eJournals Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa) 4/1

Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa)
2366-0597
2941-0789
Francke Verlag Tübingen
2019
41 Fischer Heilmann Wagner Köhlmoos

Vernetztes Denken aus Sicht der Neurowissenschaften

2019
Francina Hartmann
Annette Milnik
Forum Exegese und Hochschuldidaktik Verstehen von Anfang an (VvAa) Jahrgang 4 -2019, Heft 1 Vernetztes Denken aus Sicht der Neurowissenschaften Francina Hartmann / Annette Milnik In this article, the authors discuss the interconnection of information inside the human brain from a neuro-scientific point of view. They examine the roles of single entities regarding the whole network and emphasize the influence of emotions on these processes. In their final part they demonstrate how information processing takes place in a collective and in how far the individual itself is relevant to it. 1 Einführung Wie verarbeitet unser Gehirn Informationen? Wie vernetzt ist unser Denken? Zu diesem Thema haben wir in dem folgenden Artikel einige grundlegende Kenntnisse aus den Neurowissenschaften zusammengestellt. Dabei haben wir uns auf gut etabliertes und gesichertes Wissen fokussiert, werden dementsprechend wenig Kontroversen diskutieren. Wir werden der Frage nachgehen, wie Netzwerke generell aufgebaut sind und wie damit vernetztes Denken in einem Individuum und in einer vernetzten Gesellschaft dargestellt werden kann. Bei unserem Gehirn als neuronalem Netz stellt sich die Frage, ob wir grundsätzlich immer das ganze Netzwerk als Einheit betrachten müssen oder ob wir auch einzelne Komponenten abgrenzen können, welche spezifische Prozesse verarbeiten. Wenn man von hier aus weiterdenkt, muss man sich auch die Frage stellen, ob wir unser Gehirn überhaupt vom restlichen Körper getrennt betrachten können oder immer als Einheit von Körper und Geist sehen müssen. Schlussendlich kann man hier noch einen Schritt weiter gehen und die Frage stellen, ob wir einen Menschen isoliert betrachten können oder ob wir ihn nicht immer als Teil einer sozialen Gesellschaft mit einem vernetzten globalen 8 Francina Hartmann / Annette Milnik Denken sehen müssen. Beim Thema Vernetztes Denken ist man intuitiv versucht, jeweils die globalere als die richtige Ebene anzusehen. Ein reduktionistischer Ansatz erscheint falsch, wenn man sich für vernetztes Denken interessiert. Ist die Summe also mehr als seine Einzelteile? Oder dürfen bzw. müssen wir die Einzelteile auch isoliert betrachten? Aus Sicht der Forschung und aus Sicht der Medizin haben definitiv beide Ansätze, also der lokal funktionale Ansatz und der globale Netzwerkansatz ihre Richtigkeit. Natürlich gibt es Hirnregionen, die hoch spezifische Aufgaben ausführen. Sofern es zu einem Ausfall einer solchen Hirnregion kommt, sehen wir auch entsprechend hoch spezifische Ausfallsmuster, ohne dass grundsätzlich das ganze Netzwerk betroffen ist. Dem gegenüber gibt es auch Teile unseres Denkens und unserer Wahrnehmung, die auf dem Zusammenspiel des gesamten Netzwerkes beruhen. Entsprechend gibt es auch Erkrankungen, die mit einer globalen Funktionseinbuße einhergehen. Wir werden einige Beispiele hierzu im Folgenden ausführen. Schlussendlich handelt es sich bei unserem Gehirn um ein Netzwerk von Funktionseinheiten, die miteinander verknüpft sind, miteinander interagieren und damit unser Denken und Wahrnehmen gewährleisten. Eine Kernfrage der Neurowissenschaften ist es, diese Funktionseinheiten als solche zu identifizieren und voneinander abzugrenzen, um sie dann sowohl separat als auch eingebettet im gesamten Netzwerk erforschen zu können. Die Identifikation klar abgrenzbarer Einheiten ist wichtig, um ein Netzwerk in seiner Gesamtheit erforschen und damit verstehen zu können. Tatsächlich ist aber unser Gehirn als Netzwerk sehr komplex aufgebaut und das exakte Abgrenzen und Identifizieren sinnvoller funktioneller Einheiten ist eine Herausforderung für die Hirnforschung. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, wie sich eine einzelne Funktionseinheit auf das ganze Netzwerk auswirken kann. Wie genau werden Informationen also von einer einzelnen Einheit auf das Netzwerk übertragen? Als ein etabliertes Forschungsfeld werden wir uns hier vertieft mit dem Einfluss von Emotionen auf die Informationsverarbeitung beschäftigen. Emotionen helfen uns, alltägliche Erfahrungen in ihrer Relevanz zu bewerten. Es gibt eine spezifische Hirnregion, die Amygdala, die hier ‚federführend‘ das gesamte Netzwerk beeinflusst. Wir werden uns also später noch genauer mit der Frage auseinander setzen, wie Emotionen sich auf unser Denken auswirken. In unserem Alltag ist es notwendig, dass wir uns in einem größeren sozialen Gefüge zurechtfinden. Auf Basis unseres Denkens und Wahrnehmens interagieren wir mit unserer Umwelt, beeinflussen sie und lernen von ihr. Hierbei ist es wichtig, dass es in unserem Alltag immer wiederkehrende Anforderungen gibt. Damit ist also das Lernen von Mustern und Routinen möglich. Jeder Lernprozess ermöglicht es einem ganzen Netzwerk und seinen Funktionseinhei- Vernetztes Denken aus Sicht der Neurowissenschaften 9 ten effizienter auf zukünftige Reize zu reagieren. Damit sind Lernprozesse ein wichtiges Forschungsgebiet im Rahmen des vernetzten Denkens, auf welches wir speziell noch vertieft eingehen werden. Sowohl Emotionen als auch Lernprozesse dienen schlussendlich dazu, sich in einer komplexen Welt zurecht zu finden. Oft müssen hier dann auch komplexe Entscheidungen getroffen werden. Daher werden wir uns auch näher mit Entscheidungsprozessen beschäftigen. Zum Abschluss werden wir dann die Ebene ‚Individuum‘ verlassen und uns anschauen, wie Informationsverarbeitung im Kollektiv stattfindet. Dank der sozialen Medien entstehen hier spannende neue Forschungsfelder. Wie werden Informationen in einem Kollektiv aufgebaut und schlussendlich auch wieder vergessen? Wie wirken sich Emotionen auf das kollektive vernetzte Denken aus? Wie kann ein Einzelner sich auf das Kollektiv auswirken? 2 Erkrankungen, die mit einer gestörten Informationsverarbeitung einhergehen Bei vielen Erkrankungen finden sich Einschränkungen in unserer Informationsverarbeitung, wie z. B. Gedächtnisstörungen oder Störungen in der Aufmerksamkeit. Beispiele hierfür sind alle Demenzerkrankungen sowie andere neuropsychiatrische Erkrankungen wie z. B. Schizophrenie oder Depressionen. Auch im Rahmen von kardiovaskulären Erkrankungen, wie dem Schlaganfall, oder Francina Hartmann, *1985, studierte Psychologie und beschäftigte sich in ihrer Doktorarbeit an der Universität Basel mit dem Einfluss von Hormonen und genetischen Variationen auf Gedächtnisprozesse im Menschen. Aktuell befindet sie sich in der Fortbildung zur Neuropsychologin und möchte ihre Expertise zukünftig in die Erforschung von Diagnostik und Therapie im Gebiet der Klinischen Neuropsychologie einbringen. Annette Milnik, *1980, studierte Psychologie und Medizin und arbeitete lange Jahre in der medizinisch-psychologischen Grundlagenforschung. Ihre Doktorarbeiten an den Universität Marburg (Medizin) und Basel (Psychologie) beschäftigen sich mit den Themen molekulare und kognitive Neurowissenschaften. Aktuell befindet sie sich in der Ausbildung zur Fachärztin Allgemeinmedizin mit dem Ziel, Konzepte aus der Grundlagenforschung in der klinischen Arbeit zu implementieren. 10 Francina Hartmann / Annette Milnik entzündlichen Erkrankungen, wie der Multiplen Sklerose, werden wir eine Einschränkung in der Informationsverarbeitung finden. Häufig findet man bei diesen Erkrankungen eine globale Funktionseinschränkung, die sich in einer allgemein schlechteren Belastbarkeit und schnellerer Ermüdung äußert. Dies kann man als Ausdruck eines global geschädigten Netzwerkes verstehen. Zudem finden wir bei all diesen Erkrankungen aber auch typischerweise spezifische Ausfallsmuster. So sieht man z. B. nach Schlaganfällen, dass einzelne Funktionen, wie z. B. die Bewegungen einer Körperseite, nicht mehr richtig funktionieren. Bei Demenzerkrankungen wiederum sind in der Regel Gedächtnisprozesse betroffen. Hier gibt es wichtige Regionen wie z. B. den Hippocampus. Wenn diese Region ausfällt, werden die Patienten Schwierigkeiten mit ihrem Gedächtnis haben. Schlussendlich ist es unerheblich, welche Erkrankung ursächlich für den Funktionsausfall ist. Sobald es zu einer Schädigung im Hippocampus kommt, werden wir bei den Patienten Gedächtnisschwierigkeiten feststellen. An diesen Beispielen sieht man die definitive Zuordnung klar abgrenzbarer Funktionseinheiten mit ihren spezifischen Ausfallerscheinungen. Durch die klare Zuordnung sind diese lokalen Ausfälle relativ gut diagnostizierbar sowohl im Rahmen der Bildgebung als auch mit neuropsychologischen Tests. Schwieriger ist es, die globalen Einschränkungen, wie z. B. eine Reduktion der Belastbarkeit, zu quantifizieren. Gerade bei depressiven Erkrankungen finden sich eher globale Muster, die aber teilweise vom Patienten als lokale Ausfälle wahrgenommen werden. So kommt es z. B. vor, dass depressive Patienten sich beklagen, sie könnten sich nichts mehr merken. Die Patienten weisen zwar auf Schwierigkeiten mit ihrem Gedächtnis hin; führt man jedoch spezifische Gedächtnistests durch, schneiden die Patienten recht gut ab. Dies wird als Pseudodemenz bei Depression bezeichnet. Damit sind die beklagten Gedächtnisprobleme nur ein Epiphänomen eines global eingeschränkten Netzwerkes, welches dem Patienten als störend auffällt und dann kommuniziert wird. Ähnliches findet man auch bei ganz ‚banalen‘ Erkrankungen, wie z. B. bei einem grippalen Infekt. Man fühlt sich insgesamt schlapp und verlangsamt und gewinnt dadurch den Eindruck, sich nichts merken zu können. Das ist aber wiederum nur ein Epiphänomen eines reduzierten Allgemeinzustandes. An diesen Beispielen sieht man, dass es ‚Netzwerkerkrankungen‘ gibt, die nicht einer spezifischen Funktionseinheit als Ursache zugeordnet werden können. Bei dem Beispiel des grippalen Infektes sieht man zusätzlich, dass unser Gehirn eben nicht grundsätzlich isoliert betrachtet werden kann, sondern natürlich auch davon beeinflusst wird, wie es dem restlichen Körper geht. Dadurch kann sich ein einfacher Schnupfenvirus ganz erheblich auf unser Denken auswirken. Zum Glück ist dies nur ein temporäres Phänomen. Zugleich gibt es auch Vernetztes Denken aus Sicht der Neurowissenschaften 11 spezifische Ausfallsmuster, wenn einzelne klar abgrenzbare Funktionseinheiten betroffen sind. Ein aktuell sich entwickelndes Forschungsfeld ist die Erforschung des Zusammenhangs zwischen Immunsystem und Kognition. Beide Forschungsfelder, die Immunologie und die Neurowissenschaften, sind sehr komplexe Forschungsfelder. Die meisten Menschen werden den Effekt kennen, dass nach langen stressigen Phasen das Immunsystem ‚zusammenbricht‘ und man erst einmal krank wird. In der heutigen Zeit bedeutet Stress in der Regel psychischer Stress, wie z. B. Termindruck oder Prüfungsdruck. Dieser psychische Stress führt insgesamt zu Anpassungsvorgängen in unserem Körper, die es uns ermöglichen, für kurze Zeit maximale Reserven zu rekrutieren. Sofern zu viele Stressoren jedoch zu lange anhalten, führt dies zu einer Überlastung im Körper mit den entsprechenden Folgeerscheinungen wie physischer (z. B. ein schwerer Infekt) oder psychischer Erkrankungen (z. B. Burnout). An diesem Beispiel sieht man, wie eng unser Denken und unsere Informationsverarbeitung mit dem restlichen Körper verbunden sind. Wie also schon eingangs erwähnt, erkennt man anhand dieser Beispiele, dass es beim Thema Vernetztes Denken sowohl den reduktionistischen lokalen Ansatz mit spezifischen Funktionseinheiten benötigt, die ausfallen können, wie auch den globalen Ansatz, dass ein Netzwerk an sich und eingebettet im grösseren Ganzen gestört werden kann. 3 Wie lernt unser Gehirn? Die Fähigkeit, neue Informationen aufzunehmen, zu lernen und zu speichern, ist essenziell, um sich in unserem Alltag zurecht zu finden. Die Fähigkeit, Dinge zu erinnern, erlaubt es uns, Wissen über unsere Umgebung, aber auch über uns selbst zu erlangen. Sofern diese Prozesse gestört sind, ist ein normales Leben nicht mehr denkbar, da eine adäquate und angepasste Reaktion auf bekannte Reize nicht mehr möglich ist. 1 Jeder Moment wäre dann ein neu zu verarbeitender Prozess. Lernprozesse ermöglichen es uns jedoch, unser Verhalten und Denken graduell auf Basis früherer Ereignisse anzupassen, wobei diese Änderungen und Anpassungen über längere Zeit andauern sollten. Nur so können 1 Beispiel eines Menschen mit gestörtem Gedächtnis, dessen Gedächtnisspanne bei ca. 30s liegt: www.youtube.com/ watch? v=WmzU47i2xgw. 12 Francina Hartmann / Annette Milnik wir im Umgang mit unserer Umgebung adäquat kommunizieren und im Jetzt sowie in der Zukunft vorankommen. In der Wissenschaft werden Erinnerung und Lernen in unterschiedliche Formen des Gedächtnisses eingeteilt. Eine erste Einteilung geschieht auf der zeitlichen Ebene. Hier wird zwischen dem Kurzzeitgedächtnis unterschieden, welches Informationen für Sekunden bzw. Minuten speichert, sowie dem Langzeitgedächtnis, welches Informationen für Stunden und Jahre speichert. Beim Kurzzeitgedächtnis gibt es speziell noch das Arbeitsgedächtnis, welches beschreibt, dass wir Inhalte nicht nur kurzfristig speichern, sondern währenddessen auch aktiv manipulieren. Ein Beispiel hierfür wären z. B. Rechenaufgaben. Die einzelnen Komponenten der Aufgabe müssen im Gedächtnis gehalten und dann miteinander verbunden werden. Somit bezieht sich das Kurzzeitgedächtnis allein auf die kurzzeitige Abspeicherung von Informationen, wohingegen das Arbeitsgedächtnis eine begrenzte Informationsmenge aktiv bearbeitet. Zusätzlich kann es dabei auch noch Informationen, die im Langzeitgedächtnis gespeichert sind, abrufen und erneut verarbeiten. Damit ist es möglich, dass bereits gespeicherte Inhalte mit neuen Informationen verknüpft, entsprechend verändert und dann neu abgespeichert werden. 2 Beim Langzeitgedächtnis werden verschiedene Typen von Langzeitgedächtnis unterschieden. 3 Zum einen gibt es das explizite ( deklarative ) Gedächtnis, das unserer Fähigkeit entspricht, Fakten zu behalten und wiederzugeben sowie Ereignisse und Informationen aus dem persönlichen Leben abzuspeichern. Bei dieser Art des Gedächtnisses ist uns bewusst, dass wir etwas wissen. Zum anderen beschreibt das implizite ( non-deklarative ) Gedächtnis unsere Fähigkeit, neues Wissen zu erlangen, ohne dass wir uns dessen aktiv bewusst sind. Ein Beispiel hierfür wäre z. B. motorisches Lernen. Dabei erlernen wir Fertigkeiten wie Fahrradfahren durch Training. Sobald wir die Fähigkeit beherrschen, erfolgt der Abruf weitgehend automatisch, ohne dass wir uns bewusst an jede Bewegung erinnern müssen. Beide Gedächtnistypen basieren auf unterschiedlichen Hirnregionen und laufen entsprechend nebeneinander ab. 4 Ein spezieller Aspekt ist das emotionale Gedächtnis, welches spezielle Hirnregionen rekrutiert. Dem ‚Gedächtnis‘ oder ‚Abruf ‘ von Erinnerungen geht der Prozess des Lernens voraus. Damit wir Informationen lernen können, müssen wir diese erst einmal durch die unterschiedlichen Sinnesorgane aufnehmen. Diesen Prozess bezeichnet man als Enkodierung. Informationen, die nach dem Enkodieren in unser Kurzzeitgedächtnis gelangen, können entweder im Arbeitsgedächtnis 2 Vgl. Cowan, Differences. 3 Vgl. Dickerson/ Eichbaum, Episodic Memory; Kandel u. a., Memory; Squire/ Zola, Structure. 4 Vgl. Squire, Memory. Vernetztes Denken aus Sicht der Neurowissenschaften 13 verarbeitet und danach direkt wieder abgerufen oder über den Prozess der Konsolidierung ins Langzeitgedächtnis transferiert werden. Bei der Konsolidierung werden bereits vorhandene Gedächtnisinhalte durch wiederholtes Lernen verstärkt abgespeichert und gefestigt oder mit neuem Wissen verknüpft und neu angelegt. Der Schritt der Konsolidierung ist somit ein dynamischer Prozess, in dem die bestehenden Inhalte durch Reaktivierung kurzzeitig erneut frei zugänglich werden und bearbeitet werden können, was zu einer Reorganisation der Gedächtnisspuren führt. In der Didaktik nutzen wir es aus, dass Lernen in einem Netzwerk aus Hirnregionen und Funktionseinheiten stattfindet. Verschiedenen Lerntechniken nutzen hier verschiedene Komponenten. Eselsbrücken z. B. nutzen es aus, dass wir Dinge zu einer Einheit zusammenfügen (die Eselsbrücke), die dann die verschiedenen Unterkomponenten, die erinnert werden sollen, assoziativ verbindet. Beim Mitschreiben nutzen wir es aus, das motorische System neben dem auditiven System zu aktivieren, und damit eine tiefere Verarbeitung zu ermöglichen. Generell kann man sagen, dass die Verarbeitung neuer Informationen tiefer ist wenn mehr Modalitäten aktiviert werden. Das Erlernen neuer Informationen ist immer dann besonders schwierig, wenn wir noch nicht auf ein schon vorhandenes Informationsnetzwerk zurückgreifen können, sondern dies erst (mühsam) aufgebaut werden muss. Sobald ein Grundstock vorhanden ist, der aktiviert werden kann, werden darauf aufbauend neue Informationen deutlich schneller verarbeitet und integriert. Deshalb brauchen Anfänger auch wesentlich mehr Wiederholungen, da diese dazu dienen ein Informationsnetzwerk aufzubauen. Des Weiteren spielen Emotionen bei allen Lernprozessen eine weitere wichtige Rolle. Darauf werden wir später noch eingehen. Neben dem Aufbau von Gedächtnisinhalten gibt es auch das Vergessen von neu gelernten Inhalten. Das Vergessen ist ein wichtiger Prozess, welcher tatsächlich nicht grundsätzlich eine Fehlleistung des Gehirns darstellt. Vergessen ist ein wichtiger Prozess, um Relevantes von Irrelevantem zu trennen. Durch das Überschreiben von Informationen können wir neue Informationen abspeichern. Vor allem während der ersten Stunden und Tage nach dem Lernen zeigt sich ein substantieller Verlust neu gelernter Inhalte. In der Folge ist der Verlust dann graduell. 5 Je häufiger Inhalte wiederholt werden, desto seltener werden diese vergessen. Diese Vergessenskurven sind zudem auch abhängig von persönlichen und Umweltfaktoren. Wie wichtig es ist, dass wir auch vergessen können, zeigt sich unter anderem bei Menschen, die sich jedes einzelne Detail ihres Lebens, inklusive Datum, merken können. In der Wissenschaft wird dieses seltene 5 Vgl. Ebbinghaus, Gedächtnis. 14 Francina Hartmann / Annette Milnik Phänomen als HSAM ( Highly Superior Autobiographical Memory )-Syndrom bezeichnet. 6 Für Betroffene kann diese Fähigkeit zu einer hohen Belastung werden, insbesondere weil sie auch negative Erlebnisse nicht vergessen können 7 . Was genau beim Vergessen, speziell aus dem Langzeitgedächtnis, geschieht, ist noch nicht geklärt. Es kann sein, dass Informationen nicht abgerufen werden können, weil der Konsolidierungsprozess nicht richtig stattgefunden hat (Informationen wurden nicht richtig gespeichert oder wurden überschrieben) oder die Information zwar abgespeichert wurde, sie aber nicht abgerufen werden kann. 8 Neuere Forschungen zeigen, dass das Vergessen ein aktiver Prozess zu sein scheint, der durch molekulare Mechanismen gesteuert wird. So konnte in einer Studie mit Fadenwürmern ( C. elegans ) gezeigt werden, dass die Lebensdauer von gespeicherter Information von der Funktionsweise ganz bestimmter Proteine abhängig ist, die die Stabilisierung von Gedächtnisspuren beeinflussen können. 9 Unser Gedächtnis ist also ein dynamischer Zustand, der nicht nur aus Abspeichern und Vergessen besteht, sondern tatsächlich auch aus Umgestalten und Transformieren von schon gelernten Dingen. In unserem Gedächtnisnetzwerk werden Informationen kontinuierlich verändert und angepasst, und sowohl die Stärke der Gedächtnisspuren im Netzwerk als auch die Inhalte verändern sich. Bei diesen Prozessen kann es zu Interferenzen zwischen Inhalten kommen, speziell wenn diese ähnlich zu vorhergehend gelernten Inhalten sind. Die unterschiedlichen Informationen, die wir aufnehmen, konkurrieren um das gleiche Netzwerk und können sich dadurch überlagern, was dann wiederum zur Hemmung von Gedächtnis führen kann. 10 Ein wichtiger Faktor, der uns hilft, zwischen verschiedenen Informationen und deren Relevanz zu entscheiden, sind unsere Emotionen, auf deren Bedeutung wir im nächsten Abschnitt eingehen. 4 Welche Rolle spielen Emotionen? Emotionen beeinflussen, was wir wahrnehmen, beachten und erinnern. Sie bewirken, dass eine Situation rasch bewertet wird, um eine optimale Verhaltensreaktion auszulösen. Dies ist speziell aus evolutionärer Sicht für den Schutz vor Schaden und für das Überleben in gefährlichen Situationen wichtig. Emo- 6 Vgl. LePort u. a., Cognitive Assessment. 7 Vertiefende Informationen zu HSAM: https: / / www.youtube.com/ watch? v=oHeEQ85m79I; www.youtube.com/ watch? v=en23bCvp-Fw. 8 Vgl. Wixted, Forgetting. 9 Vgl. Hadziselimovic u. a., Forgetting. 10 Vgl. Herszage/ Censor, Memory. Vernetztes Denken aus Sicht der Neurowissenschaften 15 tionen können als Reaktion auf verschiedene Reize verstanden werden, die für eine kurze Zeit auftreten und zum Teil sehr intensiv sind. Die Reize können Situationen sein, Gerüche oder Musik, die ganz bestimmte Reaktionen in uns auslösen. Diese Reaktionen, wie z. B. Angst, Freude, Ärger, zeigen sich in einer Anpassung unseres Denkens, also der Hirnaktivität, sowie in der Veränderung verschiedenster Körperfunktionen, wie z. B. der Herzfrequenz. Auch für den sozialen Umgang mit anderen Menschen und das Zusammenleben ist es wichtig, dass wir uns besonders an emotionale Ereignisse, wie z. B. Verhaltensregeln bei Gefahr, gut erinnern können. So kann uns die Erinnerung oder anders gesagt Erfahrung, die wir abgespeichert haben, helfen, Signale und Handlungen anderer Menschen rasch zu verstehen und adäquat darauf zu reagieren. Zudem werden unsere Gefühle durch Erfahrungen, die wir abspeicherten, beeinflusst. Emotionen bestimmen mit, an was wir uns aus unserer Vergangenheit erinnern. So konnte in diversen Studien gezeigt werden, dass emotionale Inhalte (positive sowie negative) besser erinnert werden als neutrale und dass dieser Effekt auch über längere Zeit anhält. 11 Hoch emotionalisierte Erlebnisse können so eine verstärkte Abspeicherung im Gedächtnis bewirken. Z. B. wurde gezeigt, dass der Grad der emotionalen Erregung zum Zeitpunkt des Lernens mit dem Effekt interagiert, wie sich Stresshormone, wie etwa das Cortisol , auf die Gedächtniskonsolidierung auswirken. 12 Die emotionale Erregung verstärkt die Konsolidierung von Gedächtnisinhalten. Emotionale Informationen werden mit solchen aus dem expliziten sowie dem impliziten Langzeitgedächtnis verknüpft. Somit wird die Stärke einer Gedächtnisspur verstärkt. Bei einer erneuten Aktivierung dieser Gedächtnisspuren breitet sich die Aktivierung auch zu den gekoppelten emotionalen Informationen aus. Es können jedoch umgekehrt Gedächtnisinformationen, die an und für sich nicht emotionaler Natur sind, durch emotionale Informationen abgerufen werden. 13 Emotionen, speziell wenn sie im Zusammenhang mit Stress und der dadurch angeregten Ausschüttung von Stresshormonen (v. a. Cortisol ) stehen, können, wie bereits erwähnt, die Konsolidierung verbessern. Jeder wird den Effekt kennen, dass man sich in stressigen Prüfungsphasen plötzlich viel mehr Dinge einprägen kann. Andererseits gibt es aber auch negative Effekte von Stresshormonen auf die Abrufleistung. Ein erhöhter Cortisolspiegel im Blut während des Abrufs kann den Abruf aus dem Gedächtnis erschweren oder gar hemmen. Nehmen wir als Beispiel das Phänomen der Prüfungsangst. Zu starke Emotionen bzw. Stress 11 Vgl. Dolcos u. a., Remembering. 12 Vgl. Cahill u. a., Memory. 13 Vgl. Jäncke, Lehrbuch. 16 Francina Hartmann / Annette Milnik können einen negativen Einfluss auf den Abruf des gelernten Prüfungsstoffs nehmen. Es kommt zu einem Blackout und die Person erinnert sich kurzzeitig an gar nichts mehr. Der Zugang zu den Gedächtnisspuren ist zeitlich begrenzt nicht möglich. Zugleich prägt sich dieses Erlebnis des Blackouts für immer in unser Gedächtnis ein, da es hoch emotional und für das Individuum von hoher Relevanz ist. Die Konsolidierung des Ereignisses wird also durch die Emotion unterstützt. Diese Effekte sollen unter normalen Bedingungen dafür sorgen, dass neue Situationen, die durch ihre Emotionalität als für die Person relevant hervorgehoben werden, besonders gut abgespeichert werden können. Die Hemmung des Abrufs (also der Blackout) dient demnach dazu, die Konsolidierung der neuen Situation zu unterstützen, indem störende Effekte durch etwaige Abrufprozesse alter Informationen unterbunden werden. Aus Sicht des Betroffenen mit Prüfungsangst ist dieser Mechanismus natürlich wenig hilfreich. Speziell bei Angststörungen spielt die Koppelung von Emotionen und Informationsverarbeitung eine wichtige Rolle. So kann es zu einem negativen Kreislauf kommen, wenn Personen immer wieder der angstauslösenden Situation oder dem Objekt ausgesetzt sind und die Emotionen, die sie dann verspüren, zu einer noch tieferen Abspeicherung des Angstgedächtnisses führen. 14 Bei besonders emotionalen traumatischen Ereignissen kann es sogar sein, dass eine einzige Exposition zur Abspeicherung eines Netzwerkes aus Emotionen und Erinnerungen führt und es eine posttraumatische Belastungsstörung hervorruft. 15 Bei dieser geht die Störung so weit, dass sich via ‚Flashbacks‘ die Gedächtnisspuren immer wieder in den Vordergrund drängen und herausbrechen. Dies äußert sich darin, dass die betroffenen Personen im Alltag von ihren Erinnerungen übermannt werden. Sie werden dadurch massiv in ihrem Alltag beeinträchtigt. Vereinfacht ausgedrückt kann man sagen, dass die eine emotionale Erinnerung im neuronalen Netz die Führung übernimmt und sich immer wieder in den Vordergrund drängt. Oft reicht es z. B. aus, dass eine traumatisierte Person einen Geruch wahrnimmt oder ein Objekt sieht, das zum Zeitpunkt des Ereignisses präsent war, um das ganze Erlebnis innerlich wieder zu durchleben 16 . Bei der Therapie der posttraumatischen Belastungsstörung zielt man in verschiedenen Ansätzen darauf, die negativen Gedächtnisabläufe zu unterbinden bzw. umzuformen, also die gebildeten Netzwerke zu verändern. Dabei versucht man die Gedächtnisinhalte über eine erneute Konsolidierung so zu verändern, dass die 14 Vgl. Bentz u. a., Therapy. 15 Vgl. Brewin, Memory. 16 Beispiele und Hintergrundinformationen zu PTSD: www.youtube.com/ watch? v=PFW4hYsYF-o; www.youtube.com/ watch? v=BEHDQeIRTgs Vernetztes Denken aus Sicht der Neurowissenschaften 17 negative Komponente überschrieben wird und somit nicht mehr als emotional belastend wahrgenommen werden kann. 17 Genau wie negative Emotionen beeinflussen auch positive unser Denken. Ein Beispiel hierfür ist das Belohnungssystem. Ein äußerer Reiz, wie z. B. Schokolade oder ein Lob, löst positive Emotionen wie Freude oder Stolz aus und aktiviert darüber das Belohnungssystem, das aus verschiedenen Hirnarealen besteht, die mit Emotionen und Gedächtnisprozessen assoziiert sind. Dabei wird Dopamin ausgeschüttet, das wie ein Trigger auf das Belohnungssystem wirkt. Je mehr davon ausgeschüttet wird, desto stärker wird das Verlangen nach mehr. Wir erhalten damit eine Rückmeldung auf unser Verhalten und lernen, wie wir die Ausschüttung von Dopamin und das gute Gefühl herbeiführen können. 18 Diese positiven Situationen werden im Anschluss immer wieder aufgesucht. In der Didaktik können wir diesen Effekt nutzen, indem wir die Lernenden für ihre Fortschritte und Leistungen loben. Wenn die Lernenden Freude an dem Lernstoff haben und Erfolgserlebnisse während des Lernprozesses verspüren, dann ist es wahrscheinlicher, dass sie sich mit diesen Themen auch in Zukunft beschäftigen. Beim Zusammenspiel von Emotionen und Lernen sind verschiedene Hirnsysteme beteiligt. Dabei spielt die Amygdala eine wichtige Rolle. Es konnte gezeigt werden, dass der Effekt von emotionaler Erregung auf das Gedächtnis durch die Amygdala vermittelt wird. 19 Emotional erregende Ereignisse führen zur Ausschüttung von Noradrenalin im basolateralen Komplex der Amygdala, der ein wichtiges Ziel für Glucocorticoid - Hormone ist. Noradrenalin sowie Glucocorticoid-Hormone scheinen im Zusammenspiel wichtig für die besonders gute Verarbeitung emotionaler Informationen zu sein. So ist besonders in gefährlichen Situationen eine rasche Reaktion möglich und der Körper wird sofort aktiviert, um adäquat zu handeln. Die Interaktion von Glucocorticoid-Hormonen und Noradrenalin in der Amygdala moduliert zudem Gedächtnisprozesse in anderen Hirnregionen wie dem Präfrontalen Kortex, Hippocampus und Nucleus caudatus. 20 Diverse Studien zeigen, dass die hormonale Änderung in der Aktivität der Amygdala die Gedächtniskonsolidierung bestimmt, indem sie die Plastizität in anderen Hirnregionen beeinflusst, die wichtig für Konsolidierungsprozesse, so z. B. der Präfrontale Cortex oder der Hippocampus, sind. 21 Ein weiterer Hin- 17 Vgl. de Quervain/ Margraf, Glucocorticoids; Hintergrundinformationen zur Behandlung von PTSD: www.youtube.com/ watch? v=ORs3-tRokGU. 18 Hintergrundinformationen zu Belohnung und Drogen: www.youtube.com/ watch? v=7VUlK- P4LDyQ. 19 Vgl. McGaugh, Memories. 20 Vgl. de Quervain u. a., Glucocorticoids; Schwabe u. a., Stress. 21 Vgl. Roozendaal u. a., Stress. 18 Francina Hartmann / Annette Milnik weis, dass die Amygdala eine Rolle beim Zusammenspiel von Emotionen und Lernen spielt, kommt aus Studien, die sich mit Patienten befassen, die bilaterale Amygdala-Läsionen haben. Hier konnte gezeigt werden, dass diese Patienten keine oder geringere Reaktionen auf angstauslösende Reize zeigen. 22 Zudem fanden Forscher in einer funktionellen Magnetresonanz-Studie heraus, dass es während des Lernens von emotional erregenden Bildern im Vergleich zu neutralen Bildern zu einer verstärkten Konnektivität zwischen der Amygdala und dem Hippocampus kommt. 23 Diese Belege deuten darauf hin, dass Emotionen beim Lernen sowie beim späteren Konsolidierungsprozess eine Rolle spielen. Wir haben nun einige Beispiele dafür vorgestellt, dass emotionale Situationen zu einer verbesserten Informationsverarbeitung führen können. Dass die Erinnerungen, die hierbei abgespeichert werden, jedoch nicht immer korrekt sein müssen, stellt die Problematik bei Zeugenaussagen dar. Erinnerungen werden neu bearbeitet und können verändert werden. Dies gilt besonders in emotionalisierten Situationen. Daher kann es bei Zeugenaussagen zu fehlerhaften oder falschen Erinnerungen kommen, insbesondere wenn die falsche Befragungstechnik angewendet wird. 24 Im nächsten Abschnitt werden wir uns nun damit beschäftigen, wie Lernprozesse, Gedächtnis und Emotionen sich auf Entscheidungsprozesse auswirken. 5 Wie finden Entscheidungsprozesse statt? Entscheidungen müssen jeden Tag getroffen werden. Wie wir dies tun, hängt stark mit vernetztem Denken zusammen. Um erfolgreiche Entscheidungen zu treffen, müssen alle Informationen, die zur Verfügung stehen, gemeinsam analysiert werden. Dabei spielen Gedächtnisprozesse eine wichtige Rolle, da auch Informationen aus vergangenen Erfahrungen für Entscheidungsprozesse wichtig sind. Entscheidungsprozesse basieren auf einem Netzwerk aus alten und neuen Erfahrungen sowie möglichen Konsequenzen, die gemeinsam berücksichtigt werden müssen. Hierbei ist es wichtig, dass der Prozess einer Entscheidungsfindung auf unterschiedlichen Informationsverarbeitungsformen beruhen kann. Es wird zwischen eher analytischen und eher intuitiven, heuristischen Vorgehensweisen unterschieden, die unterschiedliche Netzwerke der Verarbeitung voraussetzen. 22 Vgl. Klumpers u. a., Reflexes. 23 Vgl. Fastenrath u. a., Modulation. 24 Hintergrundinformationen zu falschen Erinnerungen: www.youtube.com/ watch? v=WpRyUeMfBIc. Vernetztes Denken aus Sicht der Neurowissenschaften 19 Analytische Prozesse werden eher für neue komplexe Probleme genutzt und sind zeitaufwendiger. Sie basieren auf logischem Denken und der Fähigkeit, sich auf relevante Informationen zu fokussieren. Gewisse Entscheidungen müssen sehr sorgfältig durchdacht werden und können schwerwiegende Folgen haben. Als Beispiel sollen hier Entscheidungsprozesse in der Medizin angeführt werden. Hier werden jeden Tag Entscheidungen getroffen, die das Leben von Menschen betreffen, von der Diagnose bis hin zur Behandlung. Dabei müssen viele Faktoren berücksichtigt und miteinander verbunden werden. Ärzte greifen hier auf ihr erlerntes Wissen aus dem Studium sowie auf Erfahrungen aus früheren Behandlungen zurück. Zudem müssen die Folgen einer Entscheidung abgeschätzt werden und vieles mehr. Hinzu kommt, dass in der Klinik oft nicht nur eine Person eine Entscheidung trifft, sondern wichtige Entscheidungen im Team und mit dem Patienten gefällt werden. Somit kommt ein Netzwerk aus Informationen von verschiedenen Seiten zusammen. Dies bezeichnet man als geteilte Entscheidungsfindung. 25 Anders ist es, wenn Entscheidungen sehr schnell getroffen werden müssen, ohne dass ausreichend Informationen zur Verfügung stehen oder diese weniger weitgreifend sind. Hier werden eher die intuitiven Prozesse genutzt. Diese beruhen verstärkt auf Erfahrungen und werden für viele alltägliche Entscheidungen genutzt. So entscheiden wir z. B. eher intuitiv, was wir am Morgen anziehen werden oder welches von mehreren ähnlichen Produkten im Geschäft wir kaufen werden. Dabei ist auch relevant, welche Produkte wir bereits kennen. 26 Die Hochschullehre und die meisten Hochschulstudien zielen schlussendlich darauf ab, die Studierenden darauf zu trainieren, Entscheidungen auf Basis der analytischen Herangehensweise zu treffen, und nicht nur nach dem Bauchgefühl bzw. intuitiven Prozessen zu handeln. Jeder wird von sich selbst im Alltag wissen, dass der analytische Weg des Abwägens und Gewichtens wesentlich mehr Ressourcen kostet, da hier viel mehr und häufig auch neue Informationen von uns integriert verarbeitet werden, als einfach dem Bauchgefühl und den intuitiven Erfahrungen zu folgen. Aus Sicht des Netzwerkes und seiner Einheiten könnten man sagen der analytische Weg nutzt das Netzwerk im Gesamten aus während beim Bauchgefühl einer Instanz im Netzwerk der Vorrang gegeben wird. Entscheidungen werden zudem von Emotionen und Persönlichkeitsfaktoren beeinflusst. Wie bereits gezeigt, können Emotionen kognitive Prozesse beeinflussen. So spielt auch bei Entscheidungsprozessen der gegenwärtige emotionale Zustand eine wichtige Rolle. Der Einfluss von Emotionen auf Entscheidungs- 25 Vgl. Elwyn u. a., Decision. 26 Vgl. Soane u. a., Relationship. 20 Francina Hartmann / Annette Milnik prozesse folgt allerdings nicht immer einer klaren Regel und wird vor allem bei Unsicherheit genutzt. Emotionen besitzen ganz verschiedene Funktionen bei der Entscheidungsfindung. So können Emotionen Informationen über Wohlbehagen und Schmerz im Zusammenhang mit der präferierten Entscheidung liefern. Wir merken anhand unserer Emotionen, ob eine Entscheidung positive oder negative Auswirkungen für unser Wohlbefinden haben wird. Wenn wir uns z. B. zwischen zwei Aktivitäten entscheiden müssen, werden wir uns eher für die entscheiden, bei der wir das letzte Mal erfolgreich waren, die also mit positiven Emotionen belegt ist. Emotionen können aber auch eine rasche Entscheidung unter Zeitdruck ermöglichen oder helfen, die Aufmerksamkeit auf die relevanten Informationen eines Problems zu richten. Informationen, die mit Emotionen verknüpft sind, haben oft die größere Gewichtung für Entscheidungen als neutrale Informationen. Wir gehen im Entscheidungsprozess davon aus, dass etwas, das uns emotional berührt, auch die weitreichenderen Folgen haben wird. Zudem helfen Emotionen bei der Entscheidung in moralischen und sozialen Situationen. Sie helfen uns dabei, uns in eine Situation hineinzuversetzen, so dass wir eine innere Ahnung davon haben können, was moralisch und sozial korrekt ist. Da wir uns nach einer Entscheidung auch gut fühlen wollen, werden wir uns auf dieses innere Gefühl verlassen. Emotionen hängen immer auch mit körperlichen Signalen zusammen und oft werden auch diese bei einer Entscheidung mitberücksichtigt. Haben wir z. B. eher ein beklemmendes Gefühl, werden wir uns wohl eher dagegen entscheiden. 27 Wie diese Emotionen und weitere Informationen im ganzen Netzwerk einer Entscheidungsfindung interpretiert und genutzt werden, hängt auch von der Persönlichkeit der entscheidenden Person ab. Je nach Persönlichkeitstyp werden andere Faktoren im ganzen Entscheidungsgefüge stärker gewichtet. Z. B. hören impulsive Personen eher auf ihr Bauchgefühl und sind risikoliebender, wohingegen introvertierte Personen mehr Wert auf Fakten und Logik legen. Sie sind in ihren Entscheidungen vorsichtiger und objektiver. 28 6 Vernetztes Denken innerhalb eines Kollektivs Zum Abschluss möchten wir das vernetzte Denken innerhalb eines Individuums mit dem innerhalb eines Kollektivs vergleichen. Kollektives Denken vor der Zeit des Internets war natürlich auch vorhanden, hatte jedoch gewisse Restriktionen. In Zeiten des Internets gibt es tatsächlich eine globale ‚Schwarmintelligenz‘. 27 Vgl. Pfister/ Böhm, Emotions. 28 Hintergrundinformationen zur Persönlichkeit und deren Einfluss auf unsere Denkprozesse vgl. www.youtube.com/ watch? v=8pq_tCgDkT4. Vernetztes Denken aus Sicht der Neurowissenschaften 21 Prinzipiell kann sich jeder mit jedem in Sekundenschnelle weltweit austauschen. Damit haben wir es mit einem global vernetzten Denken zu tun. 29 Ausgehend vom Internet als Ort eines sozialen Netzwerkes ist hier der Aspekt des Lernens im sozialen Kontext besonders wichtig. Wie wir vorher schon genauer erläutert haben, sind Emotionen ein wesentlicher Treiber für Lernprozesse. Die sozialen Medien nutzen dies aus, indem sie ‚Likes‘ einführen. Wir erhalten also eine positive Verstärkung, wenn wir uns in den sozialen Netzwerken aufhalten und für unsere Beiträge ‚Likes‘ erhalten, da diese unser Belohnungssystem aktivieren. In der aktuellen Filmwelt beschäftigen sich mehrere Filme mit diesem Phänomen - speziell die Folge Abgestürzt der Serie Black Mirror 30 zeigt, wie sich diese Entwicklung in der Zukunft auf eine Gesellschaft auswirken kann. In der Serie bewerten sich Menschen untereinander und sichern sich damit ihren gesellschaftlichen Status. Es wird gezeigt, wie die Protagonistin um soziale Anerkennung bemüht ist, es aber aus verschiedenen Gründen zu ihrem sozialen Abstieg kommt, indem sie ihre guten Bewertungen verliert. Das Buch The Circle 31 greift diese Problematik im größeren Kontext auf. In ihm wird dargestellt, wie der Einzelne in ein soziales Netzwerk hineingezogen und damit der Öffentlichkeit komplett preisgegeben wird. So wird der Einzelne der sozialen Kontrolle der Öffentlichkeit vollständig ausgeliefert. Auch in diesem Buch geht es dem Protagonisten darum, möglichst populär zu sein. Der Einzelne wird in seinem eigenen Denken vom größeren sozialen Netzwerk, dessen Meinung und somit vom kollektiven Denken vollständig abhängig. Warum ist es nun für uns so wichtig, sich mit diesen Mechanismen zu beschäftigen? Wir als soziale Wesen, die vernetzt denken und jetzt in einer vernetzt denkenden Welt leben, werden trotzdem von ganz basalen evolutionären Mechanismen getrieben. Einer dieser basalen Mechanismen sind Emotionen, die unser Handeln antreiben und über die wir leicht manipuliert werden können. Die Abhängigkeit von ‚Likes‘, also einer Form sozialer Bestätigung, sind ebenso ein wichtiger Manipulationsfaktor, wie unsere Abhängigkeit von unserer sozialen Umwelt. Soziale Isolation kann als Strafe eingesetzt werden. Damit sind wir automatisch auch abhängig vom größeren Ganzen. 32 29 Als Startpunkt für ein solches vernetztes Denken ist das Jahr 1990 anzusehen, in dem das Internet für die kommerzielle Nutzung freigegeben wurde. Facebook als Beispiel eines sozialen Netzwerkes wurde 2004 gegründet. 30 Netflix, im Englischen Nosedive, Black Mirror Staffel 3, Folge 1; www.youtube.com/ watch? v=yETK9uolnkk. 31 Autor Dave Eggers, verfilmt, Regie James Ponsoldt: www.youtube.com/ watch? v=-tIpycy- JAVo. 32 Eine gute Zusammenfassung dieses Zusammenhangs geben Meshi u. a., Social Media. 22 Francina Hartmann / Annette Milnik Ein spezielles Phänomen in den sozialen Medien sind noch die ‚Influencer‘. Influencer sind Personen, die als Einzelne stark auf ein Netzwerk einwirken können. Auf der Ebene des Individuums hatten wir uns ja bereits damit beschäftigt, wie sich einzelne Hirnregionen auf ein ganzes Netzwerk auswirken können. ‚Influencer‘ in sozialen Medien sind ein vergleichbares Phänomen, da sich hier das Handeln einzelner Menschen auf das Kollektiv eines sozialen Netzwerkes auswirken kann. Ein weiteres, von der Ebene des Individuums auf ein Netzwerk übertragbares Phänomen ist das Vergessen. Die aktuelle Gesetzgebung beschäftigt sich intensiv mit dem vernetzten Denken auf globaler Ebene, umgesetzt in der EU-Datenschutzgrundverordnung. Als ein Stichwort ist hier unter anderem das ‚Recht auf Vergessen-werden‘ zu nennen - Vergessen ist auf individueller Ebene ein wichtiger Mechanismus und wird jetzt auch auf globaler Ebene diskutiert bzw. umgesetzt. Zudem dürfen personenbezogene Daten nicht uneingeschränkt genutzt werden. Das kollektive Gedächtnis hat also nicht mehr Zugriff auf alle Informationen jeder einzelnen ‚Funktionseinheit Mensch‘. Daher besteht eine Pflicht zur Löschung veralteter oder falscher Daten. All diese Beispiele verdeutlichen, dass Netzwerke an sich einem bestimmten Aufbau und spezifischen Regeln folgen, die sich wiederholen. Es gibt einzelne Funktionseinheiten, die man begreifen und voneinander abgrenzen muss. Innerhalb des Netzwerkes gibt es Funktionssowie Kerneinheiten, die sich auf das gesamte Netzwerk auswirken können. Ein Netzwerk lernt und verändert sich, so dass auch das Vergessen ein Teil solcher Lernprozesse ist. Der Zusammenhang von vernetztem Denken auf individueller und auf kollektiver Ebene ruft dazu auf, Einsichten über die Regelmechanismen vernetzten Denkens des Individuums auch auf das vernetzte Denken des Kollektivs zu übertragen. Aus Sicht der Neurowissenschaften ist es daher wichtig, zu verstehen, wie Netzwerke aufgebaut sind und funktionieren, um Grundprinzipien einfacherer Netzwerke (also z. B. eines Individuums) auf komplexere Netzwerke (also z. B. eines globalen sozialen Netzwerks) übertragen zu können. Ganz grundsätzlich ist es wichtig, dass man die einzelnen Funktionseinheiten immer sowohl separat als auch eingebettet im gesamten Netzwerk betrachtet, um zu verstehen, wie ein Netzwerk und damit auch Vernetztes Denken funktioniert. Vernetztes Denken aus Sicht der Neurowissenschaften 23 Literatur Bentz, Dorothée u. a.: Enhancing exposure therapy for anxiety disorders with glucocorticoids: from basic mechanisms of emotional learning to clinical applications, Journal of anxiety disorders, 24/ 2 (2010), 223-230. Brewin, Chris R.: The nature and significance of memory disturbance in posttraumatic stress disorder, Annual Review of Clinical Psychology 7 (2011), 203-227. Cahill, Larry u. a.: Enhanced human memory consolidation with postlearning stress: interaction with the degree of arousal at encoding, Learning & memory, 10/ 4 (2010), 270-274. 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