eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 13/26

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2010
1326 Dronsch Strecker Vogel

Kriterien einer guten Bibelübersetzung –

2010
Günter Röhser
1. Wortspiele und Metaphern Wenn man nach Kriterien für eine gute Bibelübersetzung sucht, d.h. also nach Beurteilungsmaßstäben für die Qualität verschiedener Übersetzungsprojekte, so mag es angezeigt sein, sich vor einer solchen Beurteilung erst einmal zu fragen, was denn eine »Übersetzung« überhaupt sei. Hier gibt es - ausgehend vom Lateinischen (transferre = hinübertragen, traducere navem flumen = ein Schiff über einen Fluss hinüberführen) - verschiedene Wortspiele und Metaphern, die ins Bild zu setzen versuchen, worum es bei einer Übersetzung geht. Schon Jacob Grimm spielte mit der Verschiebung des Akzents von »übersétzen« zu »´ übersetzen« 1 um das eine durch das andere zu verdeutlichen, und auch heute noch stellt das Wortspiel eine beliebte Anschauungs- und Denkhilfe dar, um sich das »Wesen« einer Übersetzung klarzumachen. Den ebenso beliebten wie bekannten Kalauer »Übersetzen = Üb-ersetzen! « nenne ich hier nur, weil er auf zwei grundsätzliche Probleme des Übersetzens und der Übersetzungstheorie aufmerksam machen kann: a) Kann man das Übersetzen üben, wie man eine bestimmte Technik einübt? Zweifellos kann man eine ganze Menge lernen und üben beim Übersetzen: Man muss die Sprache erlernen, man sollte die »translatorische Methodik« 2 kennen und beherzigen, und je häufiger man praktisch übersetzt, desto geübter und routinierter wird man dabei. Auf der anderen Seite gehört eine Menge Erfahrung und Fingerspitzengefühl zum (guten) Übersetzen - wie schon zum Erlernen und (guten) Sprechen einer Fremdsprache selbst -, und am Ende könnte es mehr mit Kunst und Einfühlungsvermögen zu tun haben als mit erlernbarer methodischer Wissenschaft. Der Exeget fühlt sich hierbei an die biblische Textkritik erinnert, hat aber gerade aus ihr gelernt, dass beides keine Gegensätze sind, sondern zueinander kommen müssen, wenn man erfolgreich arbeiten will. Die Frage bleibt: Erweist es sich am Ende als ebenso schwierig eine gute Übersetzung zu erstellen und v.a. zu beurteilen wie »gute Kunst«? Und wenn ja, was bedeutet das für unsere Fragestellung? b) Kann und soll eine Übersetzung das Original »ersetzen«? Spontan mag man geneigt sein, die Frage zu bejahen. Denn in der Regel wird eine Übersetzung ja deshalb angefertigt, weil das Original wegen Unkenntnis der Fremdsprache nicht verstanden wird; Rezipient bzw. Rezipientin sind darauf angewiesen, für sie muss die Übersetzung das Original »ersetzen«. Auf der anderen Seite ist es ebenso klar, dass eine Übersetzung nicht einfach bzw. nicht für immer das Original ersetzen kann; sie muss vielmehr überprüft und ggf. verändert oder gar durch eine neue Übersetzung ersetzt werden können - nicht das Original, sondern die Übersetzung kann und soll also ggf. durch eine (andere) Übersetzung »ersetzt« werden. Auch wird niemand, der jemals ein Gedicht von Paul Celan oder Stéphane Mallarmé oder die stabreimenden und lautmalerischen Dichtungen der Musikdramen Richard Wagners gehört oder gelesen hat, auf die Idee kommen, man könne diese Texte in ihrer spezifischen Wirkung durch eine Übersetzung auch nur annähernd »ersetzen« (was nicht heißt, dass man ihren Inhalt nicht irgendwie »wiedergeben« könnte, z. B. auch durch Nachdichtungen). Es bleibt die Erkenntnis: Eine Übersetzung ist - ebenso wie eine Zusammenfassung oder eine Inhaltsangabe - immer ein neuer Text, der neben und nicht an die Stelle des Ausgangstextes tritt. Die Frage kann nur sein, in welchem Maße der neue Text als solcher erkennbar bleibt und bleiben muss, d.h. wie sehr er auf seinen Ausgangstext zurückverweist - und hier gibt es offenbar deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Textsorten: Eine technische Gebrauchsanweisung kann man leichter durch einen anderen Text »ersetzen« und »übersetzen« (die Geräte funktionieren überall auf der Welt gleich) als einen poetischen oder religiösen Text. Kehren wir zurück zur Metapher der Flussüberquerung. Man hat dieses Bild in verschiedener Weise ausgestaltet: a) Produzent und Rezipient der Botschaft befinden sich auf den zwei Seiten eines Flusses. Die Übersetzung Zum Thema Günter Röhser Kriterien einer guten Bibelübersetzung - produktions- oder rezeptionsorientiert? 16 ZNT 26 (13. Jg. 2010) »Eine Übersetzung ist - ebenso wie eine Zusammenfassung oder eine Inhaltsangabe - immer ein neuer Text, der neben und nicht an die Stelle des Ausgangstextes tritt.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 16 Günter Röhser Kriterien einer guten Bibelübersetzung ist das Schiff, mit dessen Hilfe die Botschaft (gewissermaßen als Ladung des Schiffes) von dem einen Ufer zum anderen transportiert wird. Entscheidend ist nicht das Transportmittel und seine Gestalt (Schiff/ Boot/ Fähre), sondern die Ladung (die Botschaft): Sie ist ein hohes Gut, das möglichst unverändert und unbeschädigt vom Absender zum Empfänger gebracht werden soll. Der Übersetzer ist der Kapitän/ Bootsführer/ Fährmann. Das Bild veranschaulicht ein Übersetzungsverständnis, wie es in jüngerer Vergangenheit durch Noam Chomskys generative Transformationsgrammatik inspiriert ist: Eugene A. Nida und Charles R. Taber, die diesen Ansatz auf die Bibelübersetzung übertragen haben, sprechen in ihrem Hauptwerk »The Theory and Practice of Translation« (1969) einerseits von »semantischen Grundkategorien« (Gegenstand, Ereignis, Abstraktum, Beziehung), andererseits von (weniger als einem Dutzend) »Elementarsätzen« bzw. »Elementarsatztypen« (Grundstrukturen zu deren Verknüpfung). Mit Hilfe dieser sprachlichen Universalien, die der gesamten Menschheit gemeinsam zu eigen sind und den jeweiligen konkreten sprachlichen Äußerungen mit ihren reichhaltigen Konstruktionen zugrunde liegen, werden aus der jeweiligen sprachlichen Oberflächen- Struktur (auf elementarsatznaher Ebene) »Bedeutungen« abstrahiert, die sich ohne Verlust vom Produzenten des Ausgangstextes zur Rezipientin des Zieltextes übertragen lassen, dort deswegen vollkommen verstanden werden und zu einer »wesentlich gleichartige(n)« Reaktion bei den Empfängern des Zieltextes wie bei denjenigen des Ausgangstextes führen. 3 Diese »dynamisch-funktionale Äquivalenz« 4 ist zugleich das entscheidende Kriterium für das Gelungen-Sein, für die Qualität der Übersetzung und deren Bewertung. Fragen muss man, ob das Bild des Schiffskapitäns oder Fährmanns - also des gewissermaßen »neutralen Vermittlers« zwischen den beiden Ufern - wirklich angemessen für den Übersetzer ist. Gehört er nicht selbst viel zu sehr auf die »andere Seite«, als dass er die Verantwortung für eine so beschriebene Last oder Ladung übernehmen könnte? Und überhaupt muss bezweifelt werden, dass das Bild von der isolierbaren Schiffsladung und ihrem Transport wirklich der Übersetzungsaufgabe angemessen ist. b) Nida und Taber selbst wenden das Bild von der Flussüberquerung noch einmal in ganz eigenständiger Weise an, indem sie zusätzlich das Element der »Furt« einführen. Der Umweg über die »flache Stelle […], an der man auf einfache und natürliche Weise auf die andere Seite des Flusses gelangen kann«, ist ein Bild für die Zurückführung der grammatischen Konstruktionen auf ihre Elementarformen, durch die allein man die ansonsten unlösbare Aufgabe der Flussüberquerung bzw. Übersetzung bewältigen kann. 5 Strukturell analog zur Flussüberquerung bzw. zum Fährmann ist das schon in der Antike geläufige Bild vom Baumeister 6 : Er trägt ein Bauwerk, z. B. aus Lehmziegeln, Stück für Stück ab, zerlegt es quasi in seine Bestandteile, transportiert diese an einen anderen Ort und errichtet dort aus denselben Ziegeln ein neues, anderes Gebäude. Es kommt ausdrücklich nicht darauf an, dass das neue Gebäude genau dieselbe äußere Gestalt hat wie das alte - wenngleich es natürlich durch seine Bestandteile vorstrukturiert ist -, sondern darauf, dass dieselben Bausteine verwendet worden sind. Genauso sei es mit dem Übersetzen: Es komme darauf an, dieselben Bedeutungsinhalte unverändert von einer Sprache in die andere zu übertragen - bei sich verändernder sprachlicher Gestalt und Struktur des Textes. Stärker noch als das Bild vom Fährmann führt dasjenige des Baumeisters handwerklich-technische Konnotationen mit sich und lässt fragen, ob das Übersetzen wirklich in diesem Maße als mechanistischmethodische Tätigkeit betrachtet werden kann. c) Eine andere Variante der Flussüberquerung ist das Brückenbauen. 7 Ebenfalls eine technische Metapher - jedoch ist hier der Bauplan des Bauwerks nicht schon von vornherein irgendwie festgelegt, sondern muss erst entworfen werden; die Bau-»Kunst« des Brü- Günter Röhser, Jahrgang 1956, Studium der Evangelischen eologie in Erlangen, Heidelberg und Neuendettelsau. Promotion (1986) und Habilitation (1993) in Heidelberg. Pfarrer der Evang.-Luth. Kirche in Bayern, Lehrtätigkeit in Bamberg und Siegen, 1997-2003 Professor für Bibelwissenschaft an der RWTH Aachen, seit 2003 für Neues Testament an der Universität Bonn. Forschungsschwerpunkte: Religiöse Vorstellungen der (biblischen) Antike, paulinische eologie, neuere Bibelübersetzungen. Prof. Dr. Günter Röhser ZNT 26 (13. Jg. 2010) 17 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 17 Zum Thema 18 ZNT 26 (13. Jg. 2010) ckenbauers ist hier gefragt! In dieser Verwendung der Metapher geht es darum, dass der übersetzte Text als solcher, und d.h. in seiner konkreten sprachlichen Gestalt, eine Brücke bilden soll zwischen dem Herkunftsbereich des Textes und dem Zielbereich der Empfänger. Anders als in a) und b) soll nicht ein isolierter Inhalt, eine Botschaft an den Mann und an die Frau (oder auch das Kind 8 ) gebracht werden, sondern die Menschen selbst sollen durch und über diesen Inhalt, den der übersetzte Text darstellt, in Kontakt miteinander gebracht werden: Ein Autor (der Vergangenheit) kann durch und über diese Brücke in die Welt seiner Rezipientinnen und Rezipienten gelangen, diese wiederum können sich durch und über diese Brücke auf den Autor und seine Welt zu bewegen. Zweierlei wird durch diese Verwendung der Metapher deutlich: 1) Eine Übersetzungstheorie darf nicht nur den Ausgangstext und seine Entsprechung in der Zielsprache in den Blick nehmen, sondern muss auch Autor/ in und Adressat/ in und deren jeweilige Welt/ en (zu der/ denen auch der/ die Übersetzer/ in selbst gehört) mit berücksichtigen; sie bestimmen das Übersetzungsgeschehen entscheidend mit. 2) Beim Übersetzen geht es nicht einseitig nur um eine Bewegung in einer bestimmten Richtung (vom einen zum anderen Ufer, vom Autor des Textes zum Empfänger der Übersetzung), sondern man muss auch umgekehrt fragen, wieweit nicht der Empfänger auf den Autor und seinen Text zu bewegt werden soll bzw. sich zu bewegen muss. 9 Vielleicht ist ja gerade das Bild der Brücke besonders geeignet, zum Ausdruck zu bringen, dass man sich irgendwo in der Mitte, mal näher bei dem einen, mal näher bei dem anderen Ufer treffen muss, wenn Verständigung und Kommunikation gelingen sollen. Auf jeden Fall wendet es sich gegen ein einseitiges Verständnis der Metapher von der Flussüberquerung, wie es etwa von Heinzpeter Hempelmann vertreten wird: Bibelübersetzung »setzt« demnach »den Leser über, indem sie ihn in die Textwelt des Originals als Größe sui generis versetzt.« 10 Notiert seien abschließend das italienische Wortspiel »traduttore traditore« (»der Übersetzer ist ein Verräter«) bzw. sein französisches Pendant »traduire, c’est trahir« und Franz Rosenzweigs Anspielung auf Mt 6,24: »Übersetzen heißt zwei Herren dienen. Also kann es niemand.« Beide sind zwar als stete Erinnerung an die Schwierigkeit der Aufgabe und die Verantwortung des Übersetzers ernst zu nehmen, nicht aber in ihrem propositionalen Gehalt (der sich von ihrer rhetorischen Gestalt sehr wohl ablösen lässt: »Übersetzen ist unmöglich«) - denn sonst könnte dieser Aufsatz nicht geschrieben werden (Man beachte die feine Ironie, dass die Übersetzung bzw. Zusammenfassung als solche bereits den Inhalt des Übersetzten bzw. Zusammengefassten widerlegt: Übersetzen und Zusammenfassen sind eben doch möglich - und notwendig! ). 11 2. Form und Inhalt Versucht man nun, das mit Wortspielen und Metaphern Umschriebene und Bedachte auf eine begriffliche Ebene zu heben, so wird deutlich, dass wir uns die ganze Zeit mit der Frage des Verhältnisses von Form und Inhalt, bezogen auf den Vorgang des Übersetzens, beschäftigt haben. Kann man einen Inhalt unabhängig von seiner Form übermitteln? Ist es wirklich gleichgültig, mit welchem Schiff (in welcher sprachlichen Form) eine bestimmte Ladung (ein bestimmter Inhalt) transportiert wird? Ist es wirklich gleichgültig, in welcher äußeren Form das abgetragene Gebäude anschließend wieder errichtet wird? »Gleichgültig« meint hier natürlich nicht, dass die konkrete sprachliche Formgebung (und damit auch die übersetzerische Qualität) ohne Bedeutung für die gelingende Vermittlung des Inhalts sei. Gemeint ist vielmehr die von der Theorie der dynamisch-funktionalen Äquivalenz (Nida/ Taber) behauptete - und für die christliche Mission höchst bedeutungsvolle - prinzipielle Gleichwertigkeit der menschlichen Sprachen für die Darstellung eines bestimmten Inhalts. Die Theorie löst das Problem des Übersetzens - wie oben dargestellt - durch den Rückgang auf Elementarformen, die allen Menschen weitgehend gemeinsam seien. Wichtiger noch »als die Existenz der Elementarsätze in allen Sprachen, ist - vom Gesichtspunkt des Übersetzers aus - die Tatsache, daß Sprachen auf der Ebene der Elementarsätze weitaus mehr übereinstimmen als auf der Ebene der reichhaltigeren Oberflächen-Strukturen. Das bedeutet: Wenn man grammatische Strukturen auf die Elementarsatz-Ebene zurückführen kann, können sie viel leichter und mit einem Minimum von Entstellung übertragen werden.« 12 Man könnte diese Elementarformen mit der Theorie der »reinen Form« verbinden, wie sie seit Herder »Beim Übersetzen geht es nicht einseitig nur um eine Bewegung in einer bestimmten Richtung [...], sondern man muss auch umgekehrt fragen, wieweit nicht der Empfänger auf den Autor und seinen Text zu bewegt werden soll bzw. sich zu bewegen muss.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 18 Günter Röhser Kriterien einer guten Bibelübersetzung ZNT 26 (13. Jg. 2010) 19 diskutiert wird und von da aus auch in die ältere Formgeschichte Eingang gefunden hat (M. Dibelius, R. Bultmann), und so Anschluss gewinnen an eine kultur- und geistesgeschichtlich bedeutsame Debatte in Hermeneutik und Ästhetik über Fragen der literarischen und künstlerischen Form. 13 Dann würde eine frappierende Ähnlichkeit von Nidas Theorie mit der Bauhaus- Ästhetik und ihrer Verbindung von reiner Form und Funktionalität auffallen. Nur das Reine und Einfache ist wirklich bedeutungsvoll und bedeutungstragend gegenüber aller sekundären Einkleidung und Formgebung. Ist es Zufall, dass bei Nida die konkrete sprachliche Formgebung der Übersetzung, und d.h. das Erreichen der funktionalen Äquivalenz, gebunden ist an den konsequenten »Neuaufbau« - man beachte die Metaphorik! - des Textes aus den ermittelten Elementarformen? Das bedeutet nebenbei, dass auch Nidas Übersetzungstheorie - was leicht zu Verwirrung führen kann - einen produktions- und keinen rezeptionsorientierten Ansatz darstellt, weil er auf die Äquivalenzrelation der Textfunktion von Ausgangs- und Zieltext Wert legt, und diese wiederum ist gebunden an in oder unter den beiden Texten verborgene Grundstrukturen und von diesen abhängig. Auch der technisch-rationalistische Grundzug der Herangehensweise verbindet diesen Ansatz mit der Bauhaus-Ästhetik (einfache Form, klare Funktion, völlige Durchsichtigkeit und leichte Verständlichkeit). Demgegenüber geht die neuere Textlinguistik von einer unauflöslichen Zusammengehörigkeit von Form und Inhalt aus. Ohne Form (verstanden als die Summe der sprachlichen Merkmale eines Textes inklusive Rhythmus und Klang) gibt es keinen Inhalt, ohne Inhalt keine Form (selbst die bloße grammatische Struktur eines Nonsens-Gedichtes ist noch bedeutungstragend - für ebendiesen Nonsens). Beide zusammen sind konstitutiv für die Bedeutung eines Textes. Die sog. Antithesen, besser: Kommentarworte, der Bergpredigt im Matthäusevangelium oder die »Hymnen« der lukanischen Vorgeschichte oder die Gleichnisse Jesu können ihre Botschaft nicht vermitteln und ihre inhaltliche Wirkung nicht entfalten ohne ihre konkrete sprachliche Gestalt. Deshalb sind auch Inhalt und Funktion einer Übersetzung gebunden an ihre konkrete sprachliche Gestalt (inklusive Rhythmus und Klang) und ihre konkreten rhetorischen Signale. 14 Auch hieran kann man eine »funktionale« Übersetzungstheorie anschließen, aber die Frage nach dem Gelingen einer Übersetzung ist dann nicht an der Erhaltung einer identischen Textfunktion orientiert (wie bei Nida), sondern ausschließlich an der Funktion beim Hörer bzw. der Leserin: Er/ sie soll die ursprüngliche Textintention und -funktion wenigstens ansatzweise verstehen und nachvollziehen können. Ob es wirklich dazu kommt und eine ähnliche Wirkung sich einstellt, kann der Übersetzer nicht garantieren - die Fremdheit des Textes könnte zu groß sein oder der heutige Adressat auf den Inhalt der Übersetzung anders reagieren (verständnislos, irritiert, ablehnend) als der damalige Adressat auf den Ausgangstext. Davon abgesehen wissen wir in der Regel nicht, wie die Erstadressaten tatsächlich auf den Text reagiert haben - wir können nur seine intendierte Wirkung aus den rhetorischen Textsignalen abzulesen versuchen. Jedenfalls kann das Ziel des Übersetzens hier allenfalls eine Ähnlichkeitsrelation zwischen Ausgangs- und Zieltext bzw. deren jeweiliger kommunikativer Funktion sein, weil Inhalt und Funktion an die jeweilige sprachliche Form gebunden und darum per se (Ausgangs- und Zielsprache) nicht identisch sind. Insofern ist das Ziel von vornherein »bescheidener« als bei Nida und man kann die Frage, ob es nicht doch identische Grundstrukturen »in«, »unter« oder »hinter« den Texten gebe (man fühlt sich in mancher Hinsicht an Dietrich Ritschls »implizite Axiome« erinnert), getrost auf sich beruhen lassen. Es kommt nicht darauf an, dass Textaussagen - auch ausgangs- und zielsprachliche Aussagen - in der Tiefe »identisch« sind, sondern ob sie einander »berühren« oder wenigstens aneinander »angenähert« werden können (diesen Satz kann man cum grano salis auch auf Menschen beziehen! ). Insofern kann die Zusammengehörigkeit von Form und Inhalt nicht als Argument gegen eine funktionale Ausrichtung des Übersetzens am Hörer bzw. der Leserin (Rezeptionsorientierung) oder gar gegen die Übersetzbarkeit von Texten als solche (dazu s. gleich) verwendet werden. Beide genannten Ansätze (Nida und seine rezeptionsorientierten Kritiker) stimmen darin überein, dass die sprachliche Form eines Bibeltextes bzw. die formale Ausdrucksgestalt seines Inhalts aufgrund des zeitlichen und kulturellen Abstands verändert werden müssen, damit der heutige Leser die Chance erhält, die Wirkung und den Inhalt des Textes bzw. seiner Übersetzung tatsächlich (an sich selbst) zu erfahren. Beide Ansätze sind damit »funktional«, aber nicht »funktionalistisch« ausgerichtet. »Funktionalistisch« würde heißen: Es geht nur um die Funktion um der Funktion willen. Mit »Wirkung« ist hier aber nicht bloße Emotion oder bloße Reaktion ohne jeden qualifizierten Inhalt gemeint. Niemand käme auf die Idee, die Freudenbot- »Übersetzen heißt zwei Herren dienen.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 19 Zum Thema 20 ZNT 26 (13. Jg. 2010) schaft von Phil 4,4 oder aus dem Weihnachtsevangelium durch das Erzählen eines guten Witzes zu ersetzen. Die Wirkung wäre zwar vermutlich dieselbe (Freude), die funktionale Übersetzungsaufgabe aber nicht erfüllt. Auch bei Nida war nie an das Kriterium der Wirkung um der Wirkung willen gedacht. Insofern greift der Vorwurf der Emotionalisierung oder Psychologisierung der Übersetzungsaufgabe zu kurz - oder sollte zumindest nicht nur als Kritik verstanden werden, denn es geht tatsächlich um mehr als um die möglichst wortgetreue Wiedergabe theologischer Ideen und Gedanken - nämlich um die zumindest prinzipielle Möglichkeit des Verstehens der alten Texte in ihrer Welt und ihrer heutigen lebendigen (! ) Aneignung. 3. Übersetzbarkeit/ Unübersetzbarkeit Die unauflösliche Zusammengehörigkeit von Form und Inhalt wird immer wieder auch als Argument für formale oder wortgetreue Bibelübersetzung genannt: Nur wer die sprachliche Form eines Textes bewahre, könne auch seinen Inhalt unverfälscht weitergeben. Verkannt wird dabei die tiefgreifende Differenz in den grammatischen Strukturen und sprachlichen Ausdrucksformen zwischen den Sprachen und auch innerhalb ein und derselben Sprache in verschiedenen Epochen, die damit auch die Inhalte (gerade wegen dieser Zusammengehörigkeit von Form und Inhalt) unzugänglich macht und mit dem zeitlichen Abstand immer unverständlicher werden lässt. Die extremste, aber auch konsequenteste Anwendung dieser These ist die Behauptung einer prinzipiellen Unübersetzbarkeit (bes. religiöser Texte). Judentum und Islam schützen damit die unverletzliche Authentizität ihrer normativen Grundlagen (hebr. Tora und arab. Koran) und damit ihre religiöse Identität, in der mittelalterlichen Kirche hatte die lateinische Vulgata (als Übersetzung! ) jahrhundertelang eine ähnliche Stellung inne und die Hartnäckigkeit, mit der z. B. die Luther-Übersetzung lange Zeit gegen jegliche Veränderungen verteidigt wurde (und teilweise immer noch wird), ist soziologisch und religionspsychologisch durchaus auf derselben Linie zu sehen. Man ist allenfalls bereit, (andere) Übersetzungen als Notbehelf zu sehen, der nicht ohne Substanzverlust gegenüber der »heiligen« Sprache möglich ist. Die These von der Unübersetzbarkeit ist aus der modernen Metapherntheorie bekannt: »Wahre Metaphern sind unübersetzbar« (P. Ricoeur). Hier bezieht sie sich darauf, dass zumindest bestimmte Metaphern (Interaktionsim Unterschied zu Substitutionsmetaphern, vgl. M. Black) nicht in nichtmetaphorische Sprache »übertragen«, nicht durch sie »ersetzt« oder adäquat umschrieben werden könnten, da sie eine einzigartige Form der Erschließung, ja Stiftung von Wirklichkeit durch Sprache darstellten, die auf keine andere Weise erreicht werden könne. Als »Sprachereignisse« könnten sie nicht in andere Sprache, sondern nur ins Leben »übersetzt« werden. Die Analogie zu unserem Übersetzungsproblem liegt auf der Hand. Auch hier werden dann zumindest einige Texte - z.B. lyrische oder religiöse - von der »Übersetzbarkeit« ausgenommen; sie werden ihr systematisch entzogen. Der Grund liegt in ihrem besonderen Charakter - z.B. als religiöse Offenbarung. Diese sei so einzigartig, dass sie durch eine Übersetzung nur entstellt werden könne. Auch Verständnisschwierigkeiten seien eher Hinweis auf den göttlichen Charakter der Offenbarung, sie seien aber nicht vorschnell zu beseitigen. Da eine adäquate oder gar äquivalente Wiedergabe nicht möglich ist, kann die Aufgabe - ggf. auch die einer Übersetzung - nur darin bestehen, zum Original und seiner Sprache hinzuführen und eine Übersetzung überflüssig zu machen. Hier gilt dasselbe, was auch für die These von den unübersetzbaren Metaphern gilt: Es liegt eine spätidealistische Überschätzung von Sprache vor. Ein solcher Irrationalismus entzieht sich der Aufgabe, die doch gerade die Exegese zu leisten hätte, nämlich für fremde Metaphern und fremdsprachige Texte eine angemessene Umschreibung und Übersetzung zu finden und Kriterien für deren Qualität zu entwickeln. Im Falle von Metaphern muss der Kontext untersucht und müssen traditions- und religionsgeschichtliche Vergleiche angestellt werden; im Falle von Übersetzungen gilt es alle Faktoren zu bedenken, die dabei eine Rolle spielen (s. u.). Jedenfalls ist Unverständlichkeit als solche noch kein Ausweis für göttliche Offenbarung; »Offenbarung« kann vielmehr nur dort sein (wie schon der Name sagt), wo zumindest prinzipiell verstanden wird, was oder wer offenbart wird. Und umgekehrt bietet eine leicht verständliche Übersetzung keine Gewähr dafür, dass der Inhalt auch akzeptiert und angenommen wird. Selbst in der Sprache der Hoffnung-für-alle- Übersetzung oder der Volx-Bibel bleibt das Wort vom Kreuz eine anstößige Botschaft. Wäre es anders, müsste sich angesichts der vielen Übersetzungsversuche in heutige (Alltags- und Jugend-)Sprache eine missionari- »[...] es geht tatsächlich um mehr als um die möglichst wortgetreue Wiedergabe theologischer Ideen und Gedanken [...]« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 20 Günter Röhser Kriterien einer guten Bibelübersetzung ZNT 26 (13. Jg. 2010) 21 sche Erfolgsgeschichte an die andere reihen - was offenkundig nicht der Fall ist. Auch die praktische Erfahrung mit Metaphern und Übersetzungen lehrt: Annäherungen, ja Berührungen mit dem Gemeinten sind offensichtlich möglich; es besteht kein Grund zu der Annahme, dass alle diese exegetischen und translatorischen Bemühungen immer nur ins Leere laufen. Die sprachlich-textlichen Phänomene sind als Bündelungen menschlicher Erfahrung immer auch der Rekonstruktion bzw. Interpretation zugänglich. Angesichts dessen darf gelten: Ob es tatsächlich so etwas wie ein »letztes Geheimnis« hinter oder in einer Metapher oder einem Text gibt, das durch eine »Übersetzung« nicht erreicht werden kann, wissen wir nicht und brauchen wir - jedenfalls für unsere Zwecke - nicht zu wissen; die Frage kann getrost auf sich beruhen. Dass ein Text zumindest in seinem Klang oder auch in seiner genauen rhetorischen Wirkung (seiner »Ausdruckskraft«) durch eine Übersetzung nicht »ersetzt« werden kann, hatten wir oben schon festgestellt (letzteres gilt gerade auch für gelungene Metaphern: Sie sind rhetorisch und literarisch unersetzlich): Der »Reiz« des Französischen oder eines hebräischen Psalms ist im Deutschen nie einzufangen - aber nicht deshalb, weil sie unübersetzbar oder heilig wären, sondern einfach deshalb, weil sie nicht (in) deutsch sind! Allerdings kann die Übersetzung eines biblischen Psalms ihre eigene rhetorische Wirkung und ihren eigenen »Reiz« entfalten, und warum soll der Heilige Geist sich nicht dieser Rhetorik bei der Vermittlung der »Botschaft« bedienen können? Jörg Rothermundt hat schon 1984 in einer wegweisenden Untersuchung zu »theologischen Grundlinien einer empirischen Homiletik« (so der Untertitel) Vorbehalte gegen die Rhetorik in Bezug auf die Predigt zu überwinden gesucht und ist dabei zu Einsichten gelangt, die sich mühelos auf das Übersetzungsproblem anwenden lassen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich - wie in unserem Fall - um das Problem der Bibelübersetzung handelt, also eines Textes mit dem Anspruch religiöser Verbindlichkeit. Das Werk trägt den Titel »Der Heilige Geist und die Rhetorik« und zeigt, dass man beide Größen nicht gegeneinander ausspielen darf, sondern theologisch aufeinander beziehen muss. Das Wirken und die Erfahrung des Heiligen Geistes in der Weitergabe des Evangeliums (sei es in der Verkündigung, sei es in der Übersetzungstätigkeit) ist der Ort, an dem die Sorgfalt des Exegeten ebenso wie das Bemühen um »Verständlichkeit« gefragt ist. Denn es gilt (in grundsätzlicher Übereinstimmung mit R. Bohren, der in diesem Zusammenhang zitiert wird): »Wo wir […] vom Geist ans Werk gesetzt werden und uns also selbst ans Werk setzen, kommen Methoden ins Spiel, wird Technik angewandt, Kunst geübt, Wissenschaft gebraucht.« 15 »Kunst« ist hier wohl im Sinne von »Kunstfertigkeit« gemeint, man darf hier aber durchaus auch an die kreativen Dimensionen des Predigens und Übersetzens denken. - Warum ist das so? Weil es in alledem um das Bemühen um die Hörer geht, um die Liebe zu den Empfängern der Botschaft - und die Liebe ist ein Werk des Heiligen Geistes. Der Prediger bzw. die Übersetzerin »kann sich gar nicht genug um den Hörer kümmern. Bei der Liebe gibt es kein Zuviel […] Wer meint, wenn er zu sehr auf den Hörer eingehe, verrate er das Evangelium, stellt alles auf den Kopf. Nur die Liebe wirkt den Glauben.« 16 Damit ist aber auch sichergestellt, dass es nicht um ein Überreden oder Verständlich-Machen um jeden Preis und schon gar nicht um Manipulation geht. Zugleich ist damit begründet, warum es auch theologisch legitim ist, nach Kriterien für eine gute Bibelübersetzung zu fragen und nicht einfach alles dem unverfügbaren Wirken des Heiligen Geistes zu überlassen (das im Übrigen unverfügbar bleibt, weil auch die beste Predigt und die beste Übersetzung das Verstehen nicht garantieren und schon gar nicht den Glauben erzwingen können). 4. Übersetzungstypen Idealtypisch lassen sich zwei Hauptgruppen von Übersetzungen unterscheiden: die produktions- und die rezeptionsorientierte. Die produktionsorientierte wird auch »dokumentarische Übersetzung« genannt, ihr steht die »instrumentelle Übersetzung« gegenüber. 17 Sie unterscheiden sich durch Art und Ausmaß ihrer jeweiligen Orientierung an dem zu übersetzenden Text (und seinem Autor), wobei die Übergänge aber durchaus fließend sind und auch in ein und derselben Überset- »[D]ie Übersetzung eines biblischen Psalms [kann] ihre eigene rhetorische Wirkung und ihren eigenen ›Reiz‹ entfalten, und warum soll der Heilige Geist sich nicht dieser Rhetorik bei der Vermittlung der ›Botschaft‹ bedienen können? « »Der Prediger bzw. die Übersetzerin ›kann sich gar nicht genug um den Hörer kümmern‹.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 21 Zum Thema 22 ZNT 26 (13. Jg. 2010) zung durchaus Schwankungen in der Orientierung vorliegen können. Die Idealtypen gliedern sich in verschiedene Unterarten: Zum dokumentarischen Übersetzungstyp gehören die Wort-für-Wort-Übersetzung (Interlinearversion), die wörtliche Übersetzung (mit ihrem speziellen Merkmal der begriffskonkordanten Wiedergabe) und die philologische Übersetzung. Zum instrumentellen Übersetzungstyp zähle ich die kommunikative und die bearbeitende Übersetzung - wobei erstere Bezeichnung auch gleichbedeutend mit »instrumentelle« und diese wiederum gleichbedeutend mit »funktionale« Übersetzung gebraucht werden kann. Der Schwerpunkt ihrer Orientierung liegt bei den Rezipienten (und ihrer Welt); es ist aber oben schon deutlich geworden, dass auch eine funktionale wie die bearbeitende (auch: paraphrasierende, adaptierende oder transformierende) Übersetzung nicht ohne eine gewisse Mindestorientierung am Ausgangstext auskommen kann. Andererseits sollte man Bezeichnungen wie »paraphrasierend« oder »adaptierend« für eine instrumentelle Übersetzung auch nur mit Vorsicht verwenden, weil keine der genannten Formen (außer der Wort-für-Wort-Übersetzung) auf ein Mindestmaß an Paraphrase und Adaption (Umschreibungen, Anpassungen an die Strukturen der Zielsprache) verzichten kann. 18 Aus dem Gesagten ergibt sich ein doppelter Gesichtspunkt: 1) Die Fülle der faktisch vorhandenen Übersetzungstypen bzw. -arten legt von sich aus nahe, hier nicht nach »besser« oder »schlechter« zu fragen. Die Frage kann nicht lauten, ob eine Übersetzungsform »gut« oder »schlecht« ist, sondern nur: gut oder schlecht »für wen«? Wenn wir so fragen, dehnen wir den »funktionalen« Ansatz von seiner Verwendung für einen bestimmten Übersetzungstyp (rezipientenorientiert, instrumentell) auf die Betrachtung von Übersetzungen insgesamt aus. So kann z. B. eine Interlinearversion ein hocheffizientes »Instrument« für einen Nutzer/ eine Nutzerin sein, der oder die sich bei mangelnden altsprachlichen Kenntnissen trotzdem mit dem biblischen Urtext beschäftigen will. Dass dieser Text für eine Kinderbibel nicht geeignet ist, liegt ebenso auf der Hand. Wenn wir also von funktionalen, instrumentellen, speziell: kommunikativen Übersetzungen im engeren Sinn sprechen, so denken wir dabei an einen bestimmten Rezipiententyp - nämlich denjenigen eines erwachsenen, durchschnittlich gebildeten Lesers, der grundsätzlich Interesse an der Bibel hat und dem der Zugang zu Sinn und Text nicht unnötig schwer oder der ihm sogar leicht gemacht werden soll. Gegen diese »kommunikative« Zielsetzung ist nach unseren obigen Überlegungen nichts einzuwenden. 2) Auf der anderen Seite müssen auch Sinn und Text der Bibel in ihrem Eigenwert respektiert werden und dürfen nicht vorschnell dem Streben nach Verständlichkeit geopfert werden. Hieraus ergibt sich ein erstes allgemeinstes Kriterium: Eine Bibelübersetzung ist gut, wenn sie einen gelungenen Ausgleich zwischen den Bedürfnissen der Nutzerinnen und Leser einerseits und dem Inhalt und Sinn des Textes andererseits herstellt. Orientiert man sich dabei an den Bedürfnissen der Mehrheit der heutigen mutmaßlichen Nutzerinnen und Leser, so wird man der Rezeptionsorientierung den Vorzug geben müssen, ohne die Berechtigung und Notwendigkeit des anderen Übersetzungstyps grundsätzlich zu bestreiten. 5. Übersetzungsfaktoren Im Folgenden bespreche ich die verschiedenen Gesichtspunkte und Faktoren, die bei einer Übersetzung eine Rolle spielen und für die konkrete Beurteilung im Einzelnen maßgeblich sind. In Verbindung mit den obigen Überlegungen lassen sich so weitere Kriterien einer guten Bibelübersetzung gewinnen. 5.1. Der Ausgangstext, sein Autor und dessen Welt Bei der Behandlung des Brückenbildes ist schon deutlich geworden, dass es sich beim Übersetzen eben nicht nur um das Über-Setzen eines Textes von einer Sprache in die andere, sondern um die Herstellung einer Verbindung zwischen zwei Welten, oder besser: Kulturen, handelt. Der Autor eines Textes ist immer Teil seiner eigenen Lebenswelt, Kultur und Sprachgemeinschaft und unauflöslich mit ihr verbunden und durch sie geprägt. Durch die Übersetzung wird also auch eine Brücke zwischen ihm und den Menschen einer anderen Kultur und Sprachgemeinschaft, die diese Übersetzung lesen und benutzen, hergestellt. Genauer müsste man sagen: Es ist Aufgabe einer guten Übersetzung, diese Brücke herzustellen. Eine Garantie dafür, dass es gelingt, gibt es nicht; dafür sind zu viele Unwägbarkeiten im Spiel. Bei dieser Aufgabenbestimmung ist zweierlei vorausgesetzt: »Die Frage kann nicht lauten, ob eine Übersetzungsform ›gut‹ oder ›schlecht‹ ist, sondern nur: gut oder schlecht ›für wen‹? « 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 22 Günter Röhser Kriterien einer guten Bibelübersetzung ZNT 26 (13. Jg. 2010) 23 1) Zumindest bei Texten der Vergangenheit ist ein angemessenes Verständnis nicht möglich, ohne die historischen Abfassungsverhältnisse, und d.h. auch und vor allem den Autor und seine Intention in den Blick zu nehmen. Es genügt nicht, Oberflächenoder/ und Tiefenstrukturen (so man an deren Existenz glaubt) zu analysieren, sondern es muss eine Verortung in der konkreten historischen Entstehungssituation versucht werden. 2) Der Weltbezug des Menschen ist durch Sprache vermittelt. Durch sie erschließt sich ihm die ihn umgebende Wirklichkeit, wie er umgekehrt auf diese einzuwirken vermag. Das heißt aber: Über die Sprache ist die jeweilige Weltauffassung von Textproduzent und Übersetzungsrezipient unhintergehbar in die jeweiligen Texte (Ausgangs- und Zieltext) eingezeichnet. Wieweit sie im Einzelfall miteinander kompatibel oder füreinander anschlussfähig sind, muss erst im Zuge des Übersetzungsprozesses geklärt und umgesetzt werden. Auf jeden Fall muss man die jeweiligen Ausgangs- und Zieltexte im Horizont ihrer jeweiligen Ausgangs- und Zielkultur betrachten, wenn Übersetzungen gelingen sollen. Nun haben gerade der Forschungszweig der neueren Kulturanthropologie und seine Rezeption in der Bibelwissenschaft noch einmal verstärkt deutlich gemacht, wie tief die Gräben zwischen antik-biblischer und heutiger (westlicher) Welt sein können - die Differenzen betreffen eben nicht nur Ideen (z.B. religiöse und theologische Gedanken), sondern auch und gerade grundlegende kulturell bedingte Weisen der Wahrnehmung, von der Erfahrung der sozialen Realität bis hin zu psychophysischen Dispositionen. Zu ersterer schrieb Edward Sapir schon 1956: »No two languages are ever sufficiently similar to be considered as representing the same social reality. The worlds in which different societies live are distinct worlds, not merely the same world with different labels attached.« 18 Dabei gibt es natürlich verschiedene Grade der Fremd- und Unterschiedenheit: 1) Bestimmte Sachverhalte oder Aussagen sind so abständig, dass sie durch die Übersetzung alleine nicht ausreichend verständlich gemacht werden können (es sei denn, man will gerade diese Erfahrung vermitteln). Dann muss in irgendeiner Form eine Erklärung hinzugefügt werden (Anmerkung, Glossar, Einleitung). 2) Andere sind nur missverständlich oder schwer verständlich und können durch die Übersetzung einem angemessenen Verständnis nahe gebracht oder erschlossen werden. Ein klassisches Beispiel für Letzteres sind die verschiedenen Verständnisse von »Gerechtigkeit Gottes« bzw. von »Gerechtigkeit« überhaupt. Man kann sich das Problem mit Hilfe der sog. Prototypensemantik von Eleanor Rosch verdeutlichen. 20 Demnach sind die semantischen Eigenschaften eines Wortes nicht in ihm selbst angelegt, sondern das Ergebnis psychischer und kultureller Prozesse und Erfahrungen, die zu einem »prototypischen Kern« eines Wortes führen, welcher seine kulturspezifische Grundbedeutung ausmacht. Während also im hebräischen und griechischen Sprachraum (zedaqah, dikaiosynē) ein Verständnis von »Beziehungsgerechtigkeit« und damit eine positive (heilvolle) Konnotation vorherrschend ist, ist die lateinische »iustitia« im Sinne von »richterlicher Gerechtigkeit« eher ambivalent (weil auch strafend) und an der Einhaltung abstrakter Normen orientiert. Es ist also kaum möglich, dieses Wort (im Zusammenhang mit Gott) ohne nähere Erläuterung oder Umschreibung zu gebrauchen. Man kann sich aber auch in diesem Fall gegen die unmittelbare Verständlichmachung entscheiden, indem man a) den missverständlichen Begriff (aus Gründen der Begriffskonkordanz und Wiedererkennbarkeit) beibehält, oder b) ihn durch einen verfremdeten Begriff ersetzt. Letzteren Weg haben Berger/ Nord gewählt, wenn sie »Gerechtigkeit« mit »Gerechtheit« wiedergeben. 21 In beiden Fällen muss der Begriff dem Leser/ der Leserin erläutert werden (in einer Fußnote, einem Glossar, durch einen Kommentar oder durch eine Erläuterung im Text 22 ). Jedenfalls darf man sich über die Erfahrung der Fremdheit und Differenz nicht einfach hinwegsetzen (etwa durch eine eingängige und simplifizierende Übersetzung), sondern muss versuchen, diese festzuhalten und angemessen wiederzugeben. Als Kriterium ergibt sich: Eine Bibelübersetzung ist gut, wenn sie die Fremdheit des Ausgangstextes wenigstens prinzipiell bewahrt - anders gesagt: wenn sie den semantischen Kern und Sinngehalt der Wörter und Sätze so weit wie möglich erhält. Dies ist nur annäherungsweise möglich, weil der exakte Sinngehalt letztlich an die sprachliche Ausdrucksgestalt des Ausgangstextes gebunden ist. Annäherungen sind aber - wie wir gesehen haben und wie die Erfahrung lehrt - »bis auf Sichtweite« möglich und müssen immer von neuem unternommen werden. Sachlich fallen sie mit der weitergehenden Erforschung - gerade auch der kulturanthropologischen - der Bibel zusammen und sind Ergebnis einer gründlichen Exegese der Texte in allen ihren Dimensionen. »Eine Bibelübersetzung ist gut, wenn sie die Fremdheit des Ausgangstextes wenigstens prinzipiell bewahrt [...]« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 23 Zum Thema 24 ZNT 26 (13. Jg. 2010) Die Übersetzung ist also nicht Voraussetzung, sondern Ziel aller exegetischen Arbeit. 23 Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf die auf Lawrence Venuti zurückgehende Unterscheidung von »foreignizing« und »domesticating translations«. Venuti geht es um eine verfremdende Übersetzung fremdkultureller Texte, um die Vorherrschaft des Englischen und der westlichen Kultur in einem kulturellen Globalisierungsprozess zu brechen - also ein deutlich ideologiekritisches, politisches Anliegen. 24 Gleichwohl oder gerade deswegen deckt sich sein Ansatz mit demjenigen der kulturanthropologischen Exegese, wenn es um die Wahrnehmung fremder kultureller Werte und Texte und deren Schutz vor Vereinnahmung für eigene Interessen und Ideen der Rezipienten bzw. der Übersetzenden geht. Mit Recht beruft er sich auf Schleiermacher, wenn er den Leser in Richtung auf den Autor bewegen möchte und nicht umgekehrt (siehe Anm. 9). Er droht jedoch in die gleiche Falle zu laufen wie die offenbarungstheologischen Verteidiger der »wörtlichen« Bibelübersetzung: Wenn es darum geht, den Leser mit einer fremdartigen Leseerfahrung zu konfrontieren nur um der Andersheit des Anderen willen (sei es eine fremde Kultur, sei es die biblische Offenbarung), scheitert genau das, was doch eigentlich beabsichtigt ist: die Vermittlung neuer und bislang unbekannter Wahrnehmungsperspektiven. Was nicht wenigstens ansatzweise verstanden wird, kann auch nicht respektiert oder wertgeschätzt werden. Deshalb sind »foreignizing« und »domesticating translation« nicht als sich ausschließende Alternativen anzusehen, und zwar auch nicht innerhalb ein und desselben Zieltextes. Als Sonderproblem bezüglich der Welt des Autors soll kurz die Frage angesprochen werden, inwieweit hinter biblischen Texten mündliche Rede hörbar wird bzw. sie für solche bestimmt sind. Die Suggestion mündlicher Rede in der Übersetzung oder beim Vortrag ist nämlich nur so weit gerechtfertigt, wie sie als Charakteristik auch hinter dem schriftlichen Ausgangstext erkennbar wird. Dies ist zweifellos bei vielen biblischen Texten der Fall, aber auch Gegenstand exegetischer Diskussion. Bekanntlich gibt es eine breite Debatte über die gottesdienstliche Verlesung oder gar Inszenierung der Evangelien. 25 Paulus hat seine Briefe mündlich diktiert, wenn auch teilweise auf schriftlicher Basis; in der Gemeindeversammlung wurden sie vorgelesen usw. Der Übersetzer Ernst Wendland hat sich in seinen Werken ausführlich mit dieser Frage befasst - bis hin zur akustischen Gestaltung der Übersetzung. 26 Schließlich kann man unter diesem Übersetzungsfaktor noch ein weiteres Kriterium anführen: Eine Bibelübersetzung ist gut, wenn sie sich als Übersetzung zu erkennen gibt - sei es durch ihre Aufmerksamkeit erregende Sprachform (was etwas anderes ist als Antiquiertheit oder Unbeholfenheit! ), sei es durch ihre Aufmachung oder einen begleitenden Hinweis. Niemals darf sie das Original verdrängen oder ersetzen wollen (wenngleich es faktisch geschieht und gelungene Übersetzungen sich nicht dagegen wehren können) - schon um die Angemessenheit der Übersetzung jederzeit kontrollieren und sich von neuem darüber verständigen zu können. Die Rückfrage nach dem Urtext ist theologisch notwendig - heilsnotwendig ist sie jedoch nicht. Heilsnotwendig ist vielmehr das rechte Verstehen, ggf. auch des Zieltextes (vgl. Apg 2,6.8-11: ein jeder in seiner eigenen Sprache) - womit wir beim nächsten Faktor wären. 5.2. Der Zieltext, sein Leser und dessen Welt Spiegelbildlich gilt für den Zieltext, seinen Leser und dessen Welt dasselbe, was bereits für die Seite des Ausgangstextes gesagt worden ist. Das entscheidende Kriterium ist hier aber nicht »Sinntreue«, sondern »Verständlichkeit«. Dabei gilt: Je mehr Bibelübersetzungen auf (leichte) Verständlichkeit setzen, desto mehr nähern sie sich der gesprochenen Sprache (mündlichen Rede) an. Dies ist nicht nur sachlich nahe liegend, sondern auch ein Erbe Martin Luthers (Sendbrief vom Dolmetschen): Man muss den Leuten - und zwar den gewöhnlichen - »auf das Maul sehen, wie sie reden und darnach dolmetschen« (was nicht notwendigerweise Alltagsjargon bedeutet). 27 Als Kriterium ergibt sich: Eine Bibelübersetzung ist gut, wenn sie für die Adressaten wenigstens prinzipiell verständlich ist - anders gesagt: wenn sie den semantischen Kern und Sinngehalt der Wörter und Sätze so weit wie nötig den Verstehensmöglichkeiten der Adressaten anpasst. Dies ist oft nur annäherungsweise möglich, weil es seine Grenze am Sinngehalt des Ausgangstextes findet und weil der Übersetzer in der Regel nur die typischen, aber nicht die individuellen Verstehensmöglichkeiten seiner Adressaten kennt. Aber auch um die ersteren muss er sich bemühen, wie er sich um das Verstehen des Ausgangstextes bemüht. Es bedeutet jedoch nicht, einen Sinn zu »erfinden«, wo keiner vorhanden ist (z.B. verderbter Text), oder den Inhalt des Übersetzten annehmbarer, zustimmungsfähiger, zeitgemäßer zu machen, als es von der Sache her geboten ist. Die Überset- »Eine Bibelübersetzung ist gut, wenn sie sich als Übersetzung zu erkennen gibt [...]« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 24 Günter Röhser Kriterien einer guten Bibelübersetzung ZNT 26 (13. Jg. 2010) 25 zung kann nur als Ziel haben, dem Leser verständlich zu machen, was er in seiner Freiheit annehmen oder ablehnen kann. Eher könnte es bedeuten, dass die Zielsprache selbst in ihren Ausdrucksmöglichkeiten bereichert wird - ohne wunderlich oder aufgesetzt zu wirken (das klassische Erfolgsmodell ist die Luther-Bibel). Es kommt jedoch ein Weiteres auf der Rezipientenseite hinzu: Die Rezeptionsforschung hat erkannt, dass der konkrete Sinn eines Textes nicht einfach schon in ihm selber liegt, sondern sich erst aus dem Zusammenwirken von Textstrukturen und Rezipient/ in aufbaut. Anders gesagt: Ein Leser besitzt die Freiheit, einen Text anders zu verstehen als seine Mitleserin - und befindet sich trotzdem in Übereinstimmung mit dem Sinnkern des Textes. Dies ist natürlich nur innerhalb bestimmter Grenzen möglich (die durch die Textstrukturen gezogen werden) und ist kein Plädoyer für Beliebigkeit - bei Gleichnis- oder anderen metaphorischen Texten ist diese mögliche Rezeptionsvielfalt aber offenkundig. Auf Bibelübersetzungen angewendet, ergibt sich daraus als Kriterium: Eine Bibelübersetzung ist gut, wenn sie dem Nutzer die Freiheit lässt, die auch der Ausgangstext gewährte - nämlich anders zu verstehen als die Mitnutzerin. Semantische Eindeutigkeit kann nicht in jedem Fall das Ziel einer Übersetzung sein. Zumal wenn der Ausgangstext mehrere Deutungen zulässt, muss die Übersetzung einen Weg finden, dieses zu respektieren. Man könnte auch sagen: Darin äußert sich der Respekt der Übersetzung gegenüber der Fremdheit - nicht des Textes, sondern des Lesers, dessen individuelle Bedürfnisse und Rezeptionsstrategien angesichts des Textes der Übersetzer nicht kennen kann. Noch einmal: Hier wird nicht der Beliebigkeit das Wort geredet, wohl aber der Legitimität verschiedener vom selben Text und Sinnkern gesteuerter Rezeptionen. Radegundis Stolze spricht vom »Unbestimmtheitsaspekt« zu übersetzender Bibeltexte: »Die hebräische und die griechische Sprache enthalten viele grammatisch wie semantisch unbestimmte Ausdrücke, und Luther, wie auch die neue Zürcher Bibel, versuchen dies nachzuzeichnen. Semantische Unbestimmtheitsstellen wirken wie ›Unruheherde‹, sie begrenzen die Eindeutigkeit, geben dem Text seine Beweglichkeit zurück, geben ihm Entfaltungsoffenheit in die Zeit- und Raumbedingtheit des kulturgebundenen Verstehens hinein, und nur so kann dessen Wirkungsgeschichte weitergehen.« 28 Eine gute Bibelübersetzung muss dem Fortgang dieses Prozesses dienen, darf ihm zumindest nicht im Wege stehen. Ein gelungenes Beispiel für Deutungsoffenheit ist die Wiedergabe von Gen 1,1 in der »Bibel in gerechter Sprache« (hg. von U. Bail u. a., Gütersloh 2006, 31): nicht nur in verschiedenen Formulierungen (Bei Beginn, Als Anfang, Durch einen Anfang...), sondern auch in einer ansprechenden graphischen Gestaltung (mehrzeilig, Fettdruck, symmetrische Anordnung). Als negatives Beispiel könnte man auf die Festlegung in Mk 11,17 derselben Bibelausgabe (1918) verweisen, Jesu Jüngerinnen hätten am letzten Pessachmahl teilgenommen (der griechische Text lässt es offen; an der Parallelstelle Mt 26,20f. ist sogar strikt gegen den griechischen Text übersetzt! ). 5.3. Der Übersetzer Schließlich ist auch der Übersetzer/ die Übersetzerin als entscheidender Faktor beim Übersetzen in den Blick zu nehmen. Wie bereits deutlich wurde, ist er kein neutraler Vermittler zwischen den Welten und Kulturen, sondern gehört primär seiner eigenen Welt und Kultur an. Damit ist er auch abhängig und geprägt von bereits vorhandenen, zum Teil äußerst einflussreichen Bibelübersetzungen. Das bedingt, dass er sich das zu vermittelnde Verständnis der anderen, der vergangenen (Text-) Welt erst erarbeiten muss. Seine Professionalität besteht also nicht nur darin, dass er die fremde Sprache beherrscht, sondern geht weit darüber hinaus und erstreckt sich im Falle der Bibel auch auf historischexegetische, kulturanthropologische und ggf. weitere Kompetenzen, damit er sich ein möglichst gut begründetes Urteil über die Textaussage im Blick auf seine potentiellen Leserinnen und Leser bilden kann. Von daher könnte man abschließend statt nach Kriterien einer guten Bibelübersetzung besser nach den Eigenschaften eines guten Bibelübersetzers fragen und darin die genannten Kriterien mit umfassen: Ein guter Bibelübersetzer besitzt die Professionalität, sowohl die Fremdheit und Unvereinnehmbarkeit des Ausgangstextes als auch diejenige der Rezipient/ innen des Zieltextes zu respektieren und gleichwohl an deren Verbindung arbeiten zu können - in der Erwartung, selbst dabei Neues zu lernen bzw. lernen zu müssen. So kann der »Brückenschlag« gelingen zwischen Produktionsorientierung und Rezeptionsorientierung, zwischen der vergangenen und der gegenwärtigen Welt, und eine Begegnung zwischen historischen Autorinnen bzw. Autoren und aktuell Lesenden stattfinden, die dann auch dem besonderen Charakter des übersetzten Buches (»Heilige Schrift«) entspricht. Letzteres ist aber der Verfügbarkeit »Eine Bibelübersetzung ist gut, wenn sie für die Adressaten wenigstens prinzipiell verständlich ist [...]« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 25 Zum Thema 26 ZNT 26 (13. Jg. 2010) durch die Übersetzenden definitiv entzogen und kann deshalb auch kein Kriterium einer guten Bibelübersetzung sein. Eher könnte man zum Abschluss noch das Bewusstsein der Übersetzenden von ihrer eigenen Begrenztheit und Befangenheit als Qualitätsmerkmal anführen sowie die Offenlegung ihrer Ziele samt ihrer hermeneutischen und übersetzungstheoretischen Grundlagen. »Bibel in gerechter Sprache« und Berger/ Nord sind in dieser Beziehung vorbildlich. Die umfangreichen Einführungen zu beiden Werken erheben keinen Alleinvertretungsanspruch; auch legen sie ausführlich und deutlich die Grundlagen und Ziele des jeweiligen Projektes dar und ermöglichen so die kritische Auseinandersetzung. Anmerkungen 1 J. Grimm, Über das pedantische in der deutschen sprache (1847), in: H.J. Störig (Hg.), Das Problem des Übersetzens (WdF 8), Darmstadt 1973, 108-135: 111. 2 Vgl. den gleichnamigen Titel eines Lehrbuchs für Dolmetscherinnen und Übersetzerinnen: M. Kadric/ K. Kaindl/ M. Kaiser-Cooke, Translatorische Methodik, Wien 3 2009. 3 E.A. Nida/ C.R. Taber, Theorie und Praxis des Übersetzens - unter besonderer Berücksichtigung der Bibelübersetzung, o.O. 1969, 23.35.37f (mit Anm. 1).42; zum praktischen Vorgehen ebd., 111f. 4 Zu diesen Begriffen und zur Entwicklung von Nidas Theorie siehe: S. Pattemore, Framing Nida. The Relevance of Translation Theory in the United Bible Societies, in: P.A. Noss (Hg.), A History of Bible Translation, Rom 2007, 217-263: 224ff., sowie P. Ellingworth, Translation Techniques in Modern Bible Translations, ebd. 307-334: 326ff. 5 Nida/ Taber, Theorie und Praxis, 32. 6 Vgl. Kadric/ Kaindl/ Kaiser-Cooke, Translatorische Methodik, 60. 7 Vgl. Kadric/ Kaindl/ Kaiser-Cooke, Translatorische Methodik, 61. 8 Vgl. zum Thema Kinderbibeln den Beitrag von K. Dronsch, Am Anfang war die Übersetzung, ZNT 23 (2009), 62-71, die von »einem letztlich technologischen Modell von Enkodierung und Dekodierung von Botschaften« als dem abzulehnenden, »sprachtheoretisch unhaltbar(en)« Übersetzungsverständnis spricht (69). 9 Vgl. Schleiermachers Doppelbild von denjenigen Übersetzungen bzw. Übersetzern, die den Schriftsteller möglichst in Ruhe lassen und den Leser ihm entgegen bewegen, und denjenigen, die den Leser möglichst in Ruhe lassen und den Schriftsteller ihm entgegen bewegen: F. Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens (1813), in: Störig, Problem, 38-70: 47. - Auch Luther plädiert in der Sondervorrede des »Deutschen Psalters« (»Summarien über die Psalmen und Ursachen des Dolmetschens«) von 1531 dafür, gelegentlich »der hebräischen Sprache Raum (zu) lassen, wo sie es besser macht, denn unser Deutsch tun kann« (zit. nach F. Rosenzweig, Die Schrift und Luther, in: Störig, Problem, 194-222: 197) - d.h. also sich einmal in die dem üblichen Verständnis und der üblichen Praxis entgegengesetzte Richtung zu bewegen. 10 H. Hempelmann, Wortgetreu oder leserfreundlich? Grundfragen der Bibelübersetzung, Wuppertal 2005, 78. 11 So liegt auch der Skopus von Rosenzweigs Überlegungen nicht auf der theoretischen Unmöglichkeit, sondern auf der praktischen Notwendigkeit eines umfassend verstandenen - und über die »blendende Antithese« Schleiermachers (s.o. Anm. 9) hinausführenden - »Übersetzens« durch jegliches Sprechen - welches mit der Bibel begann: F. Rosenzweig, Die Schrift und Luther (1926), in: Störig, Problem, 194- 222: 194f.221. 12 Nida/ Taber, Theorie und Praxis, 37f. 13 Vgl. dazu K. Berger, Formen und Gattungen im Neuen Testament, Tübingen/ Basel 2005, 21ff., bes.: 26-28. 14 Vgl. Berger, Formen und Gattungen, 27: die Form als »Ausdrucksgestalt« des Inhalts, »und zwar bei jedem sprachlichen Produkt.« 15 J. Rothermundt, Der Heilige Geist und die Rhetorik. Theologische Grundlinien einer empirischen Homiletik, Gütersloh 1984, 138. 16 Rothermundt, Heilige Geist, 123. 17 Zu dieser und den folgenden Unterscheidungen siehe: Kadric/ Kaindl/ Kaiser-Cooke, Translatorische Methodik, 112ff. (im Anschluss an C. Nord), sowie R. Kassühlke, Eine Bibel - viele Übersetzungen. Ein Überblick mit Hilfen zur Beurteilung, Wuppertal 1998, 28ff. 18 Vgl. Kassühlke, Bibel, 28. 19 E. Sapir, Culture, Language and Personality, Berkeley 1956, 69. 20 E. Rosch, Natural Categories, Cognitive Psychology 4 (1973), 328-350. 21 K. Berger/ C. Nord, Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, Frankfurt/ Leipzig 6 2003, 151 Anm. 6 (»[...] um modernes Verständnis von Gerechtigkeit zu vermeiden«). 22 Berger/ Nord, Das Neue Testament (Übers. Röm 1,17): »[...] daß ein Mensch für Gott als gerecht annehmbar wird, wenn er dem Evangelium glaubt. So schafft also der Glaube diese Gerechtheit.« Vgl. in V.18: »Ungerechtheit«. 23 Vgl. H.G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960, 362 (unter anderen philosophischen Prämissen): »Jede Übersetzung ist […] schon Auslegung, ja man kann sagen, sie ist immer die Vollendung der Auslegung, die der Übersetzer dem ihm vorgegebenen Wort hat angedeihen lassen.« 24 »Foreignizing translation in English can be a form of resistance against ethnocentricism and racism, cultural narcissism and imperialism, in the interests of democratic geopolitical relations« (L. Venuti, The Translator’s Invisibility. A History of Translation, London/ New York 1995, 20). Vgl. Ders., The Scandals of Translation. Towards an Ethics of Difference, London/ New York 1998. 25 Vgl. dazu W.T. Shiner, Proclaiming the Gospel. First-Century Performance of Mark, New York 2003, und zu heutigen Praxiserfahrungen L. Schenke, Szenische und liturgische Lesung der Evangelien als Gesamttext, BiKi 62 (2007), 175- 179. Auch die Übersetzungen von Walter Jens (Die vier Evangelien, Stuttgart 1998; Der Römerbrief, Stuttgart 2000) könnten besonders für den öffentlichen Vortrag größerer Zusammenhänge geeignet sein. 26 Siehe etwa E.R. Wendland, Finding and Translating the Oral-Aural Elements in Written Language. The Case of the New Testament Epistles, Lewiston u.a. 2008. 27 Zitiert nach Störig, Problem, 21. Vgl. in der Einleitung zur neuen Zürcher Bibel (Zürich 2 2008): »Die neue Zürcher Bibel will eine zeitgemässe Übersetzung sein; das heisst allerdings nicht, dass sie sich unmittelbar an der heutigen Alltagssprache orientiert.« 28 R. Stolze, Die Sprachform nachreformatorischer Bibelübersetzungen, in: U. Gerber/ R. Hoberg (Hgg.), Sprache und Religion, Darmstadt 2009, 117-164: 161. 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 26