 610-632 als Worte Gottes verkündigt wurden. Diese Worte wurden als eine lebendige Anrede an die dort lebenden Adressaten, d.h. Muhammad, seine Gefährten, die heidnischen Araber, Juden und Christen etc. konzipiert. Daher wurde die neue religiöse Bewegung um Muhammad durch den Koran nicht nur geleitet, sondern auch begleitet, weshalb wir in ihm nicht nur Anweisungen bzw. Bestimmungen, sondern auch Spuren von fast allen Ereignissen seiner Zeit lesen können. Diese Worte wurden von Beginn an nicht nur als göttliche Wegweisung, göttlichen Eingriff in die aktuelle Geschichte, sondern auch als Rezitations- und Liturgietext wahrgenommen. Deswegen legte man schon zu Lebzeiten Muhammads einen besonderen Wert darauf, die von ihm verkündigten Worte sorgfältig zu fixieren und zu rezitieren. So sind unter »Gottes Sprache braucht keine Zeichen, die für etwas anderes stehen, was sie selbst nicht sind.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 31 Zum Thema 32 ZNT 26 (13. Jg. 2010) der ersten Generation Personen zu finden, die den ganzen Koran auswendig lernten, und zudem Menschen, die über individuelle vollständige Koranexemplare verfügten. Allerdings ist es bemerkenswert, dass Muhammad selber sich nicht dazu beauftragt fühlte, eine kanonische Sammlung zu hinterlassen, vielmehr zielte er darauf ab, die Botschaft des Korans durchzusetzen. Erst ein Jahr nach dem Tod des Propheten (632), nämlich in der Zeit des ersten Kalifen Abū Bakr (632- 634) entstand das Bedürfnis, ein Koranexemplar bereitzustellen. Eine Kommission, die unter der Führung von einem der Schreiber Muhammads, Zayd ibn Thābit, im Jahr 633 gegründet wurde, hat anhand privater Exemplare und Gedächtnisse der Korankenner vor aller Öffentlichkeit ein derartiges Koranexemplar fertiggestellt. Zur Regierungszeit des dritten Kalifen ‘Uthmān (644-656) weitete sich das islamische Gebiet so aus, dass nicht nur im Detail voneinander abweichende Exemplare im Umlauf waren, sondern auch der Koran in unterschiedlichen Ortschaften unterschiedlich ausgesprochen wurde. Der Kalif hatte eine Kommission bestellt, die vom selben Zayd, der den Originaltext kannte, geleitet werden und die Unterschiede in der Schrift und Rezitation aufs Mindeste reduzieren sollte. Dieser Redaktionsstab hat, während er den Koran edierte, weder die chronologische Offenbarungsreihenfolge beachtet noch ihn nach Themen geordnet. Er hat sich an die Rezitationsreihenfolge gehalten, die der Prophet beigebracht hatte und die man daher kannte. Die Struktur des uns vorliegenden Korantextes geht auf diese redaktionelle Tätigkeit zur Regierungszeit ‘Uthmāns zurück. Die zeitgenössische westliche sowie muslimische Koranforschung hat gezeigt - auch wenn Nuancen vorhanden sind -, dass kein ernsthafter Zweifel an der Authentizität des Korantextes besteht. Der Koran ist die einzige Grundlage der islamischen Glaubensinhalte. Da er auch Regelungen in Weltdingen beinhaltet, gilt der Koran zusammen mit der Sunna, der prophetischen Tradition, als erste Praxis des Koran durch die erste Generation, für Muslime - wie die Tora für Juden - auch als Gesetz, was in der Rezeptionsgeschichte zur Entwicklung mehrerer Rechtsschulen geführt hat. Umstritten ist unter diesen Schulen nach wie vor, ob die koranischen Bestimmungen wörtlich zu verstehen und anzuwenden sind oder den Bedürfnissen der aktuellen Zeit und dem Geist des Wortlauts entsprechend interpretiert werden müssen. Da der Koran die chronologisch letzte Schrift ist, nimmt er auf die Heiligen Schriften der Juden und Christen Bezug. So finden sich im Koran viele Geschichten aus der jüdischen und aus der christlichen Tradition, und zwar oft in abgewandelter Form. Die sich als Teil göttlicher Kommunikation verstehenden und deshalb normative Autorität beanspruchenden Schriften der drei monotheistischen Weltreligionen widersprechen sich ihrem Inhalt nach in mehrfacher Hinsicht in kontradiktorischer Weise. Juden, Christen und Muslime leben nicht nur in verschiedenen Glaubenswelten, sondern auch in unterschiedlichen Zeiten. Juden leben in der Hoffnung auf die Erfüllung der messianischen Prophezeiung des Tanakh. Sie erwarten den Messias als Friedensbringer, mit dessen Ankunft aller Lug und Trug und jede Gewalt und alles Unrecht ein Ende finden. Ihre massive Kritik am Christentum besteht darin, dass das Unrecht dieser Welt nach dem Auftreten Jesu bezeugt, dass Jesus nicht der Messias gewesen sein kann. Ebenso bestreiten Juden, dass Mohammed eine Offenbarung Gottes zuteil wurde. Die jüdische Zeitrechnung - wie sie seit dem 11. Jh. gebräuchlich ist - beginnt im Jahr, in dem nach dem Schöpfungsbericht die Erde erschaffen wurde. Nach dieser Berechnung war es der 7. Oktober im Jahr 3761 v. c. Z., so dass wir heute im Jahr 5771 sind. Christen sehen mit der Auferweckung des Gekreuzigten Jesus von Nazareth die eschatologische Realität Gottes in diese Weltzeit eingebrochen und mit ihr verschränkt. Sie leben in dieser doppelt bestimmten Zeit, die sie mit der Geburt Jesu beginnen lassen. Sie schreiben deshalb das Jahr 2010 nach Christi Geburt. Christen leben schon jetzt in der vom Eschaton bestimmten letzten Weltzeit. Muslime schreiben das Jahr 1431. Sie leben weder in der Erwartung des Kommens des jüdischen Messias noch glauben sie an die eschatologische Bestimmung der Zeit durch die Jesus-Christus-Geschichte. Die Auferweckung des gekreuzigten Jesus von Nazareth bestreiten sie gemeinsam mit den Juden. Sie leben eher in einer nicht vorherbestimmten, sondern riskanten Geschichte, in der die guten und bösen Handlungen der Menschen bestimmen, wie sie weiterläuft. Daher lassen sie ihre Zeitrechnung mit der Auswanderung der Muslime nach Medina beginnen, die den haltbaren Sieg des Guten gegenüber dem Bösen symbolisiert. Juden, Christen und Muslime glauben nicht nur nicht dasselbe, sondern sie leben mit ihren jeweiligen Autorität beanspruchenden und Norm gebenden Schriften in verschiedenen Zeiten. Dennoch gibt es eine von keinerlei Weltsicht oder Auslegung abhängige empirische Tatsache, die Tanakh, Bibel und Koran miteinander unhintergehbar verbindet: Die Schriftlichkeit der Schrift. Wie auch immer die Schriften ausgelegt werden, als 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 32 Francesca Yardenit Albertini, Stefan Alkier, Ömer Özsoy Gott hat gesprochen - aber zu wem? ZNT 26 (13. Jg. 2010) 33 Schriftzeichen unterliegen sie den formalen Bedingungen der Zeichen und müssen deshalb auch als solche interpretiert werden. Daran ändert auch nichts, dass Christen Jesus für das eigentliche Wort Gottes halten und Muslime darauf pochen, dass die Offenbarung, die der Koran bezeugt, ja eigentliche mündliche Kommunikation darstellt. Die Schriften, die von diesen Offenbarungen zeugen, sind nun einmal Schriften, die nur im Medium ihrer Schriftzeichen existieren, und wer die Realität dieser Tatsache leugnet oder meint vernachlässigen zu können, missversteht nicht nur seine eigene Tradition, sondern entzieht sich damit dem öffentlichen wissenschaftlichen Diskurs und beansprucht damit eine sich von der Realität dieser Welt isolierende religiöse Sonderhermeneutik, die nichts an öffentlichen Universitäten und Schulen zu suchen hat, weil sie Denkverbote lehrt und argumentative Plausibilität durch immunisierende Ideologie ersetzt. Tanakh, Bibel und Koran sind Interpretanten der jeweiligen vorausgesetzten göttlichen Offenbarungen. Sie sind zugleich Schriftzeichen, die als solche interpretiert werden müssen. Ihre religiöse Autorität kommt ihnen als Interpretanten göttlicher Offenbarungen zu. Als Schriftzeichen teilen sie die Bedingungen und Grenzen jeder schriftlichen Kommunikation und auch die Möglichkeit des Missverständnisses. Deshalb bedarf die Hermeneutik der Schriften einer Semiotik der Schrift auf der Basis einer kategorialen Zeichentheorie. 4. Semiotik Heiliger Schriften Schriften sind relationale Zeichengebilde. Als Texte unterliegen auch normative Texte den formalen Bedingungen im Auftreten von Zeichen. Zu den formalen Gegebenheiten jedes Zeichens gehören seine Dreistelligkeit und die damit verbundene Notwendigkeit der Interpretation, die in das Zeichen selbst eine unhintergehbare Vielfalt einschreibt. Etwas erhält eine Zeichenfunktion, wenn es 1) einen sinnlichen Eindruck erzeugen kann, 2) für etwas anderes in bestimmter Hinsicht steht und 3) der sinnliche Eindruck durch ein Drittes mit diesem abwesenden Etwas verknüpft wird und 4) keine dieser drei Bedingungen fehlt. Eine Zeichenrelation ist also eine dreistellige Relation mit den Relata Zeichen, Objekt und Interpretant. Die einzelnen Relata erhalten ihre Zeichenfunktion nur innerhalb dieser dreistelligen Relation. Charles Sanders Peirce definiert die Zeichentriade folgendermaßen: »Ein Zeichen oder Repräsentamen ist alles, was in einer solchen Beziehung zu einem Zweiten steht, das sein Objekt genannt wird, daß es fähig ist, ein Drittes, das sein Interpretant genannt wird, dahingehend zu bestimmen, in derselben triadischen Relation zu jener Relation auf das Objekt zu stehen, in der es selbst steht. Dies bedeutet, daß der Interpretant selbst ein Zeichen ist, der ein Zeichen desselben Objekts bestimmt, und so fort ohne Ende.« 1 Unter fortgesetzter Anwendung seiner Kategorienlehre differenziert Peirce die Relata der Zeichentriade und ihre Beziehungen aus. Das Element des Zeichens gehört in die Kategorie der Erstheit, denn es geht hier um »[...] Qualitäten [...], deren ursprünglicher Wert gerade in ihrem noch unbestimmten Zur-Verfügung- Stehen liegt.« 2 Die Kategorie der Zweitheit kommt mit Blick auf das Objekt 3 ins Spiel. Peirce schreibt: »Das Zeichen ist niemals das eigentliche Objekt selbst. Es ist deshalb ein Zeichen seines Objekts nur in einem Aspekt, in einer Hinsicht.« 4 Das Zeichen repräsentiert das Objekt in einer Hinsicht. Kein Zeichen ist dazu in der Lage, sein Objekt in jeder Hinsicht zu repräsentieren. Es wählt einen bestimmten Gesichtspunkt aus. Dieses in der Zeichentriade durch die Auswahl einer Hinsicht repräsentierte Objekt nennt Peirce das unmittelbare Objekt. Das unmittelbare Objekt hat seinen Ort innerhalb der Zeichentriade, und zwar nur innerhalb dieser Triade. »Das unmittelbare Objekt ist das Objekt, das im Zeichen dargestellt wird.« 5 Das dynamische Objekt hingegen ist das Objekt, das die Erzeugung eines Zeichens motiviert und von dem das unmittelbare Objekt nur eine Hinsicht darstellt. Das dynamische Objekt ist die Kraft, die den Zeichenprozess, die Semiose, motiviert. Die Differenzierung zwischen dem dynamischen und dem unmittelbaren Objekt vermag zum einen die unbegrenzte Hervorbringung neuer Zeichen zu erklären, den Akt unbegrenzter Semiose, zum anderen führt sie aber auch ein regulatives Prinzip in den Akt der Interpretation ein, da die Motivation aller Interpretation die Idee des dynamischen Objekts ist. Das unmittelbare Objekt hat als sein mögliches Korrektiv immer das dynamische Objekt hinter und vor sich. Das dynamische Objekt ist immer reicher als eine seiner Hinsichten. Die Unterscheidung zwischen dem dynamischen und dem unmittelbaren Objekt verweist damit aber auch auf die Notwendigkeit einer Auslegungsgemeinschaft, denn wir bekommen das dynamische Objekt immer nur als unmittelbares Objekt zu sehen. Das dynamische Objekt kann annäherungsweise nur ausdifferenziert werden in einer unendlichen Hervorbringung von Semiosen, die derart aufeinander verwiesen sind, dass sie sich gemeinsam um die Ausdifferenzierung des dynamischen Objekts bemühen. 6 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 33 Zum Thema 34 ZNT 26 (13. Jg. 2010) Peirce unterscheidet schließlich den unmittelbaren, den dynamischen und den finalen Interpretanten. 7 Der unmittelbare Interpretant ist die unbestimmte, vage Verbindung zwischen zwei Relata, die diese als ein Zeichen und ein Objekt bestimmt, so dass überhaupt ein Prozess der Semiose in Gang gesetzt wird. 8 »Der dynamische Interpretant ist einfach das, was von einem gegebenen individuellen Interpreten dem Zeichen entnommen wird.« 9 »Der finale Interpretant ist die letzte Wirkung des Zeichens, insofern diese von der Beschaffenheit des Zeichens her intendiert oder vorbestimmt [destined] ist, welche dabei eine mehr oder minder gewohnheitsmäßige und formale Natur hat.« 10 Die Sinnerzeugung wird demzufolge als ein Zeichenprozess verstanden, der von einem dynamischen Objekt angeschoben wird und gleichursprünglich einen ersten Interpretanten bildet, der etwas als Zeichen dieses dynamischen Objekts wahrnimmt und mittels dieses Zeichens einen bestimmten Aspekt des dynamischen Objekts als unmittelbares Zeichenobjekt in die vom dynamischen Objekt ontologisch zu unterscheidende Zeichenrelation einbringt auf der Basis eines zwischen dem dynamischen Objekt und dem unmittelbaren Objekt als gemeinsam postulierten Grundes. Die hermeneutische Konsequenz dieses Zeichenmodells für die Textauslegung lautet: Der potentielle Sinn eines Textes wird erst im Akt des Lesens aus der Korrelation von vorgegebenen Textstrukturen und realem Leser in seinem jeweiligen geschichtlichen und kulturellen Kontext realisiert. Die Vorgabe der Textzeichen setzt den Lektüren Grenzen, die notwendige Kreativität und Individualität der Lesenden im Rahmen ihrer jeweiligen Kultur generiert die sachgemäße Vielfalt der Interpretationen. Zeichen sind nicht nur in formaler Hinsicht relationale Gebilde. Ein Zeichen funktioniert erst durch seinen Gebrauch in Zeichenzusammenhängen wie Gesprächen, Gottesdiensten, Texten, Bildern, Gebäuden, Straßenverkehrsordnungen, Fernsehsendungen, wissenschaftlichen Kongressen usw. Diese aktuellen Zeichenzusammenhänge wiederum machen die Gesamtheit einer gegebenen Kultur aus, die deshalb nicht monadisch und identitätsontologisch, sondern relational und differenzontologisch zu begreifen ist. Kulturen basieren auf dem gesellschaftlich konventionalisierten, kreativen und konfliktvollen Gebrauch der Zeichen - Kulturen sind Zeichenzusammenhänge. Ein Zeichen bedarf also zumindest zweier Zuordnungen, um zu funktionieren: Es muss einem aktuell wahrnehmbaren Zeichenzusammenhang und zugleich einer Kultur als der Gesamtheit seiner virtuellen Zeichenzusammenhänge zugehören. Diese Bedingungen tragen zur Sinnerzeugung in jeder Lektüre, also auch der Lektüre Heiliger Schriften, unhintergehbar bei und führen durch die je unterschiedlichen kulturellen Kontexte zu einer Vielfalt von Interpretationen. Das Lesen oder Hören eines Textes ist kein passiver Akt reiner Aufnahme, sondern ein interaktiver Prozess, der kreative Mitarbeit der Lesenden benötigt. Die jüdischen heiligen Schriften - bestehend aus Torah (»unterweisen«, kausat.; sie bedeutet »Lehre, Belehrung, Unterricht, Anweisung, Gesetz«), Nebiim (»Propheten«) und Ketubim (»Schriften«), die zusammen den Tanakh bilden, dessen Name ein Akronym seiner drei Teile ist, und gleichermaßen auch der Palästinische und Babylonische Talmud (der wichtigste ist der Babylonische Talmud; wenn nur der Talmud erwähnt wird, bezieht sich der Referent in der Regel auf den babylonischen) -, die christlichen heiligen Schriften, die in der Bibel gesammelt und sinnbildend angeordnet wurden, und der Koran als verschriftlichte Sammlung der von Muhammad mündlich verkündeten Offenbarungseinheiten wurden unter den formalen Bedingungen menschlicher Kommunikation produziert und sie werden unter denselben Bedingungen rezipiert. Jedwede menschliche Kommunikation vollzieht sich als Semiose, als Zeichenhandlung, oder mit den Worten Charles Sanders Peirces: »All thought is in signs.« Damit ist gerade nicht zum Ausdruck gebracht, dass sich die Dinge an sich dem menschlichen Begreifen entziehen und wir deswegen »nur« Zeichen konstruieren können. Die kategoriale Semiotik im Anschluss an Charles Sanders Peirce ist kein Konstruktivismus. Vielmehr hält sie den Zeichenakt für die unhintergehbare Art und Weise, wie Menschen Realität erschließen. Diese Realität ist dem Begreifen vorgegeben. Mit Blick auf die Entstehung von Tanakh, Talmudim, Bibel und Koran heißt das: Sie haben ihren Grund nicht in sich selbst, sondern er ist ihnen als das, woraufhin ihre Zeichenproduktion beginnt, wirksam vorgegeben. Die Zeichenprodukte Tanakh, Talmudim, Bibel und Koran bemühen sich darum, das sie motivierende dynamische Objekt zu erschließen, indem sie Zeichen bilden, die dieses Objekt interpretieren. Weil aber kein Zeichen das es veranlassende dynamische Objekt in seiner Fülle darstellen kann, bleibt unter den formalen Bedingungen menschlicher Kom- »Wie auch immer die Schriften ausgelegt werden, als Schriftzeichen unterliegen sie den formalen Bedingungen der Zeichen[...]« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 34 Francesca Yardenit Albertini, Stefan Alkier, Ömer Özsoy Gott hat gesprochen - aber zu wem? ZNT 26 (13. Jg. 2010) 35 munikation stets eine Differenz zwischen dem Interpretanten und dem ihn veranlassenden dynamischen Objekt bestehen. Das heißt aber, dass Tanakh, Talmudim, Bibel und Koran nicht das Wort Gottes in ontotheologischer Weise sind. 11 Vielmehr beanspruchen sie, es auf angemessene und für den von Gott beabsichtigten kommunikativen Prozess hinreichende Art und Weise zu interpretieren. Tanakh, Talmudim, Bibel und Koran als Interpretanten des sie motivierenden dynamischen Objekts werden im Akt der Lektüre aber selbst zu dynamischen Objekten, die die Produktion sie interpretierender Zeichen motiviert. 5. Ethik der Interpretation Auf der Basis des oben formulierten Zeichenmodells der kategorialen Semiotik und seiner erkenntnistheoretischen und hermeneutischen Konsequenzen lassen sich drei Kriterien für eine gute Interpretation entwickeln. 12 Das erste Kriterium ist das Realitätskriterium: Eine Interpretation ist gut, wenn sie danach strebt, den Interpretationsgegenstand als real vorgegebenes Anderes, vom Ausleger Unterschiedenes in gewisser Hinsicht darzustellen, und diesem Anderen mit Respekt gegenübertritt. Das Realitätskriterium verlangt jedem methodischen Ansatz ab, sich mit der Realität des Untersuchungsgegenstandes zu befassen, sich respektvoll auf ihn einzulassen und danach zu streben, einen Aspekt des dynamischen Objekts durch die Interpretation darzustellen. 13 Gelingt ihr das, so handelt es sich um eine wahre Interpretation, wohlgemerkt: um eine wahre Interpretation. Die Unterscheidung zwischen dem dynamischen und dem unmittelbaren Objekt erlaubt es, Wahrheit im Plural zu denken, ohne eine Beliebigkeit der Interpretation zu propagieren. Mit der ethischen Entscheidung für eine Lektürehaltung, die den Text respektvoll als Äußerung eines Anderen wahrnehmen möchte, ist noch nicht darüber entschieden, wie mit der Vielfalt von Interpretationen umzugehen ist. Die zu begrüßende Bereitschaft zur Methodenvielfalt darf nicht dazu führen, die Adäquatheit einer Interpretation allein an der korrekten Durchführung der methodischen Vorgaben zu messen. Das Bekenntnis zum Pluralismus reicht nicht aus. Nicht jede Bibellektüre kann von einer ethisch reflektierten Bibelwissenschaft akzeptiert werden, wie nicht jede Koranlektüre von einer ethisch reflektierten Koranwissenschaft akzeptiert werden kann. Sklaverei, Apartheid, die Unterdrückung von Frauen, die Ermordung anders Glaubender sind nur einige Beispiele, die belegen, dass mit Bezugnahme auf Tanakh, Bibel und Koran Gewalt gegen Andere ideologisch begründet wurde und wird. Der Sinn eines Textes ist aufgrund seiner zeichenhaften Beschaffenheit aber weder vorgegeben noch beliebig. Er ist ein Produkt der jeweiligen Lektüre, die wiederum eine Interaktion von vorgegebenen Textstrategien und ihrer Aktualisierungen durch konkrete Leser oder Leserinnen in ihren jeweiligen Kontexten darstellt. Damit ist die Vielfalt möglicher Lektüren durch eine Theorie der Zeichen begründet, aber auch eine Kritik an Lektüren möglich, die einen Alleinanspruch für sich erheben oder aber von den Textzeichen so weit abweichen, dass sie nicht mehr als Lektüren eines konkreten Textes sichtbar werden. Ein zweites Kriterium einer Ethik der Interpretation, das Sozietätskriterium, kann dabei als Leitfaden für den Umgang mit anderen Interpretationen desselben Gegenstandes dienen: Eine Interpretation ist gut, wenn sie sich als ein Beitrag zu einer gemeinschaftlichen Wahrheitssuche versteht und andere Interpretationen, auch wenn sie inhaltlich nicht geteilt werden, als Beitrag zu dieser vom dynamischen Objekt motivierten Wahrheitssuche respektiert. Der Respekt vor der realen Vorgegebenheit des Interpretationsgegenstandes und der Respekt vor der Wahrheitssuche der Anderen führen zu einem aufrichtigen Interesse an der Interpretation der Anderen. Dieses Interesse besteht darin, die Interpretation des Anderen darauf hin zu befragen, ob hier ein Aspekt der auszulegenden Schriften treffend dargestellt werden konnte und dadurch die eigene Interpretation gefördert wird, sei es, dass sie vertieft, erweitert oder auch falsifiziert wird. Gemeinsam lernen wollen: Zu dieser Haltung ruft das Sozietätskriterium auf. 14 Ergebnisse der Interpretation dürfen nicht als kontextlose und wertfreie Wahrheit dargestellt und der Öffentlichkeit präsentiert werden, sondern als mögliche, unter hermeneutischen Prämissen und methodischen Vorgaben erarbeitete Beiträge einer gemeinsamen Erschließung von Welten, die als solche in ein Gespräch mit anderen Auslegungen einzutreten in der Lage und willens sind. Darauf zielt das dritte Kriterium einer ethisch verantworteten Interpretation, das Kontextualitätskriterium: »Zeichen sind nicht nur in formaler Hinsicht relationale Gebilde.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 35 Zum Thema 36 ZNT 26 (13. Jg. 2010) Eine Interpretation ist gut, wenn sie ihre kulturelle, und das heißt auch: ihre politische, Verortung offen legt und sich als Beitrag zur kommunikativen Erschließung der Welt präsentiert. Hinsichtlich der Positionierung der Lesenden sind veränderbare von unveränderbaren Aspekten zu unterscheiden. Biologische Dispositionen sowie die soziale und kulturelle Herkunft sind nicht veränderbar, Hermeneutik und Methode sowie der Untersuchungsgegenstand und die jeweilige Fragestellung hingegen unterliegen einer Wahl. Während die unveränderbaren Aspekte der Position der Ausleger und Auslegerinnen unter Berücksichtigung der notwendigen Interaktion von Text und Leser die Unhintergehbarkeit einer Vielfalt von Lektüren unterstreicht, verweist die Wahlmöglichkeit auf den ideologischen Aspekt jeder Interpretation. Ich lese z.B. als italienische Frau, als deutscher oder türkischer Mann, aber ich habe als erwachsener, mündiger Mensch die Möglichkeit, andere Kulturen kennen zu lernen, von anderen zu lernen, und ich habe die Wahl zwischen verschiedenen Untersuchungsgegenständen, Fragestellungen und Frageabsichten. Da unveränderbare und veränderbare Aspekte die Position des Auslegers gleichermaßen bedingen, ist hier weder einer Determination der Auslegung noch einer absoluten Autonomie der Lesenden das Wort zu reden. Die unveränderbaren Aspekte machen es zur ethischen Pflicht, die eigene Perspektive als eine unter anderen wahrzunehmen und einzubringen. Die Möglichkeit der Wahl macht es zur Pflicht, die gewählte Hermeneutik, Methodik, Thematik und Fragestellung auf ihre gesellschaftliche Wirkung hin zu befragen. Dabei vermeidet die Rückbindung an das Realitätskriterium, die Interpretation in political correctness erstarren zu lassen. 6. Die Notwendigkeit der Kritik Die theologische Hermeneutik der Offenbarung, die Semiotik der Schrift und die Ethik der Interpretation arbeiten mit notwendigen Unterscheidungen. Diese kritische, unterscheidende Grundhaltung ist die unhintergehbare Voraussetzung jeder Wissenschaft. Sie ist kein Selbstzweck, sondern der Komplexität der Sachverhalte geschuldet. Sie ist aber gerade auch mit Blick auf die normativen Schriften des Judentums, des Christentums und des Islams notwendig und hilfreich. Fundamentalisten und Ideologen jeder Art begehen den sachlichen Fehler, unkritisch gegenüber ihrer eigenen Interpretation zu sein. Sie unterscheiden nicht ihre Sicht der Dinge vom Interpretationsgegenstand. Eine kritische Hermeneutik der Schrift und eine kritische Ethik der Interpretation weiß dagegen, dass der Tanakh, die Bibel, der Koran immer reicher sind und bleiben, als nur eine Interpretation es zu zeigen vermag. Es gilt das Auszulegende in all seinen Möglichkeiten von der standortgebundenen Auslegung des oder der Interpreten zu unterscheiden. Selbstkritik gehört notwendig zu jedem interpretativen Handeln. Diese Bescheidenheit ist aber auch religiös geboten. Wer nicht zwischen dem Wort Gottes und der eigenen Verstehensweise unterscheidet, setzt sich mit Gott gleich. Das ist nicht fromm, das ist blasphemisch. Es raubt Gott die Ehre, allein Gott zu sein, und maßt sich an, mit göttlicher Autorität selbstmächtig zu handeln. Alle religiösen Fundamentalisten begehen diese Blasphemie. Sie unterscheiden nicht ihr begrenztes religiöses Gefühl von der Unermesslichkeit Gottes. Das hat nichts mit Glauben, sondern nur mit maßloser Überheblichkeit zu tun. Die Selbstkritik als Unterscheidung zwischen dem Interpretationsgegenstand und meiner jeweiligen Interpretation ist wissenschaftlich notwendig und religiös geboten. Ebenso notwendig ist die Sachkritik. Religiöse Traditionen haben nicht nur Gutes bewirkt. Bis heute verbietet die römisch-katholische Kirche mit Bezug auf biblische Texte Frauen den Zugang zum Priesteramt und entmündigt sie damit auf unerträglich patriarchalische Art und Weise, deren Wurzeln aber eben auch in biblischen Texten zu finden sind. 15 Es bedarf einer kritischen Interpretation der Bibel selbst, die unterscheidet zwischen der heilvollen Botschaft des christlichen Evangeliums, das alle Menschen gleichermaßen als geliebte Geschöpfe Gottes ansieht, und der kulturellen Verankerung auch der biblischen Texte in die Unterdrückungsstrukturen ihrer Entstehungskulturen. Wenn im Koran dem Ehemann erlaubt wird, die Ehefrau in bestimmten Grenzfällen zu schlagen, dann kann man historisch erläutern, dass dies sogar eine Begrenzung der Gewalt von Männern gegen Frauen intendierte. Gleichwohl muss man aus dem Gleichheitsprinzip der Barmherzigkeit Gottes den Wortlaut des Koran an dieser Stelle um seiner Intention Willen kritisieren und betonen, dass Gewalt von Männern gegen Frauen in keiner Weise und unter keinen Umständen gottgefällig und zu rechtfertigen ist. »Die Zeichenprodukte Tanakh, Talmudim, Bibel und Koran bemühen sich darum, das sie motivierende dynamische Objekt zu erschließen[...]« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 36 Francesca Yardenit Albertini, Stefan Alkier, Ömer Özsoy Gott hat gesprochen - aber zu wem? ZNT 26 (13. Jg. 2010) 37 Weil Tanakh, Bibel und Koran in bestimmten historischen und kulturellen Situationen entstanden sind, transportieren sie nicht nur die heilvollen und wahren Botschaften Gottes, sondern auch destruktive, ungerechte, unterdrückende Machtstrukturen vergangener Kulturen, die geradezu im Widerstreit zu den Heilsbotschaften für alle Menschen stehen. Hier ist aus theologischen Gründen die Unterscheidung zwischen förderlichen und benachteiligenden Schrifttraditionen zu treffen. Selbstkritik und Sachkritik könnten aber auch zu einer grundsätzlichen Ablehnung des Tanakh, der Bibel oder des Koran führen. Es gibt viele Menschen, die die Welt nicht mit den Augen dieser Bücher sehen möchten. Eine religionsgeschichtliche oder philologische Interpretation einer Schrift kann ihr Verständnis auch dann erheblich fördern, wenn ihrem Wahrheitsanspruch nicht mit Einverständnis gefolgt wird. Theologische Interpretationen hingegen wollen die Denkbarkeit und Plausibilität der Wahrheitsansprüche der jeweiligen Schrift argumentativ entfalten. Der wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurs, der auf die grundlegenden Überzeugungen zielt, die in der freien, pluralen Gesellschaft gelten sollen, braucht beide Perspektiven und die Unterscheidung ihrer jeweiligen Reichweite. Nur solche Gesellschaften haben das Recht, sich als frei und plural zu bezeichnen, in denen es Wissenschaft und jedem Individuum öffentlich und ohne Repressalien befürchten zu müssen erlaubt ist, sich zu einer Religion zu bekennen oder die Religionszugehörigkeit zu wechseln oder auch ein prinzipielles Nein zu Judentum, Christentum und Islam zu sagen. Schluss Die Notwendigkeit von Hermeneutik, Ethik und Kritik der Interpretation von Tanakh, Talmudim, Bibel und Koran liegt nicht erst in der historischen Differenz zwischen Produktions- und Rezeptionssituation begründet, sondern theologisch im Akt der Kommunikation Gottes mit seinen Geschöpfen und semiotisch in der Angewiesenheit menschlicher Kommunikation auf Zeichen. Da die semiotische Bedingung menschlicher Kommunikation bereits für jeden Wahrnehmungsakt die Unhintergehbarkeit der Interpretation offen legt, weist sie jedweden Anspruch auf Unfehlbarkeit ab. Der Trialog zwischen Juden, Christen und Muslimen wird dann zum Erkenntnisgewinn für alle Beteiligten, wenn gleichermaßen der Konflikt der jeweiligen Wahrheitsansprüche und die semiotischen Bedingungen jeder Formulierung eines solchen bedacht werden. Nur solche Wissenschaft und nur solche Gesellschaften, in denen das offene Ja zu einer dieser Religionen und auch das öffentliche Nein zu allen Religionen ohne gesellschaftliche Nachteile zu erleiden, möglich ist, erfüllen ein unverzichtbares Kriterium pluraler, freier Gesellschaften. Anmerkungen 1 C.S. Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen, hg. u. übers. v. H. Pape, Frankfurt 1983, 64. 2 H. Deuser, Gottesinstinkt. Semiotische Religionstheorie und Pragmatismus, Religion in philosophy and theology 12, Tübingen 2004, 163f. 3 Eine ausgezeichnete Darstellung der Kontroverse bezüglich des Objektverständnisses in der Peirceforschung gibt J.J. Liszka, A general introduction to the Semeiotic of Charles Sanders Peirce, Bloomington u.a. 1996, 111-116 Anm. 2; 118f. Anm. 8. 4 C.S. Peirce, Semiotische Schriften, Bd. 1, 427. Ebd. heißt es weiter: »Also ist ein Zeichen etwas, das ein anderes Zeichen in eine objektive Relation zu jenem Zeichen bringt, das es selbst darstellt, und es stellt diese Relation insoweit in derselben Hinsicht oder unter demselben Aspekt her, in dem es selbst ein Zeichen für dasselbe Zeichen ist.« 5 C.S. Peirce, Semiotische Schriften, Bd. 3, Frankfurt 2000, 215. 6 In dieser Hinsicht ist Semiotik abhängig von ethischen Entscheidungen, und in dieser Hinsicht ist sie auch eine normative Wissenschaft. Vgl. dazu Liszka, Introduction, 3-6. 7 Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Terminologien bezüglich des Interpretantenbegriffs, die Liszka, Introduction, 122f., übersichtlich zusammengestellt hat. Die Peirce- Forschung ist damit beschäftigt, die wichtige Frage zu klären, welche dieser Terminologien einfach Varianten der Bezeichnung sind und welche tatsächlich andere Konzepte des Interpretanten einbringen. Für das Anliegen der vorliegenden Untersuchung genügt die im Text dargestellte Differenzierung voll und ganz. 8 Peirce, Semiotische Schriften, Bd. 3, 224: »Der Unmittelbare Interpretant ist das, was notwendigerweise hervorgebracht wird, wenn das Zeichen ein solches sein soll. Er ist eine vage mögliche Bewußtseinsbestimmung, eine vage Abstraktion.« 9 Peirce, Schriften, 215 [Kursivsetzung von mir]. Vgl. ebd., 224f. 10 Peirce, Schriften, 225. 11 In diesem Zusammenhang ist auf die Unterscheidung innerhalb der Koranhermeneutik zwischen dem »Wort Gottes an sich« (kalām nafsī) und dem »Wort Gottes im Wortlaut« (kalām lafzī) hinzuweisen. 12 Zur näheren Begründung siehe S. Alkier, Ethik der Interpretation, in: M. Witte (Hg.), Der eine Gott und die Welt der Religionen. Beiträge zu einer Theologie der Religionen und zum interreligiösen Dialog, Würzburg 2003, 21-41. 13 Die mutazilitische Hermeneutik unterscheidet zwischen der Absicht des Redners bzw. Senders (qasd al-mutakallim) und der Autonomie des Textes gegenüber dem Ausleger. 14 Der ganzen Idschtihad-Theorie liegt dieser Aspekt zugrunde. 15 Im Tanakh genauso wie im antiken Judentum finden sich deutliche Spuren des Matriarchats, das den Frauen eine privilegierte Position auch im sozialen und politischen Kontext gab. 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 37