eJournals Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa) 2/2

Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa)
2366-0597
2941-0789
Francke Verlag Tübingen
2017
22 Fischer Heilmann Wagner Köhlmoos

Interview mit … Heike Behlmer

2017
Heike Behlmer
104 Rezensionen Martin Kaiser und Georg Wais, The ‚Thesaurus Gregorianus‘: An Internet Datebase of Gregorian Office Antiphons (148-179), beschreiben die im Internet zugängliche Datenbank antiphonale synopticum (http: / / gregorianik�uni-regensburg�de), die ein Repertoire von 6�000 Stücken umfasst� Diese werden kritisch ediert (Varianten von Text und Melodie). Verschiedene Suchfunktionen unterstützen die Userin/ den User: eine Wortkonkordanz, ein Bibelstellenindex u� a� Todd R� Hanneken, New Technology for Imaging Unreadable Manuscripts and Other Artefacts: Integrated Spectral Reflectance Transformation Imaging (Spectral RTI) (181-195) beschreibt Verfahren moderner Photographie, die es ermöglichen, Inschriften und Manuskripte (insbesondere Palimpseste) lesbar zu machen� Dabei werden die besten Ergebnisse durch die Kombination der Spektral-Photographie mit dem Verfahren des Reflectance Transformation Imaging (RTI) erzielt� Bei letzterem werden mehrere Aufnahmen eines Objektes mit verschiedenen Einfallwinkeln des Lichts gemacht. Damit wird die Oberflächenstruktur (bis hin zur Stärke von Tinte) sichtbar� Sara Schulthess, Taḥrīf in the Digital Age (214-230), zeigt zunächst die Entwicklung des Taḥrīf -Konzepts innerhalb der islamischen Theologie und dessen Fokus auf die neutestamentliche Textkritik bzw� die neutestamentlichen Handschriften� Die Untersuchung von Webseiten macht nun deutlich, welche Bedeutung das Taḥrīf -Konzept besitzt und inwiefern es unerwartete Interaktionen zwischen den Vertretern des Konzepts und der westlichen Wissenschaft gibt. Apolline Thromas, Digital Resources of the Rabbinic Literature: Radical Change with a Click of the Mouse (231-247) zeichnet die Edition rabbinischer Literatur von Print-Ausgaben bis zu Editionen im Internet nach� Dabei beschreibt die Verfasserin ausführlich die Stärken und Schwächen der einzelnen Online-Publikationen� „The humanities arrived some time ago at the digital age […]“ - mit diesem Satz wird nicht der Band, sondern die Zusammenfassung des letzten Beitrags von Apolline Thromas (S. 243) eröffnet. Diesen Sachverhalt macht der Band Ancient Worlds in Digital Culture deutlich� Dabei zeigt sich zum einen, wie sehr die Digital Humanities die Wissenschaftslandschaft innerhalb der Geisteswissenschaften verändern werden und in den letzten ca� 10 Jahren schon veränderten� Zum anderen wird an diesem Band deutlich, wie disparat die Digital Humanities sind� Beides zu zeigen, ist Sinn und Zweck des Bandes, und beides ist den Herausgeberinnen und Herausgebern gelungen� Interview mit … Heike Behlmer Steckbrief: Heike Behlmer Alter: 59 Jahre Studium der: Ägyptologie, Koptologie und Assyriologie an der Universität Göttingen Promotion in der Ägyptologie und Koptologie an der Universität Göttingen; Habilitation in der Ägyptologie und Koptologie an der Universität Göttingen Von 1995 bis 2004 Wissenschaftliche Assistentin / Oberassistentin an der Universität Göttingen; 2003-2004 Lehrstuhlvertretung an der LMU München; 2004-2006 Lecturer in Coptic Studies an der Macquarie University, Sydney; 2006 Visiting Professor an der Columbia University New York; 2007-2009 Senior Lecturer an der Macquarie University, Sydney; seit 2009 Professorin für Ägyptologie und Koptologie an der Universität Göttingen� Von 2012 bis 2016 gehörte sie dem Board des ‚Göttingen Centre for Digital Humanities‘ an; seit 2015 ist sie für die Digitale Gesamtedition und Übersetzung des koptisch-sahidischen Alten Testaments verantwortlich; seit 2016 gehört sie zum Editorial Board der Reihe Digital Biblical Studies und ist Mitherausgeberin der Texte und Studien zur koptischen Bibel Vorneweg - Blitzlicht - Lehre - Frust oder Lust? - Lehre oder Forschung? - Lieber Erstsemester oder lieber Integrationsphase (früher Examensphase)? - Neues oder Bewährtes? - Referate oder Gruppenarbeit? „Sowohl … als auch“, bei allen Fragen … Welche Erfahrungen und/ oder Menschen haben Ihre Lehre nachhaltig geprägt bzw. beeinflusst? Über die Jahre bin ich vielen engagierten akademischen Lehrern begegnet, angefangen von meinem Doktorvater Wolfhart Westendorf, emeritierter Professor für Ägyptologie in Göttingen, der die besondere Gabe hatte, kom- 106 Interview plexe Sachverhalte logisch aufzubauen und für Studierende interessant darzustellen� Ich habe auch sehr viel von den Studierenden gelernt, die sich irgendwann entschlossen haben, ein mit nur 200-300 Wissenschaftlern auf der ganzen Welt wirklich kleines geisteswissenschaftliches Fach wie die Koptologie zu belegen� Besonders geprägt haben mich aber meine Jahre an der Macquarie University in Sydney, an der ich einen über das Internet belegbaren Masterstudiengang Coptic Studies entwickelt habe� Dazu mußte ich in wenigen Jahren zehn Module für eine eLearning-Umgebung bereitstellen, einschließlich neuer Prüfungsformen� Obwohl es in Australien eine lange Erfahrung im Fernunterricht gibt - so gab es eine eigene Abteilung, die allen Studierenden wöchentlich per Post Audio-CDs von meinen Vorlesungen zuschickte - war dies eine wirkliche Herausforderung, weil es in unserem kleinen Fach fast überhaupt keine geeigneten Unterrichtsmaterialien für die digitale Lehre gab� Es war beinahe eine creatio ex nihilo, und ich bin allen Studierenden sehr dankbar, die sich auf dieses Experiment eingelassen haben - um ausgerechnet Koptologie über das Internet zu studieren, muß man eine wirkliche Begeisterung für das Fach aufbringen� Das hat mich bei allen technischen Schwierigkeiten (die Anfänge liegen ja auch schon wieder 10 Jahre zurück) immer wieder ermutigt, ebenso wie die Hilfe der Kolleginnen und Kollegen und der koptisch-orthodoxen Gemeinde in Sydney, die den Studiengang auch finanziell unterstützt hat. Frau Behlmer, wie kam es zu der Idee, das koptische Alte Testament digital zu edieren und zu übersetzen? In der alttestamentlichen Textkritik wird diese Übersetzung als Textzeuge ja kaum wahrgenommen. Ich würde nicht sagen, dass die koptische Bibelübersetzung in der Bibelwissenschaft kaum wahrgenommen wird� Schließlich ist sie die älteste und umfangreichste Tochterübersetzung der griechischen Septuaginta und somit für die Textgeschichte von besonderer Bedeutung� Sie ist darüber hinaus die Grundlage für die gesamte koptisch-sprachige christliche Literatur Ägyptens und das umfangreichste Textkorpus der letzten Stufe der altägyptischen Sprache, dem Koptischen� Nicht zuletzt ist sie auch das kulturelle Erbe der heute unter großem Druck stehenden ägyptischen Christen und hat damit auch einen wichtigen Gegenwartsbezug� Sie ist also nicht nur für die biblische Textkritik wichtig, sondern ein ganz eigenständiges Zeugnis menschlicher Geistes- und Literaturgeschichte� Aber einer besseren Wahrnehmung und Auswertung steht das Fehlen einer modernen kritischen Edition der gesamten koptischen Bibel im Wege� Durch die extreme Fragmentierung und Zerstreuung der koptischen Manuskriptüberlieferung ab dem ausgehenden Mittelalter müssen vor jeder Interview 107 Edition intensive Vorarbeiten des Sammelns und Edierens von einzelnen Fragmenten, Seiten und Textblöcken stehen� Z� B� sind allein die Handschriften des sahidisch-koptischen Alten Testaments, die den Schwerpunkt unserer Arbeit darstellen, heute über mehr als 100 Museen und Sammlungen weltweit verstreut - viele Handschriften und manchmal sogar einzelne Seiten jeweils über mehrere Institutionen - und nicht immer vollständig katalogisiert� Hier gibt es seit den 30er Jahren des 20� Jh�s Bestrebungen von Forschern, den Bestand an Handschriften zu erheben, wie etwa Louis Théophile Lefort, Tito Orlandi und speziell für die koptische Bibel zuletzt Karlheinz Schüssler� Aber erst jetzt mit dem virtuellen Handschriftenlesesaal (Coptic Old Testament Virtual Manuscript Room, coptot.manuscriptroom. com) des Vorhabens „Digitale Gesamtedition und Übersetzung des koptischsahidischen Alten Testaments“ an der Göttinger Akademie der Wissenschaften können meine Kolleginnen und Kollegen das, was von den Kodizes erhalten ist, im Internet wieder zusammenführen, edieren, kollationieren, mit einem kritischen Apparat versehen und übersetzen� Zusammen mit dem Institut für Neutestamentliche Textforschung in Münster, das sich dem Text des koptischen NT widmet, wollen wir eine gemeinsame Plattform für die koptische Bibel insgesamt schaffen, und das endgültige Ziel aller digitalen koptologischen Projekte weltweit - die alle extrem gut zusammenarbeiten - ist eine virtuelle Rekonstruktion der gesamten fragmentierten Textüberlieferung in koptischer Sprache� Welchen Vorteil sehen Sie in einer digitalen Edition gegenüber einer Printversion, wie sie z. B. mit der deutschen Übersetzung der LXX vorliegt. Eine digitale Edition steht ja nicht im Gegensatz zu einer Printversion: die Nutzer werden sich im virtuellen Handschriftenlesesaal die Kollationen, Übersetzungen, diplomatische und kritische Editionen jederzeit zum aktuellen Stand selbst ausdrucken können� Und wir werden zum Abschluß auch eine gedruckte Handausgabe sowie eine deutsche, englische und - für die Christen in Ägypten - auch eine arabische Übersetzung publizieren. Aber davon abgesehen hat eine digitale Edition und eine virtuelle Forschungsumgebung alle Vorteile digitalen Arbeitens: z. B. die einfachere dezentrale Kooperation über Länder- und Fachgrenzen hinweg und die Austauschbarkeit, Reproduzierbarkeit und Nachnutzbarkeit (auch gerade für andere Projekte) aller gewonnenen Forschungsdaten� 108 Interview Wie binden Sie Ihren Forschungsschwerpunkt im Bereich der Digital Humanities in Ihre Lehre ein? Welche didaktischen Leitlinien und welche Zielsetzungen verfolgen Sie dabei? Ich muß vorausschicken, dass ich keine Digital Humanities-Expertin bin, sondern sie für die Forschungsfragen nutze, die mich interessieren, z� B� die Rezeption der Bibel in der christlichägyptischen Literatur� Wir versuchen, die Studierenden durch Workshops und Seminare von internen und externen DH-Fachleuten für die neuen Möglichkeiten in unseren Fächern zu interessieren und sie so vorzubilden, dass sie weitere universitäre Angebote im DH-Bereich wahrnehmen können� Es ist eine echte Chance für Absolventen kleiner geisteswissenschaftlicher Fächer, sowohl mit neuen Methoden zu forschen, als auch nachgefragte Qualifikationen zu erwerben. Dabei freuen wir uns auch schon über einen gewissen Erfolg: Einige Absolventen wenden digitale Methoden in ihren Forschungen an oder haben sich sogar für Tätigkeiten in digitalen Projekten qualifiziert. Im Rahmen der Digitalisierung der Lehre an der Universität Göttingen entwickelt unser Seminar seit kurzem eine Reihe von eLearning-Modulen für den Unterricht in den beiden Fächern Ägyptologie und Koptologie. Dabei sind u. a. auch ein Koptisch-Sprachkurs und ein Modul zur koptischen Literatur, Bibel und Handschriftenkunde, die das Seminar gemeinsam mit dem Akademievorhaben entwerfen wird� Wir haben dabei mehrere Ziele: den akademischen Unterricht zu verbessern und Studierende in DH-Methoden und für die Mitarbeit in DH-Projekten (z� B� am koptischen Alten Testament) zu qualifizieren, aber parallel dazu auch eine Modulversion zu entwickeln, die ein breiteres Publikum anspricht, auch gerade unter den ägyptischen Christen� Welche Entwicklungen/ Veränderungen in Lehre und Forschung erwarten Sie durch die Digitalisierung? Gerade was Editionen betrifft, so liegen die Veränderungen auf der Hand - und sie machen genauso den immensen Vorteil des digitalen Arbeitens aus, wie sie gewöhnungsbedürftig sind, gerade wenn man traditionell philologisch sozialisiert ist� Es gibt keine zu einem bestimmten Zeitpunkt und auch physisch (durch die Buchform) abgeschlossene Version eines Textes, obwohl die Nutzer unserer digitalen Edition diese, wie schon angemerkt, jederzeit generieren können. Alle Informationen und alle Versionen einer Transkription oder Übersetzung liegen immer auch gleichzeitig vor, so dass man immer wieder in die Editionsgeschichte zurückreisen kann� Es können im Gegensatz zu früher viel mehr Informationen bewahrt werden: z� B� wurden vor 100 Jahren Ostraka oder Papyrusschnipsel mit nur wenig zusammenhanglosem Text einfach entsorgt� An die Agonie noch vor 20 Jahren, als die Interview 109 Kostenkalkulation maßgeblich entschied, welche Photos einem Buch oder Artikel beigegeben werden konnten, erinnern sich sicherlich noch viele� Heute sind Digitalisate verschiedenster Art so kostengünstig, dass wir einen ganz anderen Zugang zum historischen Objekt ‚Handschrift‘ oder ‚Ostrakon‘ bekommen können� Nicht zuletzt sind viele der Originalgegenstände unserer Wissenschaft ständigen Gefährdungen durch die Zeitläufte ausgesetzt, so dass große Katalogisierungs- und Digitalisierungsprojekte zumindest einen Teil der auf ihnen enthaltenen Informationen für die Nachwelt sichern können, auch wenn das Original zerstört werden sollte� Schließlich können alle Informationen aus digitalen Editionen oder digitalen Objektsammlungen fast unbegrenzt für andere Projekte nachgenutzt werden, in unserer Edition des koptischen Alten Testaments im Moment z� B� für korpuslinguistische Untersuchungen oder digitale Text Re-Use-Forschung, in Zukunft auch für digitale Paläographie, Stilometrie und vieles andere mehr� Dies bringt aber auch die schon länger bekannten Herausforderungen mit sich: wie gehen wir mit der Fluidität und Unabgeschlossenheit der Texte um, wie gestaltet sich die Interaktion von Text und anderen Medien, wie kennzeichnen wir den intellektuellen Beitrag der einzelnen Mitarbeiter, wie stellen wir sicher, daß die digitale Information dauerhaft weitergenutzt werden können, und was machen wir, wenn unsere Arbeit z� B� verfremdet irgendwo wieder auftaucht, und anderes mehr� Was die Lehre angeht, so sind die eLearning-Vorteile ebenfalls gut bekannt: man kann Lehrmaterialien inklusive Audio- und Videoaufzeichnungen in einem virtuellen Klassenzimmer zur Verfügung stellen, die jederzeit abgerufen werden können, inzwischen auch über das Handy, man kann neue Kommunikationsformen und Lernzielüberprüfungen anbieten und Lerninhalte importieren - auch international und in einer großen Vielfalt von Medien -, und insgesamt ist das Ziel, Interaktivität und selbstbestimmtes Lernen zu fördern� Das hat aber auch einen Preis, wie ich gerade am Anfang meines Fernunterrichtens in Australien herausgefunden habe� E-Learning erfordert einen höheren Zeiteinsatz seitens der Lehrenden, die Aufbereitung der Materialien ist komplex, die Entwicklung von Prüfungsformen und die Kommunikation zeitraubend, die Erwartungen an die zeitliche Verfügbarkeit der Kursleiter sehr hoch� Es wurde aber dem Lehrpersonal nicht mehr Zeit dafür zur Verfügung gestellt, so dass während des Semesters schon Nachtschichten vorkamen� Eine andere Sache, über die vermutlich alle Internetnutzer schon einmal nachgedacht haben, war ebenfalls gewöhnungsbedürftig: dass nicht nur das, was man schriftlich in Handouts, Skripten, Folien und anderen Kursmaterialien bereitstellt, sondern jedes Wort und jede Geste (durch Au-