eJournals Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa) 4/1

Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa)
2366-0597
2941-0789
Francke Verlag Tübingen
2019
41 Fischer Heilmann Wagner Köhlmoos

Das Subjekt vernetzt denken

2019
Christina Aus der Au
Forum Exegese und Hochschuldidaktik Verstehen von Anfang an (VvAa) Jahrgang 4 -2019, Heft 1 Das Subjekt vernetzt denken Christina Aus der Au Conclusions from neuro-scientific research suggest that even the subject of thought, the self itself, is fundamentally interconnected; in a way, in fact, that beside and behind this interconnection the actual nucleus, the subject, has disappeared. There is no subject, no self, no I, and thus — these are the theological side effects — no-one who could possibly be addressed by God and therefore believe. The concept of soul does not necessarily help along here. There are, however, viable theological arguments, after the Epistle to the Romans and Luther, to replace the orations on a substantial self by dialogically constituted ‘responsive subjectivity’. 1 Einführung Das Schlagwort vernetzt Denken hat multidisziplinäre Karriere gemacht, und dies von der Pädagogik über die Wirtschaft und die Politik auch in die Theologie hinein. So schreiben Michel Bollag und Christian Rutishauser in ihrem Gespräch zwischen Jude und Jesuit: „In Beziehung mit anderen Geschöpfen, mit Menschen und mit Gott leben, will im Grunde nicht mehr sagen, als vernetzt denken und leben.“ 1 Faszinierend aber ist die Forschung vor allem auch von der anderen Seite her gesehen: Nicht nur der Modus, sondern auch das Subjekt des Denkens, das Selbst selbst, soll als solches grundlegend vernetzt sein, das heißt: durch und durch relational. Es scheint, so legen es Ergebnisse neurowissenschaftlicher For- 1 Bollag/ Rutishauser, Gespräch. 26 Christina Aus der Au schung nahe, 2 als ob es neben und hinter dieser Vernetzung keinen eigentlichen Kern, kein Subjekt mehr gäbe. Eine solche Position stützt sich auf Experimente, die zeigen, dass das Gehirn nicht hierarchisch organisiert ist, so dass an einem Punkt alle Information zusammenlaufen würde: „Die plausible Annahme eines Konvergenzzentrums, eines Cartesianischen Theaters mit einem singulären Zuschauer, ist in dramatischer Weise falsch.“ 3 Für den Neurophilosophen Thomas Metzinger, einer meiner Ansicht nach der radikalsten und deswegen spannendsten naturalistischen Denker, führt dies zur unausweichlichen Schlussfolgerung, „no such things as selves exist in the world: Nobody ever was or had a self “ 4 . 2 Von den Ichen zur Illusion des Ich Die Theologen haben allerdings ein großes Interesse am Selbst bzw. am Subjekt. So kann sich der moderne Protestantismus geradezu „als Religion autonom-selbstgesteuerter, vernünftig-selbstdurchsichtiger, individueller Subjektivität“ 5 darstellen, womit es die Aufgabe der Theologie wird, dem religiösen Individuum zu helfen, sich selbst in seiner Subjektivität zu verstehen und „die Religion als Konstitutionsort individueller Subjektivität“ 6 durchsichtig zu machen. Der Gegenstand der Theologie ist damit die subjektive Innerlichkeit als religiöses Bewusstsein. Die Rechtfertigung des Glaubens besteht nicht mehr darin, was man glaubt, sondern wer wie glaubt. Und dieser Glaube ist nur dann rational zu verantworten, wenn sich dessen Gewissheit rational aufweisen lässt, und das wiederum ist subjektivitätstheoretisch dann gegeben, wenn sie sich in der transzendentalen Struktur der Subjektivität fundieren lässt. Dafür muss diese Subjektivität als allgemein menschlich und unhintergehbar aufgewiesen werden. Wenn allerdings dieses Selbst, wie es uns die Neurowissenschaften nahelegen, 7 lediglich aus Rückkoppelungen und der zeitlichen Synchronisierung parallel organisierter, neuronaler Systeme besteht, die erst in der nachträglichen Betrachtung den Eindruck einer Einheit vermitteln, dann besteht es nicht unverändert über die Zeit hinweg, sondern wird je und je neu im Rahmen des 2 Es ist natürlich nicht diese Forschung alleine, aber dadurch hat die um einiges ältere philosophisch-theologische Diskussion um den ‚Tod des Subjekts‘ nochmals einen gewaltigen Aufschwung erhalten, vgl. dazu z. B. den Tagungsband von Viertbauer/ Kögerle, Subjekt. 3 Singer, Beobachter, 144. 4 Metzinger, Being, 1. 5 Pfleiderer, Theologie, 3. 6 Korsch, Glaubensgewissheit. 7 Vgl. z. B. Singer, Selbsterfahrung. Das Subjekt vernetzt denken 27 jeweiligen Kontextes aufgebaut. Wir haben nicht ein Ich, keinen Beobachter im Gehirn, auf dessen Bühne verschiedene Vorstellungen nacheinander ablaufen, sondern es sind mehrere ‚Iche‘, deren Einheit erst nachträglich konstruiert werden muss. Daniel Dennett nennt dieses erst im Rückblick hergestellte Selbst „the center of narrative gravity“ 8 , während der Neurowissenschaftler Michael Gazzaniga dafür einen ‚interpreter‘ postuliert, d. h. ein bestimmtes neuronales System in der linken Hirnhemisphäre, welches den Reizverarbeitungen in den verschiedenen Hirnregionen einen gemeinsamen Sinn verleiht. 9 Den Weg von den ‚Ichen‘ zum vermeintlichen Ich besonders detailliert analysiert hat der schon erwähnte Thomas Metzinger. Auch wenn er im Vorwort zu seinem ersten Hauptwerk Subjektivität und Selbstmodell schreibt, es gehe ihm nicht um eine weitere modische Liquidation des Subjekts, „sondern um dessen Rehabilitation als Gegenstand ernsthafter theoretischer Bemühungen“ 10 , so ist tatsächlich sein Anliegen um ein Mehrfaches radikaler, nämlich „zu untersuchen, ob Selbstbewusstsein - so wie wir es alle erleben - einer naturalistischen Erklärungsstrategie zugänglich sein könnte“ 11 . Die Subjektivität mit ihren drei Hauptelementen des Selbst, des Bewusstseins und der Erlebnisträgerschaft ist für ihn das Kernstück einer modernen Theorie des Geistes, die ein neues und umfassenderes (und das bedeutet für Metzinger: ein naturalistischeres) theoretisches Verständnis unserer inneren Natur anstrebt. Damit macht Metzinger klar, dass es ihm keinesfalls darum geht, im Sinne eines Behaviorismus die Innerlichkeit des Menschen auf sein beobachtbares Verhalten zu reduzieren. Im Gegenteil, es ist ihm gerade um diese Innerlichkeit zu tun, um das ‚wie-sich-etwas-für-mich-anfühlt‘, und insofern ist es ihm durchaus ernst mit der Rehabilitierung des Subjekts in seiner ureigenen und phänomenalen Subjektivität. 8 Dennett, Self. 9 Gazzaniga u. a., Neuroscience. 10 Metzinger, Subjektivität, 9. 11 Metzinger, Subjektivität, 9 (Hervorhebung im Original). Christina Aus der Au, *1966, Dr. theol., ist Titularprofessorin für Systematische Theologie an der Universität Basel und Dozentin für Medizinethik an der Universität Fribourg. Sie studierte Philosophie und Rhetorik an der Universität Tübingen und Theologie an der Universität Zürich. Von 2010-2018 war sie Theologische Geschäftsführerin am Zentrum für Kirchenentwicklung an der Universität Zürich, seit 2019 ist sie Dozentin für Religion, Ethik und Politik an der Pädagogischen Hochschule Thurgau. 28 Christina Aus der Au Damit fordert Metzinger diejenigen Denkerinnen und Denker heraus, welche diese menschliche Subjektivität als dasjenige voraussetzen, was, „seine empirische Realität immer übersteigt“ und „das nicht aufgeht in alledem, was äußerlich vom anderen wahrnehmbar ist, so dass mir dieser andere als ein Wesen begegnet, das nicht nur von sich aus, sondern auch von einem allem äußeren Einblick letztlich entzogenen Grund seines Daseins her tätig ist“ 12 .Wolfhart Pannenberg begründet damit die Subjektivität in einem transzendenten letzten Ursprung, während Metzinger dahinter zurück auf dasjenige zielt, von woher Subjektivität überhaupt erst sinnvoll ausgesagt werden kann, nämlich aus dem phänomenalen Erleben eines selbstbewussten und selbsttätigen Ichs. Dieses erlebende Subjekt setzt auch Pannenberg in seinen Ausführungen immer schon voraus, ohne es allerdings eigens zu thematisieren. Zwar hält er fest, dass „die Tatsache des Bewusstseins zu den Grundgegebenheiten menschlichen Lebens [gehört], um deren angemessene Deutung sich in der einen oder anderen Weise jede Anthropologie bemühen muss“ 13 , und auch für ihn ist das individuelle Bewusstsein sekundär - allerdings nicht als Produkt eines ‚interpreters‘ oder einer nachträglich aus den einzelnen Aspekten konstruierten Geschichte, sondern gegenüber der „der Subjekt-Objekt-Differenz vorgängigen und sie übergreifenden Präsenz der noch unbestimmten Ganzheit des Lebens“ 14 . Die Einheit des Ich bildet sich im Prozess der Gegenstandserfahrung aus, die nur vor dem Hintergrund der Einheit der Welt als Inbegriff alles Endlichen und gleichzeitig damit auch vor dem Hintergrund des unbestimmt Unendlichen geschehen kann. „In der Erfassung des Endlichen ist aber immer schon ein unthematisches Bewusstsein des Unendlichen - als des Anderen des Endlichen - mitenthalten.“ 15 Damit ist für Pannenberg die alles bestimmende Wirklichkeit Gottes in jeder konkreten Individualität immer schon zwingend mitgesetzt. 3 Metzingers phänomenales Selbstmodell Metzinger hingegen beginnt demgegenüber gerade nicht mit einer allem vorausliegenden Einheit, sondern mit dem empirisch feststellbaren, wahrnehmenden und empfindenden Ich. Dabei konzentriert er sich auf dessen konstitutive Merkmale der Phänomenalität, der Zentriertheit und der Perspektivität 16 als 12 Pannenberg, Theologie, 227 f.. 13 Pannenberg, Theologie, 210. 14 Pannenberg, Theologie, 223. 15 Pannenberg, Theologie, 225. 16 Vgl. dazu Metzinger, Selbstmodell-Theorie. Das Subjekt vernetzt denken 29 notwendige Bedingungen der Möglichkeit, ein selbstreflektives, weltoffenes und handelndes Subjekt zu sein. Dies entspricht dem Charakter seines naturalistischen Zugangs, der seinen Ausgangspunkt nicht bei der Reflexion von Transzendentalien, sondern bei den empirisch fassbaren Eigenschaften des untersuchten Objektes findet. Dabei spielt es hier noch keine Rolle, dass die wesentlichen Eigenschaften in diesem Fall nicht so sind, dass sie intersubjektiv und auf wiederholbare Weise beobachtet werden könnten, sondern eben nur dem Selbstversuch zugänglich sind. Wesentlich ist, dass hier schon im Ansatz eine Zugangsweise zum Subjekt gewählt wird, die es nicht, wie Pannenberg es tut, dem Bereich der cartesischen res cogitans , die mit den Mitteln des Denkens bestimmt werden könnte, sondern der res extensa , welche empirischen Untersuchungen zugänglich ist, zugehörig sein lässt. Das Problem für Metzinger ist nun zunächst, dass weder die Begriffe ‚Ich‘, ‚Selbst‘ oder ‚Subjekt‘ eindeutig definierbar sind, noch auf irgendwelche beobachtbaren Gegenstände in der Welt bezogen werden können. Um zu verstehen, worauf sich diese Begriffe beziehen, müssen wir zuerst die strukturellen Merkmale unseres Erlebens verstehen, die uns dazu führen, von ‚Ich‘, ‚Selbst‘ oder ‚Subjekt‘ überhaupt reden zu wollen. Damit beginnt Metzinger mit einer Analyse der „repräsentationalen Tiefenstruktur des bewussten Erlebens selbst“ 17 . Nicht unwesentlich ist, dass er dabei mit den Mitteln der Introspektion zu seinen Daten kommt: Das bewusste Erleben ist ihm nur durch sein eigenes Erleben bekannt. Er selber ist also sozusagen die Versuchsfläche, auf der er empirisch zu Aussagen über dasjenige kommt, was wir (und das heißt natürlich hier: er) mit den Begriffen des ‚Ich‘, ‚Selbst‘ oder ‚Subjekt‘ meinen. Metzinger nennt drei Eigenschaften, die in diesem Zusammenhang von Interesse sind: Meinigkeit, präreflexive Selbstvertrautheit und Perspektivität. Diese Eigenschaften korrelieren mit den andernorts genannten „phänomenologischen Säulen“ 18 der Subjektivität: dem Selbst , das alle subjektiven Zustände als die meinen vereint, dem Bewusstsein , in welchem uns die Inhalte direkt und unmittelbar gegeben sind und der Erlebnisträgerschaft , dem „wie-es-sich-für-mich-anfühlt“, das unser Innenleben konkret und bunt sein lässt. Diese Eigenschaften sucht Metzinger repräsentational und funktional zu analysieren, d. h. er fragt nach den entsprechenden Eigenschaften, die ein informationsverarbeitendes System haben muss, dass es diese drei Eigenschaften aufweist, und es damit befähigen, eine so genannte „Perspektive der ersten 17 Metzinger, Selbstmodell-Theorie, 319. 18 Metzinger, Subjekt, 21 f.. 30 Christina Aus der Au Person“ 19 einzunehmen. Dies bedeutet, dass der innere Erlebnisraum, der durch Meinigkeit, unmittelbare Selbstvertrautheit und Erlebnisträgerschaft strukturiert ist, von einem Brennpunkt her aufgespannt ist und sich nur von diesem her, dem ‚Ich‘, dem ‚Selbst‘, dem ‚Subjekt‘, in den Blick nehmen lässt. Metzinger nennt dies die „Subjektzentriertheit“ 20 der inneren Zustände. Das Grundproblem einer naturalistischen, d. h. hier neurowissenschaftlichen Theorie des Geistes, welche den Menschen in seiner Personalität - und d. h. auch: in seiner Subjektivität - verständlich machen will, besteht nun darin, dass es unverständlich ist, wie diese „Subjekt-Argumentstelle“ 21 nomologisch mit beschreibenden Aussagen über Vorgänge im Gehirn verknüpft werden kann. Oder anders formuliert: Wie können biologische Systeme in einer per se mittelpunktlosen Welt eine interne Repräsentation dieser Welt erzeugen, die wesentlich perspektivisch ist und für den Brennpunkt dieser Perspektive, das Subjekt, einen phänomenalen Charakter hat? Wie erhalten wir eine naturalistische Theorie des Selbst, wenn die Subjektivität dieses Selbst, wie es Metzinger im Vorwort festhält, nicht einfach eliminiert, sondern ernst genommen und verständlich gemacht werden soll? Dazu führt Metzinger eine neue theoretische Entität ein: das phänomenale Selbstmodell . Ein Selbstmodell ist, in Metzingers eigenen Worten, „ein in ein internes Modell der Welt eingebundenes Analogrepräsentat des es konstruierenden Systems in seiner Umwelt “ 22 . Das heißt, der selbstbewusste und empfindende Mensch wird als Informationsverarbeitungssystem betrachtet, welches nicht nur seine Umwelt für es selbst repräsentiert, d. h. die dafür relevanten Eigenschaften in einer entsprechenden neuronalen Datenstruktur abbildet, sondern dabei sich selber als repräsentierendes System in dieser Repräsentation mit einschließt. Das System generiert nicht nur ein Modell der Welt, sondern innerhalb dieses Modells auch noch ein Modell von sich selber. Der Inhalt dieser Repräsentation beruht auf einem kontinuierlichen intern erzeugten Informationsstrom, wie z. B. dem Gleichgewichtsinn, dem Körpergefühl und den Hintergrundemotionen, aber auch seinen körperlichen Empfindungen, seinen gegenwärtigen Emotionen, seinen Gedanken und Gefühlen. Das Modell ist so unabhängig von externem Input der Sinneswahrnehmungen verankert. Daraufhin werden nun die externen Informationen zentriert, d. h. diese werden so integriert, dass sie perspektivisch auf dieses Selbstmodell hin ausgerichtet sind. Das System repräsentiert also nicht nur seine Umwelt, sondern dazu auch sich selber, wie es seine Umwelt repräsentiert. 19 Metzinger, Subjekt, 23. 20 Metzinger, Subjekt, 23. 21 Metzinger, Subjekt, 24. 22 Metzinger, Subjekt, 158, vgl. dazu auch Metzinger, Being, 299 f.. Das Subjekt vernetzt denken 31 Wir können uns dies ungefähr so vorstellen, wie wenn ein Computer seine Umwelt per Webcam auf seinem Bildschirm repräsentiert und dabei zusätzlich einen Sensor aktivieren kann, der das Gesamtsystem repräsentiert, wie es in seiner gegenwärtigen Verfasstheit seine Umwelt repräsentiert. Dies eröffnet eine subsymbolische, nicht-begriffliche Erste-Person-Perspektive, welche das System befähigt, die Repräsentation seiner Umwelt als perspektivisch zu erleben - genau dann, wenn es diese indirekt via Selbstrepräsentation als repräsentierendes System wahrnimmt. Metzinger vergleicht dieses Selbstmodell auch mit einem Flugsimulator, 23 welcher die Bewegungen der Flugschülerin am Steuerpult auf das Bild am Bildschirm und das ‚Rüttelgefühl‘ der Übungskabine hin zentriert. Wenn die Schülerin also das Flugzeug zu steil auf die Landepiste setzt, sind die Auswirkungen gleich für Auge und Gefühl verfügbar. Ebenso wie der Flugsimulator konstruiert unser Geist ständig ein internes Modell der äußeren Wirklichkeit, und dies in Echtzeit. Zudem verfügt er über viel mehr Modalitäten als der Simulator - nicht nur Sicht und Gefühl, sondern auch Geruch, Geschmack - und über das eigene Körpergefühl. Unser geistiger Simulator simuliert die Flugschülerin oder den Flugschüler nämlich gleich mit: Er konstruiert neben dem Modell der Umwelt auch ein phänomenales Selbst modell! Dieses Selbstmodell ist allerdings damit noch nicht ein bewusstes Selbst. Metzinger zieht die Möglichkeit in Betracht, dass verschiedene biologische Informationsverarbeitungssysteme sich auf solche durch ein Selbstmodell zentrierten Darstellungsräume beziehen, ohne dass dabei Selbstbewusstsein entstehen würde. Ein Selbstmodell ist noch kein Selbst, sondern lediglich ein funktional zentrierter Repräsentationsraum. Metzinger spricht davon, dass auf dieser Stufe lediglich eine phänomenale Erste-Person-Perspektive entsteht, die aber nicht per se schon kognitiv wäre. 24 Diese wird nämlich auch von manchen Tieren geteilt, welche ein solches zentriertes Selbst-Weltmodell benutzen, das damit das Zentrum ihres Universums, oder wie Uexküll sagen würde: ihrer Umwelt, und den Ursprung ihrer eigenen Perspektive bildet. Um eine kognitive Erste-Person-Perspektive zu haben, ist es notwendig, dass ich darauf auch begrifflich zugreifen kann. Es genügt nicht, Wünsche und Überzeugungen zu haben; ein bewusstes Selbst entsteht erst dann, wenn ich einen Begriff von mir selber „als dem Denker dieser Gedanken, als dem Eigentümer eines subjektiven Standpunkts“ 25 habe. Damit muss das System seine eigenen Operationen mit phänomenal undurchsichtigen Repräsentationen in sein Selbstmodell integ- 23 Vgl. Metzinger, Subjekt, 141 f.. 24 Metzinger, Phänomenale Transparenz, 429 f.. 25 Metzinger, Phänomenale Transparenz, 431. 32 Christina Aus der Au rieren, also mit solchen, durch die es nicht hindurchsieht, sondern auf die es kognitiv zugreifen kann. Ich kann mich selber als so und so wahrnehmendes, empfindendes, denkendes Subjekt in den Blick nehmen. Ich kann aber nicht das Selbstmodell des Systems als solches in den Blick nehmen, dieses ist und bleibt transparent, und diese Transparenz spiegelt eine unmittelbare Vertrautheit mit dem Ursprung der Perspektive vor. Oder mit Metzingers Worten: Das System hat zwar „die Fähigkeit, durch höherstufige kognitive Operationen auf den Inhalt gewisser undurchsichtiger kognitiver Zustände zuzugreifen, welche in ein bereits existierendes transparentes Selbstmodell integriert sind, wobei diese höherstufigen Operationen selbst ebenfalls automatisch in dieses Selbstmodell integriert werden“ 26 . Der indirekte Weg über das Selbstmodell wird also vom System nicht als solcher wahrgenommen. Es erkennt das Selbstmodell nicht als ein von ihm konstruiertes Modell, sondern betrachtet den Output dieses ‚Feedback-Sensors‘ als primäre Repräsentationen der Außenwelt. Das Modell ist introspektiv nicht als Modell erkennbar. Dies ist vergleichbar mit dem Lesen eines spannenden Buchs: Wir fokussieren nicht auf das Buch als materiellem Vehikel, nicht auf die Textur, den Geruch und die Farbe seiner Seiten, sondern lesen gleichsam hindurch, das konkrete Buch ignorierend, versunken in seinen Gehalt, der Geschichte, die seine Buchstaben transportieren. So betrachten wir auch die Welt normalerweise in einem naiven Realismus und realisieren dabei nicht, welch komplizierte Systemdynamik aktiviert werden muss, bis diese Welt - uns selber eingeschlossen - in unserem System für unser System repräsentiert werden kann. Die Quintessenz, die sich für Metzinger daraus ergibt, ist zum einen: „So etwas wie Selbste gibt es nicht in der Welt. Alles, was existiert, sind bewusste Systeme, die unter phänomenal transparenten Selbstmodellen operieren.“ 27 Und zum anderen: „Man muss klarer zwischen dem Gehalt rein sprachlicher und dem Gehalt geistiger Repräsentationen unterscheiden.“ 28 Das heißt, dass wir zwar natürlich die Fähigkeit haben, ,ich’ zu sagen. Damit beziehen wir uns auf den phänomenalen Gehalt unseres Selbstmodells. Weil dieser aber transparent ist, kann er nicht selbst als eine Form repräsentationalen Gehalts erlebt werden. Das Buch selber kann nicht als eigenständige Entität in unser bewusstes Blickfeld kommen, um die obige Metapher noch einmal aufzunehmen, sondern alles, worauf wir Zugriff haben, ist der Inhalt des Buches durch das für uns transparente Buch hindurch. Das informationsverarbeitende 26 Metzinger, Phänomenale Transparenz, 433. 27 Metzinger, Phänomenale Transparenz, 432 (Hervorhebung original). 28 Metzinger, Phänomenale Transparenz, 432. Das Subjekt vernetzt denken 33 System, das wir sind, hat also zwar die Fähigkeit, durch höherstufige kognitive Operationen auf den Inhalt gewisser kognitiver Inhalte zuzugreifen, die in ein bereits existierendes, stabiles transparentes Selbstmodell integriert sind. Diese höherstufigen Operationen werden allerdings - und das ist für das System als solches nicht repräsentierbar - ihrerseits ebenfalls in dieses Selbstmodell integriert. Diese Funktion der Selbstrepräsentation ist als solche nicht für unser Bewusstsein verfügbar, 29 und so muss sich das erfahrende System verhalten, als hätte es unmittelbaren Kontakt zu den Inhalten seines Selbstbewusstseins. Die Überzeugung, ein Selbst zu sein, ist, so Metzinger, 30 das Ergebnis eines naiv-realistischen Selbstmissverständnisses. 4 Welches Ich bin ich? Wenn wir dies nun an einem konkreten Fall durchspielen, sieht diese Argumentation folgendermaßen aus: „Ich bin mir unmittelbar gewiss, dass ich existiere.“ Dies ist die sprachliche Äußerung einer mentalen Repräsentation (‚ich existiere‘), die in einem subsymbolischen, nicht-begrifflichen Modus der transparenten Selbstmodellierung gegeben ist. Der scheinbare Beweis für die Existenz eines Selbst entsteht dadurch, dass das erste und das zweite ‚Ich‘ als dieselbe Entität betrachtet werden. Dies ist aber falsch. Das erste ‚Ich‘ bezieht sich darauf, dass dieser bewusste Gedanke eine Komponente des Selbstmodells ist, welche der kognitiven Introspektion verfügbar ist. Das zweite ‚Ich‘ hingegen, Metzinger kennzeichnet es in Anlehnung an Lynn Baker 31 als ‚Ich*‘, bezieht sich auf den transparenten Teil dieses Selbstmodells. Die Tatsache, dass dies ein Konstrukt ist, ist - im Gegensatz zum ersten ‚Ich‘ - für das Subjekt nicht introspektiv verfügbar. Die ‚Beweisleistung‘ dieses Satzes wird dadurch suggeriert, dass die Unmittelbarkeit von ‚Ich*‘ für das ‚Ich‘ in Anspruch genommen wird. Darauf habe ich aber keine kognitiven Bezugsmöglichkeiten, und insofern ist deren Gehalt epistemisch keineswegs gerechtfertigt - und also der Rückschluss auf eine tatsächliche Existenz von ,Ich‘ irrig. 32 Andere Philosophen wie der Tübinger Manfred Frank argumentieren dagegen, dass „alle diese Bewusstseine […] eines gemeinsam [haben] (und das erlaubt es uns allererst, sie unter diesem Begriff zu subsumieren): Sie existieren nur unter der Bedingung, dass wir mit ihrem Stattfinden auch unmittelbar 29 „Das bedeutet, sie werden so zuverlässig und schnell aktiviert, dass wir […] normalerweise durch sie hindurchschauen“ (Metzinger, Subjekt, 63). 30 Vgl. Metzinger, Phänomenale Transparenz, 434. 31 Vgl. Baker, Perspective. 32 Vgl. Metzinger, Phänomenale Transparenz, 432. 34 Christina Aus der Au vertraut sind“ 33 . Das Bewusstsein meiner eigenen Subjektivität ist unmittelbar, vorsprachlich und die Grundlage einer jeglichen Rede über Sachverhalte, die in irgendeiner Relation zu uns selbst stehen. Dies umfasst nicht nur Aussagen, welche die erste Person Singular beinhalten (‚ich habe Durst‘, ‚mein rechter kleiner Zeh tut weh‘), sondern auch alles, worauf wir mit indexikalischen Ausdrücken verweisen: „Wie soll z. B. eine Person, die vor einer Landkarte steht, in deren Mitte ein roter Pfeil anzeigt ‚Sie befinden sich hier‘, wissen, von wem die Rede ist, wenn sie nicht zuvor ihren Körper durch ‚ich‘ zu identifizieren gelernt hat? “ 34 Frank wirft Metzinger vor, dass er in seinem Beispiel des Flugsimulators die Identität des Piloten mit mir selbst immer schon voraussetze und damit zirkulär argumentiere. Dabei zeigt sich, dass bei der Frage nach dem ‚Ich‘, dem ‚Selbst‘ bzw. dem ‚Subjekt‘ 35 tatsächlich um sehr unterschiedliche Dinge gestritten wird. So verstehen Neurowissenschaftler wie Wolf Singer darunter die Frage, „wie trotz dieser distributiven Organisation [des Gehirns] kohärente Repräsentationen aufgebaut und wie Entscheidungen getroffen werden können, wie eine einheitliche Interpretation der umgebenden Welt und aus ihr abgeleitete koordinierte Verhaltensstrategien möglich werden. Diese, als ‚Bindungsproblem‘ angesprochene Frage nach der Koordination zentralnervöser Prozesse wurde in den letzten Jahren als eine der größten Herausforderungen an die Hirnforschung erkannt.“ 36 Die Antwort darauf wird auf der Ebene von Bindungsneuronen oder der Synchronisierung neuronaler Aktivitäten gesucht - aber es wird natürlich immer eine Antwort sein auf die Frage ‚wie funktioniert …‘ und nicht ‚wie fühlt es sich an? ‘. Neurophilosophen wie Thomas Metzinger hingegen fragen nach dem phänomenalen Selbst, d. h. nach demjenigen, was eine Perspektive der ersten Person im Wahrnehmen und Erleben möglich macht. Damit muss eine Antwort die „drei Kardinalprobleme“ 37 von Subjektivität lösen: 1. dass sich Erlebnisse für mich irgendwie anfühlen, 2. die Homogenität und Ganzheit des Bewusstseins und 3. die Innenperspektive des erlebenden Ich. 33 Frank, Subjektivität, 71. 34 Frank, Subjektivität, 82. 35 Die terminologischen Unschärfen zeigen schon an, dass unterschiedliche Aspekte hervorgehoben werden. 36 Singer, Beobachter, 150. 37 Metzinger, Niemand sein, 139. Das Subjekt vernetzt denken 35 Seine Antwort besteht in der Konstruktion eines phänomenalen Selbstmodells, das sich selber nicht mehr als Modell wahrnimmt. Genau bei diesem ‚sich selber‘ setzt Manfred Frank an, der nach dem „Subjektgebrauch von ‚ich‘“ 38 fragt und argumentiert, dass dieses ‚Ich‘ kein Wahrnehmungsgegenstand ist, den ich nachträglich mit einem Selbst identifizieren könnte, welches diese Wahrnehmung hat. Er hält eine empirische oder theoretische Analysierbarkeit von Selbstbewusstsein aus prinzipiellen Gründen für unmöglich, weil wir dieses mit Aussagen über Objekte grundsätzlich nicht erreichen. Letztlich steht bei Frank Kants Einheit der transzendentalen Apperzeption im Hintergrund, das ‚ich denke‘ (modernere Philosophen würden beifügen: „[…] ich nehme wahr, ich fühle“ 39 ), das jede Vorstellung begleiten können muss, wobei das dabei gedachte Ich zwar dabei jeweils empirisch aktualisiert wird, aber selber dennoch dem Reich der Noumena angehört. 40 5 Selbst - Seele - Antwort In der theologischen Auseinandersetzung um das Selbst spiegeln sich ähnliche Positionen. Der katholische Philosoph und Theologe Josef Quitterer hält fest: „Wenn es keine mit sich identischen Personen gibt, die in Schuld und Sünde verstrickt sind, fehlt der christlichen Erlösungslehre der unverzichtbare Ansatzpunkt - es gibt dann einfach niemanden, der erlöst werden muss und auferstehen kann.“ 41 Er sieht hinter der Frage nach dem Selbst dasjenige, „was auch nach der Alltagsauffassung das Eigentliche des Menschen, sein Wesen ist“ 42 . Unter Bezugnahme auf den Neurowissenschaftler Damasio, der die Realität des Selbst nicht substantialistisch versteht, sondern funktionalistisch als Strukturplan unseres Organismus 43 skizziert aber Quitterer eine aristotelische Sicht der Seele als Lebensprinzip. Sie ist real, weil sie kausal wirksam ist, und sie liefert „ein funktionales Prinzip zur Erklärung des Gesamtverhaltens von Organismen“ 44 , 38 Frank, Subjektivität, 85. 39 Vgl. z. B. Damasio, Ich. 40 „Denn es ist zu merken, daß, wenn ich den Satz: ich denke, einen empirischen Satz genannt habe, ich dadurch nicht sagen will, das Ich in diesem Satze sei empirische Vorstellung; vielmehr ist sie rein intellektuell, weil sie zum Denken überhaupt gehört. Allein ohne irgendeine empirische Vorstellung, die den Stoff zum Denken abgibt, würde der Actus, Ich denke, doch nicht stattfinden, und das Empirische ist nur die Bedingung der Anwendung, oder des Gebrauchs des reinen intellektuellen Vermögens.“, Kant, KrV B422, Anmerkung. 41 Quitterer, Selbst, 79. 42 Quitterer, Selbst, 82. 43 Vgl. Damasio, Ich, 172. 44 Quitterer, Selbst, 96. 36 Christina Aus der Au was im modernen Kontext der Neurobiologie heißt, dass mentale Prozesse nur vor dem Hintergrund der funktionalen Architektur des gesamten Organismus (also der Seele) verstanden werden können. Dies würde allerdings wohl kaum ein Neurowissenschaftler bestreiten - auch ohne das Konzept der Seele. Quitterer entgeht zwar damit einem substantialistischen Dualismus, die „ontologische Realität“ 45 seiner so verstandenen Seele bleibt allerdings blass. Zumal wenn er zum Schluss anmerkt, dass die Seele bei Aristoteles „ebenso wenig eine besondere Existenzform [benötigt], wie die Funktionsweise einer Axt eine besondere Qualität der Existenz neben den materiellen Bestandteilen einer Axt benötigt“ 46 . Die Hoffnung, im Anschluss an einen aristotelisch verstandenen Damasio „eine Möglichkeit [aufzuzeigen], wie auch angesichts der neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung von einer realen und kausal wirksamen Seele (oder einem realen Selbst) gesprochen werden kann, ohne gleich in einen Substanz-Dualismus zu verfallen“ 47 , bleibt so unerfüllt, weil nicht einsichtig wird, was das Konzept einer solchen Seele über die Erkenntnisse der Hirnforschung hinaus leisten soll. Selbst wenn man die „Kausalität von oben“, d. h. die kausale Wirksamkeit einer Gesamtarchitektur auf die neuronale Ebene akzeptiert, so bleibt offen, was damit gewonnen wird, wenn man diese als ‚Seele‘ reifiziert. Ernstpeter Maurer hingegen argumentiert im Anschluss an Luther und in expliziter Antwort auf die Neurowissenschaften radikaler, nämlich „dass eine Zentralinstanz namens ‚Ich‘ kaum wahrscheinlich ist - und sie ist in der theologischen Sicht auch gar nicht wünschenswert.“ 48 Es ist eben gerade der sündige Mensch, der sich Gott gegenüber verschließt und so allererst ein Personzentrum bildet. Demgegenüber ist der neue, von Gott befreite Mensch „dieselbe Person, aber nun eine höchst differenzierte Person, der vor allem eines fehlt: ein Kern “ 49 . Den Menschen, der sein Ich krampfhaft zu fixieren sucht, nennt Luther ‚incurvatus in se ipsum‘, und es ist dieser sündige Mensch, der das Bestreben hat, seine Selbsterkenntnis ganz und eindeutig zu machen. Er ist es, der aus Angst vor der Auflösung an einem Ich festhalten muss. Ähnlich zeichnet der Neutestamentler Samuel Vollenweider nach, wie in der paulinischen Anthropologie der Geist Gottes so in die Glaubenden eingeht, dass er zum wesenhaften Grund ihres eigenen Seins werden kann. 50 Im ersten Teil von Röm 8 ist der Geist Gottes das eigentliche Subjekt - im Gegensatz zu Röm 7, wo das ohnmächtige Ich seine Handlungskompetenz an die Sünde abtreten 45 Quitterer, Selbst, 94. 46 Quitterer, Selbst, 95 f. 47 Quitterer, Selbst, 95. 48 Maurer, Wille, 102 49 Maurer, Wille, 96. 50 Vollenweider, Geist Gottes. Das Subjekt vernetzt denken 37 muss (Röm 7,17). Die paulinische Rede von der Einwohnung des Geistes erweist sich im Gegensatz zur klassischen Vorstellung einer göttlichen Ekstase, wie sie z. B. Philon beschreibt, als durchaus individualistisch und hat nicht die Ausschaltung des Ich-Zentrums zur Folge. Die Rede von „Christus in euch“ (Röm 8,9-11) hat dabei zwar auch eine dualistische Komponente, ist aber dabei von einer ‚notorischen Unschärfe‘ gekennzeichnet. So schillert die Rede zwischen dem Geist als Gabe und göttlich wirkender Macht, was, so Vollenweider, seinen Grund in den Phänomenen selbst haben könnte. Einerseits übernimmt der Geist die Rolle des Subjekts, andererseits ist durchaus Raum für eine „Differenzierung der Innendimension der Glaubenden“ 51 . So lässt sich der Geist der Glaubenden einerseits als vom göttlichen Pneuma angehaucht, andererseits auch dadurch in seinem innersten Selbst verwandelt verstehen. Der göttliche Geist ersetzt nicht unser ‚Ich‘, sondern er durchdringt es, wie Vollenweider formuliert: „Das Pneuma handelt nicht anstelle unser selbst, sondern als unser Selbst.“ 52 Dies wiederum betrifft den gesamten Menschen, wie denn auch Paulus in seiner Paränese darauf hinzielt, die Glaubenden für das Wirken der Liebe aufzuschließen (Röm 6,11-23). Sie sind Mitarbeitende an Gottes Werk (1Kor 3,9), und auch dies weist darauf hin, dass ihr ‚Ich‘ bei der Einwohnung des Geistes nicht aus-, sondern eingeschlossen ist. Der grundlegende Unterschied besteht darin, dass der befreite Christenmensch sein Zentrum außerhalb seiner selbst hat, und er ist „gehalten in Gottes schöpferischem Geistwirken“ 53 . Damit hat auch Luther dem substantialistischen Menschenbild seiner (und unserer) Zeit ein relationales Konzept entgegengehalten, welches das Selbstsein immer schon intrinsisch an die Gottesbeziehung knüpft und so ein in dieser Hinsicht gelassenes Gespräch zwischen Theologie und Neurowissenschaften ermöglicht. 54 Peter Dabrock skizziert auf ähnliche Weise im Anschluss an den Phänomenologen Waldenfels ein responsives Subjekt, welches durch die Struktur der „Prä/ Interferenz“ 55 charakterisiert ist. Dieses ist einerseits unhintergehbar eingebunden in vorgegebene Diskursordnungen ( Inter ), andererseits realisiert sich hier ein unvertretbares und singuläres Antworten auf einen unabweisbaren Anspruch ( Prä ). Dieser Antwortcharakter, das „nicht nicht antworten können“ 56 ist der Ausgangspunkt von Dabrocks Subjektivitätsreflexionen, bei denen „die Versuchung kaum von der Hand zu weisen [ist], das Etikett ‚Subjektivität‘ […] ganz 51 Vollenweider, Geist Gottes, 172. 52 Vollenweider, Geist Gottes, 183. 53 Maurer, Wille, 106. 54 Maurer, Wille, 105; vgl. auch Joest, Ontologie. 55 Vgl. Dabrock, Glaube. 56 Vgl. Waldenfels, Antwortregister, 241.365f. 38 Christina Aus der Au zu streichen“ 57 . Dabrock grenzt sich allerdings explizit ab sowohl von Bubers harmonischer und freundschaftlicher ‚Ich-Du‘-Dialogphilosophie als auch von Lévinas’ ereignishafter Subjektkonstitution, die immer erst in der Begegnung mit dem Fremden stattfindet. Responsive Subjektivität kann erst nachträglich im Moment des Rückgriffs erschlossen werden, sie kann immer nur im Gesagten entdeckt werden. 58 Neurowissenschaftler erforschen also die neuronale Vernetztheit dessen, was wir phänomenal als ‚Selbst‘, als ‚Subjekt‘ unseres Denkens, Glaubens und Handelns erleben und nachträglich als Einheit konstituieren. Philosophen konstruieren daraus ein selbstreferentielles, aber als solches nicht erkennbares, dafür aber neuronal aufweisbares phänomenales Selbstmodell oder verweisen auf die immer schon vorausgesetzte Subjektivität des Denkens und Erlebens. Und Theologen 59 suchen das ‚Selbst‘ mit einem funktionalen Modell der Seele zu unterlegen oder - und mir scheint das die theologisch angemessenste Position zu sein - lassen die Suche nach einem Selbst getrost fahren und gründen die christliche Existenz extra nos. Literatur Baker, Lynn: The First-Person Perspective: A Test for Naturalism, American Philosophical Quarterly 35 (1998), 327-346. 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Metzinger, Thomas: Subjektivität und Selbstmodell, Paderborn 1999. 57 Dabrock, Glaube, 257. 58 Vgl. Dabrock, Glaube, 260. 59 Die ausschließlich männliche Form ist hier leider unvermeidbar. Das Subjekt vernetzt denken 39 Metzinger, Thomas: Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität. Eine Kurzdarstellung für Nicht-Philosophen in fünf Schritten, in: Greve, Werner (Hg.): Psychologie des Selbst, Weinheim 2000, 317-336. Metzinger, Thomas: Being No One: The Self-Model Theory of Subjectivity, Cambridge, MA 2003. Metzinger, Thomas: Phänomenale Transparenz und kognitive Selbstbezugnahme, in: Haas-Spohn, Ulrike (Hg.): Intentionalität zwischen Subjektivität und Weltbezug, Paderborn 2003, 411-459. Pannenberg, Wolfhart: Systematische Theologie. Bd 2., Göttingen 1991. Pfleiderer, Georg: Karl Barths praktische Theologie. Zu Genese und Kontext eines paradigmatischen Entwurfs systematischer Theologie im 20. Jahrhundert (BHTh 115), Tübingen 2000. 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