eJournals Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa) 3/2

Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa)
2366-0597
2941-0789
Francke Verlag Tübingen
2018
32 Fischer Heilmann Wagner Köhlmoos

Nur ein einziges Buch

2018
Lukas Bormann
Forum Exegese und Hochschuldidaktik Verstehen von Anfang an (VvAa) Jahrgang 3 -2018, Heft 2 Nur ein einziges Buch Bibelkunde als hochschuldidaktische Herausforderung in den modularisierten Studiengängen der Ev. Theologie Lukas Bormann Abstract | The paper deals with teaching and learning in “Bibelkunde”, which means in the German theological studies the teaching of basic knowledge about the contents and structures of the biblical books with respect to chapter and verses. The author gives an overview over current teaching instructions of German Universities (module descriptions, examination regulations) and presents the results of a qualitative interview of students and alumni. The paper states that teaching the Bible as part of an academic training in Theology necessarily has to address basic results of the critical research in the Bible. 1 Inhalt und Aufbau der Bibel als Gegenstand universitärer Lehre ‚Nur ein einziges Buch! ‘, das war die Reaktion eines Professors für Pädagogische Psychologie, als ich mit ihm über eine Lehrveranstaltung in Bibelkunde ins Gespräch kam. Die übliche Antwort des Theologen, dass es sich in Wahrheit um eine ganze Bibliothek handele, die historische, kulturelle und religionsgeschichtliche Sachverhalte reflektiere, die sich über einen Zeitraum von etwa 1500 Jahren mit mehrfachen grundlegenden Veränderungen im Weltbild und in den anthropologischen Grundannahmen und schließlich im Übergang vom Alten Orient über das persische Reich hin zum Hellenismus erstrecke, war eine wohlfeile Apologie im Rahmen eines universitären Flurgesprächs, die aber letztlich auf das Verdikt ‚nur ein einziges Buch! ‘ nicht völlig zutreffend reagierte. 8 Lukas Bormann Der Hinweis auf die Bibliothek und das Anführen des umfangreichen Wissens, das erst ein Verständnis der über einen langen Zeitraum entstandenen verschiedenen biblischen Bücher eröffnet, hat zwar die wissenschaftliche Theologie verteidigt, nicht aber die Lehrveranstaltung Bibelkunde, in der die genannten Sachverhalte nicht unmittelbar Gegenstand sind, da sie in den Bereich der Einleitungswissenschaften fallen. Bibelkunde nach der in der deutschen Theologie vorherrschenden klassischen Definition umfasst: Inhalt und Aufbau der Bibel nach Kapitel- und Versgruppen geordnet auf der Basis einer deutschen Bibelübersetzung, bzw. in der vollständigen Definition der vom Evangelisch-theologischen Fakultätentag verabschiedeten Bibelkundeordnung: „Gesamtüberblick über Inhalt und Aufbau der biblischen Bücher anhand des deutschen Textes, wobei in der Regel die Kenntnis der Inhalte nach Kapiteln bzw. Kapitelgruppen erwartet wird. Die örtlichen Prüfungsbestimmungen können vorsehen, dass ergänzend grundlegende biblische Themen und Motive durch das Alte und das Neue Testament hindurch verfolgt werden. Es besteht die Möglichkeit, Schwerpunkte zu vereinbaren. Bei Schwerpunkten sind differenziertere Kenntnisse erforderlich.“ 1 Diese Inhalte setzen weder die Kenntnis der Quellensprachen Hebräisch, Aramäisch und Griechisch, noch der Geschichte Israels oder des frühen Christentums und auch keine einleitungswissenschaftlichen Grundkenntnisse über die Abfassungsverhältnisse der biblischen Bücher voraus. Der Fakultätentag ergänzt aber als Nr. 3 einen Hinweis auf die nicht obligatorische Berücksichtigung der Einleitungswissenschaften: „Die örtlichen Prüfungsordnungen können vorsehen, dass grundlegende Einleitungskenntnisse einbezogen werden können, soweit sie für das Verständnis einzelner biblischer Schriften oder des altbzw. neutestamentlichen Kanons wesentlich sind.“ 2 Es lassen sich auf dieser Basis bereits zwei Verständnisse von Bibelkunde idealtypisch unterscheiden: Auf der einen Seite steht eine Bibelkunde, die sich ausschließlich auf Inhalt und Aufbau der Bibel konzentriert, sozusagen eine ‚reine‘ Bibelkunde, und auf der anderen Seite eine Bibelkunde, die Wissen über die Abfassungsverhältnisse der biblischen Schriften, d. h. Einleitungswissen, miteinbezieht, nennen wir sie eine wissenschaftlich verantwortete Bibelkunde. Das letztere Verständnis dürfte ausdrücklich oder unausgesprochen im akademischen Unterricht vorherrschen. Man ist sich dabei zwar bewusst, dass die genannten Kenntnisse nicht unmittelbar Lehr- und Prüfungsgegenstand der 1 Richtlinien zur Prüfung in Bibelkunde (Biblicum) des Evangelisch-theologischen Fakultätentags vom 8 . Oktober 2011 , Nr. 2 , in: Beintker, Ausbildung, 109 - 111 . 2 Richtlinien zur Prüfung in Bibelkunde (Biblicum) des Evangelisch-theologischen Fakultätentags vom 8 . Oktober 2011 , Nr. 3 , in: Beintker, Ausbildung, 109 - 111 . Nur ein einziges Buch 9 Bibelkunde sein können, sieht aber die Notwendigkeit, dass Lehre in Bibelkunde zumindest die Entstehungszeit und die Abfassungsverhältnisse eines biblischen Buches zu skizzieren hat, bevor man sich mit seinen Inhalten befasst. Damit ist das hochschuldidaktische Grundproblem universitärer Lehre in Bibelkunde benannt: Der Erwerb von Kenntnissen über Inhalt und Aufbau der biblischen Bücher auf der Grundlage einer deutschen Bibelübersetzung berührt und überschneidet sich mit Grundannahmen zu einleitungswissenschaftlichen Fragen über die Entstehung der biblischen Bücher. Insofern ist es notwendig, die Frage zu stellen und zu beantworten, wie sich eine wissenschaftlich verantwortete Bibelkunde im obengenannten Sinn und Einleitungswissenschaft sinnvoll zueinander verhalten. Blickt man kurz auf gängige Studien- und Prüfungsordnungen, wird deutlich, dass es hier unterschiedliche Ansätze gibt. 3 Manche Ordnungen, mehrheitlich aus dem Bereich der Pfarramtsstudiengänge, ziehen eine klare Grenze zwischen bibelkundlichem Wissen und Einleitungswissenschaften, andere reflektieren das Verhältnis der beiden Wissensbereiche oder setzen weitere Akzente. Insgesamt wird man sagen können, dass bibelkundliche Lehrveranstaltungen, die in ein umfassenderes und gestuftes exegetisches Curriculum aus Methodenseminar, Einführung und exegetischem Hauptseminar bzw. Basismodul und Ausbaubzw. Vertiefungsmodul eingebunden sind, und das betrifft in der Regel die Studiengänge für das Pfarramt und großenteils für das gymnasiale Lehramt, in den Studienordnungen eine klarere Grenze zwischen Einleitungswissenschaft und Bibelkunde ziehen, als das in denjenigen Studiengängen der Fall ist, in denen für Lehre in den Fächern Altes und Neues Testament nur ein begrenzter Stunden- 3 Dr. Johanna Conrad stellte eine umfangreiche Übersicht der im Jahr 2018 gültigen Studien- und Prüfungsordnungen zusammen, die sich auf Bibelkunde beziehen. Auf dieser Übersicht beruhen die diesbezüglichen Äußerungen in diesem Beitrag. Lukas Bormann, * 1962, Dr. theol., ist Professor für Neues Testament an der Philipps-Universität Marburg (Schwerpunkt: Sozial- und Literaturgeschichte des frühen Christentums). Promoviert wurde er 1993 mit einer Arbeit über Philippi an der Universität Frankfurt a. M., wo er 2000 mit einer Arbeit über Religion, Recht und Gerechtigkeit im Lukasevangelium habilitierte. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Sozial- und Literaturgeschichte des frühen Christentums, der Rezeptionsgeschichte des AT im NT und in der Forschungsgeschichte der neutestamentlichen Wissenschaft. Er ist Autor der Bibelkunde: Altes und Neues Testament , die in der Reihe UTB basics erschienen ist. 10 Lukas Bormann anteil zur Verfügung steht wie überwiegend in den durch Bachelorstudiengänge abgebildeten Lehramtsstudiengängen und Nebenfächern bzw. Exportmodulen. Hier wird Bibelkunde oftmals gar nicht als eigene Lehrveranstaltung angeboten, sondern der Erwerb bibelkundlichen Wissens als Teilbereich der Lehre etwa in einem bibelwissenschaftlichen Modul genannt. Ob sich das auch genauso in der tatsächlich durchgeführten Lehre auswirkt oder ob nicht gar das Gegenteil der Fall ist, dass nämlich bibelkundliche Lehrveranstaltungen für Pfarramtsstudiengänge und für das gymnasiale Lehramt de facto sehr viel mehr einleitungswissenschaftliches Wissen und quellensprachliche Hinweise einfließen lassen, sollte zumindest bedacht werden. Die Erfahrungen des Autors dieses Artikels weisen jedenfalls in die Richtung, dass bibelkundliche Lehrveranstaltungen an Fakultäten doch eher umfangreicher auf das erwartete, gewünschte und zu erwerbende Wissen in den exegetischen Fächern verweisen oder auch reagieren als dies in den Studiengängen der Fall ist, in denen Bibelkunde etwa 50 % der Lehre im Alten und Neuen Testament umfasst. Angesichts dieser Problematik ist auch auf den Sachverhalt hinzuweisen, dass die zunehmend präskriptive Definition und strukturelle Durchdringung der Lehrveranstaltungen im Modulsystem (Modulbeschreibung, Leistungsbzw. ECTS -Punkte, Workload usw.) unter Umständen zu einem Auseinanderdriften von Modulbeschreibung und Lehrwirklichkeit führt. Die hochschuldidaktische Grundproblematik der Lehre in Bibelkunde, das Verhältnis von Einleitungswissenschaften und Inhaltskenntnis der Bibel, differenziert sich weiter aus, wenn man die sehr unterschiedlichen Verhältnisse im Alten Testament und im Neuen Testament in die Betrachtung miteinbezieht. Während die Einleitungsfragen im Neuen Testament einen Entstehungszeitraum der Schriften von ca. 60 bis 90 Jahren (vom Markusevangelium ca. 69 / 70 n. Chr. bis Pastoralbriefe um 120 - 150 n. Chr.) und einen erzählten Zeitraum von ca. 4 v. Chr. bis 64 n. Chr. (Tod des Herodes des Großen bis Haft des Paulus in Rom) zu reflektieren haben, 4 reicht die erzählte Zeit der alttestamentlichen Schriften von der Schöpfung (nach biblischer Chronologie im Jahr 3761 v. Chr.) bis in die Zeit der Perserherrschaft vor 331 v. Chr. und ihre Entstehung erstreckt sich über ‚ca. 800 Jahre‘, unter Einbeziehung der deuterokanonischen Schriften über einen noch etwas längeren Zeitraum; von den nicht mehr konsensual zu beschreibenden einleitungswissenschaftlichen Problemen des Alten Testaments ganz zu schweigen. 5 Als vorläufige Schlussfolgerung dieser Überlegungen wird man festhalten können, dass der vermeintlich intellektuell wenig herausfordernde Lerngegen- 4 Vgl. Öhler, Geschichte, 16 f. 5 Jeremias, Theologie, 2 . Nur ein einziges Buch 11 stand Inhalt und Aufbau der Bibel insbesondere dann erfolgreich gelehrt und gelernt werden kann, wenn er zugleich einleitungswissenschaftliches Grundwissen berücksichtigt. Lehre in Bibelkunde soll demnach einerseits das kritische Bibelverständnis der wissenschaftlichen Exegese voraussetzen und in die bibelkundliche Lehre einfließen lassen und andererseits die Studierenden auf die kritische wissenschaftliche und demnach ergebnisoffene Analyse der biblischen Schriften in der neutestamentlichen und alttestamentlichen Wissenschaft vorbereiten. Folgt man dieser Überlegung zum Verhältnis von Einleitungswissenschaft und Bibelkunde, dann sollte auch die mancherorts durch den Bologna-Prozess ermöglichte Praxis der Anerkennung von Studienleistungen in Bibelkunde, die in Bibelschulen und propädeutischen Bibelseminaren erbracht wurden, neu überdacht werden. Wenn in diesen Einrichtungen die Lehre in Bibelkunde als Vorverständnis für das Alte Testament unkritisch die faktuale Richtigkeit der biblischen Grunderzählung, d. h. mehr oder weniger das Motto „Und die Bibel hat doch recht! “ 6 , zugrunde legt und im Falle des Neuen Testaments dem Narrativ der Kirchenväter folgt, das die Verfasserschaft von Jüngern und Apostelbegleitern für die vier Evangelien annimmt und Fragen zur Abhängigkeit dieser Schriften oder zur Pseudepigraphie der Briefliteratur gar nicht erst stellt, dann können derartige Bibelkunden nicht als Teil eines wissenschaftlichen Studiums anerkannt werden. Studierende, die auf dieser Grundlage an der weiterführenden universitären Lehre teilnehmen, bereiten nicht nur der kritischen Lehre Schwierigkeiten, sondern ihnen steht zudem das verfestigte unkritische Fürwahrhalten vermeintlich historischer biblischer Sachverhalte der Ausbildung eines angemessenen hermeneutischen Reflexionsvermögens dauerhaft im Weg, das für das Studium der Ev. Theologie unerlässlich ist. 2 Zur Geschichte des Lehrgegenstandes Um zu verstehen, wie es zu diesen bis heute letztlich unreflektierten Überschneidungen von Bibelkunde im Sinne von Inhalt und Aufbau biblischer Schriften und dem wissenschaftlich verantworteten Wissen über diese Schriften kommen konnte, ist ein kurzer Blick auf die Geschichte der Bibelkunde im deutschsprachigen Raum sinnvoll. Grimms Wörterbuch kennt zwar den Begriff bibelfest , nicht aber die Bezeichnung Bibelkunde. Die ersten Lehrbücher für Bibelkunde entstanden Anfang des 19 . Jahrhunderts als Präparationsbücher für Lehrer an christlichen und jü- 6 Keller, Bibel. 12 Lukas Bormann dischen Volksschulen. 7 Sie sollten sich ein strukturiertes Wissen über die Bibel erarbeiten, um auf dieser Grundlage ihren Unterricht erteilen zu können. Dabei wurde die Bibel als Grundorientierung in Völker- und Staatskunde, aber auch Biologie und Sittenkunde verstanden. 8 In der Mitte des 19 . Jahrhunderts entstehen die ersten Lehrwerke für das Gymnasium und zwar für den Unterricht sowohl an christlichen, als auch an jüdischen höheren Schulen. 9 Die Integration von Bibelkunde in den Religionsunterricht dieser Schulen war nicht zuletzt einer apologetischen Tendenz geschuldet, die den in Friedrich Schleiermachers ( 1768 - 1834 ) Reden an die Verächter der Religion genannten Vorbehalten begegnen wollte. 10 Zunächst stellten die insbesondere von Hermann Samuel Reimarus ( 1694 - 1768 ) vertretene Vernunftreligion und die dieser zugrundeliegende Sachkritik der biblischen Aussagen den Gehalt der Bibel infrage. Im 19 . Jahrhundert wurde dann Schritt für Schritt der faktuale Gehalt der biblischen Schriften weiter destruiert. Die biblische Chronologie wurde durch archäologische Funde im Alten Orient infrage gestellt, die Vorstellung von der Erschaffung der Welt an einem Tag durch die Geologie, die synchrone Schöpfung aller Arten durch die Evolutionstheorie und die Offenbarungsqualität der Bibel durch altorientalische Texte, die als Parallelen oder gar Vorlagen aufgefasst werden konnten ( Bibel-Babel- Streit ). Die apologetische Tendenz der Bibelkunde im Schulunterricht führte dazu, dass die Darstellung von Inhalt und Aufbau biblischer Schriften immer auch ein Reflex auf die Situation der in Deutschland konfessionell verfassten Religionen war. So ist es kein Zufall, dass die erste Bibelkunde, die im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek verzeichnet ist, auf den Rabbiner Ludwig Philippson ( 1811 - 1889 ) zurückgeht, der zugleich der Autor einer Schrift mit dem Titel Reden wider den Unglauben gerichtet an alle denkenden Israeliten ist. 11 Der Gymnasiallehrer Eduard Krähe notiert im Vorwort seiner Bibelkunde aus dem Jahr 1877 , dass er die wachsende „Gleichgültigkeit der Gebildeten, die offene Feindschaft der Massen gegen alle Religion“ bekämpfen und den „gebildeten 7 Vgl. Weikard, Bibelkunde, III: Das Buch sei „für den (katholischen; L. B. ) Volkslehrer bestimmt“. Jacobson, Leitfaden, 2 : Zur Vorbereitung für den jüdischen Religionslehrer „für alle Klassen der Elementarschule“. 8 Weikard, Bibelkunde, befasst sich auf ca. 60 Seiten mit Inhalt und Aufbau der Bibel und erläutert auf den weiteren 440 Seiten seiner Bibelkunde u. a.: Biblische Erd- und Länderkunde, Beschäftigungen, Wohnungen, Kleidung, Nahrungsmittel, Familienverhältnisse der ‚biblischen Völker‘ u. v. m. 9 Kraehe, Bibelkunde, III: Lehrstoff für die „oberen Classen höherer Lehranstalten“; Levy, Bibelkunde, 4 : für jüdische Religionsschulen, die „von Zöglingen höherer Unterrichtsanstalten besucht“ werden. 10 Schleiermacher, Religion. 11 Philippson, Katechismus; Philippson, Reden. Nur ein einziges Buch 13 Theile unseres Volkes“ wieder zum „Träger von wahrer deutscher Frömmigkeit“ machen wolle. 12 Bibelkunde ist in ihrer Entstehung als schulisches Lehrfach der Aufgabe verpflichtet, die Religionen, die sich auf die Bibel berufen, in ihren verschiedenen konfessionellen Prägungen zu verteidigen. Es ist mit dem Wesen jeglicher Apologie verbunden, dass diese, wenn sie wirkungsvoll sein möchte, sich auf die Argumente der Angreifer einlassen muss, sodass diesem Gestus eine historisch-aufklärende wie auch assimilierende Tendenz zu eigen ist. 13 Die universitäre Lehre in Bibelkunde setzt später ein. Erste Überblicke und Lehrvorlagen erscheinen in der ersten Hälfte des 20 . Jahrhunderts, etwa die 1933 erschienene und bis 1983 aufgelegte Bibelkunde des Missionswissenschaftlers Martin Schlunck ( 1874 - 1956 ). 14 Die Bibelkunde des Göttinger Systematikers Otto Weber ( 1902 - 1966 ) aus dem Jahr 1949 steht hingegen unter dem Einfluss der barthianischen Bibelorthodoxie der Nachkriegszeit und ist aus einer systematisch-theologischen Perspektive konzipiert. 15 Die Überschriften zu den einzelnen Kapiteln stellen theologische Begriffe, die heilsgeschichtlich interpretiert werden, in den Mittelpunkt (‚Schöpfung und Sünde‘, ‚Israel‘, ‚Theokratie‘ usw.) und verbinden mit ihnen eine Auswahl passend erscheinender Bibeltexte als ‚Lesestoff‘. Daneben entstehen auch Lehrbücher, die die Berührung mit der theologischen Wissenschaft meiden, so erläutert der Pfarrer und Bonner Privatdozent für das Alte Testament Martin Thilo ( 1876 - 1950 ) das Verhältnis seiner Bibelkunde zu den exegetischen Wissenschaften mit den Worten: „Ich habe deswegen bei meiner Arbeit jeden Übergriff in die Fragen der theologischen Bibelwissenschaft strengstens vermieden und mich damit scharf von den Versuchen derer geschieden, die eine mit Urteilen aus dem Wissenschaftsgebiete durchsetzte Bibelkunde bieten möchten.“ 16 Rudolf Knopf ( 1874 - 1920 ), Professor für neutestamentliche Wissenschaft in Bonn, integrierte in den Titel seiner Einführung in das Neue Testament auch den Begriff Bibelkunde. Diese Bezeichnung trifft aber nur auf die eingestreuten knappen Skizzen über Inhalt und Aufbau der neutestamentlichen Schriften zu, die Knopf in seine historischen Ausführungen zu den Abfassungsverhältnissen (‚Veranlassung‘, ‚Eigenart‘, ‚Echtheit‘, ‚Ort‘) der jeweiligen Schriften oder Schrif- 12 Kraehe, Bibelkunde, VII. 13 Vgl. die Beiträge zur Konferenz Religious Knowledge and Position Taking in the 19th Century. The Case of Educational Media, Frankfurt 22.-23. Mai 2018 , bes. von Kogman, Knowledge, und Salzer, Knowledge. 14 Schlunk, Merkstoff. 15 Weber, Grundriß. 16 Thilo, Bibelkunde, Vorwort, o. S. 14 Lukas Bormann tengruppen integriert. 17 Der Erlanger Alttestamentler Georg Fohrer ( 1915 - 2002 ) ist wohl einer der ersten akademischen Lehrer des Alten Testaments, der für seine Vorlesung zur Einführung in das Alte Testament Bibelkenntnis nicht nur voraussetzte, sondern sie explizit zu deren Gegenstand machte. 18 Die einzelnen Kapitel beginnen mit Inhaltsübersichten der behandelten biblischen Bücher. 19 Diese bibelkundlichen Ausführungen Fohrers sind auf seine kritische Analyse der biblischen Bücher ausgerichtet. Seine Bibelkunde setzt demnach ein umfassendes, wissenschaftlich verantwortetes kritisches Bild von der Entstehung der alttestamentlichen Schriften und der biblischen Grunderzählung voraus. Das gilt grundsätzlich auch für die Bibelkunden der Gegenwart, die aus dem akademischen Unterricht erwachsen sind. 20 Bisweilen führen die sachlich unvermeidlichen Überschneidungen zwischen Bibelkunde und Einleitungswissenschaft dazu, dass Fachkollegen bei der Auswahl des Lehrbuchs für Bibelkunde berücksichtigen müssen, welche hermeneutischen und literaturgeschichtlichen Perspektiven diese vertreten und ob diese wiederum „die eigenen Schwerpunkte in der Lehre am besten repräsentieren“ 21 . Die Lehre in Bibelkunde hat demnach bewusstzumachen und offen zu legen, in welchem Maße die Aussagen über Inhalt und Aufbau der alt- und neutestamentlichen Schriften an ein Vorverständnis gebunden sind und woher dieses seine Deutungskonstanten bezieht. 22 Die universitäre Lehre der Bibelkunde sollte sich jedenfalls der kritischen und ergebnisoffenen Wissenschaft verpflichtet fühlen und sowohl die apologetischen Anteile der eigenen Fachgeschichte, als auch die frömmigkeitsgeschichtlich verengten Bibelverständnisse als „Gegenhorizont“ 23 reflektieren. Für den akademischen Unterricht unangemessen und auch für die Vorbereitung des Theologiestudiums eher hinderlich als hilfreich sind Bibelkunden, die darauf beharren, dass Moses den Pentateuch verfasst hat, 24 oder den Jünger Matthäus als Verfasser des Evangeliums vorstellen und bibelkundliches Wissen als Evangelienharmonien präsentieren, 25 ausführlich 17 Knopf, Einführung, 72 - 85 : z. B. zu den Paulusbriefen. 18 Fohrer, Altes Testament. 19 Z. B. Fohrer, Altes Testament, 15 - 31 : I. Der Inhalt des Pentateuchs und des Buches Josua , dann 31 - 65 : II. Die Entstehung des Pentateuchs und des Buches Josua . 20 Neben der Bibelkunde des Verfassers dieses Beitrags sind folgende Lehrbücher der jüngeren Zeit zu nennen: Augustin/ Kegler, Bibelkunde; Bienert, Bibelkunde; Bull, Bibelkunde; Merkel, Bibelkunde; Oeming, Bibelkunde; Rösel, Bibelkunde; Wick, Bibelkunde. 21 Hieke, Sammel-Rez., 68 . 22 Zu Fundamentalkategorien als Deutungskonstanten s. Bormann, Kulturwissenschaft, 178 - 181 . 23 Bormann, Kulturwissenschaft, 180 . 24 Möller, Bibelkunde, 15 f. 25 Ockert, Überblick, 108 - 135 . Nur ein einziges Buch 15 die Inspiration der Schrift und die innere Einstellung des Lesers thematisieren, 26 die historische Kritik pauschal infrage stellen und vermeintlich pluralistisch ‚Gleiches Recht für alle! ‘, nämlich auch für diejenigen, die wissenschaftliche Zugänge ablehnen, fordern. 27 Einfach gesprochen: Bibelkunde an der Universität muss einleitungswissenschaftliche Fragen berücksichtigen und die bibelkundlichen Inhalte auf die wissenschaftliche Exegese und die hermeneutischen Anforderungen der wissenschaftlichen Theologie ausrichten. 3 Bibelkunde heute: Eine Bestandsaufnahme In den Studienordnungen spiegelt sich die Notwendigkeit, einleitungswissenschaftliche Kenntnisse mit der Lehre von Inhalt und Aufbau der Bibel zu verbinden, insofern wider, als Bibelkunde nicht selten in Lehrveranstaltungen zur Einführung in das Alte Testament oder Neue Testament integriert ist. Das gilt überwiegend für Module der Bachelor- und Lehramtsstudiengänge z. B. in Bamberg und Münster (Grundbzw. Basismodul Biblische Theologie), Hamburg (Einführung in das theologische Studium), Rostock (Grundlagen Theologie und Religionsgeschichte) oder Dresden (Einführung in die Biblische Literatur). Auch dort, wo für Pfarramtsstudierende und das gymnasiale Lehramt eigenständige Bibelkundeveranstaltungen angeboten werden, erwähnen einige Modulbeschreibungen und Prüfungsordnungen über die Vorgabe des Fakultätentages hinaus einleitungswissenschaftliche Kenntnisse, die in der Lehrveranstaltung bzw. im Kontext des jeweiligen Moduls mitbehandelt oder in der Prüfung verlangt werden, z. B. in Göttingen (geschichtlicher Hintergrund, Kenntnisse der Einleitungswissenschaft), Jena (Entstehung und Zusammengehörigkeit biblischer Textcorpora), Kiel (auktoriale und chronologische Grunddaten der Schriften, deren Abhängigkeiten voneinander), Tübingen (Grundkenntnisse zur Entstehung der neutestamentlichen Texte), Münster (Überblick über die Entstehung der altbzw. neutestamentlichen Schriften und ihrer Kanonisierung), Berlin (Entstehungsbedingungen und Abfassungszweck der alttestamentlichen und neutestamentlichen Schriften, grundlegende Einleitungskenntnisse), Hamburg (erste Kenntnisse über die Einleitungsfragen zu den Schriften [Entstehung, Verfasser]). Aber natürlich orientieren sich zahlreiche Ordnungen und Modulbeschreibungen am Paradigma der ‚reinen‘ Bibelkunde, die ausschließlich Inhalt und Aufbau nach Kapitel und Versgruppen geordnet als Lehrgegenstand nennen. 26 Holder, Bibelkunde, 8 f.; Stibs, Kursbuch, 7 f. 27 Dreytza/ Hopp, Geschichte, 18 . 16 Lukas Bormann Das gilt für die Ordnungen der Universitäten Bochum, Bonn, Erlangen, Frankfurt, Greifswald, Halle, Leipzig, Mainz, Marburg, München, Neuendettelsau und Rostock. Ob und inwieweit diese Ordnungen die Lehr- und Prüfungswirklichkeit widerspiegeln, lässt sich natürlich nicht so ohne weiteres beantworten. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Ordnungen in einem unterschiedlichen Maße der Vorgabe des Bologna-Prozesses folgen und Studien- und Prüfungsordnungen kompetenzorientiert formulieren. Dort, wo das geschieht, werden überwiegend traditionelle Kompetenzen genannt, wie etwa die Fähigkeit, biblische Geschichten erzählen (Mainz), bestimmte Themen und Sachstränge durch die ganze Bibel verfolgen (Wuppertal/ Bethel, Mainz, Neuendettelsau, Würzburg), Textabschnitte paraphrasierend wiedergeben (Frankfurt, Halle, Rostock) oder gar einige biblische Texte auswendig aufsagen zu können (Bonn, Frankfurt, Mainz, Rostock). Bisweilen wird aber doch der Blick auf hermeneutische Kompetenzen erweitert, wie etwa die Wahrnehmung der Vielfalt biblischer Texte (Wuppertal/ Bethel), das Differenzierungsvermögen in Hinblick auf unterschiedliche Funktionen und Kontexte biblischer Aussagen ( Jena), die Wahrnehmung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten biblischer Theologien (Würzburg), oder die Fähigkeit, biblische Aussagen mit unterschiedlichen Akzentsetzungen begründet miteinander ins Gespräch zu bringen (Neuendettelsau). Die kursorische Durchsicht der Modulbeschreibungen sowie Studien- und Prüfungsordnungen an deutschen Universitäten, die sich auf Bibelkunde oder bibelkundliche Kenntnisse beziehen, ergibt demnach, dass neben Inhalt und Aufbau der alt- und neutestamentlichen Schriften noch weitere Inhalte mit dem Lehrgegenstand Bibelkunde verbunden sind: a) einleitungswissenschaftliche Kenntnisse, b) thematische Querschnitte durch das Alte und Neue Testament, c) auswendiges Aufsagen, d) elementare hermeneutische Kompetenzen wie der Vergleich und die Wahrnehmung von Unterschieden. 4 Qualitative Befragung von Studierenden und Alumni Studien- und Prüfungsordnungen sowie Modulbeschreibungen sind zwar rechtsverbindliche Texte, sie geben aber dennoch nur einen Teil der Lehr-/ Lern-Wirklichkeit im Fach Bibelkunde wieder. Deswegen sollen als empirischer Gegenhorizont zu dem Bild, das diese Texte von der Lehre in Bibelkunde entwerfen, die Ergebnisse einer qualitativen Befragung von Studierenden, Examinierten und Vikarinnen herangezogen werden. In einer 90 -minütigen Diskussion haben unter der Leitung einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin eine Vikarin, eine examinierte Theologin und vier Studierende in Marburg sowie ein Hochschullehrer, der Autor dieses Beitrags, zu vorbereiteten Fragen ein Ge- Nur ein einziges Buch 17 spräch geführt. 28 Dieses wurde von einer studentischen Hilfskraft protokolliert. Im Folgenden werden die Inhalte des Gesprächs vorläufig ausgewertet. Es wird jedoch nicht der Anspruch erhoben, dass die Ergebnisse repräsentativ sind. Die Lehrveranstaltungen zur Bibelkunde, die die Gesprächsteilnehmer belegt hatten, fanden an den Universitäten Erlangen, Göttingen, Marburg und Neuendettelsau statt. Es waren sowohl Gesprächsteilnehmer mit einer positiven Haltung zur Bibelkunde, als auch Studierende mit eher negativen Erfahrungen wie z. B. der Wiederholung der Bibelkundeprüfung vertreten. Insgesamt spiegelten sich in den Anschauungen der Teilnehmer eine hohe Vielfalt und kontroverse Diversität der Sichtweisen wider. Die Vielfalt der Positionen und Erfahrungen unterstreicht jedenfalls, so viel sei vorweggenommen, die hohe Individualität von Lehr-/ Lern-Prozessen und insbesondere die Bedeutung des subjektorientierten und selbstgesteuerten Lernens in der Ev. Theologie. 29 Dem Gespräch wurden acht Fragen, die vom Team des Lehrstuhls für Neues Testament in Marburg formuliert wurden, zugrunde gelegt. Im Folgenden wird eine strukturierte Zusammenfassung der verschiedenen Aussagen unter vier Aspekten geboten. 1. Studienvoraussetzungen und Erfahrungen mit Bibelkunde: Die Gesprächsteilnehmer wiesen mehrfach auf die Diskrepanz zwischen der Selbsteinschätzung der eigenen Vorkenntnisse und dem im Studium geforderten bibelkundlichen Wissen hin. Die Vorkenntnisse beruhten nicht auf persönlicher Bibellese. Ebenso wenig habe die Institution Familie, Eltern oder Großeltern, eine Rolle gespielt. Als Vermittler bibelkundlichen Wissens wurden mehrfach Kindergottesdienst, Jugendarbeit und Religionsunterricht angeführt. Diese hätten das Gefühl vermittelt, dass man recht gut wisse, was in der Bibel stehe. Die universitäre Auseinandersetzung mit der Bibel sei allerdings so andersartig gewesen, dass sowohl Erwartungen geweckt, als auch Widerstände aufgebaut worden seien. Unter den Erwartungen werden vor allem die Einführung in die Exegese und Kompetenzgewinn in der Auseinandersetzung mit schwierigen Texten genannt, in denen z. B. Frauenfeindlichkeit verbreitet und Gewalt verherrlicht werde. Widerstände rief die Forderung hervor, im eigenständigen Lernen die Verbindung von Textinhalt mit stichwortartigen Inhaltsbeschreibungen sowie mit den Zahlen für Kapitel und Versgruppen herzustellen und auswendig zu lernen. Insbesondere das Auswendiglernen 28 Ich danke für die Teilnahme Felix Gräsche, Jolanda Gräßel-Farnbauer, Lina Henze, Lena Hopfe, Theresa Noack und Carina Schmidt-Marburger, für die Gesprächsleitung Dr. Johanna Conrad und für die Protokollierung Hannah Siemon. 29 Schwab, Faden, 424 ; Bormann/ Einenkel, Lernen, 79 f.; Schwenk, Relevanz, 58 ; Künzel/ Wegschneider, Faszination, 59 - 61 . 18 Lukas Bormann von zahlenorientierten Gliederungen der biblischen Bücher wurde als problematisch und wenig effektiv empfunden. 2. Vorschläge für die Lehre in Bibelkunde: Wichtiger als ein nach Kapitel- und Versgruppen geordnetes bibelkundliches Wissen sei es jedenfalls, neue Perspektiven im Umgang mit schwierigen Abschnitten der Bibel und in der Auseinandersetzung mit unbekannten biblischen Passagen zu gewinnen. Man erwarte sich eine Navigationsfähigkeit durch religiöse Traditionen und damit auch durch alt- und neutestamentliche Texte und Themen. Das könne durch eine Orientierung an inhaltlichem Wissen, am Erzählfaden und an narrativen Zusammenhängen erreicht werden. Die Frage nach dem Was sollte wichtiger sein als die nach dem Wo der biblischen Inhalte. Überraschend ausführlich wurde thematisiert, dass Mitstudierende, die an Bibelschulen bereits als sehr gut wahrgenommene Bibelkenntnisse erworben hätten, als Belastung erlebt würden. Universitäre Bibelkunde solle auch dazu befähigen, im Umgang mit vermeintlich bibelfesten und als theologisch konservativ wahrgenommenen Kommilitonen einen eigenen Standpunkt zu behaupten. Diese würden nicht selten als diskriminierend empfundene theologische Positionen vertreten, die einem historisch-kritischen Verständnis der Bibel nicht standhalten würden. Deswegen solle Bibelkunde nicht auf das Auswendiglernen ausgerichtet sein, sondern auf historisch-kritische Exegese. Die dadurch ermöglichten Verknüpfungen von Bibelkenntnis und wissenschaftlicher Exegese würden dann auch Erfolgserlebnisse vermitteln. 3. Zum Umfang der Lehrveranstaltung: Die meisten Teilnehmer hatten Bibelkunde in Lehrveranstaltungen mit je zwei Semesterwochenstunden für Altes und Neues Testament belegt. Positive sowie auch frustrierende Lehr-/ Lern-Erfahrungen wurden gleichermaßen benannt. Da Bibelkunde sich als sehr relevant für das Studium erweise, wurden umfangreichere bzw. studienbegleitende Lehrformate diskutiert und es wurde auf die Notwendigkeit hingewiesen, bibelkundliches Wissen mit exegetischen Inhalten zu verknüpfen. 4. Relevanz für Studium und Beruf: Manche Teilnehmer brachten vor, dass bibelkundliches Wissen eigentlich nur in den exegetischen Lehrveranstaltungen anklinge. Die Praktische Theologie erfordere wenig bibelkundliches Wissen, erst in der Homiletik seien exegetische Kenntnisse wieder gefragt. In der Systematischen Theologie würde gelegentlich ‚über die Texte regelrecht hinübergebürstet‘, insgesamt seien bibelkundliche Bezüge dort selten. Selbst in den exegetischen Fächern wende man sich oft inhaltlich sehr spezifischen Themen zu, ohne dass der Makrokontext der intensiv behandelten ausgewählten Texte angemessen zur Sprache komme. Als ‚praktisch‘ besonders hilfreich werden bibelkundliche und exegetische Kenntnisse für die Diskussion mit streng bibelorientiert argumentierenden Nur ein einziges Buch 19 Menschen empfunden. Mit bibelkundlichem und exegetischem Wissen könne man dem Druck von Gesprächspartnern, die ihre konservativen Sichtweisen mit Bibelstellen begründeten, besser begegnen. Dies gelte auf ähnliche Weise auch für die Gemeindepraxis, in der bibelkundliche Kompetenz eingefordert werde und es im Gespräch oft wichtig sei, bibelkundliches Wissen spontan und passend einsetzen zu können. Zusammenfassend sind unter den Ergebnissen der qualitativen Befragung folgende Gesichtspunkte hervorzuheben: Studierende möchten bibelkundliches Wissen in Beziehung zu einleitungswissenschaftlichen und hermeneutischen Fragen setzen. Im weiteren Studium spielt das bibelkundliche Wissen selbst in den exegetischen Fächern eher eine nachgeordnete Rolle. Die Beherrschung der Ordnung der biblischen Bücher nach Kapitel und Versgruppen wird in Studium und Beruf manchmal als hilfreich empfunden, bisweilen aber auch als eine Zahlenorientierung wahrgenommen, die schwer zugänglich und nicht bleibend erlernbar ist. 5 Hochschuldidaktischer Ausblick Die Geschichte des Faches Bibelkunde zeigt, dass es zumindest zwei Wurzeln hat. Zum einen entstand Bibelkunde als Schulfach, für das bibelkundliche Lehrbücher als Unterstützung der Lehrenden abgefasst wurden. In der Konzeptionsentwicklung des Schulfachs wurde Bibelkunde sehr bald mit apologetischen Aufgaben verbunden. Bibelkunde sollte an höheren Schulen durch historisch zuverlässiges Wissen und rationale Reflexion Interesse und Sympathie mit der christlichen sowie der jüdischen Religion in ihren jeweiligen konfessionellen Prägungen wecken. Zum anderen wurde Bibelkunde als Teil der klassischen Einführungsvorlesungen in das Alte und das Neue Testament nach und nach in die universitäre Lehre integriert. Bibelkunde diente hier einer strukturierten und an den einleitungswissenschaftlichen Fragen ausgerichteten Erschließung der Quellen für den akademischen Unterricht. Während die Modulbeschreibungen und Studien- und Prüfungsordnungen nicht auf die apologetische Tradition des Faches Bibelkunde eingehen, wurde in der qualitativen Befragung deutlich, dass bibelkundliches Wissen sehr wohl unter dem Gesichtspunkt der Auseinandersetzung um Deutungen biblischer Texte für Gegenwartsfragen bedeutsam ist. Dies wurde allerdings weniger auf die Verteidigung der verfassten Konfessionen gegenüber religionskritischen Infragestellungen bezogen, sondern vielmehr als eine Möglichkeit gesehen, die individuellen religiösen Überzeugungen gegenüber biblizistischen Heraus- 20 Lukas Bormann forderungen behaupten zu können. In diesem Sinne ist die Kenntnis der biblischen Schriften und ihrer Aussagen ein Lerngegenstand, der für einen Teil der Studierenden hohe identitätsbildende Funktion hat, somit im Kernbereich theologischer Identität angesiedelt ist und in der Auseinandersetzung um theologische, sozialethische und politische Geltungsansprüche eine wichtige Rolle spielt. Diese fachspezifischen Gesichtspunkte lassen Bibelkunde nicht als ein Fach wie jedes andere erscheinen. Die Hochschuldidaktik hat sich mit den besonderen identitätsbildenden sowie kontroverstheologischen Funktionen zu befassen und diese disziplinär eigenwillige Lehr-/ Lern-Tradition zu berücksichtigen. Zu dieser Lehr-/ Lern-Tradition gehört auch die Überschneidung von Bibelkunde und Einleitungswissenschaften. Die Thematisierung des vorausgesetzten und stichwortartig rekapitulierten Einleitungswissens, das sich in der Regel als Infragestellung der sich dem einfachen Bibellesen erschließenden faktualen und narrativen Grundstruktur der Bibel von der Schöpfung bis zur Endzeit erweist, ist eine zentrale Anforderung an eine gute Bibelkunde. Insofern kann Bibelkunde auch nicht auf die Thematisierung grundlegender hermeneutischer Grundprinzipien verzichten. Die Schriften des Alten und Neuen Testaments sind zunächst und vor allem geschichtlich bedingte Schriften, die als Produkte menschlichen Kulturschaffens über keinen exklusiven supranaturalen Wissensvorsprung verfügen. Daraus ist zu folgern, dass eine ‚reine‘ Bibelkunde als Teil des akademischen Unterrichts nicht zu rechtfertigen ist. Jede Bibelkunde hat grundlegende einleitungswissenschaftliche und elementare hermeneutischen Grundentscheidungen als ihre Voraussetzungen zu bestimmen und transparent zu machen. Die hochschuldidaktische Kernfrage der akademischen Lehre von Bibelkunde als Inhalt und Aufbau der Bibel lautet demnach: Wie werden die Beziehungen der Bibelkunde zur Einleitungswissenschaft und zur Hermeneutik wahrgenommen, erläutert und diskutiert? In welcher Weise auf der Basis einer Klärung dieser Frage die narrativen Zusammenhänge hervorgehoben, Einzelerzählungen ausgewählt und Akzentuierungen im Stoff vorgenommen werden, ist demgegenüber zweitrangig, gleichwohl aber alles andere als unwichtig. Jeder Lehrende in der Bibelkunde wird sich bereits bei der Behandlung der ersten Kapitel der Genesis entscheiden müssen, in welcher Weise er die Unterscheidung von priesterschriftlichen und nicht-priesterschriftlichen Texten bzw. die Annahmen der verschiedenen Ursprungshypothesen in seine bibelkundliche Lehrveranstaltung einfließen lässt. 30 Er kann sie aber nicht ignorieren oder durch eine vereinfachte narrative Harmonisierung ersetzen. Diese Überschneidung von Bibelkunde und Einleitungswissenschaft berechtigt überhaupt erst dazu, Bibelkunde als akademische Lehrveranstaltung zu 30 Bormann, Bibelkunde, 40 . Nur ein einziges Buch 21 bezeichnen und in Studien- und Prüfungsordnungen zu integrieren. Passagen in Prüfungsordnungen, die das Auswendiglernen biblischer Texte im Wortlaut verlangen, stellen demgegenüber einen Rückschritt dar, der an die Wurzeln des Faches im Religionsunterricht der Volksschule im 19 . Jahrhundert erinnert. Wird diese Überschneidung mit der Einleitungswissenschaft berücksichtigt, dann kann Bibelkunde als eigenständige Lehrveranstaltung angeboten werden. Es ist allerdings zu beachten, dass angesichts des Umfangs des Stoffes in einer zweistündigen Lehrveranstaltung für Altes bzw. Neues Testament die der Bibelkunde vorausgesetzten und mitgeteilten einleitungswissenschaftlichen Entscheidungen nicht selbst diskursiv und kritisch erschlossen werden können, sondern nur mit einer eher geringen reflexiven Tiefe mitgeteilt und exemplarisch plausibel gemacht werden können. Hier besteht dann die Gefahr, dass die eingebrachten einleitungswissenschaftlichen Entscheidungen, wo sie über unmittelbare Evidenzen und Plausibilitäten hinausgehen, als dezisionistisch gesetzt wahrgenommen werden. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint eine Verbindung von bibelkundlichen und einleitungswissenschaftlichen Fragen in einer vierstündigen Einführungsvorlesung nach dem Vorbild, das in Georg Fohrers Einführung vorliegt, als die adäquate Lösung für Bachelorstudiengänge bzw. für das Lehramtsstudium ohne Kenntnisse der biblischen Sprachen. Dort können Bibelkunde und Einleitungswissenschaft miteinander verbunden gelehrt und geprüft werden. In Studiengängen, in denen die Kenntnis der biblischen Sprachen vorausgesetzt wird, stellen sich angesichts der fachlichen Spezialisierung getrennte Lehrveranstaltungen als angemessener dar. In diesen Studiengängen sollten demnach Bibelkunde und Einleitungswissenschaft getrennt gelehrt werden, wobei aber die Forderung, auch der Bibelkunde elementare einleitungswissenschaftliche Entscheidungen zugrunde zu legen, aufrecht erhalten bleibt. In der Praxis wird es dann gelegentlich zu Spannungen und Widersprüchen zwischen den in der Bibelkunde vertretenen Sichtweisen und den weit komplexeren Erörterungen in den Einleitungswissenschaften kommen, die aber hochschuldidaktisch gesehen als eine produktive Herausforderung für den akademischen Unterricht bewertet werden können. Literatur Augustin, Matthias/ Kegler, Jürgen: Bibelkunde des Alten Testaments. Ein Arbeitsbuch, Gütersloh 3 2010. Beintker, Michael/ Wöller, Michael: Theologische Ausbildung in der EKD . 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