eJournals Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa) 2/1

Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa)
2366-0597
2941-0789
Francke Verlag Tübingen
2017
21 Fischer Heilmann Wagner Köhlmoos

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2017
Alexander Schneider
Forum Exegese und Hochschuldidaktik Verstehen von Anfang an (VvAa) Jahrgang 2-- 2017, Heft 1 Lehr-/ Lern-Beispiele Zugang zu Bildern finden Ein exemplarischer Vermittlungsansatz zu Millais’ Ophelia Alexander Schneider Der vorliegende Text widmet sich ausgehend von John Everett Millais’ Ophelia (1851-52) dem Thema der Bildrezeption im hochschuldidaktischen Kontext. Hierzu gliedert er sich in zwei Teile, die ihrerseits mit den grundlegenden und aufeinander bezogenen Organisationsebenen eines didaktisch initiierten Bildauslegungsprozesses übereinkommen� Der erste Teil bespricht die der Vermittlungssituation vorausgehende Bildauswahl� Durch diese Wahl legt der Lehrende 1 sowohl einen thematischen Schwerpunkt als auch einen kommunikativen Rahmen fest� Ferner geht mit der Entscheidung über den Anschauungsgegenstand unmittelbar eine erste eigene Bildinterpretation einher� M�a�W�: Der Dozierende muss erst selbst einen Zugang zum Bild finden, bevor er es in der Lehrveranstaltung behandeln kann� Dementsprechend baut der zweite Textteil auf einer exemplarischen, vom Lehrenden zu erbringenden ‚Vor-Interpretation‘ auf und gibt methodische Impulse zur Bildvermittlung� Im Folgenden liegt beiden Schritten - Seminarvorbereitung und -durchführung - die von Max Imdahl begründete Ikonik als methodische bzw. interpretatorische Klammer zugrunde� Gemäß diesem aus der Kunstwissenschaft stammenden Ansatz erwächst der Bildsinn aus der Synthese unterschiedlicher Seh-Formen, nämlich indem „gegenständliches, wiedererkennendes Sehen und formales, sehendes Sehen sich ineinander vermitteln zur Anschauung einer hö- 1 Der Text verzichtet zugunsten des Leseflusses auf eine geschlechtsspezifische Differenzierung und greift auf das generische Maskulinum zurück� 86 Lehr-/ Lern-Beispiele heren, die praktische Seherfahrung sowohl einschließenden als auch prinzipiell überbietenden Ordnung und Sinntotalität�“ 2 Mit dem ‚wiedererkennenden Sehen‘ und dem ‚sehenden Sehen‘ sind im Endeffekt zwei ‚Anschauungsweisen‘ 3 gegeben, die nichts weiter als synonyme Begriffe für ‚Bildinhalt‘ und ‚Bildform‘ sind, wobei der Bildsinn als ‚erkennende[s] Sehen[]‘ aus deren korrelativen Verhältnis resultiert� 4 Seminarvorbereitung: Über das Verhältnis von Bildinhalt und Bildform Dass Millais’ Ophelia (Abb� 1) als Anschauungsgegenstand ausgesucht wurde, begründet sich aus dem theologischen Kontext des vorliegenden Publikations- 2 Imdahl, Giotto, 93� 3 Mit ‚Anschauungsweisen‘ ist hier ein Oberbegriff gemeint, welcher die unterschiedlichen bei Imdahl beschriebenen Seh-Formen zusammenfasst und gleichzeitig der Tatsache Rechnung trägt, dass Imdahl eine aktive Bildanschauung einfordert: „Um sich dieser durch nichts anderes zu substituierenden Identität des Bildes bewußt zu werden, um also das sonst Nichterfahrbare überhaupt als ein solches zu erfahren, bedarf es allererst und unverzichtbar einer intensiven und reflektierenden Bildanschauung�“ (Imdahl, Giotto, 14) 4 Imdahl, Giotto, 92� Abb� 1: John Everett Millais: Ophelia , 1851-52, Öl auf Leinwand, 76 x 112 cm, Tate Gallery, London Lehr-/ Lern-Beispiele 87 organs: So finden sich im Bild des präraffaelitischen Künstlers Reminiszenzen aus der christlichen Bildtradition, die es im Folgenden herauszuarbeiten gilt� Zur ikonischen Aufschlüsselung von Millais’ Werk setzt dieser Textteil zunächst rein deskriptiv auf der Ebene ‚wiedererkennenden Sehens‘ an� Das Bild zeigt den Ausschnitt eines Bachlaufs: Zwischen Algen, hoch aufragenden Schilfblättern, Kopfweide sowie Blütenranken treibt rücklings eine Frau auf dem Wasser� Mit halb geöffnetem Mund, leicht ausgebreiteten Armen und nach oben weisenden Händen blickt sie geradezu apathisch in den Bildraum - ohne einen erkennbaren Punkt zu fixieren� Dabei trägt sie ein reich besticktes Kleid entlang dessen sich eine Art Blumengewinde erstreckt, das sie mit ihrer rechten Hand noch zu berühren scheint und das mit dem floralen Muster ihres Gewands korrespondiert� Wäre der Bildtitel zuvor noch unbekannt gewesen, so ermöglichte spätestens die vorstehende Beschreibung eine ikonographische Bestimmung der im Wasser liegenden Frau: Es handelt sich um die aus Shakespeares Hamlet (um 1600) stammende Ophelia� Doch obschon es sich um einen überaus prominenten literarischen Charakter handelt - der Geliebten des Titelhelden -, kann in diesem Zusammenhang von einer detaillierten Inhaltsangabe der Shakespeare’schen Tragödie abgesehen werden� Die nachstehenden Zeilen umreißen die Gründe hierfür in aller Kürze� Die Kunde von Ophelias todbringendem Sturz in den Bach übermittelt im Stück Hamlets Mutter; das Geschehen bleibt den Augen der Theaterbesucher vorenthalten� Es ist daher überraschend, dass sich dieser ‚Botenbericht‘ zu einem derart populären Bildmotiv entwickelte� Doch bei einem genaueren Blick auf die entsprechende Textstelle (s� u� A15) fällt dessen rhetorische Qualität auf� Die Anschaulichkeit, mit der die betreffenden Zeilen verfasst sind, legt nahe, diese als ‚ekphrastisch‘ zu charakterisieren� 5 Das imaginative Potenzial dieser ‚Ekphrasis‘ kann somit als Triebfeder und Erklärung für die zahlreichen bildnerischen Umsetzungen von Ophelias Sterben angesehen werden� Mehr noch, Ophelia hat sich innerhalb der Künste zu einem eigenständigen Motiv emanzipiert und gilt gemeinhin als „Topos idealisierter Weiblichkeit“ 6 � Doch wie äußert sich diese Emanzipation speziell bei Millais? Er hat die ursprünglich pagane Shakespeare-Figur christianisiert� Besonders prägnant äußert sich das in ihrer Handhaltung� Diese erinnert an einen Orantengestus (lat� orare für ‚beten‘) und bewirkt eine ikonographische Zuschreibung zweiter Ordnung: Der Transfer zur christlichen Ikonographie, genauer noch zur Verkündigung einer Erlösungshoffnung, ist unverkennbar� Sucht man nach kon- 5 Vgl� Kindler, Ophelia, 52 f� 6 Hanika / Werkmeister, Geschöpf, 142; erhellend ist in diesem Zusammenhang außerdem Simone Kindlers Studie zur Ophelia, obschon bei ihr Millais’ Ophelia lediglich peripher behandelt wird (vgl� Kindler, Ophelia)� 88 Lehr-/ Lern-Beispiele kreten visuellen Referenzen, wird man bei Werken fündig, die Marias Himmelfahrt behandeln� 7 Führt man diesen Sachverhalt schließlich ikonologisch 8 fort und verortet Millais’ Bild in seinem geistesgeschichtlichen Kontext, ergibt sich aus der Art und Weise, wie die zur Heiligen stilisierte Ophelia in Millais Bild mit der Natur verschmilzt, ein eskapistisches Moment� Nicht bloß der Zierrat ihres Kleides verbindet sich mit der sie umfangenden Flora, selbst ihr Körper scheint sich im Wasser aufzulösen� 9 Millais Darstellung erscheint dergestalt als ästhetische Gegenwelt zu den durch die industrielle Revolution freigesetzten Entfremdungstendenzen� 10 Während bislang lediglich die inhaltliche Seite des Bildes Berücksichtigung fand, blieben die bildnerischen Formzusammenhänge unbeachtet� Es bedarf also, um in der Terminologie Imdahls zu bleiben, eines ‚sehenden Sehens‘, das nun noch jene Aspekte ergänzt, die das Motiv formal konstituieren� Hierzu empfiehlt es sich, das querformatige Bild mit seinen abgerundeten Ecken am oberen Rand anhand eines Fadenkreuzes einzuteilen (Abb� 2)� Dadurch ist eine Sehhilfe gegeben, mit welcher die formalen Zusammenhänge besser erfasst, auf ihre Wirkung hin befragt und mit den bereits erbrachten inhaltlichen Erkenntnissen kombiniert werden können� In der Folge wird erkennbar, dass die annähernd waagerecht ausgerichtete Frauengestalt fast die gesamte Längsseite des Formates ausfüllt� Das damit einhergehende statische Wirkungsmoment wird am linken Rand durch die senkrecht aufragenden Schilfblätter subtil aufgelockert� Gleichzeitig schließen diese Blätter gemeinsam mit der unterhalb von Ophelia befindlichen Algendecke sowie der oberhalb von ihr liegenden Uferlinie - sie kommt mit der Waagerechten des Fadenkreuzes überein - Ophelia ein. Es entsteht der Eindruck, Ophelia läge im Wasser als sei sie in einem Sarg aufgebahrt� In die statische Bildwirkung, die aus den vorherrschenden waagerechten Linien resultiert, mischen sich latent auch dynamische Formelement: Die 7 Es sei etwa an das in der venzianischen Frari-Kirche befindliche, von Tizian angefertigte Hochaltarbild, die sog� Assunta ( Mariä Himmelfahrt [kurz: Assunta ], 1516-1518; Öl auf Holz, 690 x 360 cm; Santa Maria Gloriosa dei Frari, Venedig), erinnert; darauf blickt Maria - ähnlich wie Millais’ Ophelia - mit erhobenen Armen nach oben zur Himmelsglorie. Allgemein zum Orantengestus vgl� Demisch, Hände, 205 und passim� 8 Die Ikonologie fragt in der Verlängerung bzw� Fortsetzung der Ikonographie nach dem geistesgeschichtlichen Kontext, in dem ein Werk entstanden ist (vgl� Imdahl, Giotto, 87); dass hier die ikonographisch-ikonologische Methode Panofskys durchscheint, ist beabsichtigt, da Imdahls Ikonik unmittelbar darauf Bezug nimmt; vgl� Imdahl, Giotto, 100 und passim� 9 Vgl� Hanika / Werkmeister, Geschöpf, 144�147, sowie Bayer, Mythos, 164� 10 Zu den gegenweltlichen Tendenzen bei Millais‘ Ophelia vgl� Bayer, Mythos, 164; zur generellen ‚Zeitflucht‘ in der Malerei der Präraffaeliten vgl� Schiff, Zeitkritik� Lehr-/ Lern-Beispiele 89 nach oben weisenden und leicht versetzt angeordneten Handflächen Ophelias deuten eine diagonale Bewegung an, die in Kombination mit ihrem Blick an den oberen Bildrand weisen, wo sich das sonst dichte Geäst etwas lichtet� 11 Gleichzeitig erzeugt die Kopfweide in der oberen Bildhälfte auf äußerst subtile Weise ein Gegengewicht, das dieses aufsteigende Bewegungsmoment ausponderiert (Abb� 2)� Will man diese formalen Beobachtungen interpretatorisch wenden und einen Bogen zu den bereits inhaltlich herausgearbeiteten christlichen Implikationen spannen, lässt sich die zuvor getroffene Einschätzung, Ophelia läge wie in einen Sarg gebettet im Bach, transzendieren: In der Sekundärliteratur finden sich Hinweise, wonach die Statik und Hermetik, mit der sich Ophelia dem Betrachter darbiete, an einen ‚hortus conclusus‘ erinnere, und dem Wasser im Zuge dessen kathartische Funktion zukomme, welche der zur Maria transformierten Ophelia Unschuld und Reinheit verleihe� 12 Doch damit ist es noch nicht genug: Bekrönt wird diese Transzendierung schließlich durch den seg- 11 In der Kompositionsskizze ist diese Stelle durch ein graues Kreuz markiert (vgl� sowohl Abb� 1, als auch Abb� 2)� 12 Vgl� Bayer, Mythos, 159�168; zur marianischen Symbolik des ‚geschlossenen Gartens‘ vgl� außerdem Hanika / Werkmeister, Geschöpf, 143� Abb� 2: Kompositionsskizze zu Millais’ Ophelia 90 Lehr-/ Lern-Beispiele mentbogenförmigen Bildabschluss, der „mit seinem Anklang an die christliche Bildtradition zum Andachtsbild erhöht wird�“ 13 Insgesamt hat sich ein vorläufiger Deutungshorizont für das Millais-Bild konturiert, der nicht den Anspruch auf eine umfassende Interpretation erhebt; das kann in der Kürze dieses Beitrages gar nicht geleistet werden� Stattdessen ging es darum, eine Sensibilität für das bedingungshafte Ineinanderwirken von Inhalt und Form zugunsten ‚erkennenden Sehens‘ zu wecken - ohne sich dabei in extravisuellen Bildbezügen zu verlieren� Darüber hinaus sei bemerkt, dass es sich aus didaktischer Sicht auch nicht anrät, im Rahmen der Seminarvorbereitung einen vorgängigen Bildsinn festzusetzen, da sonst grundsätzlich die Gefahr besteht, dass sich ein allzu enges Korsett ausbildet, in dem Beobachtungen, welche der Lehrende im Voraus nicht antizipiert oder erkannt hat, keinen Platz mehr finden� Seminardurchführung: Vom Bilddiktat zur Bildauslegung Häufig enden Bildbetrachtungen damit, dass Irritationen und Mehrdeutigkeiten mit floskelhaften Bemerkungen, etwa ‚Das ist Kunst, das gehört halt so‘, plausibilisiert werden� Der Aussagegehalt, welcher in ebendiesen Irritationen steckt, bleibt aus inhaltlicher und formaler Sicht oft unbestimmt - ein ‚erkennendes Sehen‘ findet nicht statt� So gesehen steht man als Dozierender bei einer Behandlung von Millais’ Bild vor der Herausforderung, das Befremden aufzuklären, welches dadurch verursacht wird, wie Ophelia gestikulierend im Wasser liegt� Aufgrund des hohen Ikonizitätsgrades des Millais-Bildes eignet sich hierfür ein Bilddiktat� Durch dieses lässt sich die Neugier am Anschauungsgegenstand wecken� Außerdem können auf diese Weise Anregungen für eine spätere Interpretation angebahnt werden� Doch bevor es nun genauer um die methodische Umsetzung geht, muss vorausgeschickt werden, dass die nachstehenden Ausführungen nicht als Rezept, sondern lediglich als Handlungsimpulse zu verstehen sind� In Anlehnung an Hans Meyers lassen sich zwei Diktatarten unterscheiden: die ‚freie‘ und die ‚gebundene‘� 14 Bei der freien Variante enthält der Seminarlei- 13 Hanika / Werkmeister, Geschöpf, 143; bezeichnenderweise weist die bereits erwähnte von Tizian stammende Assunta ebenfalls einen segementbogenförmigen Bildabschluss auf (vgl� A7)� 14 Vgl. Meyers, Kunstwerke, 41-46; es sei hierbei erwähnt, dass es sich bei den folgenden Ausführungen zur freien Diktatform um eine Weiterentwicklung handelt, die mehr eine begriffliche als eine inhaltliche Anleihe darstellt� Die hier vorgestellte freie Diktatform ist problemlos auf die ikonographischen Quelltexte anderer Bilder übertragbar� Lehr-/ Lern-Beispiele 91 ter dem Kurs das zu betrachtende Werk zunächst noch vor und rezitiert die zum Bild gehörende Textstelle aus Shakespeares Hamlet 15 � Nach dem ersten Vorlesen fordert er die Studierenden zu einem skizzenhaften Bildentwurf auf, während er die Textstelle erneut vorträgt� Um das Eis zu brechen und den Zeichenvorgang in Gang zu setzen, kann es hilfreich sein, dem Kurs das Bildformat vorzugeben� Dieses können sich die Studierenden dann mit dem Lineal oder frei Hand auf ihrem Zeichenpapier anlegen� Demgegenüber setzt die bildgebundene Version direkt am Originalwerk an� Hierzu finden sich die Seminarteilnehmer zu zweit zusammen� Einer erhält eine Kopie des Werkes und diktiert das, was er sieht, seinem Gegenüber� Es ist wichtig, dass der Diktierende einige Minuten Zeit hat, um sich eine gedankliche Struktur für das Diktat zu überlegen� Zwischenzeitlich können die Zeichnenden ebenfalls das Bildformat vorzeichnen� Dies erleichtert die Kommunikation während des Diktats� Durch das eigene Tun - ob verbal oder zeichnerisch - findet im Laufe des Diktats eine erste persönliche Auseinandersetzung mit dem Bild statt� 16 Das Zeichnen macht nicht nur die Vorstellungsbilder, sondern auch potentielle Verständnisschwierigkeiten sichtbar� In der Konsequenz ergeben sich Ansatzpunkte für ein gemeinsames Bildgespräch� 17 15 William Shakespeare, Hamlet, IV� Akt, 7� Szene� Es neigt ein Weidenbaum sich übern Bach Und zeigt im klaren Strom sein graues Laub, Mit welchem sie phantastisch Kränze wand Von Hahnfuß, Nesseln, Maßlieb, Kuckucksblumen� Dort, als sie aufklomm, um ihr Laubgewinde An den gesenkten Ästen aufzuhängen, Zerbrach ein falscher Zweig, und nieder fielen Die rankenden Trophäen und sie selbst Ins weinende Gewässer� Ihre Kleider Verbreiteten sich weit, und trugen sie Sirenen gleich ein Weilchen noch empor, Indes sie Stellen alter Weisen sang, Als ob sie nicht die eigne Not begriffe, Wie ein Geschöpf, geboren und begabt Für dieses Element� Doch lange währt’ es nicht, Bis ihre Kleider, die sich schwer getrunken, Das arme Kind von ihren Melodien Hinunterzogen in den schlamm‘gen Tod� 16 Diese bildnerisch eigenaktiven Bildzugangsweisen haben in Kunstpädagogik längst Tradition und werden dort als praktisch-rezeptive Methode geführt, vgl� Buchschartner, Kunstbetrachtung, 88-118. 17 Bezüglich weiterführender Hinweise zum Bildgespräch vgl� Sowa, Gespräch� 92 Lehr-/ Lern-Beispiele Wo das freie Bilddiktat, wie es der Begriff bereits impliziert, zunächst eine größere subjektive Vorstellungsfreiheit bietet, verlangt es im Gegenzug allerdings auch ein höheres Maß an Reflexivität: M�a�W� muss man besonders hier in der Lage sein, wieder hinter seine eigenen Imaginationen zurückzutreten, um den Anschauungsgegenstand nicht aus den Augen zu verlieren� Gelingt dies, ergeben sich aus den Diktaten kontrastreiche Diskussionsfolien; man betrachte hierzu einmal beispielhaft die beigefügte Studierendenzeichnung (Abb� 3): Darauf ist die Frauenfigur - im Unterschied zu Millais’ Bild - bäuchlings und in der Gestalt einer Nixe, wie es Shakespeares Textstelle (A15) impliziert, dargestellt worden� Daneben kommt es selbst bei bildgebundenen Diktaten häufig zu Abweichungen vom Original, 18 weil der Diktierende etwas übersieht oder der Zeichnende etwas missversteht, sodass in einer anschließenden Gegenüberstellung von Zeichnung und Original ebenfalls Reibungspunkte entstehen, die eine vertiefte Rezeption, also ein Nachdenken über Bildzusammenhänge, anstoßen können� Im vorliegenden Studierendenbeispiel (Abb� 4) liefert unter anderem die vom 18 Meyers spricht diesbezüglich von einer Inkongruenz zwischen Wort und Bild (vgl� Meyers, Kunstwerke, 42)� Abb� 3: Freies Bilddiktat (Entstehungszusammenhang: kunstpädagogisches Grundlagenseminar zur Bildrezeption) Lehr-/ Lern-Beispiele 93 Millais-Bild abweichende Gestik Reflexionsbedarf� Bei beiden Diktatformen ist der Bildauslegungsprozess also „als dialogische Praxis geteilter Aufmerksamkeit zu verstehen, in der in gemeinsamer Wahrnehmung und bildnerisch und sprachlich geteilter Vorstellung eine gebildete Darstellungsim Sinne von Mitteilungsfähigkeit entsteht“ 19 � Während das Bilddiktat durch den primär deskriptiven Charakter weitgehend auf der Seite ‚wiedererkennenden Sehens‘ anzusiedeln ist, müssen die formalen Aspekte eines ‚sehenden Sehens‘ unbedingt noch hinzugeschaltet werden� Hierfür bietet es sich an, die unten stehenden ‚Exemplarischen Aspekte des Bildaufbaus‘ als Kopie auszugeben� Ein damit einhergehender Arbeitsauftrag könnte lauten: Welche Bildachsen bzw� Linien dominieren Millais’ Ophelia -Darstellung und welche Wirkung ergibt sich daraus; berücksichtigen Sie hierbei auch das Bildformat� Um zusätzlich die christlichen Implikationen, die in Millais’ Bild angelegt sind, erfahrbar zu machen, empfiehlt es sich, ein Vergleichsbild, etwa Tizians Assunta (1516-18) beizubringen; 20 hieran können weitere inhaltliche und formale Vergleichspunkt gewonnen werden� Insgesamt liegt es aber im Er- 19 Krautz, Imagination, 142� 20 Vgl� A7 und A14� Abb� 4: Gebundenes Bilddiktat (Entstehungszusammenhang: kunstpädagogisches Grundlagenseminar zur Bildrezeption) 94 Lehr-/ Lern-Beispiele messen des Lehrenden, wie und wann er sich moderierend einbringt und durch Fragen und ergänzende Informationen ein ‚erkennendes Sehen‘ befördert bzw� befördern muss� Literatur Bayer, Frauke: Mythos Ophelia� Zur Literatur- und Bild-Geschichte einer Weiblichkeitsimagination zwischen Romantik und Gegenwart, Würzburg 2009� Buchschartner, Helga: Kunstbetrachtung zwischen Kunsterfahrung und Kunstwissenschaft, Frankfurt 1998� Demisch, Heinz: Erhobene Hände� Geschichte einer Gebärde in der bildenden Kunst, Stuttgart 1984� Hanika, Karin / Werckmeister, Johanna: „…wie ein Geschöpf, geboren und begabt für dieses Element“. Ophelia und Undine - Zum Frauenbild im späten 19. Jahrhundert, in: Berger, Renate / Stephan, Inge (Hg�): Weiblichkeit und Tod in der Literatur, Köln / Wien 1987� Imdahl, Max: Giotto� Arenafresken� Ikonographie, Ikonologie, Ikonik, München 1980� Kindler, Simone: Ophelia� Der Wandel von Frauenbild und Bildmotiv, Berlin 2004� Lehr-/ Lern-Beispiele 95 Krautz, Jochen: Imagination als Beziehung� Zu einer relationalen Didaktik der Vorstellungsbildung in der Kunstpädagogik� In: Sowa, Hubert u� a� (Hg�): Bildung der Imagination� Bd� 2: Bildlichkeit und Vorstellungsbildung in Lernprozessen, Oberhausen 2014, 121-149. Meyers, Hans: Wir erleben Kunstwerke� Wege kind- und jugendgemäßer Kunstbetrachtung, Oberursel 1961� Schiff, Gert: Zeitkritik und Zeitflucht in der Malerei der Präraffaeliten� In: Grote, Ludwig (Hg.): Beiträge zur Motivkunde des 19. Jahrhunderts, München 1970, 167-197. Shakespeare, William: Hamlet� Prinz von Dänemark� Übersetzt von August Wilhelm von Schlegel, in: Brandl, Alois (Hg�): Shakespeares Dramatische Werke� Bd� 4, Leipzig / Wien 1897, 117-266. Sowa, Hubert: Wie kommen Bilder ins Gespräch? Hermeneutische Überlegungen zu einer Didaktik des kunstpädagogischen Bildgesprächs, in: Glas, Alexander u� a� (Hg.): Sprechende Bilder - besprochene Bilder. Bild, Begriff und Sprachhandeln in der deiktisch-imaginativen Verständigungspraxis, München 2016, 241-270.