eJournals Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa) 2/1

Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa)
2366-0597
2941-0789
Francke Verlag Tübingen
2017
21 Fischer Heilmann Wagner Köhlmoos

Kreatives Visualisieren als didaktisch-hermeneutischer Weg

2017
Norbert Brieden
Forum Exegese und Hochschuldidaktik Verstehen von Anfang an (VvAa) Jahrgang 2-- 2017, Heft 1 Kreatives Visualisieren als didaktisch-hermeneutischer Weg Am Beispiel der Erzählung vom Goldenen Kalb (Ex 32) Norbert Brieden Wenn, wie Goethe meinte, Bilder und Worte Korrelate sind, die sich immerfort suchen, dann kann das Wechseln von der Wortin die Bildsprache und umgekehrt hochschuldidaktisch genutzt werden, um biblische Themen und Texte zu erschließen� Zwei Methoden kreativen Visualisierens möchte ich im Folgenden vorstellen� Dazu definiere ich zunächst: ‚Kreatives Visualisieren‘ bezeichnet die jeweils eigene - durch geeignete Methoden initiierte oder aufgedeckte - zeitaufwändige Tätigkeit, entweder einen bislang im Zeichensystem der Wortsprache ausgedrückten Inhalt durch bildsprachliche Zeichen zu ergänzen bzw� ihn ganz in die Bildsprache zu über-setzen (und damit zu interpretieren), oder gar von inneren Bildern auszugehen, sie darzustellen und erst dann im Zeichensystem der Wortsprache zu deuten� Diese wechselseitige Erhellung von Bild und Wort setzt den Prozess einer intensiven, selbstgesteuerten Auseinandersetzung mit Inhalten in Gang� Entsprechend dieser Definition lassen sich zwei Typen von Aufgabenstellungen unterscheiden� Die Grundlage des ersten Typs ist der eigene Verstehenshorizont (z� B� das biblische Thema ‚Zorn Gottes‘: Was verstehe ich momentan darunter, mehr oder weniger geprägt von den biblischen Texten? ); die Grundlage des zweiten Typs ein fremder Verstehenshorizont (z� B� wie wird in Ex 32 der ‚Zorn Gottes‘ dargestellt? )� Die allgemeine Funktion des ersten Typs ist es, den eigenen Verstehenshorizont aufzubauen bzw. ihn sich bewusst zu machen - mit dem Ziel eines vertieften Selbstverständnisses� Die allgemeine Funktion des zweiten 98 Lehr-/ Lern-Beispiele Typs ist es, einen anderen Verstehenshorizont zu erfassen bzw� ihn sich zu erschließen - mit dem Ziel eines vertieften Fremdverständnisses. Im Sinne einer Aufgabenstellung des ersten Typs können die Studierenden sich ihr Bild vom ‚Zorn Gottes‘ als abstraktes Vorstellungsbild vergegenwärtigen� Sie knicken dazu ein leeres Blatt einmal um� Auf der oberen Hälfte zeichnen sie zunächst schnell abstrakte Figuren, während Sie daran denken, was ‚Zorn Gottes‘ für sie bedeutet� Danach beschreiben sie auf der unteren Hälfte jeweils ihr Bild und die Bedeutung der einzelnen Bildteile� Wenn sie damit fertig sind, setzen sie sich in Kleingruppen zusammen und tauschen die Ergebnisse aus� Indem sich die Studierenden ihre eigenen Bilder von ‚Zorn Gottes‘ auf diese Weise bewusstmachen, bereiten sie ihre Auseinandersetzung mit dem biblischen Text vor� Dabei führt die Arbeit mit Bildern im Vergleich zu einer rein wortsprachlichen Erarbeitung (etwa über ein Brainstorming oder die Aufgabe einer Begriffsdefinition) erfahrungsgemäß in eine größere Tiefe, weil unbewusste Prägungen verstärkt Eingang finden und so der Reflexion zugänglich werden� Im Sinne einer Aufgabenstellung des zweiten Typs fertigen die Studierenden in ihren Kleingruppen topographische Mindmaps zu Ex 32 an� Dazu dient folgender Arbeitsauftrag: „Sie kennen Stadtpläne und Landkarten� Diese Vorgabe soll für Sie eine Hilfe sein, um Ihren Gedanken eine Form zu geben; die Inhalte (einzelne Straßen, Plätze, Berge, Flüsse …, z� B� ‚Zornesberg‘ oder ‚Gewaltplatz‘) legen Sie selber fest, indem Sie die Kernbegriffe der Erzählung vom Goldenen Kalb auswählen� In der Art und Weise, wie Sie die Straßen, Flüsse etc� anordnen, können Sie sich die Beziehungen zwischen den Begriffen vor Augen führen�“ Drei Beispiele zeigen, wie unterschiedlich sich drei Kleingruppen Ex 32 durch topographische Mindmaps vergegenwärtigten: In Beispiel 1 (‚Zornstromkarte‘) ist der ‚Strom des Zornes‘ auf der ‚Straße der Rettung‘ im oberen Kartenteil zu durchwandern, um vom Startpunkt links (‚Ägypten‘) das Ziel rechts (‚Das gelobte Land‘) zu erreichen� Um die ‚Wüste der Zweifel‘ zu durchqueren, ist allerdings auch die im unteren Kartenteil vom Zornstrom an seiner breitesten Stelle ausgehende ‚Allee des goldenen Kalbes‘ zu begehen, die zum ‚Gottesberg‘ führt� An dessen Fuß weist der ‚Mose-Abzweig‘ eine Abkürzung auf den ‚steinigen Weg der Gottesfurcht‘, der auf ungeraden Wegen schließlich ins gelobte Land führt� Lehr-/ Lern-Beispiele 99 Beispiel 2 sortiert die zentralen Kräfte der Erzählung in einem ‚Beziehungsplan‘: unten im ‚Lager‘ verbleiben ‚Aaron‘ und das ‚Volk‘, während ‚Mose‘ oben auf dem ‚Berg‘ ‚Gott‘ begegnet (visualisiert durch den Pfeil, der links von Mose nach 100 Lehr-/ Lern-Beispiele rechts auf Gott zielt)� Durch das grafisch im Zentrum des Planes hervorgehobene goldene Kalb versucht Aaron (mit seinem Bruder Moses auf der linken Bildseite), sowohl den Bedürfnissen des Volkes gerecht zu werden, als auch zugleich Gott anzusprechen (die beiden Pfeile, die von Aaron ausgehen)� Er erreicht allerdings das Gegenteil: die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk ist gestört� Die Wellenlinien deuten den Zorn Gottes an� In der Diskussion der Gruppe ging es um die symbolische Funktion des Goldenen Kalbes und inwiefern es das komplexe Beziehungsgefüge zwischen den genannten Protagonisten (Mose, Aaron, Gott, Volk) bestimmt� Beispiel 3 bringt in einem ‚Verlaufsplan‘ die komplexe Erzählstruktur mit den beiden Aufstiegen Mose zu Gott ins Bild� Die ‚Ägyptenallee‘ links geht nicht direkt in die ‚Israelallee‘ über: Dazwischen liegen links der ‚Kalbsplatz‘, auf dem die ‚Sündenmauer‘ eine schnelle Weiterreise verhindert, und rechts führt die vom ‚Weihebrunnen‘ ausgehende ‚Entsühnungstreppe‘ nach oben zur ‚Lebensbörse‘ oberhalb der Israelallee� Diesen Weg eröffnet die ‚Leiterleiter‘, auf der Moses in seinem zweiten Aufstieg zu Gott gelangt� Dazwischen geschieht allerdings allerhand: Das Boot ‚Moses‘ fährt ausgehend vom ‚Port Josua‘ mit den zerbrechenden Gesetzestafeln als Segeln auf dem ‚Zornesfluss‘ vom ‚Gottesberg‘ oberhalb der Ägyptenallee hinab zum Kalbsplatz� Dort gibt es im ‚Wirtshaus zum Goldenen Kalb‘ das ‚Kalbswasser‘ zu trinken, das Moses aus dem zerstäubten Kalbsgold bereitet hat (Ex 32,20)� Vom ‚Entscheidungstor‘ neben dem Wirtshaus führt der ‚Vollstreckungsweg‘ zum ‚Meuchelgrund‘, auf dem ‚3000 Mann‘ fallen (Ex 32,28) - angedeutet durch die (anachronistisch-christlichen) Friedhofskreuze� Auch dieses schreckliche Opfer ist überstrahlt von der ‚Wolke des göttlichen Erbarmens‘� Die unterschiedlichen Mindmaps zeigen fünf Funktionen des Visualisierens: Erstens ist deutlich geworden, dass der Text jeweils als eine bewusst gestaltete Ganzheit vor den Blick geraten ist� Die Funktion der Visualisierung besteht folglich darin, diese Ganzheit des Textes sichtbar zu machen� Diese Funktion ist insofern eine spezifisch visuelle, als komplexe Bezüge nicht im Nacheinander der abstrakten Sprache, sondern im Nebeneinander des anschaulichen Bildes realisiert werden� Die herkömmliche Auseinandersetzung mit einem Text führt durch Fragen nach Gliederungs- und Argumentationsaspekten leicht zur Zerstückelung des Textes� Die Visualisierung erfordert dagegen den kreativen Blick auf den Gesamtzusammenhang� Wer die Ganzheit eines Textes in einem Gestalt-Überblick sichtbar machen will, ist gezwungen, sich für eine Kernaussage des Textes zu entscheiden, um die herum sich die anderen Aussagen sinnvoll gruppieren� Zweitens ist die Kernaussage von Ex 32 in den drei Visualisierungen unterschiedlich ins Bild gesetzt worden: In der Zornstromkarte der enge Zusam- Lehr-/ Lern-Beispiele 101 menhang zwischen dem Zorn Gottes und dem steinigen Weg der Gottesfurcht zum gelobten Land; im Beziehungsplan die Bedeutung des zentralen Symbols ‚Goldenes Kalb‘ (im Versuch, sich Gottes zu bemächtigen, stellen Aaron und das Volk die Beziehung zu ihm infrage); im Verlaufsplan die paradoxe Einheit der Strafe des zornigen Gottes mit seinem Erbarmen� Der Zwang zur Wahl einer Kernaussage ist eine Funktion, die auch innerhalb der herkömmlichen Textinterpretation mit dem Arbeitsauftrag, die Kernthese zu formulieren, erfüllt werden könnte� Das Spezifikum der Visualisierung liegt darin, dass die Notwendigkeit, die anderen Textaussagen einzubeziehen, zugleich ein Kriterium an die Hand gibt, die Richtigkeit der gewählten Kernaussage zu prüfen: Ließen sich die anderen Textaussagen nicht in die Visualisierung eintragen (auch nachträglich), ließe sich die Kernthese nicht durchhalten� Im Vergleich der unterschiedlichen Mindmaps können die Studierenden die Aussagekraft ihrer ausgewählten Kernthesen überprüfen und gegebenenfalls im Rückgriff auf den Text Missverständnisse wahrnehmen� Damit tritt als dritte Funktion der Visualisierungen hervor, den Grund für Missverständnisse aufzudecken. Das ist aber erst im Vergleich der Visualisierung mit dem Text möglich, also in der Vorbereitung auf die abschließende Textinterpretation� So wäre etwa zu fragen, welche Aspekte des Textes aus welchem Grund in dieser oder jener Visualisierung keine Rolle spielen� Durch den Ver- 102 Lehr-/ Lern-Beispiele gleich von Visualisierung und Text wird das Textverständnis zwanglos vertieft� Viertens zeigt sich im Vergleich des Textes mit den unterschiedlichen Interpretationen in den Mindmaps, dass der Anspruch des Textes darin besteht, die komplex-paradoxe Beziehungswirklichkeit zwischen Gott und seinem Volk zum Ausdruck zu bringen: die Wüste der Zweifel - der Weg der Gottesfurcht (Zornstromkarte), Gottes Nähe im Goldenen Kalb absichern - Gottes Zorn dadurch erregen (Beziehungsplan), der sich erbarmende Gott will das Leben der Menschen erhalten - tausende werden durch die eigenen Volksgenossen auf Befehl Gottes gemeuchelt (Verlaufsplan)� Die Visualisierung hat somit fünftens die Funktion, den Prozess der Rezeption zu verlangsamen und Lektüregewohnheiten zu entautomatisieren � Die Widersprüche im Text regen Diskussionen an und sind geradezu als die notwendige Bedingung zu späteren Aha-Effekten der Studierenden anzusehen� Die durch abstrakte Vorstellungsbilder und topografische Mindmaps erzielte Auseinandersetzung mit dem biblischen Text schafft eine Basis, auf der nun Thesen aus exegetischen Wissenschaften rezipiert und mit den eigenen Ergebnissen verglichen werden können� Oft werden solche Texte zu früh gelesen, bevor eine intensive Auseinandersetzung mit dem Text stattgefunden hat� Dass eine solche Vorgehensweise bei den Studierenden zur beklagten unkritischen Haltung führt, ist dann nicht mehr überraschend� 1 1 Ein analog strukturiertes Lehr-/ Lernbeispiel mit Ergebnissen aus der Arbeit an der christlichen Auferstehungshoffnung präsentiere ich in ausführlicher Diskussion und mit Hinweisen, wie aufbauend auf der intensiven Texterarbeitung dann daran anknüpfend mit wissenschaftlichen Texten das Fremdverständnis weiter vertieft werden kann: Brieden, Norbert: Was bedeutet der Glaube an die Auferstehung der Toten? Topografische Mindmaps zu 1 Kor 15,35-44 im Religionsunterricht der Oberstufe, in: Büttner, Gerhard u� a� (Hg�): Glaubenswissen ( Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik 6), Babenhausen 2015, 81-97.