eJournals Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa) 4/1

Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa)
2366-0597
2941-0789
Francke Verlag Tübingen
2019
41 Fischer Heilmann Wagner Köhlmoos

Die theologische Dimension der Exegese

2019
Volker A. Lehnert
Forum Exegese und Hochschuldidaktik Verstehen von Anfang an (VvAa) Jahrgang 4 -2019, Heft 1 Die theologische Dimension der Exegese Erwartungen an die neutestamentliche Wissenschaft aus der Sicht der Praxis Volker A. Lehnert In this article, with the objective of highlighting the theological dimension of exegetical works, the author discusses the necessity of interconnected thinking in regard to the requirements of ecclesial actions. This happens on three main levels, namely religio-historical, historical-theological and kerygmatic-homiletic. In order to satisfy these requirements or demands, both expertise and an interdisciplinary categorization of knowledge are indispensable. Conclusively, the author explains his position with the aid of five paradigms. 1 Einführung Über das Verhältnis von wissenschaftlicher Theologie und kirchlicher Praxis wird seit jeher diskutiert. Die Literatur dazu ist uferlos. 1 Dabei stehen zur Disposition: die Wissenschaftlichkeit der konfessionellen Theologie im Rahmen der Universität, die Praxisrelevanz theologischer Forschung im Kontext von Schule und Kirche sowie die geistliche Dimension der Theologie im Sinne des genitivus subjectivus : Theologie nicht als Rede über Gott (modernes Metaebenen-Paradigma), auch nicht nur als menschliche Rede von Gott her (Bultmann), sondern als Rede Gottes selbst im Sinne ‚theonomer Reziprozität‘ (Bohren). Ingolf U. 1 Es sei exemplarisch verwiesen auf den Sammelband ‚Theologische Bildungsprozesse gestalten‘ (2002) und die Dokumentationen der Fachkommission I der EKD‚ ‚Theologische Ausbildung in der EKD‘ (zuletzt 2014). 56 Volker A. Lehnert Dalferth hast dazu jüngst eine äußerst aufschlussreiche Monographie vorgelegt. 2 Zeitgenössische theologische Fragestellungen erforschen allerdings eher kulturanthropologisch menschliche Religion (Gräb) als theologisch das Reden Gottes selbst auf Grund seiner Offenbarung in Christus (Barth, Jüngel, Welker). Die entscheidende Frage besteht m. E. darin, ob diese unterschiedlichen Perspektiven alternativ oder nicht vielmehr komplementär zu bearbeiten sind und welche Rolle dabei die wissenschaftliche Exegese spielen könnte. 2 Bologna-Prozess und Theologiestudium Neue Impulse erhielt die Debatte aus dem ursprünglich nur strukturell angelegten Reformprozess aus Bologna 1999. Zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraumes verständigten sich die Wissenschaftsministerien auf formale Eckpunkte zur Reform des Hochschulstudiums. Die Studiengänge wurden gestuft und die Zwischenprüfung wurde zum Bachelor-Abschluss ausgebaut. Das Studium wurde nach dem ECTS-System in Studieneinheiten, sog. Module mit eigenen Modulabschlussprüfungen, gegliedert. Das Diplom und die damit verbundenen Abschluss-Block-Examina wurden abgeschafft. Die Anforderungen an den Bachelor-Abschluss wurden unter anderem durch eine ‚Relevanz für den Arbeitsmarkt‘ gekennzeichnet. So wie in den Richtlinien des deutschen Bildungsrates als Grundziel von Bildung die Mündigkeit ( emanzipatorisches Paradigma ) durch Qualifikation für die Wirtschaft ( ökonomisches Paradigma ) abgelöst wurde, so rückte die Universität zunehmend ab vom traditionellen Humboldt’schen Bildungsideal und wurde ausbildungsförmig. Bildung wird zur ‚advanced science‘. Folgerichtig können sich nun auch die hierfür eigentlich zuständigen Fachhochschulen ‚Hochschule‘ nennen. Kritik an dieser Entwicklung blieb nicht lange aus. 3 Die Fraktionierung des Lernens als Reduktion von Bildung Der prominenteste Einwurf kam von Konrad Paul Liessmann. In seinem Buch Theorie der Unbildung konstatiert er ein Verschwinden der Bildungsidee durch die Fragmentierung von Wissensbeständen 3 und die Idee des lebenslangen Lernens, die in Wahrheit nichts anderes impliziere als die Forderung nach einer ständigen „Anpassungsleistung an die real existierenden Eigentumsverhältnisse“ 4 . In der 2 Dalferth, Wort, bes. 250-292. 3 Liessmann, Theorie, 13. 70. 4 Liessmann, Theorie, 33. Die theologische Dimension der Exegese 57 Bildungslandschaft spiegelt sich für Liessmann das Prinzip von Instant-Wissen, wie es auch in Quizshows zelebriert wird, punktuelle Faktenkenntnisse ohne Bezug auf das Ganze der Wirklichkeit. Relevantes und Belangloses stehen unverbunden und ohne integrierenden Bezug nebeneinander. In Weiterführung von Adornos Theorie der Halbbildung entwickelt Liessmann daraus seine Theorie der Unbildung. Der Verzicht auf einen Bildungskanon sowie das Fehlen von Kategorisierungsprozessen führen dazu, dass Wissen zwar immer wichtiger wird, zugleich aber „keinen Wert an sich“ 5 mehr darstellt, sondern seinem jeweils aktuellen ökonomischen Zeitwert unterworfen wird. Krautz spricht von der ‚Ökonomisierung von Bildung‘. Bildung wird „auf Fähigkeiten und Fertigkeiten (Kompetenzen) reduziert und anhand von Leistungsstandards evaluiert“ 6 . Aus dem ehemaligen Bildungsziel des mündigen, autonomen und von heteronomer Autorität emanzipierten Subjekts, das in reflektierter Freiheit Verantwortung für sich und die Gesellschaft zu übernehmen vermag, wird das Ausbildungsziel des wohl mit Einzelkenntnissen und Fertigkeiten ausgestatteten Menschen, der auf Grund lebenslangen Lernens fähig und flexibel bleibt, sich den Herausforderungen, der - in erster Linie wirtschaftlich verstandenen - Arbeitswelt zu stellen und anzupassen. Weltanschauung, Ethik und Sinnfrage stellen offensichtlich derzeit keine Priorität von Bildung dar. Steckt hier möglicherweise eine latente Angst von Staat und Wirtschaft an einer zu ausgeprägten Kritikfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger dahinter? Theologie, Philosophie, Literatur, Geschichte und Ethik bringen nichts ein, zumindest nicht unmittelbar; sie fördern weder Kaufkraft noch Kaufwilligkeit, und es ist völlig logisch, dass entsprechende Lehrstühle an der Universität einer zunehmend betriebswirtschaftlich normierten Finanzierung zum Opfer fallen. Dass dies Demokra- 5 Liessmann, Theorie, 143; vgl. Liessmann, Theorie, 27. 6 Krautz, Bildung, 392. Volker A. Lehnert, *1960, ist als Kirchenrat Leitender Dezernent für Personalentwicklung in der Evangelischen Kirche im Rheinland. Er studierte Ev. Theologie in Wuppertal und Bonn. Von 1988 bis 2011 war er als Pfarrer in Neuss tätig. 1999 wurde er an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, begleitet von Prof. Dr. Klaus Haacker, mit einer Arbeit über die Textpragmatik der Apostelgeschichte promoviert. Seit 2011 nimmt er seine Tätigkeit als Dezernent im Landeskirchenamt Düsseldorf wahr und war in dieser Funktion von 2011-2019 auch für Hochschulfragen zuständig. Verschiedene seiner Veröffentlichungen sind unter www.lehnert-neuss.de abrufbar. 58 Volker A. Lehnert tiefähigkeit reduziert und gegenläufige Mind-Sets befördert, wie die jüngste politische Entwicklung illustriert, sei zumindest angemerkt. 4 Der Erhalt des Blockexamens und die Integrationsphase im Magister Theologiae Auch die EKD hat sich gegen die volle „Bolognisierung“ 7 des Pfarramtsstudienganges gewehrt. Dies war auf Grund geltenden Staatskirchenrechts möglich. Für die Lehramtsstudiengänge schien dies wegen der dann in Folge entstehenden Inkompatibilität mit anderen Fächern nicht sinnvoll. In Verhandlungen mit der Kultusministerkonferenz kam es im Ergebnis zur EKD-Rahmenordnung des Magister Theologiae , der zwar durch Module strukturiert und damit ECTS-fähig, nicht aber gestuft ist und ein durch die Integrationsphase vorbereitetes Abschluss-Blockexamen behalten hat. 8 Das kirchliche Hauptinteresse besteht hier einerseits in der interdisziplinären Verschränkung der theologischen Fächer miteinander und der daraus resultierenden Bildung einer integrierten Gesamtschau auf das Ganze der Theologie , und anderseits in der Generierung von Gesamtüberblicken in den einzelnen Fächern , die insbesondere durch die Vorbereitung des Grundwissens für die Examensklausuren befördert wird. Selbstverständlich werden hier Sachkenntnisse erwartet ( Wissen ), zugleich aber auch die Kategorisierung dieses Wissens ( Bildung ). Lernprozesse, die auf eine Zusammenschau und ein Überblickswissen auf das Ganze der Theologie hinauslaufen, unterliegen einer anderen Dynamik als Lernprozesse, in denen - gleichsam hintereinandergeschaltet - einzelne Schwerpunktkenntnisse abgeprüft und dann leicht wieder vergessen werden. Ein Indikator für diese Entwicklung liegt in der Frage, ob man dieses oder jenes ‚für die jeweilige Prüfung brauche‘. Einzelheiten und Fakten zu lernen heißt noch nicht Theologie zu studieren. Umgekehrt führt die Fokussierung auf einzelne Kompetenzen ohne Einzelheiten und Fakten aber noch lange nicht zu theologischer Bildung. Es ist daher gut, dass im Magister Theologiae ein relativ hoher Anteil an Wahlbereichkursen erhalten werden konnte. Allerdings bemisst das durchgetaktete Studiensystem die Freiräume für freihändige eigene theologische Nachforschungen und ‚Tiefenbohrungen‘ durchaus eng. Hier besteht die Gefahr, dass sich das universitäre Studium zunehmend ‚verschult‘. 7 Zum Begriff vgl. Grözinger u. a., ‚Bolognisierung‘, 83-85. 8 Im Einzelnen vgl. Lehnert, Bologna-Prozess, 345-348; Krengel, Theologie. Die theologische Dimension der Exegese 59 5 Bildungsanspruch und Praxisrelevanz der Theologie Vor dem Hintergrund der skizzierten Perspektiven sieht sich die Theologie, und damit auch die wissenschaftliche Exegese, vor ambivalente Herausforderungen gestellt. Einerseits besteht ein kirchliches Interesse an Bildung , an einem bleibenden Universalitätsanspruch von Theologie. Die Wirklichkeit vom Evangelium her coram Deo zu interpretieren oder, philosophisch ausgedrückt, das Seiende vom Sein her zu deuten, ist aus Sicht des Glaubens die Fragestellung nach Ganzheit und Sinn der Wirklichkeit schlechthin. Theologie ruft die universitas auf und folgerichtig trägt die Theologische Fakultät an vielen ‚Universitäten‘ immer noch die Ordnungsziffer I. Das Wort Bildung kommt etymologisch von ‚Bild‘. 9 Ursprünglich aus der Imago-Dei -Lehre Meister Eckharts stammend, für den das ‚Bild Gottes‘ dem Menschen wie ein Samenkorn in die Seele gelegt ist, hat vor allem Johann Arndt Anfang des 17. Jh.s diese Begrifflichkeit geprägt. Das von allerlei kreatürlichen Bildern überlagerte Ebenbild Gottes soll durch die Verklärung in das Bild Christi im Menschen neue Gestalt gewinnen (vgl. Röm 8,29; 2 Kor 3,18). Theologische Bildung hat somit zugleich eine kognitiv-akademische und eine geistlich-existentielle Dimension. Darin ist sie kompatibel sowohl mit dem klassischen Paradigma Humboldts, die Kräfte des Menschen zu einem Ganzen zu bilden, als auch mit dem Anliegen emanzipatorischer Bildung, Fremdherrschaft zu durchschauen und Freiheit zu gewinnen (so u. a. Adorno). In diesem Sinne erwartet Kirche von der Theologie Bildung , welche wohl ihre Praxisrelevanz im eigentlichen Sinne darstellen dürfte. Zugleich erwartet Kirche aber von der Theologie auch Ausbildung, Relevanz im Sinne einer Anwendungskompetenz für die kirchliche Praxis. Pfarrerinnen und Pfarrer sollen predigen können, Amtshandlungen vollziehen, Konfirmandenarbeit durchführen, Gremien leiten und etliches mehr. Vielerorts wird beklagt, die Ausbildung der entsprechenden Kompetenzen fänden im Studium nicht genug Berücksichtigung. So wird die Reduktion der einschlägigen Bildungsdimension zwar beklagt, zugleich aber von der Forderung nach deutlicher Praxisrelevanz befördert. Der kirchliche Anspruch an die Theologie artikuliert sich somit im Double-bind: Es wird die Produktion von Durchblick gefordert ( Bildung ), aber die Lieferung von Handwerkszeug erwartet ( Ausbildung ), wohl seit langem wissend: „Ausbildung ist ein Teil von Bildung, darf diese aber nicht einseitig dominieren“ 10 . Was bedeuten die angesprochenen Fragestellungen nun für die wissenschaftliche Exegese? 9 Vgl. zum Folgenden Staats, Bildung, bes. 597; Lindemann, Testament, 101-121; Kittel/ Schrage, Bildung, 123-127. 10 Meyer-Blanck, Mensch, 18. 60 Volker A. Lehnert 6 Die Rolle der Exegese im theologischen Bildungsprozess In dieser nicht ganz leicht zu beantwortenden Frage begegnen sich Hermeneutik und Didaktik. Der exegetische Beitrag zur theologischen Bildung hängt davon ab, unter welchen Voraussetzungen und unter welchen Fragestellungen er auf welche Textebene biblischer Texte blickt. Ich habe dazu ein 7-Ebenen-Interpretationsmodell basierend auf einem offenbarungstheologischen Postulat vorgeschlagen. 11 Das Postulat heißt: Deus dixit . Der Gott Israels hat sich in Christus in der Geschichte gezeigt (1 Tim 3,16; Hebr 1,1-4; 2 Kor 5,17), mit Karl Barth - frei nach Joh 1,14 - die erste Gestalt des Wortes Gottes. Die Offenbarungsgeschichte wurde interpretierend 12 bezeugt (Lk 1,1-4; 1 Joh 1,1) und führte zur Entstehung des Kanons, gemeinsam mit der hebräischen Bibel Israels der zweiten Gestalt des Wortes Gottes. 13 Die Auslegung der Schrift führt zur aktualisierten Verkündigung des Christus, aus geistlicher Sicht gleichermaßen im Sinne des genetivus objectivus und subjectivus , der dritten Gestalt des Wortes Gottes. Theologia hat somit vom Wortsinn her keine deskriptive , sondern eine performative Grunddynamik. Durch sie ereignet sich das Bekanntwerden der Selbstmitteilung Gottes an die Welt. Damit agiert sie aus einer paradoxen Situation heraus: Sie ist Vollzug des Redens Gottes und zugleich menschliche Selbstreflektion ihres eigenen Vollzuges. Wäre sie nur Vollzug, stünde sie in der Gefahr des Korrekturverlustes. Wäre sie nur Selbstreflektion, verlöre sie ihre Performativität. Aus der menschlich reflektierten Rede Gottes selbst würde menschliche Rede über Gott. Gott mutierte zum Objekt und würde eben darin aufhören, Gott zu sein. Bultmanns klassisches Diktum, Theologie solle nicht über Gott, sondern von Gott her reden, ist eben keineswegs veraltet. Es wurde wohl nur vergessen. Darüber hinaus vertritt Klaus Haacker den Bezug von Exegese im Reden Gottes selbst . 14 Der Geist, aus dem heraus Menschen damals motiviert waren, die biblischen Texte zu verfassen, begegnet den Exegese Treibenden auch in der Gegenwart, jedenfalls dann, wenn sie theologische Exegese ist. Im 7-Ebenen-Modell stellt daher die historische Ebene nur eine, eine zwar sehr wichtige, aber eben nur eine Dimension der Betrachtung dar, allerdings eine differenzierte: die bezeugte Geschichte, die Bezeugung der Geschichte, der geschichtliche Kontext der Bezeugung der Geschichte, die geschichtliche Wirkung der Bezeugung der Geschichte usw. Theologisch ist davon auszugehen, 11 Lehnert, Provokation, 81-84, zusammengefasst von Röhser, Welt, 290-292. 12 Vgl. zur interpretierenden Funktion die Perspektiven antiker Geschichtsschreibung, beispielsweise bei Thukydides, dazu jetzt neu Haacker, Reden, 102-119. 13 Vgl. hierzu die einzelnen Beiträge des Heftes Sola Scriptura der Zeitschrift ZNT 39/ 40 (2017). 14 Ich habe seine Hermeneutik andernorts unter dem Stichwort ‚Historisch-vertrauende Exegese‘ dargestellt: Lehnert, Gott, 389-407. Die theologische Dimension der Exegese 61 dass der in der Offenbarung wirksame Geist in der auslegenden Tradierung der Offenbarung wirksam bleibt . Somit stellt die Frage nach dem Wort Gottes für die Gegenwart eine bleibende Herausforderung für eine auf die gegenwärtige Verkündigung bezogene wissenschaftliche Exegese dar. Das wäre die achte Ebene, die ich meinem Modell nun hinzufüge. Das spezifisch kirchliche Interesse besteht an einer dezidiert historischen und theologischen Exegese, ein Interesse, dass in jüngster Zeit auch in der Exegese selbst wieder an Bedeutung gewinnt, wie Matthias Konradt herausstellt: „Entscheidend ist, dass sie [die Exegese] ihr kritisches historisches Potenzial in eine ihr eigene theologische Kompetenz überführt. Voraussetzung dafür ist, dass der Exeget sich nicht nur als Philologe und Historiker, sondern auch als Theologe versteht“. 15 Jens Schröter arbeitet heraus, in welcher Weise die Evangelienschreibung als ‚narrative Vergegenwärtigung‘ über die bloße ‚Erinnerung‘ an vermeintlich Historisches hinausgeht: Die Evangelien lassen sich „in Analogie zur sakramentalen Vergegenwärtigung Jesu im Abendmahl als narrative Vergegenwärtigung seines Wirkens und Geschicks auffassen“ 16 . Richtig daran ist die Relativierung der Bedeutung der ersten Textebene, der zeitlich vor dem Text liegenden Geschichte, die sich niemals vollständig rekonstruieren lässt und die Betonung der theologischen Relevanz der im Text liegenden narrativen Strukturen. Auch Ulrich Luz betont: „Die wissenschaftliche Exegese der biblischen Texte hilft dazu, indem sie uns das Handeln Gottes mit den Sinnen derer, die es unmittelbar betroffen hat, konkret erfahrbar und das Reden Gottes mit den Ohren derer, die seine unmittelbaren Adressaten waren, heute hörbar werden lässt“. 17 Gleichwohl bleibt Luz im Kontext seiner Überlegungen am Ende doch bei der Kategorie der (lediglich) ‚erinnerten Geschichte‘ stehen. M. E. muss man pneumatologisch nicht nur über die Kategorie der Erinnerung, sondern auch über die Kategorie der Vergegenwärtigung hinausgehen, wenn diese impliziert, vergangene Wirklichkeit werde nur ‚dargestellt‘, oder nur ‚real repräsentiert‘. Dies würde ja bedeuten, exegetische Arbeit vollzöge gleichsam transitiv den Transport eines in der Vergangenheit bezeugten Wortes Gottes in die Gegenwart. Es würde lediglich vergegenwärtigt, je nach hermeneutischer Position, entweder, was Menschen damals über Gott gedacht haben (Gottesvorstellungen), oder, was Gott damals den Menschen geoffenbart hat (Gottes Vorstellung). Es ist aber durchaus bedeutungsvoll, ob der lediglich erinnerte Christus (Dunn) in narrativer Symbolik anwesend ist, oder ob sich in und durch die narrative Symbolik der pneumatisch real anwesende Christus selbst 15 Konradt, Exegese, 119; vgl. Schröder, Hintergrundwissen; Meiser, Herausforderungen, 38 f.; Landmesser, Wissenschaft, 196 f., und schon früher Dohmen, Exeget. 16 Schröter, Erinnerung, 124. 17 Wilckens, Irrwege, 37. 62 Volker A. Lehnert repräsentiert. Hinter dieser theologischen Alternative stehen schwerwiegende christologische und eschatologische Entscheidungen. Im ersten Fall wird zwar die „fundierende Bedeutung des irdischen Wirkens Jesu für die christliche Gemeinde in späterer Zeit zur Geltung“ 18 gebracht, nicht aber der Christus praesens . Gottesdienst und Verkündigung wollen aber nicht nur Wirklichkeit mit Hilfe gedeuteter Geschichte bewältigen, auch wenn die „Frage nach dem gegenwärtigen Weltbezug der neutestamentlichen Texte“ eine „geradezu entscheidende Frage“ 19 ist. Gott würde damit „zu einer blossen Interpretationskategorie“ 20 . Gottesdienst und Verkündigung wollen darüber hinaus Begegnung mit dem lebendigen Gott selbst ermöglichen und deren performativem Vollzug dienen. Dass diese Sichtweise in nicht unerheblichem Maße von der Frage nach der „Wirklichkeit der Auferweckung Jesu“ 21 abhängt, wie Wilckens nicht müde wird zu betonen, versteht sich von selbst. Selbstverständlich kann dabei der exegetische Ertrag nicht identisch sein mit dem Reden Gottes, was einem fundamentalistischen Anspruch der Interpretation gleichkäme, aber er kann für das Reden Gottes sensibilisieren, wie Weder betont: „Die Theologie kann aufmerksam machen auf die Tiefe jenes Redens von Gott, das nicht in ihrer Reichweite liegt.“ 22 Der Preis des Verzichtes auf eine solche dezidiert geistliche Sichtweise ist der Theologie durchaus bewusst: Es ist der Preis der Ausblendung transzendenter Dimensionen unter Verweis auf ein immanentes, vierdimensionales Weltbild. Dies ist zwar sowohl in der Physik 23 als auch in der Pädagogik 24 längst erweitert, zeitigt aber in der Theologie im Gefolge von Ernst Troeltsch nach wie vor große Auswirkungen. 25 Gleichwohl, die hauptsächliche Herausforderung an das exegetische Reden über die Referentialität biblischer Texte liegt nicht im Historischen, sondern, sofern es „Gott selbst betrifft“ 26 , im Jenseitigen. Neutestamentliche Exegese im Kontext konfessioneller Fakultäten und Institute ist und bleibt somit eine theologische Aufgabe im dreifachen Sinne: Sie erforscht erstens, wie Menschen zu biblischer Zeit Gott erfahren, gedacht und reflektiert haben. Darin besteht ihre historisch-religionsgeschichtliche Aufgabe. Diese zu erfüllen ist wissenschaftlich weitgehend möglich. Sie erforscht zweitens, wie Gott selbst sich zu einer bestimmten Zeit geoffenbart hat. Darin 18 Schröter, Erinnerung, 135. 19 Landmesser, Wissenschaft, 200. 20 Luz, Hermeneutik, 255. 21 Wilckens, Irrwege, 36, und Luz, Theologie. 22 Weder, Theologie, 1307. 23 Vgl. etwa Kaku, Physik. 24 Vgl. etwa Ladenthin, Bildung, 255 f.. 25 Weder, Theologie,1295-1308. 26 Meiser, Herausforderungen, 43. Die theologische Dimension der Exegese 63 besteht ihre historisch-theologische Aufgabe. Dies ist historisch-kritisch nicht wirklich möglich, solange die Theologie dem aufgeklärten ‚Troeltsch-Paradigma‘ verhaftet bleibt, das bekanntlich nach historischen Analogien und nicht nach Kontingenzen fragt. Stattdessen könnte sie aus der theoretischen Physik den Mut zur Kategorie des N-Dimensionalen einschließlich der damit verbundenen noetischen Fragmentarität im Sinne von 1Kor 13,12 übernehmen: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild.“ Und die Exegese sensibilisiert drittens dafür, dass dieser Gott auch heute noch mittels dieser Schriften, mittels ‚narrativer Vergegenwärtigung‘ mit seiner Kirche kommuniziert. Das ist ihre kerygmatisch-homiletische Aufgabe, die sie nur in ‚theonomer Reziprozität‘ (Bohren) erfüllen kann. Auch wissenschaftliche Theologinnen und Theologen sind daher ‚Mitarbeitende Gottes‘ (1Kor 3,9). Sie führen „im Stillen die geheimen Geschäfte Gottes“ 27 . Verlöre die Exegese die theopneustische Grundüberzeugung (2Petr 1,20-21.; 2Tim 3,16) und die pneumatologische Verheißung ( Joh 16,8), hörte sie auf Theo logie zu sein. 7 Einige Beispiele Im Folgenden möchte ich an einigen Beispielen zeigen, wie neutestamentliche Exegese die bisher benannten Aspekte aufnehmen könnte. Dabei handelt es sich lediglich um Hinweise und Denkanstöße. Markus 1,13 - Geist und Tierschutz Markus erzählt, dass Jesus nach seiner Taufe vom Geist in die Wüste getrieben und dort vierzig Tage vom Satan versucht wurde. In diesem Zusammenhang heißt es: Und er „war bei den Tieren“. Diese kleine Bemerkung wird zwar in der Literatur kommentiert, ihre Tragweite aber wird bisweilen unterschätzt. Traditions- und literaturgeschichtliche Verweise sind zusammengetragen worden, der Verweis auf TestNapht 8,4 etwa oder der Bezug auf Jes 11,5-9, 28 die Rolle der Tiere im Alten Testament ist ausführlich untersucht worden, 29 die Wiederkehr der paradiesischen Urzustände wurde beschrieben und vieles mehr. Die historische Frage im Sinne der Geschichte hinter ( zeitlich vor) dem Text wird in Untersuchungen zum Leben Jesu behandelt, 30 die Frage des Textes selber, Entstehung, Aufbau und Struktur, erzählte Welt etc. wird seit langem mit den 27 Haacker, Gelassenheit, 146. 28 Vgl. etwa Eckey, Markusevangelium, 64. 29 Vgl. Schmitz-Kahmen, Geschöpfe Gottes. 30 Vgl. z. B. Theißen/ Merz, Jesus. 64 Volker A. Lehnert einschlägigen Methoden untersucht und diskutiert. 31 Auch seine Wirkungsgeschichte wird breit bedacht. Was aber ist a) mit der Bildungsintention im Sinne einer Deutungshilfe der Wirklichkeit heute und b) mit der Frage nach der spezifischen theologischen Dimension, und zwar sowohl im Sinne der narrativen Vergegenwärtigung des Erinnerten (Schröter) als auch hinsichtlich der Perspektive Gottes heute (Wilckens)? Hat das Ganze nicht nur etwas mit antiker Schöpfungstheologie zu tun, sondern auch mit der Frage nach der Rolle von Christen im Tierschutz der Gegenwart? Wenn doch die gesamte ‚Kreatur‘ ängstlich auf das Offenbarwerden der Kinder wartet (Röm 8,19), erwartet Gott dann nicht, dass sich diejenigen, die in der Nachfolge dessen stehen, durch den er die Welt mit sich ‚versöhnte‘ (2Kor 5,19), im Sinne einer proleptisch-konsekutiven Ethik bereits heute, vor der universalen Wiederherstellung des Paradieses, für diese Versöhnung einsetzen? Wie stehen also Mk 1,13; Röm 8,19; 2 Kor 5,10 auf dem Hintergrund von Jes 11,5-9 theologisch zueinander und mit welcher ethischen Konsequenz für die Gegenwart? Hier wären verstärkt intertextuelle 32 und gesamtkanonische 33 Interpretationen zu erproben. Dass in theologischen Ethiken jahrhundertelang das Stichwort ‚Tier‘ fehlt, und Erlösung anthropozentrisch vom Menschen exklusiv auf sich selbst appliziert wurde, ist ja nichts anderes als Sünde im theologischen Gewand. Hier die Augen öffnen zu helfen, das wäre wohl Bildung. Hier zum Handeln zu motivieren, wäre Beförderung der Heiligung. Markus 4,35-41 - Angst und das Geheimnis Christi Die Sturmstillung wurde unzählige Male ausgelegt. 34 Auch hier daher nur eine Andeutung hinsichtlich der dargelegten Aspekte. Zur historischen Ebene hinter dem Text gilt wieder das Gleiche. Was lässt sich darüber sagen, wann was wie wo geschehen ist? Zur Textebene selber gilt ebenfalls: Wer schreibt wie was wann an wen warum und mit welchem Ziel? Die Methoden von Rezeptionsästhetik und Textpragmatik sind erfreulicherweise längst in die wissenschaftliche Exegese eingezogen. Auch die narrative Vergegenwärtigung wird gewährleistet. Die Frage ist aber: Wird vergegenwärtigt, was die Menschen damals mit Jesus oder mit ihrem Glauben erfahren haben? Oder wird herausgearbeitet, in welcher Weise dieses rettende Handeln Jesu heute nicht nur theologisch gilt, sondern ob, dass oder wie derselbe Gott das Gleiche auch heute tun kann oder tut, sich dieses Wort (Logos) Gottes (Theos) also auch in der Gegenwart per- 31 Vgl. z. B. van Iersel, Markuskommentar. 32 Vgl. Alkier, Neues Testament, 162-174. 33 Vgl. Röhser, Schriftauslegung, 173-175. 34 Vgl. etwa Müller, ‚Wer ist dieser‘? , 33. Die theologische Dimension der Exegese 65 formativ und erlebbar ereignet ? Die narrationes der Evangelien, wären dann keine Erzählungen darüber, was Jesus Christus damals getan hat, sondern was der Auferstandene heute tut . Der gar nicht so versteckte Hinweis darauf findet sich in V. 41: Wem gehorchen Wind und Meer, wenn nicht dem Schöpfer? Noch deutlicher wird die Anspielung auf Gen 1 nach vollzogener Heilung in Mk 7,37: „Er hat alles wohlgemacht“. In Jesus ist der Schöpfer höchstpersönlich am Werke! 35 Diese Zusammenhänge intertextuell aufzudecken und zu plausibilisieren, setzt ins Bild, ist somit Bildung im besten Sinne. Existenziell wäre hier Glaube im Sinne von Vertrauen in Christus, den Auferstandenen und auch heute Gegenwärtigen (Hebr 13,8), mit dem großen anthropologischen Thema Angst zu korrelieren. Würde dieses erkennbarer durchgeführt, könnte die gegenwärtige Homiletik auch wieder stärker auf die Ergebnisse exegetischer Forschung zurückgreifen, statt ihre seelsorglichen Implikationen mehr oder weniger allein aus dem humanwissenschaftlichen Diskurs zu gewinnen, was in aller Regel mit geistlichem Substanzverlust einhergeht. 36 Die skizzierten Zusammenhänge geistlich zu untermauern, führt ins Vertrauen ( pistis ), in die Hoffnung und nicht zuletzt ins Gebet. Exegese zeigt ihre gottesdienstliche Relevanz, wenn sie auch geistliche Exegese und damit Theologia im besten Sinne ist. 1 Kor 12,12-26; Röm 12,4-8; Eph 4,11-12 - Die Gemeinde und ihre ‚Ämter‘ Illustrierte das erste Beispiel den Gegenwartsbezug der Exegese hinsichtlich einer ethischen Frage (Systematische Theologie), das zweite Beispiel hinsichtlich einer anthropologischen Frage (Praktische Theologie, hier: Seelsorge), so führt uns unser drittes Beispiel in Ekklesiologie, Kybernetik und Pastoraltheologie. Das Bild vom Leib und den vielen Gliedern ist gründlich erforscht. Vom Vergleich mit der Fabel des Menenius bis hin zur Untersuchung vieler weiterer literarischer Bezüge analysiert die Exegese die paulinischen Texte in ihren jeweiligen Kontexten. 37 Bisweilen führt sie sogar in Exkursen bis in die Zeit der Ämterkirche des sog. Frühkatholizismus. 38 Das ist eindeutig Bildung. Was aber Praktische Theologie und Kirche darüber hinaus gut gebrauchen könnten, wären Reflexionen über die Frage, was diese Texte für das Kirchen- und Amtsverständnis heute austragen. Selbstverständlich ist mit den großen wirkungs- 35 Vgl. z. B. Eckey, Markusevangelium, 211. 36 Kirchmeier hat diesen Diskurs an ausgewählten Predigten untersucht, mit sehr ernüchternden Ergebnissen, vgl. Kirchmeier, Glaubensempfehlungen. 37 Vgl. z. B. Haacker, Römer, 257-260; Lang, Korinther, 167-175. 38 So etwa der Exkurs Das Verständnis der Kirche und der Charismen bei Paulus bei Lang, Korinther, 175-181. 66 Volker A. Lehnert geschichtlichen Untersuchungen, etwa im EKK, schon sehr viel gewonnen, aber zur Frage, worin denn der Wille Gottes für die Gestaltung der Kirche heute bestehen könnte, ist damit noch nichts gesagt. M. E. wäre hier ein kritisches biblisches Potenzial in die Diskussion um die Fortführung entweder einer volkskirchlichen Betreuungskirche, wie sie die Mitgliedschaftsuntersuchungen der EKD nahelegen, oder, alternativ oder in Ergänzung, die Förderung einer Beteiligungskirche und der daraus resultierenden Aufwertung des Ehrenamtes im Sinne einer charismatischen Begabungsstruktur der Gemeinde einzubringen. Gleiches gilt für die Debatte um Eph 4,11f. Die historische Frage um den pseudepigraphischen Charakter des Epheserbriefes und die Paulusschule ist das eine, die Frage, welche Gültigkeit die kybernetischen Grundentscheidungen dieses Briefes von Gott her auch für die Gemeinde der Gegenwart haben könnte, ist das andere. In der Kommentarliteratur wird sie in der Regel nicht behandelt. Dabei wird in Eph 4,11f. eine sehr pointierte Verhältnisbestimmung der urchristlichen ‚Ämter‘ 39 zur Gemeinde entworfen: Die ‚Ämter‘ sollen die ‚Heiligen zurüsten zum Dienst‘. ‚Empowerment‘ würden wir heute so etwas nennen. 40 Was bedeutet dies für die Berufsauffassungen des Pfarrdienstes, des Diakonendienstes, des kirchenmusikalischen Dienstes und vieler anderer Dienste in der Kirche? Hier wäre ein multiplikatorischer Auftrag kirchlicher Ämter exegetisch begründbar, ja geradezu zu fordern. 41 Man könnte einwenden, genau dies sei Aufgabe der systematischen und praktischen Theologie, und dies ist unbestritten richtig, aber bis zu den entsprechenden Andockstellen zu führen und diese aufzuzeigen, wäre eine äußerst konstruktive Aufgabe wissenschaftlicher Exegese. 42 Ihr käme darin geradezu kirchenleitende Funktion zu, wie ich anderorts ausführlicher zeige. 43 Kolosser 4,2-4 - Fürbitte der Gemeinde und die Qualität der Verkündigung Noch ein Beispiel aus der Paulusschule: Der angezeigte Text wird von der Perikopenordnung her dem Sonntag Rogate zugeordnet. Das liegt nahe, denn sowohl der Text als auch der Sonntag haben das Gebet zum Thema. Auch hier wird die historische Exegese Fragen nachgehen wie: Wer schreibt hier? Wieso und wo saß der (fiktionale? ) Paulus im Gefängnis? Wie verhält sich der Text 39 Vgl. hierzu Wagner, Anfänge, 19 f.. 40 Vgl. hierzu Schneider/ Lehnert, Berufen wozu? , 55-64; Böttrich, Gemeinde, 137-150. 41 Die Landessynode der EKiR hat dies mit Beschluss 32 der Landessynode 2012 getan und auf diese Weise exegetische Erkenntnisse in kirchenleitendes Handeln übertragen. 42 Vgl. Schröder, Hintergrundwissen. 43 Lehnert, Kirche, 239. Die theologische Dimension der Exegese 67 zu vergleichbaren Texten wie etwa Phil 1 oder Apg 16? Die theologische Frage zielt auf die Aufforderung des Autors an seine Leser „betet zugleich auch für uns, dass Gott uns eine Tür für das Wort auftue“ (V. 3). Der Paulus dieses Briefes traut dem Gebet eine Wirkung zu. Die Fürbitte der Gemeinde soll Gott bewegen die Verkündigung des Evangeliums zu ermöglichen, „und wir das Geheimnis Christi sagen können“. Nimmt man diese Aussagen theologisch ernst, dann stehen Möglichkeit, Vollmacht und wohl auch Effektivität der Predigt in einem Zusammenhang mit der Gebetsaktivität der Gemeinde. Hier ergibt sich ein Berührungspunkt zwischen Exegese, Spiritualität und Liturgik. Wieso werden solche Zusammenhänge nur selten gelehrt? In der älteren Exegese sind derartige Fragen durchaus bewegt worden, wie ein Blick in Schlatters Erläuterungen zum Neuen Testament zeigt: „Das Ziel der Bitte ist, daß Gott dem Wort Zugang zu den Menschen bereite, so daß sie es so zu hören vermögen, daß aus ihm der Glaube entsteht. Bei seiner ganzen Arbeit war Paulus von der Überzeugung geleitet, daß es nicht in seiner Macht stehe, einem Menschen das Wort so zu geben, daß es ihn erfasse und er glaube, wenn Gott ihm nicht die Hörer bereitet.“ 44 Hängt die vielerorts beobachtbare Kraftlosigkeit der Verkündigung und die daraus resultierende abnehmende Teilnahme am Gottesdienst möglicherweise auch damit zusammen, dass gegenwärtige Verkündigung elementare biblische Zusammenhänge bisweilen aus dem Blick verliert, mit dem Wirken Gottes heute eigentlich nicht wirklich rechnet und darin de facto praktischen Atheismus betreibt? Es wäre u. a. diese theologische Dimension, die die Exegese in einer auf moderner historischer Forschung basierenden schriftbezogenen Theologie grundlegen und in die weitere theologische Theoriebildung sowie in die kirchliche Praxis einbringen müsste. 45 Epheser 6,11f. - Die bösen Mächte und kosmologische Frage Ein letztes Beispiel führt nochmals zum Epheserbrief zurück: Hier ist in großartigen Metaphern von der Erfahrung des Bösen die Rede. „Listige Anschläge des Teufels“, werden erwähnt, von „Mächtigen und Gewaltigen, nämlich den Herren der Welt, die in dieser Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel“, ist die Rede. Was ist hier nicht alles exegetisch zu analysieren! Antike Weltbildfragen, die Frage nach Satan, nach Geistern, nach eigentümlichen Bewohnern der Zwischenräume zwischen Himmel und Erde. Die 44 Schlatter, Kolosser, 308. 45 Gelungene Versuche finden sich z. B. bei Rebell, Alles ist möglich, bes. 146-155; ‚Perspektiven für heute‘ oder zum Thema Heilung bei Bittner, Heilung, bes. 108-124 (Teil IV: Zur Praxis der Krankenheilung) . 68 Volker A. Lehnert Ergebnisse befördern die religionsgeschichtliche Bildung. Welche existentiellen oder existentialen Fragen werden hier aufgerufen? Angst, Kampf, Herrschaft und Macht, der oder das Böse etc. Wenn hier keine Herausforderung für das liegt, was im Magister Theologiae Integrationsphase heißt! ? Die Frage nach dem Weltbild (Altes Testament, Religionsgeschichte, antike Kosmologie), die Frage nach dem Bösen in der Geschichte (Kirchengeschichte), in der Geistesgeschichte (Philosophie, Systematische Theologie, Mythologie, Psychologie), die Frage nach christlicher Spiritualität, dem Verständnis des Gebetes, Anfechtung, Seelsorge, Verkündigung (Praktische Theologie) und Heiligung (Ethik). An einem solchen Text die verschiedenen theologischen Disziplinen und Fragestellungen im Sinne der innertheologischen Interdisziplinarität komplementär aufeinander zu beziehen, das wäre spannende und bildende Integration. Darüber hinaus könnte Exegese interdisziplinäre Diskurse mit anderen Wissenschaften führen. Ich greife als Beispiele Philosophie, Psychologie und Physik heraus. Ist das Böse der Reiz der Sünde (Augustin), eine universelle Wirklichkeit (Schelling) oder eine natürliche Veranlagung (Kant)? Ist es ein Mittel zum Zweck (Leibniz) oder ein Trieb (Freud)? Ist es der banale Verlust der Denkfähigkeit (Arendt), eine „Schattenfalte unserer Freiheit“ 46 (Noller) oder das „Auslöschen der Urteilskraft“ 47 (Eilenberger)? Wie verhält sich Eph 6 dazu? Darf man diesen Text mit modernen psychologischen Kategorien interpretieren oder ist hier die ‚Historische Psychologie des Neuen Testaments‘ anzuwenden? 48 Und wie steht es um die Hermeneutik bezüglich der Entmythologisierung, die sich zwar nicht mehr explizit, durchaus aber de facto immer noch in Anwendung befindet? Bultmann hatte ja die These aufgestellt, die mythische Bilderwelt des Neuen Testaments kleide existentielle menschliche Grunderfahrungen, von Heidegger her als ‚Existentialen‘ bezeichnet, in antike Bilder, Geschichten und Symbole. Im Umkehrschluss seien somit alle diese heute weltbildfremden Elemente ‚existential‘, also anthropologisch auf Grundfragen des Menschseins hin zu interpretieren. Das Bild der Totenauferstehung etwa bringe den Sprung des Menschen aus der Grundhaltung der Sorge heraus zum Ausdruck. Wer aber sagt, dass sich Entmythologisierung auf existentiale Fragestellungen reduzieren muss? Das interdisziplinäre Gespräch mit der Physik zeigt, dass diese das vermeintlich moderne vierdimensionale Weltbild der Raumzeit (Einstein) längst weiterentwickelt hat. Michio Kaku, Professor für Theoretische Physik in New York, stellt in seinem Buch Die Physik der unsichtbaren Dimensionen 49 mehrere 46 Diese und weitere Interpretationen des Bösen sind sehr gut zusammengestellt in: Philosophie Magazin, Sonderausgabe 11.10.2018, 78. 47 Ellenberger, Auslöschen, 33. 48 Berger, Psychologie, bes. 17-44.64-82.106-157. 49 Kaku, Physik, 21-56. Die theologische Dimension der Exegese 69 Versuche dar, die Formeln der vier Grundkräfte des Kosmos, starke Kernkraft, schwache Kernkraft, Elektromagnetismus und Gravitation in eine komplementäre Symmetrie zu bringen. Mathematisch gelingt dies nur bei Annahme von mindestens acht (! ) Dimensionen. Kaku spricht vom Hyperraum, 50 von Paralleluniversen 51 und in der Stringtheorie von Dimensionen, die sich vor dem Urknall zusammengerollt haben könnten, um die gegenwärtige Evolution in Gang zu setzen. 52 Stephen Hawking erwägt, was geschehen könnte, wenn die Expansion des Kosmos zum Stillstand kommt und dieser wieder in sich zusammenfällt. Wird der Raum rückläufig reduziert, gilt das dann auch für die Zeit? Werden alle Toten wiederkommen und auf dem Zeitstrahl „rückwärts leben“ 53 ? Auch wenn Hawking diese Idee später wieder verwirft, allein, dass so etwas in der Physik diskutiert wird, muss die Exegese interessieren. Warum? Weil dann das Entmythologisierungsprogramm nicht eingestellt, sondern erweitert werden müsste. Metaphorische Texte wie Eph 6 und die gesamte apokalyptische Tradition wären dann nicht nur vom Zeitkolorit her (Theißen) zu verstehen, nicht nur auf menschliche Existenzfragen hin auszulegen (Bultmann), sondern könnten möglicherweise auch kosmologisch interpretiert werden. Ich komme zum Schluss: Wissenschaftliche Exegese hat aus kirchlicher Sicht mehrere Dimensionen der Wirklichkeit in den Blick zu nehmen: die historisch informierende (historische Kritik, Wissen), die Durchblick fördernde (theologische Reflexion, Bildung) und die spirituelle (geistliche Frage nach Gott heute, Glauben). Sie hat die interdisziplinäre Anschlussfähigkeit ihrer Ergebnisse für die anderen theologischen Disziplinen darzustellen und auch das Gespräch mit anderen Wissenschaften zu suchen. Sie könnte die entsprechenden Andockstellen ihrer Ergebnisse beschreiben und sich darin als die schlechthinnige Basiswissenschaft reformatorischer Sola-Scriptura -Theologie 54 erweisen. Oder mit Worten eines Systematikers, „von dieser Art der Exgese kann die Dogmatik […] nicht genug bekommen.“ 55 50 Kaku, Physik, 286-305. 427. 51 Kaku, Physik, 345-360. 52 Kaku/ Trainer, Suche, 163-181. 53 Hawking, Geschichte, 193-197. 54 Vgl. Alkier, Zumutung, 7-24, und Becker, Sola scriptura , 25-33. 55 Leonhardt, Exegese, 271. 70 Volker A. Lehnert Literatur Alkier, Stefan: Neues Testament (UTB 3404), Tübingen/ Basel 2010. Alkier, Stefan: Die Zumutung der Schriftauslegung. Sola scriptura als ihr Grund legendes hermeneutische und methodisches Prinzip, ZNT 39/ 40 (2017), 7-24. Becker, Eve-Marie: Sola scriptura als bibel wissenschaftliches Prinzip, ZNT 39/ 40 (2017), 25-33. Beintker, Michael/ Wöller, Michael: Theologische Ausbildung in der EKD. Dokumente und Texte aus der Arbeit der Gemischten Kommission für die Reform des Theologiestudiums / Fachkommission I (Pfarramt, Diplom und Magister Theologiae) 2005-2013, Leipzig 2014. Berger, Klaus: Historische Psychologie des Neuen Testaments (SBS 146/ 147), Stuttgart, 1991. Bittner, Wolfgang J.: Heilung - Zeichen der Herrschaft Gottes, Neukirchen-Vluyn 1984. Böttrich, Christfried: Gemeinde und Gemeindeleitung nach Eph 4, ThBeitr 30 (1999), 137-150. Bultmann, Rudolf: Welchen Sinn hat es von Gott zu reden? , in: Bultmann, Rudolf: Glauben und Verstehen I, Tübingen 6 1966, 26-37. Dalferth, Ingo U.: Wirkendes Wort. Bibel, Schrift und Evangelium im Leben der Kirche und im Denken der Theologie, Leipzig 2018. Das Böse - Können wir es verstehen? Warum fasziniert es uns? Wie lässt es sich überwinden? , Philosophie Magazin, Sonderausgabe 11 (2018). Dohmen, Christoph: Muß der Exeget Theologe sein? oder Vom rechten Umgang mit der Heiligen Schrift, TThZ 99 (1990), 1-15. Eckey, Wilfried: Das Markusevangelium. Orientierung am Weg Jesu, Ein Kommentar, Neukirchen-Vluyn 1998. Ellenberger, Wolfgang: Das Auslöschen der Urteilskraft, Philosophie Magazin, Sonderausgabe 11 (2018), 33. Grözinger, Albrecht u. a.: Von der ‚Bolognisierung‘ der Theologie, Editorial PrTh 2 (2005), 84 f.. Haacker, Klaus: Evangelische Gelassenheit, ThBeitr 8 (1977), 145-148. Haacker, Klaus: Umstrittene Reden. Tukydides als Vorbild des Lukas? , ThBeitr 49 (2018), 102-119. Heimbrock, Günther/ von Kriegstein, Matthias: Theologische Bildungsprozesse gestalten. Schritte zur Ausbildungsreform, Frankfurt 2002. Iersel, Bas van: Markuskommentar, Düsseldorf 1993. Kaku, Michio: Die Physik der unsichtbaren Dimensionen. Eine Reise durch Zeittunnel und Paralleluniversen, Reinbek 2013. Kaku, Michio/ Trainer, Jennifer: Die Suche nach der Theorie des Universums, Frankfurt/ Leipzig 1993. Kirchmeier, Bernhard: Glaubensempfehlungen. Eine anthropologische Sichtung zeitgenössischer Predigtkultur (AzPT 67), Leipzig 2017. Die theologische Dimension der Exegese 71 Kittel, Gisela/ Schrage, Wolfgang: Bildung als Verwandeltwerden in das Bild Christi, in: Ochel, Joachim (Hg.): Bildung in evangelischer Verantwortung auf dem Hintergrund des Bildungsverständnisses von F.D.E. Schleiermacher. Eine Studie des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union, Göttingen 2001, 123-127. Konradt, Matthias: Die historisch-kritische Exegese und das reformatorische Schriftprinzip, ZNT 39/ 49 (2017), 105-125. Krautz, Jochen: Bildung oder Effizienz? Zur ökonomischen Usurpation von Bildung und Bildungswesen, Forschung & Lehre 8 (2006), 392 f.. Krengel, Lisa J.: Die Evangelische Theologie und der Bologna-Prozess. Eine Rekonstruktion der ersten Dekade (1999-2009), Leipzig 2011. Ladenthin, Volker: Was ist ‚Bildung‘? , EvTh 63 (2003), 237-260. Landmesser, Christoph: Neutestamentliche Wissenschaft und Weltbezug, in: Wischmeyer, Oda (Hg.), Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft (NET 6), Tübingen/ Basel 2003, 185-206. Lang, Friedrich, Die Briefe an die Korinther, NTD 7, Göttingen, 1986. Lehnert, Volker A.: Bologna-Prozess und Theologiestudium. Zur neuen Rahmenordnung der EKD, ThBeitr 40 (2009), 345-348. Lehnert, Volker A.: Die Provokation Israels. Die paradoxe Funktion von Jes 6,9-10 bei Markus und Lukas. Ein textpragmatischer Versuch im Kontext gegenwärtiger Rezeptionsästhetik und Lesetheorie (NTDH 25), Neukirchen-Vluyn 1999. Lehnert, Volker A.: Exegetisch Gott begegnen. Historisch-vertrauende Hermeneutik bei Klaus Haacker, in: Lehnert, Volker A./ Rüsen-Weinhold, Ulrich (Hg.): Logos - Logik - Lyrik. Engagierte exegetische Studien zum biblischen Reden Gottes (FS Haacker) (ABG 27), Leipzig 2007, 389-407. Lehnert, Volker A.: Exegetisch Kirche leiten. Klaus Haacker als Lehrer der Kirche, ThBeitr 38 (2007), 239-250. Leonhardt, Rochus: Wieviel Exegese braucht die Dogmatik? , in: Kraus, Wolfgang/ Rösel, Martin (Hg.): Update-Exegese 2.1. Ergebnisse gegenwärtiger Bibelwissenschaft, Leipzig 2015, 266-271. Liessmann, Konrad P.: Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft, Wien 2006. Lindemann, Andreas: Das Neue Testament und das Bildungsproblem, in: Ochel, Joachim (Hg.): Bildung in evangelischer Verantwortung auf dem Hintergrund des Bildungsverständnisses von F.D.E. Schleiermacher. Eine Studie des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union, Göttingen 2001, 101-121. Luz, Ulrich: Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments als Hilfe zum Reden von Gott, EvTh 72 (2012), 244-259. Meiser, Martin: Herausforderungen und Aufgaben der neutestamentlichen Wissenschaft, in: Wischmeyer, Oda (Hg.): Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft (NET 6), Tübingen/ Basel 2003, 35-62. Meyer-Blanck, Michael: Der Mensch als Seele: Einsprüche gegen ein ungebildetes Eden von Bildung, Schule und Kirche 31/ 130 (2004), 15-20. 72 Volker A. Lehnert Müller, Peter: ‚Wer ist dieser? ‘ Jesus im Markusevangelium, Markus als Erzähler, Verkündiger und Lehrer, Neukirchen-Vluyn 1995. Rebell, Walter: Alles ist möglich dem, der glaubt. Glaubensvollmacht im frühen Christentum, München 1989. Röhser, Günther: Kanonische Schriftauslegung und sola scriptura heute, ZNT 39/ 40 (2017), 173-194. Röhser, Günther: Von der Welt hinter dem Text zur Welt vor dem Text. Tendenzen der neueren Exegese, ThZ 64 (2008), 271-293. Schlatter, Adolf: Die Briefe an die Galater, Epheser, Kolosser und Philemon (Erläuterungen zum Neuen Testament), Stuttgart 7 1987. Schneider, Nikolaus/ Lehnert, Volker A.: Berufen wozu? Zur gegenwärtigen Diskussion um das Pfarrbild in der Evangelischen Kirche, Neukirchen-Vluyn 2 2011. Schmitz-Kahmen, Florian: Geschöpfe Gottes unter der Obhut des Menschen. Die Wertung der Tiere im Alten Testament (NTDH 10), Neukirchen-Vluyn 1997. Schröder, Bernd: Hintergrundwissen. Historisch-kritische Methode und Praktische Theologie, ZThK 114 (2017), 210-242. Schröter, Jens: Nicht nur eine Erinnerung, sondern eine narrative Vergegenwärtigung. Erwägungen zur Hermeneutik der Evangelienschreibung, ZTHK 108 (2011), 119-137. Staats, Reinhard: Der Ursprung des Wortes ‚Bildung‘ und die Wissenschaftsethik Adolf von Harnacks, ThLZ 127 (2002), 591-608. Theißen, Gerd/ Merz, Annette: Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 3 2001. Wagner, Jochen: Die Anfänge des Amtes in der Kirche. Presbyter und Episkopen in der frühchristlichen Literatur, Tübingen 2011. Weder, Hans: Theologie als Wissenschaft, ThLZ 137 (2012), 1295-1308. Wilckens, Ulrich: Irrwege der Vernunft. Die an den Universitäten übliche Bibelauslegung muss überwunden werden, Zeitzeichen 1 (2003), 35-37. Wilckens, Ulrich: Theologie des Neuen Testaments, I/ 1. Geschichte der urchristlichen Theologie, Neukirchen-Vluyn 2002.