eJournals Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa) 4/1

Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa)
2366-0597
2941-0789
Francke Verlag Tübingen
2019
41 Fischer Heilmann Wagner Köhlmoos

„Was wäre, wenn…“

2019
Annett Giercke-Ungermann
Christiane Maria Koch
Forum Exegese und Hochschuldidaktik Verstehen von Anfang an (VvAa) Jahrgang 4 -2019, Heft 1 Lehr-/ Lernbeispiele „Was wäre, wenn…“ Vernetztes Denken in der Studieneingangsphase: Eine Lehr-und Lernkonzeption im Rahmen der Vorlesung zur Einleitung in das Alte Testament Annett Giercke-Ungermann / Christiane Maria Koch „Was wäre, wenn es den Auszug aus Ägypten und die kriegerische Landnahme nicht gegeben hätte, wenn David und Salomo keine historischen Personen wären, wenn … ? ? “ Mit solchen Fragen konfrontieren wir die Studierenden in der Einleitungsvorlesung zum Alten Testament bereits in der ersten Sitzung. Was zunächst für Verwunderung und zum Teil große Verunsicherung auf Seiten der Studierenden sorgt, führt schon bald zur häufig überraschenden Erkenntnis, dass sich die biblischen Darstellungen eben nicht als Texte einer Geschichtsschreibung für das alte Israel im klassischen Sinn verstehen lassen und die Schriften diese Geschichte auch nicht 1: 1 abbilden wollen. Auf ’s Neue ratlos werden die Studierenden, fragt man sie weiter, warum die alttestamentlichen Schriften von Ereignissen und Personen berichten, die sich doch so - wie in den biblischen Texten dargestellt - nicht ereignet haben bzw. nicht existierten. 1 1 Diese Ratlosigkeit bzw. Unsicherheit mag vielleicht auch - wenn nicht im Laufe des Studiums beseitigt - ein Grund dafür sein, warum man es später in der pastoralen Praxis zu vermeiden versucht, das Alte Testament mit seinen Darstellungen aktiv einzubringen, denn zu groß erscheint die Gefahr, keine Antworten geben zu können und eigene Unsicherheiten offenzulegen. Vgl. Feininger/ Weißmann, Alte Testament. 90 Annett Giercke-Ungermann / Christiane Maria Koch Zu verstehen und zu vermitteln, dass eine solche Form der literarischen Darstellung und der Konstruktion von Geschichte einen wesentlichen Beitrag zur Identitätsbildung Israels leistet(e), setzt auf Seiten der Studierenden ein differenziertes und vernetztes Denken voraus. 2 Ein Denken, welches sich im Laufe des exegetischen Studiums verfestigen muss, um dann in der pastoralen Praxis professionell mit biblischen Texten agieren zu können. Genau bei dieser Kompetenzanforderung setzt das hier vorgestellte Lehr-/ Lernkonzept an, indem es bereits in der Studieneingangsphase versucht, die Studierenden mit der Notwendigkeit eines vernetzten Denkens zu konfrontieren und dies an einem konkreten Beispiel einzuüben. Rahmenbedingungen und Leitziele der Lehrveranstaltung Die Veranstaltung Einleitung in das Alte Testament ist als Pflichtveranstaltung an der Katholischen Hochschule NRW im Studiengang BA Religionspädagogik als Vorlesung im Umfang von 2 SWS konzipiert. Die Veranstaltung ist Bestandteil des Moduls 2 zusammen mit der Vorlesung Einleitung in das Neue Testament sowie dem Seminar Die Bibel verstehen und interpretieren - Methoden der Schriftauslegung . Im Durchschnitt besuchen 40 Studierende die Veranstaltung. Die Studierenden verfügen zu diesem Zeitpunkt zumeist über geringe Kenntnisse exegetischer, bibel-theologischer sowie geschichtlicher Zugänge und Inhalte; exegetisches Fachvokabular und exegetische Denkschemata sind zumeist noch nicht bekannt und eingeübt. 3 Ein christliches Sozialisationsniveau ist hingegen recht stark ausgeprägt, haben sich doch die Studierenden ganz bewusst für diesen Studiengang entschieden, um später pastorale Aufgaben in Gemeinden, Pfarrverbänden und gemeindeübergreifenden Handlungsfeldern zu übernehmen. Ein aktiver Umgang mit biblischen Texten ist der Mehrzahl der Studierenden bekannt, wenngleich es sich dabei um einen eher spirituell-intuitiven Zugang handelt. 4 Die Beobachtung, dass Fragen und Aspekte zu Identi- 2 Der Begriff Vernetztes Denken ist vor allem von Frederic Vester geprägt worden. Siehe dazu Vester, Kunst, sowie Vester, Leitmotiv. Vernetztes Denken bedeutet hier die Abkehr von einem einfachen Ursache-Wirkungs-Denken - also einem linearen Denken - hin zu einem Erkennen und Erschließen komplexer Zusammenhänge, Wirkbeziehungen und Rückwirkungen auf Ursachen. Nach Dietrich Dörner handelt es sich hierbei nicht um eine „isolierte Fähigkeit“, sondern um „ein Bündel von Fähigkeiten und im Wesentlichen ist es die Fähigkeit, sein ganz normales Denken, seinen gesunden Menschenverstand auf die Umstände der jeweiligen Situation einzustellen“ (Vester, Logik, 308 f.). 3 So auch die Beobachtung bei Winkler, Exegetische Kompetenzen, 55. 4 So z. B. im Rahmen von Jugendgruppen und Bibelkreisen oder auch in ihren Rollen als Katechetinnen- und Katecheten. Nun hat Huebenthal, Kompetenz, 65-82, ein Modell einer exegetischen Kompetenzentwicklung vorgestellt. Demnach würden die Studierenden sich „Was wäre, wenn…“ 91 tätsbildungsprozessen gerade für die heutige, vom Umbruch geprägte Pastoral zentral sind, 5 betont zusätzlich die Bedeutung eines von dieser Perspektive geprägten Schriftzugangs. Die Frage, warum sich die alttestamentlichen Texte einer solchen Form der Geschichtsschreibung bedienen und welche Funktion dies im Rahmen einer Identitätsbildung Israels besitzt, setzt voraus, dass die Studierenden erkennen, dass sich Wahrheit auch jenseits greifbarer und empirisch belegbarer Faktizität ereignet. In den wenigsten Fällen sind die Studierenden jedoch in diesem Stadium ihres Studiums dazu in der Lage: Fehlende Wissensbestände, noch nicht ausreichend entwickelte, dafür jedoch grundlegend benötigte Reflexionskompetenzen sowie fehlende Praxis in vernetzten Denkweisen erschweren den Zugang. Auf der anderen Seite ist es wichtig, solche Denkprozesse bereits in der Studieneingangsphase anzustoßen und einzuüben, gilt es doch, diese im Verlauf des Studiums weiter zu erproben und zu vertiefen. Das bisherige Konzept der Einleitungsvorlesung hat diesem Aspekt nur unzureichend Rechnung tragen können. So wurde in der Vergangenheit der Schwerpunkt darauf gelegt, einerseits die Geschichte Israels zu vermitteln und andererseits die einzelnen Schriften nacheinander in ihrem Aufbau, ihrer Entstehung und ihren zentralen Inhalten und theologischen Themen in kompakter und überblickender Form vorzustellen. 6 Dabei konnten nur selten Querverbindungen und Bezüge zwischen Schriften und Themenfeldern explizit herausgestellt werden. Auch wenn eine solche Form der Vermittlung für die Aneignung und Vertiefung von Wissensbeständen durchaus wichtig und hilfreich erscheinen mag, ist sie jedoch für das Einüben und Anwenden vernetzter Denkweisen nicht geeignet. Denn es geht doch gerade hier darum, einzelne Sachverhalte aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten, Zusammenhänge und Wechselwirkungen zu erkennen, gemeinsame Ursachen zu finden, Kernproblem zu identifizieren und dadurch Kettenreaktionen von Lösungen zu evozieren. Die Frage, warum in den biblischen Texten, Geschehnisse berichtet werden, die sich so nicht ereigneten, lässt sich auf dieser Grundlage nur schwer beantworteten. hier in der der Entwicklungsstufe Anfänger befinden, d. h. „Vor Studienbeginn meist Eisegese statt Exegese: Unreflektiertes Lesen, bzw. Hineinlesen von Interpretationen in den Text, oft anhand von in der Schule gelernten Methoden (bspw. aus dem Deutschunterricht)“ (69). Textbegegnung und Erschließung erfolgen hierbei in erster Linie intuitiv. 5 Vgl. Koch, Methode 3D. 6 Vgl. auch die gängigen und einschlägigen Einleitungswerke wie z. B. Zenger u. a., Einleitung; Dietrich u. a., Entstehung; Egelkraut, u. a, Alte Testament. Eine Ausnahme findet sich z. B. bei Dorn, Basiswissen, der das Alte Testament problem- und themenorientiert vorstellt. 92 Annett Giercke-Ungermann / Christiane Maria Koch Lehrkonzept Im Mittelpunkt der neu konzipierten Vorlesung steht daher die Frage nach identifizierbaren (Re-)Konstruktionen von Identitätsstiftungen und ihren Prozessen in den biblischen Texten. Diese sollen in die Geschichte Israels im Rahmen einer allmählichen über Jahrhunderte hinweg dauernden Volkswerdung Israels näher eingebettet werden. Damit einher gehen die Wahrnehmung und Deutung der Diskrepanz von geschichtlichem Geschehen und theologischen Aussagen auf Seiten der Studierenden. Am Ende sollen die Studierenden in der Lage sein, unterschiedliche literarische und theologische Strategien in der Darstellung von Identitätsbildungsprozessen in den Schriften des ersten Teils der Bibel zu erkennen. Sie sollen in Grundzügen erklären können, warum etwas in einer bestimmten Art und Weise literarisch dargestellt wird und welche Funktionen bzw. Intentionen mit diesen Formen der Darstellungen mit Blick auf eine literarisch (re-)konstruierte Identitätsbildung des Volkes Israels verfolgt wurden. Die Veranstaltung selber ist in vier Phasen unterteilt: Phase 1: Sensibilisierung 1. Sitzung Infragestellung und Diskussion gängiger Vorstellungen zur (Re-) Konstruktion einer Geschichte des Volkes Israels Phase 2: Identifizierung der Kernfrage 2.-3. Sitzung Welt und Umwelt Israels; Überblicke zur Geschichte Israels sowie Unterscheidung zwischen chronologischer und theologischer Geschichtsrekonstruktion Phase 3: Betrachtung einer Schlüsselstelle; erste Reflexionen 4.-5. Sitzung Die Zeit des babylonischen Exils als Ausgangspunkt der Frage: Wie entstehen theologische Geschichtsrekonstruktionen? Phase 4: Vertiefung der Reflexionen anhand weiterer Schlüsselthemen 6.-12. Sitzung Einzelne Traditionen zur Identitätsbildung und ihre Beiträge zur Identitätsbildung des Volkes Israels Tab. 1: Phasen der Lehrveranstaltung Die Veranstaltung setzt mit einer grundlegenden Sensibilisierung ein. Hierbei werden die Vorstellung und das Wissen um einen scheinbar linearen Verlauf einer Geschichte Israels zunächst zur Diskussion gestellt. Die Studierenden sol- „Was wäre, wenn…“ 93 len so erahnen, dass die chronologische Geschichtsdarstellung zur Entstehung des Volkes Israels, so wie sie diese aus der Schule und in ihrer pastoralen Praxis kennenlernten, keineswegs zwingend ist. Vielmehr standen den Verfasserinnen und Verfassern der biblischen Schriften des ersten Teils der Bibel eine Vielzahl von Alternativen zu Verfügung, mit denen sie die Volkswerdung durch die Geschichte hindurch hätte darstellen können. Die Frage „Was wäre, wenn …“, bietet hierfür den Einstieg in eine Diskussion, bei der es auch darum geht, mögliche Konsequenzen für sich selber und den eigenen Glauben in den Blick zu nehmen. Darüber hinaus wird mit dieser Frage auf Seiten der Studierenden die selbstverständliche Annahme einer chronologischen Geschichtsschreibung von Seiten der Dozierenden hinterfragt und relativiert. Im Anschluss erhalten die Studierenden einen grundlegenden chronologisch und theologisch orientierten Überblick zur Geschichte Israels. Hierbei ist es ein zentrales Anliegen, dass die Studierenden erkennen, dass die Quellen stets aus einer bestimmten Perspektive und Intention sowie in einer bestimmten Zeit heraus geschrieben sind. So werden den Studierenden ganz unterschiedliche Quellen und Modelle zu ein und demselben Ereignis bereitgestellt, die in Gruppenarbeiten gemeinsam erarbeitet werden. Dabei können sie eine gewisse Diskrepanz zwischen chronologischer und theologischer Geschichtskonstruktion erkennen. Die Deutung und Erklärung dessen, gerade mit Blick auf die biblische (Re-)Konstruktion einer Identitätsbildung des Volkes Israels, bleibt den Studierenden an dieser Stelle jedoch noch verwehrt. Genau hier setzt die dritte Phase ein. Nachdem die Studierenden sahen, dass ein Sachverhalt durchaus aus verschieden Blickwinkeln beleuchtet werden kann und wir es in den biblischen Schriften immer mit ganz bestimmten Perspektiven und zugrunde liegenden Intentionen zu tun haben, sollen sie nun lernen, entsprechende Zusammenhänge und Wechselwirkungen zu erkennen und Ursachen zu finden. Dies geschieht am Beispiel der Zeit des babylonischen Exils. Die nähere Betrachtung dieser Epoche ermöglicht es, den Studierenden nicht nur wesentliche biblisch-theologische Argumentationsstrategien und Deutungen im Kontext einer biblisch-theologischen Geschichtsrekonstruktion zu vermitteln, sondern auch hierin mögliche Ursachen für die Diskrepanz zwischen chronologischer und theologischer Geschichtskonstruktionen zu erkennen. Darüber hinaus werden sie in die Lage versetzt, die Zeit des Exils und dessen literarische Verarbeitungen in den biblischen Schriften in ihrer Bedeutung für die Entwicklung und Bewahrung einer gemeinsamen Identität des Volkes Israels wahrzunehmen. Genau dieses ist notwendig, um in der letzten Phase weitere biblische Identitätsbildungstraditionen wie die Erzeltern-, Exodus- und Stämmetraditionen, die Ausführungen zum Königtum sowie zum Umgang mit den Fremden, aber 94 Annett Giercke-Ungermann / Christiane Maria Koch auch die überlieferten Darstellungen zu Festen, Opfern und Geboten in ihrer Bedeutung für die Volkswerdung Israels zu betrachten. Die anfängliche Frage nach dem „Was wäre, wenn …? “, ist demnach weniger als eine Frage nach alternativen Geschichtsverläufen zu verstehen, vielmehr bildet sie den Ausgangspunkt, vernetztes Denken an konkreten Beispielen aus dem ersten Teil der Bibel bereits in der Studieneingangsphase einzuüben. Auf diese Weise wird mit der Einleitung ins Alte Testament nicht nur ein theologisch und hermeneutisch tragfähiges Fundament zum weiteren vertieften Verständnis der hebräischen Bibel grundgelegt, sondern auch ein adäquater Zugang zu den Schriften des Neuen Testaments. Denn auch diese gilt es, nicht im historisierenden Sinn, sondern im Hinblick auf Identitätsprozesse zu begreifen. Literatur Dietrich, Walter u. a.: Die Entstehung des Alten Testaments (ThW 1), Stuttgart 2014. Dorn, Klaus: Basiswissen Bibel: Lesen und Verstehen. Das Alte und das Neue Testament auslegen (UTB 4747), Paderborn 2017. Egelkraut, Helmuth u. a: Das Alte Testament. Entstehung - Geschichte - Botschaft, Gießen 5 2012. Koch, Christiane Maria: Methode 3D. Die Bibel als Orientierung in Zeiten pastoralen Umbruchs, Ostfildern 2018. Feininger, Bernd/ Weißmann, Daniela: Wozu brauchen wir das Alte Testament? Ein Gespräch mit Alfons Deissler, in: Feininger, Bernd/ Weißmann, Daniela (Hg.): Wozu brauchen wir das Alte Testament? Zwölf Antworten von Alfons Deissler, Frankfurt a. M. 2 2006, 223-238. Huebenthal, Sandra: Was ist exegetische Kompetenz? , in: Bruckmann, Florian u. a. (Hg.): Kompetenzorientierte Lehre in der Theologie. Konkretion - Reflexion - Perspektiven (Theologie und Hochschuldidaktik 3), Münster 2011, 65-82. Vester, Frederic: Leitmotiv vernetztes Denken. Für einen besseren Umgang mit der Welt, München 1988. Vester, Frederic: Die Logik des Mißlingens. Problemlösen in komplexen Situationen, Reinbek 1989. Vester, Frederic: Die Kunst vernetzt zu denken. Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität, Stuttgart 6 2000. Winkler, Mathias: Exegetische Kompetenzen aufbauen und prüfen. Ein dreistufiges Modell für das biblische Proseminar, in: Giercke-Ungermann, Annett/ Huebenthal, Sandra: Orks in der Gelehrtenwerkstatt. Bibelwissenschaftliche Lehrformate und Lernumgebungen neu modelliert (Theologie und Hochschuldidaktik 7), Münster 2016, 55-67. Zenger, Erich u. a. (Hg.): Einleitung in das Alte Testament (KThSt 1,1), Stuttgart 9 2016.