eJournals Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa) 2/2

Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa)
2366-0597
2941-0789
Francke Verlag Tübingen
2017
22 Fischer Heilmann Wagner Köhlmoos

Lernen an Handschriften

2017
Tobias Flemming
Forum Exegese und Hochschuldidaktik Verstehen von Anfang an (VvAa) Jahrgang 2 - 2017, Heft 2 Lernen an Handschriften Studierende als Experten gewinnen Tobias Flemming Abstract | This article focuses on the educational and motivational benefits of a cooperative and research-based investigation of digitalized Biblical manuscripts� With this approach, the introduction of students to New Testament textual criticism does not just start with the (for many not very appealing) study of the Nestle-Aland and its apparatus � Instead, students discover the fascination of the material culture by investigating different features of manuscripts and, in an explorative manner, learn to go beyond the use of the Nestle-Aland � Likewise, they become experts in Biblical manuscripts and improve their skills in Digital Humanities � A seminar held at the TU Dresden which made use of such a didactical approach, is presented at the end of this article� 1 Forschendes Lernen - Schleiermachers Wunsch mit digitalen Medien nachgehen „Die Idee der Wissenschaft in den edleren, mit Kenntnissen mancher Art schon ausgerüsteten Jünglingen zu erwecken, ihr zur Herrschaft über sie zu verhelfen auf demjenigen Gebiet der Erkenntniß, dem jeder sich besonders widmen will, so daß es ihnen zur Natur werde, alles aus dem Gesichtspunkt der Wissenschaft zu betrachten, alles Einzelne nicht für sich, sondern in seinen nächsten wissenschaftlichen Verbindungen anzuschauen, und in einen großen Zusammenhang einzutragen in beständiger Beziehung auf die Einheit und Allheit der Erkenntniß, daß sie lernen, in jedem Denken sich der Grundgesetze der 70 Tobias Flemming Wissenschaft bewußt zu werden, und eben dadurch das Vermögen selbst zu forschen, zu erfinden und darzustellen, allmählich in sich herausarbeiten, dies ist das Geschäft der Universität�“ 1 Friedrich D� E� Schleiermacher thematisiert hier - wenngleich ohne heutige Begrifflichkeiten und mit einem uns fremden sprachlichen Pathos - gegenwärtig verbreitete Grundprinzipien hochschuldidaktischen Handelns: Das Lernen der Studierenden soll - forschungsorientiert („die Idee der Wissenschaft […] zu erwecken“; „das Vermögen selbst zu forschen, zu erfinden und darzustellen, allmählich in sich herausarbeiten“), - selbstbestimmt („auf demjenigen Gebiet der Erkenntnis, dem jeder sich besonders widmen will“), und - interdisziplinär („alles Einzelne nicht für sich, sondern in seinen nächsten wissenschaftlichen Verbindungen anzuschauen, und in einen großen Zusammenhang einzutragen“) geschehen� Gewiss bot der Universitätsbetrieb zu Schleiermachers Zeiten für diese Ziele teilweise bessere Voraussetzungen - doch an einer zentralen Stelle der theologischen Wissenschaft stehen in unserer Zeit fundamental bessere Möglichkeiten zur Verfügung. Denn heute, im sogenannten digitalen Zeitalter, kann in den exegetischen Seminaren auf die Quellen, konkret die Bibelhandschriften, zurückgegriffen und so unmittelbar ein wichtiges Anliegen der akademischen Tätigkeit erfüllt werden� Auf den folgenden Seiten wird dies inhaltlich näher beschrieben, didaktisch begründet und anhand eines konkreten Seminarbeispiels vorgestellt� Dazu wird erläutert, wozu und wie an Handschriften gelernt werden kann (Teil 2), warum es höchst sinnvoll ist, in diesem Zusammenhang Studierende als Experten zu gewinnen (Teil 3) und zu guter Letzt wird ein an der TU Dresden durchgeführtes Seminar vorgestellt, das sich der digitalen Transkription einer Handschrift widmete (Teil 4)� Durch alle Kapitel zieht sich die Fragestellung, welche Potentiale die Verbindung von digitalen Anwendungen und Forschendem Lernen für die Bibelexegese bietet� 1 Schleiermacher, Gedanken über Universitäten, 33� Lernen an Handschriften 71 2 Lernen an Handschriften Methodenbücher zur Exegese des Neuen Testaments legen als ersten Analyseschritt bevorzugt die Bestimmung des Textes fest, der ausgelegt werden soll� 2 Nach einer kurzen Einführung zu Notwendigkeit und Aufgabe der Textkritik wird ausführlich das Novum Testamentum Graece als Arbeitsgrundlage vorgestellt und seine Handhabung erklärt: Die kritischen Zeichen im Text, die textkritischen Zeichen im Apparat, die Abkürzungen für Handschriften, Übersetzungen und Kirchenväterzitate, andere Sigel wie das des sog� Mehrheitstextes (das durch das Voranschreiten der Editio Critica Maior durch byz abgelöst wird), die Einteilung in Textgruppen usw� 3 Wenn der Leser Glück hat, werden diese Aufzählungen am Rand von einem kleinen Bild eines Papyrusfragments (mehr oder weniger) veranschaulicht� Im Anschluss daran werden die Leser angeleitet, diese textkritischen Zeichen zu entschlüsseln und darauf aufbauend anhand verschiedener Kriterien einen Text zu rekonstruieren� Anders ausgedrückt: Der Weg zum Text ist sehr weit - und es besteht die Gefahr, dass unterwegs einige Studierende aussteigen oder zwischendurch zumindest eine kleine (Denk-)Pause einlegen� Demgegenüber liegt es sehr viel näher, direkt mit den Handschriften zu arbeiten - und diese auch in Ihrer Gesamtheit wahrzunehmen� Dies ist dank der Digitalisierung möglich; eine Großzahl der Handschriften ist ohne Probleme auch für Studierende zugänglich (am einfachsten über den New Testament Vir- 2 So etwa Ebner/ Heininger, Exegese 25-56; Finnern/ Rüggemeier, Methoden, 15-38 (anders: Egger/ Wick, Methodenlehre, die mit einer linguistisch ausgerichteten Arbeit am Text beginnen und die Textkritik erst in § 5, auf den Seiten 68-79 thematisieren)� Die Situation stellt sich für die Einführungen in die Exegese des Alten Testaments ganz ähnlich dar (vgl� z� B� Becker, Exegese, 16-40), doch im Folgenden soll aufgrund des später folgenden Seminarbeispiels der Fokus auf dem Neuen Testament liegen� 3 Vgl. Ebner/ Heininger, Exegese, 25-56; Finnern/ Rüggemeier, Methoden, 15-38. Tobias Flemming, *1987 ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Biblische Theologie am Institut für Evangelische Theologie der TU Dresden� Er studierte an der TU Dresden Geographie, Geschichte und Evangelische Religion für das Lehramt an Gymnasien und arbeitet an einer Promotion über die Textgeschichte des Epheserbriefes� 72 Tobias Flemming tual Manuscript Room ( NTVMR ) des Instituts für Neutestamentliche Textforschung der Universität Münster)� 4 Mit einem solchen Vorgehen bewirkt man in hochschuldidaktischer Hinsicht drei wichtige Punkte: 2.1 ad fontes als motivationsfördernder Weg Die Studierenden begeben sich einen ganz wesentlichen Schritt näher ad fontes � Sie sehen nicht nur einen Text, der aus aneinandergereihten Druckbuchstaben besteht, sondern einen Text mit einer fremdartigen Handschrift, der kunstvoll verziert, der vielleicht auch nur schnell dahin geschrieben wirkt und fragmentarisch überliefert ist; einen Text, der paratextuelle Phänomene aufweist, an dem Ergänzungen, Streichungen und Änderungen vorgenommen wurden; einen Text, der durch kleine Bilder kommentiert ist (wie z� B� das zur Interpretation freigegebene kleine Galgenmännchen am Initialen von 1Kor 7 - dem paulinischen Ehe-Kapitel - im Codex Augiensis ) usw� In diesen Text können sie hineinzoomen, um die einzelnen Buchstaben Stück für Stück zu erkennen (anders als in den zur Veranschaulichung aufgelegten Folien einiger Proseminare). Außerdem ist er im besten Falle (wie im NTVMR ) bereits detailliert indiziert, so dass sie sich schnell zurechtfinden. 5 Die direktere Begegnung mit den Quellen erzielt bei den Studierenden eine intensivere, die Emotionen und den Forschergeist ausgiebiger ansprechende Wirkung als die Lektüre eines Textes, der im dritten Druck der 28. Auflage vorliegt und bei dem das untere Drittel der Druckseite auf den ersten Blick völlig kryptisch erscheint� Allein aus diesen motivationalen Gründen ist es eine Bereicherung, an den Handschriften zu lernen, um „Kenntnis der Vergangenheit“ 6 zu gewinnen� 4 http: / / ntvmr.uni-muenster.de/ de; um erweiterte Zugriffsrechte zu erhalten, kann mit einer einfachen Nachricht per E-Mail um ‚Expert Access‘ gebeten werden� 5 Jedoch muss an dieser Stelle auch festgehalten werden, dass ein digitales Bild den direkten visuellen, haptischen und olfaktorischen Kontakt keineswegs ersetzten kann� So konnten wir uns in Dresden im Rahmen eines Workshops den Codex Boernerianus (G 012) ganz aus der Nähe anschauen - und alle waren überrascht von der geringen Größe des Codex, der wie ein dickeres Taschenbuch aussah und nicht wie der prunkvolle Codex, den man sich ausgehend von den Digitalisaten (und ohne einen Blick auf die Metadaten) vorgestellt hatte; außerdem wurde sichtbar, dass sich auf den ersten und letzten Seiten des Codex ein Kommentar zum Matthäusevangelium findet, der im Lichtdruck von 1909 - der sich auch im NTVMR findet - nicht inkludiert ist. 6 So die klassisch gewordene Zieldefinition historischer Quellenarbeit durch Paul Kirn, Einführung, 29: „Quellen nennen wir alle Texte, Gegenstände oder Tatsachen, aus denen Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann.“ Lernen an Handschriften 73 2.2 Ausgehend von den Handschriften zum Verständnis des Nestle-Aland Durch die Arbeit an den Handschriften bleibt das Grundziel der herkömmlichen exegetischen Methodenlehre zur Textkritik gleichwohl bestehen - die Einführung in Verzeichnung und Entscheidungskriterien des Nestle-Aland wird keinesfalls obsolet� Ganz im Gegenteil: Der didaktische Beginn bei den Handschriften bietet die große Chance, auf induktivem Weg an den Nestle-Aland heranzuführen� Ausgehend von der Lektüre einer Handschrift kann nachvollzogen werden, was die einzelnen Zeichen im Text und im kritischen Apparat bedeuten� Dies geht am besten durch die Beschäftigung mit einer Handschrift, die im Apparat häufig angegeben ist, wie beispielsweise dem Codex Sinaiticus. Auch die methodisch wichtigen ‚äußeren Kriterien‘ (welche Handschriften die jeweilige Variante lesen) und ‚inneren Kriterien‘ 7 (z� B� Schreibfehler, lectio brevior usw�) der Textkritik können auf diesem induktiven Weg anhand der Entscheidungen der Nestle-Aland-Herausgeber nachvollzogen - und auch kritisch diskutiert werden� Wenn man beispielsweise den Codex Boernerianus transkribiert, stellt man schnell fest, dass dessen Varianten nur einigermaßen selektiv Eingang in den kritischen Apparat fanden� Doch zugleich lernt man auch den großen Vorzug des Nestle-Aland kennen: Er bietet viele Informationen im handlichen Format. Das hier aufgezeigte Vorgehen integriert die Ziele der klassischen Einführung in die Textkritik, erreicht diese jedoch auf einem induktiven Weg, der positive Auswirkungen auf das Lernen, besonders auf die Eigenaktivität und Motivation, vorweist� 8 2.3 Über den Text hinausgehende Forschungspotentiale Mit dem Lernen an Handschriften werden nicht nur die allgemeinen Ziele der exegetischen Methodeneinführung auf einem lernförderlicheren Weg erreicht, sondern diese Lernform bietet darüberhinausgehend noch etliche weiterführende Potentiale: Es rücken neue Forschungsfragen in den Fokus, denn nun ist nicht mehr nur der von der Handschrift gebotene Text interessant, sondern die Handschrift insgesamt� Dies kann zur Auseinandersetzung mit z� B� spannenden Korrekturen oder paratextuellen Phänomen führen� 9 Die Begegnung mit digitalisierten (und vor allem digital transkribierten) Handschriften kann auch der Ausgangspunkt sein, um sich mit vielversprechenden aktuellen For- 7 Vgl. Aland/ Aland, Text, 284f. Vgl. dazu auch Finnern/ Rüggemeier, Methoden, 23-26. 8 Vgl. die Zusammenstellung der Argumente (und den Verweis auf die Studien) in: Schlak 2003, Grammatik, 86f� 9 Vgl. zum Beispiel das ERC-Projekt Paratexte der Bibel. Analyse und Edition der griechischen Textüberlieferung (ParaTexBib) von Martin Wallraff an der LMU München. 74 Tobias Flemming schungsansätzen wie denen der Digital Humanities zu beschäftigen (vgl� dazu den Beitrag von Jan Heilmann und Juan Garcés in diesem Heft)� Dabei muss es nicht darum gehen, alle im Seminar aufgeworfenen Fragen zu beantworten� Vielmehr sollte es das primäre Ziel sein, ein Bewusstsein für die Fragestellungen, Methoden und Prozesse historischen Arbeitens zu gewinnen� Diese Thematik bietet sich ganz hervorragend für das Lernen an Handschriften an - und wird im nächsten Kapitel näher besprochen� 3 Studierende als Experten gewinnen - Forschendes Lernen Forschendes Lernen zeichnet sich nach der Definition von Ludwig Huber dadurch aus, „dass die Lernenden den Prozess eines Forschungsvorhabens, das auf die Gewinnung von auch für Dritte interessanten Erkenntnissen gerichtet ist, in seinen wesentlichen Phasen - von der Entwicklung der Fragen und Hypothesen über die Wahl und Ausführung der Methoden bis zur Prüfung und Darstellung der Ergebnisse in selbstständiger Arbeit oder in aktiver Mitarbeit in einem übergreifenden Projekt - (mit)gestalten, erfahren und reflektieren“ 10 � Diese Bestimmung zeigt bereits an, welch großes Feld didaktischer Überlegungen mit dem Terminus Forschendes Lernen verbunden ist� Daher möchte ich mich im Folgenden auf zwei für unsere Fragestellung zentrale Punkte beschränken: Der didaktische Ansatz des Forschenden Lernens passt in doppelter Weise hervorragend zum Lernen an digitalisierten Handschriften� Zum einen entstehen bei der Beschäftigung mit Handschriften viele Fragen, die nur auf forschendem Weg - durch Heranziehung anderer Handschriften oder geeigneter Literatur - beantwortet werden können� Zum anderen kann durch die Beschäftigung mit digitalisierten Handschriften forschendes Lernen eingeübt werden - und zwar in der Weise, wie Forschung heutzutage zunehmend geschieht: kooperativ und durch digitale Infrastrukturen unterstützt� 11 Konkret bietet sich durch ein solches Vorgehen die Chance für die Studierenden, unter professioneller Anleitung einen Forschungszyklus zu durchlaufen - angefangen beim Auffinden einer konkreten Fragestellung/ Hypothese, über die Auswahl der Methoden, die Durchführung der Analyse hin zur Darstellung und Reflexion der Ergebnisse. 12 Das Ziel ist hierbei nicht nur, dass sich die Studierenden in das jeweilige Thema 10 Huber, Forschendes Lernen, 10� 11 Vgl. Schulte u. a., Unterstützung, 81. 12 Heidkamp/ Kergel, Digital Turn, 47� Lernen an Handschriften 75 einarbeiten und darin zu Experten werden, sondern sie erlangen auf diesem Wege übergreifende handlungs- und produktorientierte wissenschaftliche Kompetenzen� 13 Didaktisch ist es wichtig, die dabei entstehenden Probleme und Unsicherheiten wahrzunehmen und zu begleiten - gerade wenn die Studierenden das erste Mal mit einem forschungsnahen Lernsetting in Kontakt kommen� Besonders in diesem Fall bietet sich ein kooperatives Arbeiten im exegetischen Seminar hervorragend an, bei dem die Studierenden in kleinen Gruppen gemeinsam an einer Forschungsfrage arbeiten, so dass eventuelle Unklarheiten eher zur Sprache kommen und - auch unter Hinzuziehung der Lehrperson - gelöst werden können� Wie in der Forschung im Allgemeinen, so ist auch beim Forschenden Lernen die Ergebnisdarstellung ein zentraler Aspekt: Daher ist zu empfehlen, am Ende des Seminars einen Artikel zu publizieren, in dem die Forschungsfragen und deren Antworten dargestellt werden� Wir hatten bei unserem Seminar an der TU Dresden (dazu im Folgenden mehr) die Gelegenheit, einen Beitrag im Magazin der sächsischen Bibliotheken zu veröffentlichen. Doch ist auch eine Veröffentlichung auf der Homepage der Fakultät/ des Instituts in vielen Fällen kein Problem, oder - gerade wenn die Handschrift einen lokalen Bezug aufweist - auch in der Regionalpresse oder einer kirchlichen Zeitung� Im gesamten exegetischen Seminar und auch bei der Anfertigung der Publikation ist - besonders bei dem für die meisten Studierenden vergleichsweise fremden Themenfeld der biblischen Handschriften - ein begleitendes prozessuales Feedback von größter Relevanz: Die Studierenden müssen zwischendurch immer wieder die Möglichkeit haben, sich abzusichern, Fragen zu stellen und ihre Zwischenergebnisse präsentieren zu können� Ein letzter Punkt soll dieses Kapitel zum Forschenden Lernen abschließen: Durch den digitalen Wandel wird nicht zuletzt auch die Forschung zunehmend durch digitale Medien und Methoden geprägt und somit zur ‚e-Science‘� 14 Daher ist es im Sinne einer Wissenschaftspropädeutik ein spezieller, immer wichtiger werdender Aspekt, dass die Studierenden den Umgang mit fachspezifischen digitalen Werkzeugen und Plattformen (wie z� B� dem NTVMR ) erlernen - und auch auf diesem Gebiet zu Experten werden� 13 Vgl. Heidkamp/ Kergel, Digital Turn, 47. 14 Vgl. zusammenfassend Heidkamp/ Kergel, Digital Turn, 64. 76 Tobias Flemming 4 Lernen an Handschriften - Kurzdarstellung eines Seminarbeispiels Das soeben vorgestellte Konzept des Forschenden Lernens an Handschriften wurde im WS 2015/ 16 in einem exegetischen Seminar des Instituts für Evangelische Theologie der TU Dresden unter der Leitung von Dr� Jan Heilmann umgesetzt� Ziel des Seminars war, ein digitales Transkript des vor Ort liegenden Codex Boernerianus (G 012) anzufertigen� Dafür wurden von der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek angefertigte Digitalisate dieser Handschrift genutzt� Diese Form der Produktorientierung des Forschenden Lernens hatte den Effekt, dass alle Studierenden an einem gemeinsamen Projekt tätig waren und somit vor ähnlichen Herausforderungen standen - über die sie sich austauschen und gemeinsam Lösungen erarbeiten konnten (z� B� was einzelne, schwer lesbare Buchstaben oder Zeichen angeht)� Die individuellen Forschungsfragen entstanden genau auf diesem Weg der Auseinandersetzung mit der Handschrift, sie wurden von den Studierenden durch die Heranziehung von Literatur und anderen Handschriften bearbeitet (so z� B� die Frage, welche Bedeutung die in unregelmäßigen Abständen gesetzten Punkte zwischen Worten haben oder wofür einzelne Marginalzeichen stehen)� Die ersten beiden Sitzungen wurden genutzt, um sich in der Seminargruppe mit der Handschrift vertraut zu machen: deren Lektüre üben, sich mit ihrer Geschichte und ihren Eigenheiten vertraut machen� Direkt im Anschluss daran wurde in Zweiergruppen mit der Transkription des Epheserbriefes im Codex Boernerianus begonnen� Dazu wurde der oben bereits genannte New Testament Virtual Manuscript Room des INTF Münster genutzt� Hier wurde uns auf Anfrage freundlicherweise ein eigener digitaler ‚Arbeitsraum‘ eingerichtet, in dem in einem Wiki das Vorgehen abgesprochen, Transkriptionsregeln festgelegt und offene Fragen diskutiert werden konnten. Außerdem hatte dies den Vorteil, dass die Transkripte vorerst in einem geschützten, nicht-öffentlichen Raum blieben, so dass sie durch ein internes Peer-Review überprüft werden konnten� Die grafische Oberfläche des NTVMR erleichterte die Transkriptionsarbeit, so dass die Studierenden auch ohne Vorkenntnisse innerhalb einer halben Stunde mit der Funktionsweise des NTVMR vertraut waren� Zwar ist solch ein vorstrukturiertes Transkriptionsinstrument für den Seminarkontext hervorragend geeignet, doch wurden auch seine Grenzen deutlich: So entschied sich die Seminargruppe anfangs dafür, ein möglichst genaues Transkript anzufertigen, auf das mit verschiedenen Fragestellungen zurückgegriffen werden kann - so beispielsweise von der Kunstgeschichte, die die verwendeten Farben in frühmittelalterlichen Handschriften untersuchen könnte� Doch in den Auswahlfeldern des NTVMR lässt sich z� B� nicht festlegen, dass ein Buchstabe mit mehreren Farben ver- Lernen an Handschriften 77 ziert ist� Die Ergebnisse der Transkription können auch in der Auszeichnungssprache XML ausgegeben und weiterverarbeitet werden (so u� a� auch in der angestrebten Münsteraner Editio Critica Maior )� Nach dem Abschluss der Transkription fand in der viert- und drittletzten Sitzung die gegenseitige Überprüfung der Ergebnisse statt, um Auszeichnungs- und Tippfehler zu beheben und noch offene Transkriptionsfragen zu klären. Die letzten beiden Sitzungen wurden dazu genutzt, das Seminar zu reflektieren und mit der Veröffentlichung, die das Forschende Lernen zu einem vorläufigen Abschluss bringen sollte, zu beginnen� Für unser Seminar bot sich durch die Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek, die von unserem Transkriptionsvorhaben wusste, die Chance, einen kurzen Beitrag im Magazin der Bibliotheken in Sachsen ( BIS ) zu publizieren und so einige Ergebnisse unseres Forschenden Lernens an Handschriften einer größeren - auch fachfremden - Öffentlichkeit zugänglich zu machen� 15 5 Fazit Dieser Beitrag thematisiert das Lernen an Handschriften in exegetischen Lehrveranstaltungen unter hochschuldidaktischen Aspekten� Im ersten Teilkapitel wurde deutlich, dass die unmittelbare Auseinandersetzung mit den biblischen Handschriften im Vergleich zu den üblichen Methodik-Einführungen in die Textbestimmung motivationsfördernd wirkt, auf diesem Weg außerdem induktiv ein Vertrautwerden mit textkritischen Methoden und dem Nestle-Aland erreicht werden kann und darüber hinaus ein weites Feld von weiterführenden Forschungsfragen eröffnet wird. Im zweiten Teil wird dargestellt, weshalb die Methode des Forschenden Lernens außerordentlich gut zum Lernen an digitalisierten Handschriften passt: Bei der Beschäftigung mit Handschriften entstehen a) viele Fragen, die nur auf forschendem Weg beantwortet werden können und b) erleichtern digitale Kollaborationswerkzeuge die Lektüre von Handschriften und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihnen ganz enorm� So gewinnen beide Seiten - das Lernen an Handschriften und das Forschende Lernen - einen wechselseitigen didaktischen Mehrwert� Auf diesem Weg, so die Hoffnung, die aufgrund unserer Seminarerfahrung berechtigt scheint, steigt auch die Begeisterung für den Text der Handschriften� Dabei ist die Transkription mithilfe des New Testament Virtual Manuscript Room nur eine Möglichkeit, Forschendes Lernen an Handschriften in ein exegetisches 15 Vgl. Dalke u. a.: Digitale Transkription, 92-93.f. (insgesamt bis 93). Online verfügbar unter: http: / / bibliotheksmagazin�de/ archiv/ jahrgang-9-ausgabe-nr-2-2016/ 78 Tobias Flemming Seminar zu implementieren� Andere Ideen sind beispielsweise, Korrekturen oder die bildlichen Elemente der Handschrift zu untersuchen oder auch, eine mitlernende Software gemeinsam so anzulernen, dass sie den Text selbständig (und zunehmend fehlerfrei) mittels OCR (Optical Character Recognition) erkennt - hier sind aufgrund der technischen Entwicklung in den nächsten Jahren große Fortschritte zu erwarten� All dies würde ebenso die in diesem Beitrag formulierten Vorzüge des Forschenden Lernens umsetzen� Zu diesem Themenfeld soll nun abschließend noch einmal Schleiermacher zu Wort kommen: „[…] allein man vergißt, daß das Lernen an und für sich, wie es auch sei, nicht der Zweck der Universität ist, sondern das Erkennen; daß dort nicht das Gedächtnis angefüllt, auch nicht bloß der Verstand soll bereichert werden, sondern daß ein ganz neues Leben, daß ein höherer, der wahrhaft wissenschaftliche Geist soll erregt werden�“ 16 Diesen - freilich erneut mit dem zukunftsoptimistischen Pathos des frühen 19� Jahrhunderts formulierten - Sachverhalt würde Schleiermacher heute in Bezug auf die exegetische Textkritik vielleicht so ausdrücken: ‚Der Zweck der Universität ist es nicht, das Gedächtnis mit dem Nestle-Aland-Apparat anzufüllen, sondern den Studierenden soll die Chance gegeben werden, ihren wissenschaftlichen Geist zu wecken und Handschriften-Experten zu werden�‘ Literatur Aland, Kurt/ Aland, Barbara: Der Text des Neuen Testaments� Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben sowie in Theorie und Praxis der modernen Textkritik, Stuttgart 2 1989� Becker, Uwe: Exegese des Alten Testaments� Ein Methoden- und Arbeitsbuch (UTB 2664), Tübingen 4 2015� Dalke, Daniel u� a�: Das Neue Testament in verändertem Licht? Die Digitale Transkription des Codex Boernerianus, in: BIS 9/ 2 2016, 92f� Ebner, Martin/ Heininger, Bernhard: Exegese des Neuen Testaments� Ein Arbeitsbuch für Lehre und Praxis� Paderborn 3 2015� Egger, Wilhelm/ Wick, Peter: Methodenlehre zum Neuen Testament� Biblische Texte selbständig auslegen, Freiburg 6 2013� Finnern, Sönke/ Rüggemeier, Jan: Methoden der neutestamentlichen Exegese: eine Einführung für Studium und Lehre (UTB 4212), Tübingen 2016� Heidkamp, Birte/ Kergel, David: Der ‚Digital Turn‘ - Von der Gutenberg-Galaxis zur e-Science� Perspektiven für ein forschendes Lernen in Zeiten digital gestützter Wissensproduktion, in: Heidkamp, Birte/ Kergel, David (Hg�): Forschendes Lernen 16 Schleiermacher, Gedanken über Universitäten, 109f�