eJournals Kodikas/Code 31/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2008
313-4

Empatische cues und die Möglichkeit einer Affekt-Sprache des Films

2008
Lars Grabbe
Patrick Kruse
Empathische cues und die Möglichkeit einer Affekt-Sprache des Films Lars Grabbe M.A. und Patrick Kruse M.A. The recipient of film operates with the structure of film in an active way. This operation is the empathic work of the recipient that takes place on figures and objects in film. This empathic work serves as the basal comprehension of film - it’s the film experience. Film experience and the semiologic process of empathy are based on the principle of data processing. The recipient extracts the relevant information from the screen representation and constructs an overall picture of narration and the structure of figures. This extraction proceeds in the structure of the empathic field (the dialectic generation of all perspectives and intentions of figures, animals or objects being part of the narration process) and with the decoding of the empathic cues (cues which organize the mental simulation of perspectives and intentions). The empathic cues generate impact and contain significant indication character of signs - they are located in the code of the film. They are a textual method/ process: The analysis of their structure helps us to understand the conditions which generate the understanding of the recipient and helps us to analyse the potential of the structure of comprehension. The successful decoding of signs in the film-system - particularly with regard to the empathic cues - implies the understanding of the affect-language of film: empathic work decodes signs of film and generates impacts that lead to comprehension. 1. Einleitung und Überblick “Das Publikum ist wie eine gewaltige Orgel, auf der du und ich spielen. In einem Augenblick spielen wir diese Note und bekommen diese Reaktion, und dann spielen wir jenen Akkord, und das Publikum reagiert auf jene Art.” Alfred Hitchcock (Vgl. Spoto 1984: 485) Die vorliegende Arbeit befasst sich mit impliziten Strukturen des Films, die erst bei vollständiger Realisierung resp. Decodierung durch den Rezipienten zu einem Akt des (Film)Verstehens führen: Die empathischen cues und das Konstrukt der Empathie als Modus des Verstehens stehen hier im Mittelpunkt. Selbstverständlich strukturieren sich empathische cues auch in oder durch TV-Filme, Serien, Werbeclips oder Radiosongs, in den folgenden Betrachtungen wird aber ausschließlich vom kinematografischen Konstrukt Film die Rede sein. Unsere erste These besagt, dass empathische Prozesse durch cues im Film gesteuert werden. Diese cues - wir nennen sie empathische cues - können auf verschiedenen Code- Ebenen (Zeichensystemen) des Films verortet werden. Bei der Filmrezeption werden diese K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 31 (2008) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Lars Grabbe und Patrick Kruse 290 empathischen cues durch den Zuschauer decodiert und ermöglichen ihm so eine emotionale Teilhabe am Filmgeschehen. Die empathischen cues ermöglichen dem Rezipienten die aktive Rezeption: Nicht ein ausschließlich starres ‘sich dem Film aussetzen’, so unsere zweite These, führt dabei zu einem Verstehen des Films. Der Rezipient muss stattdessen aktiv mit den Filmstrukturen in einen Akt der Kommunikation (Rezipienten-Interaktion) treten und mittels empathischer cues ein empathisches Feld von verschiedenen empathischen Perspektiven simulieren, welches die Figuren-, Objekt- und Tierwelt der filmischen Erzählung umschließen kann. Die Bedeutungsinhalte der gesamten Diegese und der Erzählung werden durch empathische cues generiert und gesteuert - die Decodierung der filminhärenten Zeichenstruktur gestattet es dem Rezipienten, sich durch seine Verstehensarbeit in den Film einzuschreiben und ihn so zu erleben. Unsere Thesen bearbeiten wir anhand ausgewählter Aspekte der empathischen cues ‘Bild und Ton’ und begründen jene mit den Beispielfilmen DIE NACHT DER ABENTEUER (ADVENTURES IN BABYSITTING, USA 1987, Chris Columbus), THE CELL (THE CELL, USA 2000, Tarsem Singh), ONE HOUR PHOTO (ONE HOUR PHOTO, USA 2002, Mark Romanek) und REQUIEM FOR A DREAM (REQUIEM FOR A DREAM, USA 2000, Darren Aronofski). 2. Der Begriff der Empathie Die Empathieforschung definiert Empathie als kognitive Fähigkeit, “die Gedanken, Perspektiven und Gefühle eines anderen zu erkennen und zu verstehen” (Song 2001: 102). Auf Film bezogen ist es wichtig anzumerken, dass sich empathische Bewegungen nicht nur auf Emotionen, sondern auch auf Handlungsintentionen der dargestellten Figuren beziehen. Die empathischen Prozesse in der Rezeption von Filmen sind als Aufbau (Konstruktionsmechanismus) einer fiktiven sozialen Handlungswelt zu verstehen. In der empathischen Tätigkeit werden die “verschiedenen Ziele der Akteure und das Gefüge ihrer komplementären Wahrnehmungen, ihrer Beziehungsdefinitionen sowie ihrer kognitiven und emotionalen Reaktionen aufeinander und das Geschehen gleichermaßen zugänglich” (Wulff 2003: 136f.). Das fiktionale Erleben eines Films basiert auf der Interaktion von verschiedenen Figuren in einem sozialen Feld. Mehrere Leinwandfiguren treten in soziale Interaktion miteinander, wobei der Zuschauer ihre intentionalen Horizonte nachbildet - er versucht die Figuren zu verstehen. Innerhalb der innerfilmischen Interaktionen der Leinwandfiguren untereinander wird es dem Zuschauer möglich, die emotionalen und intentionalen Horizonte der Figuren nachzubilden. Die beschriebenen intentionalen Strukturen bezeichnet Wulff als “empathisches Feld” und er versteht darunter “einen symbolischen Kontext des sozialen Lebens, des Genres, der besonderen Handlung und des besonderen dramatischen Konfliktes” (Wulff 2002: 110). Die empathischen Prozesse des Zuschauers beziehen sich auf dieses empathische Feld und bestehen aus einem Simulationsvorgang 1 , einem Nachbilden der “intentionalen Horizonte abgebildeter Figuren” (Wulff 2003: 139). Empathie ist daher als analytische Bewegung des Rezipienten zum Film hin anzusehen, die sowohl alle Figuren als auch Handlungen mit einschließt. Der Rezipient befindet sich in einem Prozess mentaler Simulation: dem “Modus des Du” (Kurt 2004: 205). Empathische cues und die Möglichkeit einer Affekt-Sprache des Films 291 Abb. 1 3. Empathie und Simulation Das Konzept der Einfühlung ist nicht nur figurenspezifisch anzuwenden, sondern auf die vollständige Objektwelt der Diegese. Empathie - so wie der Begriff im Folgenden benutzt werden soll - weitet sich zudem zur Bedeutung generierenden Simulation hypothetischer und faktischer Handlungsprozesse aus. Sie definiert sich also als imaginatives, interaktionistisches Konstrukt. Empathie als Simulationsprozess ermöglicht nicht nur die Teilhabe an emotionalen, sondern auch an affektneutralen Charakteren, bei denen z.B. ein ausdrucksloses Gesicht den Rezipienten veranlasst, Emotionen oder Handlungsinitiale in die Figur hinein zu simulieren. Der Rezipient wird so nicht nur in die Lage versetzt, Emotionen der Figuren nachzuvollziehen bzw. aufzuladen, sondern auch deren intentionale Horizonte. Diese Simulation wird dann möglich, wenn belebte und unbelebte Objekte als intentionale Systeme verstanden werden - im Sinne Daniel Dennetts: Intentionale Systeme sind nach Dennett Objekte, “deren Verhalten (zumindest manchmal) dadurch erklärt und prognostiziert werden kann, dass diesem System Meinungen, Wünsche und andere Intentionen zugeschrieben werden” (Dennett 1981: 306). Die empathische Arbeit die der Zuschauer an Figuren und Objekten im Film vollzieht, kann nur geleistet werden, da er in einem Akt der Simulation ein empathisches Feld generiert. Das empathische Feld ist als Synthese aller hypothetischen und faktischen Handlungsvollzüge im Kontext sich wechselwirksam bedingender empathischer cues zu verstehen. Der Zeichencharakter der empathischen cues weist darauf hin, dass empathische Prozesse als semiologische Prozesse anzusehen sind - Prozesse der Bedeutungsgeneration. 4. Empathische cues und ihre Verortung Empathische cues sind die Hinweisreize, die empathische Prozesse innerhalb der Narration strukturieren, die bei erfolgreicher Decodierung durch den Rezipienten ein Empathisieren von Subjekten und Objekten erst ermöglichen. Innerhalb der narrativen Struktur des Films sind sie eine Art Schlüsselreiz bzw. Ankerpunkt empathischer Prozesse. Kurz: Sie steuern die empathische Modellierung von Figuren innerhalb des Rezeptionsprozesses und sind auf den unterschiedlichen Code-Ebenen des Films anzusiedeln. Empathische cues können z.B. emotionale Ausdrücke von Charakteren sein, Farben, Kamerafahrten, Kameraperspektiven (z.B. mächtige Gegenstände versinnbildlicht durch die Froschperspektive), aber auch Bildtonelemente und Fremdtonelemente (Abb. 1). Empathische cues geben uns Anhaltspunkte, unsere empathischen Prozesse auf bestimmte Situationen, Handlungen, Figuren und Objekte zu richten. Sie steuern innerhalb der Rezeption die Strukturierung der emotionalen und intentionalen Horizonte der Lars Grabbe und Patrick Kruse 292 Filmfiguren, die der Zuschauer in einem empathischen Feld synthetisiert und simuliert. Sie affizieren den Zuschauer, Hypothesen über innere Vorgänge und Zustände dieser Figuren aufzustellen. Die Analyse des Filmbildes und die Offenlegung empathischer cues gestattet es, sich einer Empathie-Semiotik des Films anzunähern, da der Zeichencharakter der empathischen cues darauf verweist, dass empathische Prozesse als semiologische Prozesse anzusehen sind. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit, eine Affekt-Sprache des Films herauszuarbeiten. 4.1 Empathische cues auf der Bildebene Die diegetische Objektwelt ist eine konstruierte Welt. Innerhalb der Mise-en-Scène und Requisite werden Objektszenarien diegetischer Räume als Bedeutungsfelder inszeniert, innerhalb derer Figuren agieren. Zum einen bildet die Diegese 2 so den Kontext und Handlungsraum für die Interaktion der Figuren, zum anderen wird sie zum Kotext - zum Interaktionspartner - und offenbart eine Verweisstruktur auf innere Vorgänge und Zustände der Handelnden. 3 Die Kamerafahrt zu Beginn von DIE NACHT DER ABENTEUER wirkt - bezogen auf die Hauptfigur - charakterisierend: Es wird ein Zimmer gezeigt, das sich als ein typisches Mädchenzimmer herausstellt. Es sind Einrichtungsgegenstände wie CDs, Bücher, Kleidungsstücke und Fotos zu sehen. Erst dann wird Chris Parker gezeigt, wie sie singt und tanzt. Allerdings hat der Zuschauer sich schon ein Bild von Chris gemacht, bevor sie überhaupt zu sehen ist. Das zeigt, dass die Figuren in einem Film in einem System von Zeichen eingebettet sind. Unsere “Lebenswelt ist nicht die Wirklichkeit der Dinge, wie sie an sich selbst sind, sondern eine durch Zeichen erschlossene und gedeutete, verstellte oder entstellte, in jedem Fall geprägte Welt” (Oehler 2000: 13). Und als Zeichen kann alles dienen, wenn es als solches interpretiert wird (Vgl. Bense 1965: 305). Unterstützt wird diese These durch die Feststellung Wulffs, dass Requisite die Kunst ist, Bedeutungsfelder zu generieren. Diese Bedeutungsfelder sind eng an die Handelnden - also die story - gebunden: “Alle Elemente der story sind auch Elemente der Diegese, aber die Diegese geht über die story hinaus, sie enthält auch nicht auf die ‘Handlung’ bezogene Informationen” (Fuxjäger 2007: 21). Die gemeinsamen Elemente von story und Diegese stellen die Kontextdetermination von Personen heraus. Die Kontextdetermination unseres Körpers hängt damit zusammen, dass wir mit unserer Umwelt interagieren. Wir sind nicht auf unseren Körper begrenzt, wir sind zu unserer Umwelt 4 hin geöffnet (Vgl. Stockmeyer 2004: 31). Zum einen formen wir, was uns umgibt, durch unsere Handlungen, zum anderen wirkt sich unsere Umwelt auf uns aus bzw. sagt sie etwas über uns aus. Dieser Zeichencharakter der Umwelt - und damit der diegetischen Welt - ist die Disposition für das empathische Moment der Diegese. In Bezug auf die Analyse der empathischen cues auf diegetischer Ebene darf die Schichtung der Diegese nicht unberücksichtigt bleiben. Eine Trennung von physikalischer Welt und Wahrnehmungswelt muss zwingend vollzogen werden, um die Beschaffenheit der Zeichen näher zu bestimmen. Ein Beispiel für eine Verortung empathischer cues auf Ebene der physikalischen Welt ist der Film ONE HOUR PHOTO. Es geht um den Foto-Entwickler Sy Parrish, der sich Empathische cues und die Möglichkeit einer Affekt-Sprache des Films 293 Abb. 2: Bildlegende sukzessive in das Leben der Familie Yorkin einmischt und schließlich zur Gefahr für diese wird. In einer Szene ist seine Wohnung zu sehen - ein aufgeräumter Ort, der gut zu der Art von Sy passt. Doch dann zeigt die Kamera dem Zuschauer eine sorgfältig ausgeleuchtete Wand, die über und über mit den privaten Fotos der Familie Yorkin bedeckt ist - Kopien aller Fotografien, die sie ihm jemals zum entwickeln gegeben haben (Abb. 2). Diese Fotos, die eine Montage seines Wunschlebens bedeuten, weisen auf seinen inneren Zustand hin - seine Psychose, seine Besessenheit von den Yorkins und deren vermeintlich intakter Familienstruktur. In dieser Szene spiegelt die physikalische Diegese den mentalen Zustand von Sy wider. Erst das Zeigen der mit Fotos übersäten Wand gibt uns Aufschluss über den (gestörten) Geisteszustand von Sy und lässt uns Vermutungen darüber anstellen, dass diese Geschichte kein gutes Ende nehmen wird. Komplexer und interessanter ist jedoch die Analyse empathischer cues auf der Ebene der Wahrnehmungswelt in THE CELL. THE CELL ist in seiner Verweisdichte und Symbolhaftigkeit der diegetischen Welt ein fruchtbarer Analysetext. Die Welt, die das Innere des Serienkillers Stargher darstellt, ist stark zeichenhaft aufgeladen und bietet die Basis für eine empathische (Re-)Konstruktion der inneren Vorgänge seiner personalen Identität. Der Film handelt von der Psychologin Catherine Deane, die sich durch ein revolutionäres Verfahren direkt in die mentalen Welten ihrer Patienten begeben kann - gleichsam beschreibbar als Form einer medizinisch kontrollierten Empathie. 5 Als der Serienkiller Stargher bewusstlos in die Klinik gebracht wird, ist es an Catherine, den Aufenthaltsort von Starghers letztem Opfer ausfindig zu machen. Doch dafür muss sie sich in dessen Psyche begeben. Die psychische Konstitution der jeweiligen Patienten schlägt sich in der Konstruktion ihrer Innenwelten dar. So führt Catherines Weg sie zu Beginn des Films in die Psyche des autistischen Edward: einer Wüste, die die Isolation Edwards von der Welt symbolisiert. Die Lars Grabbe und Patrick Kruse 294 Abb. 3: Bildlegende Wüste mit ihrem hellen Licht und Catherines weißes Kleid stellen die Reinheit und Unschuld Edwards dar (Abb. 3). Dagegen ist Starghers psychotische Innenwelt geprägt von diffusem Licht, Schatten, diversen Darstellungen von Sadismus und Gewalt 6 und einer dämonischen Manifestation seines psychopathischen Selbst (Abb. 4 und 5) - dem Herren über dieses Reich. Alle Elemente der diegetischen Innenwelt haben nur ein Ziel: Die Repräsentation des Stadiums der Qualen in denen sich Stargher befindet. (Abb. 4). Als ein weiteres Beispiel soll hier die Szene dienen, in welcher Catherine zum ersten Mal dem Jungen Carl Stargher begegnet. Carl versteckt sich hinter einem Pferd, das ganz plötzlich von Glasplatten zerschnitten und auseinander gezogen wird, wobei seine Einzelteile das pulsierende Innere offenbaren. Das Pferd symbolisiert Freiheit und Sexualität. Und die Zerteilung des Pferdes ist mehr als nur die Zurschaustellung einer Schlachtung, sondern verweist auf die Zerstörung eben dieses Symbols und den ihm inne liegenden Werten in Starghers Innenwelt: Hier gibt es keine Freiheit, nur Kontrolle - und die wird allein und absolut von Stargher ausgeübt. Starghers komplette psychische Innenwelt ist ein Verweiskonstrukt. Sie gibt verschlüsselte Informationen darüber, mit was für einem Mann wir und Catherine es zu tun haben. Ein direktes Empathisieren ist uns nur schwer möglich 7 , es ist eher ein Empathisieren, das sich an der Diegese abarbeitet und sich durch deren Zeichenhaftigkeit bis zum Mann dahinter durcharbeiten muss - eine langfristige Strukturierung und Restrukturierung vorhandener Wissens-Schemata. Die Aufschlüsselung der Diegese ist mit der (psychoanalytischen) Aufschlüsselung der Person Carl Stargher gleichzusetzen. Im Film THE CELL bedeutet Diegestisieren 8 Empathisieren - jedenfalls partiell. Empathische cues und die Möglichkeit einer Affekt-Sprache des Films 295 Abb. 5: Bildlegende Abb. 4: Bildlegende Lars Grabbe und Patrick Kruse 296 4.2 Empathische cues auf der Tonebene Die Wirksamkeit isolierter empathischer cues auf der Ebene des Tons wurde u.a. durch Experimente von Annabel Cohen bewiesen. Cohen unterlegte sich bewegende geometrische Figuren mit unterschiedlichen Musiken und ließ sich dann von den Probanden ihres Experiments die Szenen beschreiben. Die Ergebnisse zeigten, dass durch unterschiedliche Musiken nicht nur die Figuren anders wahrgenommen wurden, sondern auch - je nach Bedeutung der Musik - die verschiedenen Handlungen unterschiedlich interpretiert wurden. (Vgl. Cohen und Marshall 1988: 95f.) Dieses Experiment zeigt, wie sehr Musik eine Beschreibung von Handlungen und Figuren beeinflusst und induziert, selbst wenn das Bildmaterial eine ambivalente oder minimale Basis für empathische Prozesse birgt. Musik ist also in der Lage, bedeutungsbildende Prozesse zu beeinflussen (Vgl. Schmidt 1976: 296f.). Doch kann nicht nur Fremdton (z.B. Filmmusik) als empathischer cue dienen, sondern auch der Bildton (Geräusche, Tonstrukturen etc.). Der Ausgleich von Affektneutralität (ebenfalls Passivität oder Neutralität von Figuren, Objekten oder Tieren) und deren Umkehrung ins Bedeutungsvolle kann innerhalb der Narration durch Kopplung mit tonalen Strukturen vollzogen werden. Gleichermaßen indem Charaktere durch verbalisierte Informationen oder Handlungen das Rezipientenbild des Objekts mitbestimmen und auslösen, können dies auch Tonfolgen evozieren, z.B. das Summen eines Kühlschranks, gefolgt von tonalem Grollen, Fauchen und animalischem Knurren, bis hin zu aggressiv konnotiertem Fremdton als Angriffsmusik - alles Steigerungselemente der Objektqualitäten eines Kühlschranks in dem Film REQUIEM FOR A DREAM. Ein in diesem Sinne mit Bedeutung aufgeladenes Objekt bietet die ideale Grundlage für simulative Empathie des Rezipienten im Kontext des fiktionalen Filmerlebens. Der Rezipient erkennt durch die Zuweisung des animalischen Tons den Handlungsvollzug des Kühlschranks an und kann gleichsam dessen Perspektive eines Angreifers, Feindes, also Antagonisten einnehmen: Der Bildton ergänzt die Information, die wir durch das Filmbild über den Kühlschrank erhalten und beeinflusst bzw. steuert somit maßgeblich unsere Urteilsbildung. Der Bildton nimmt einen zentralen Stellenwert im Konstrukt Empathie und simulativer Objektempathie ein. Besitzen Objekte einen Ton, heben sie sich aus der diegetischen und narrativen Reststille ab und machen auf potentielle Bedeutung aufmerksam - tonale Struktur kann Bedeutungsstrukturen fokussieren und Initial der Hypothesenbildung sein. Werden also Objekten Tonstrukturen unterlegt (Objekt-Ton-Kopplung), die beim Rezipienten direkt decodiert und zugewiesen werden können, wie z.B. das Fauchen eines Löwen im Kontext eines Kühlschranks, so wird objektbezogene Handlungsintentionalität offeriert und als solche begriffen, ohne dass physikalische Bewegungselemente dazu kommen müssen - die tonale Struktur fungiert in diesem Fall als ‘Handlungsphänomen’. In diesem Szenario wäre es möglich, dem Objekt einen ‘erweiterten Objektstatus’ - ähnlich dem Figurenstatus - zuzusprechen und es in die Struktur sozialer Interaktionen der Erzählung einzubetten. Auch wenn das Objekt nicht im Sinne eines menschlichen Akteurs handelt, so verändern sich doch dessen graduelle Funktionalität und dessen Bedeutung innerhalb der Objektwelt, so dass das Objekt nicht zum Akteur, aber zum Aktanten wird, in Anlehnung an Bruno Latour (Vgl. Latour 2001: 302f.). Empathische cues und die Möglichkeit einer Affekt-Sprache des Films 297 5. Zur Möglichkeit einer Affektsprache des Films Die empathische Arbeit, die der Zuschauer an Figuren und Objekten im Film vollzieht, ist als Arbeit am grundlegenden Verständnis des Films - dem Filmerleben - zu bezeichnen. Filmverstehen - und damit auch Empathisieren als semiologischer Prozess - baut auf dem Prinzip der Informationsverarbeitung auf. Der Rezipient extrahiert die für ihn relevanten Informationen aus dem Dargestellten - visuell und auditiv - und konstruiert daraus ein Gesamtbild der Erzählung und ihrer Figuren. Dies geschieht innerhalb des empathischen Feldes und durch die Decodierung empathischer cues. Die Ausführungen zu den bedeutungsgenerierenden Aspekten der empathischen cues zeigen deutlich deren Zeichencharakter und relevante Verortung im filmischen Code. Als textuelles Verfahren begriffen, ist die Analyse der empathischen cues nicht nur Analyse der Bedingungen die den Rezipienten zum eigentlichen Filmverstehen bewegen, sondern ebenso Analyse des Potentials der Aushandlung bzw. Generierung von Verstehensstrukturen. Denn wie intensiv und bewusst der Rezipient mit den empathischen cues arbeitet, hat einerseits etwas mit dessen Bereitschaft zu tun, und andererseits mit der Qualität, in der empathische cues strukturierend für mögliches Verstehen wirken. Empathische cues sind als Konzept relevant, da sie im Kern der Dialektik von Kognition und Emotion wirksam sind, welche ihre Bedeutung für das Konzept des emotionalen Verstehens unterstreicht. Empathische cues sind demnach als Funktionsmechanismus zu betrachten, der dem Rezipienten erst die Möglichkeit gibt, das weite Feld der filmischen Bedeutungsstrukturen in einen verstehenstheoretischen Konstruktionszusammenhang zu bringen. Die erfolgreiche Decodierung der Zeichenstruktur des ‘Systems Film’ - insbesondere der empathischen cues - bedeutet also, die Affekt-Sprache des Films zu verstehen und Film zu erleben: Durch empathische Arbeit die Zeicheninhalte des Films zu decodieren und so Bedeutungen zu generieren. Anmerkungen 1 Gordon bezeichnet diesen Vorgang als “putting themselves in the other’s shoes” (Gordon 1987: 139). 2 Die Diegese ist die dargestellte Welt, die Welt der Erzählung und der Figuren. Sie wird vom Rezipienten in einem Akt des Diegetisierens synthetisiert und strukturiert. Analog zum empathischen Feld könnte man von einem diegetischen Feld sprechen, in dem der Zuschauer seine Version oder besser Simulation der Diegese aufbaut. Die Konstruktion der Diegese ist als ein Extraktionsverfahren anzusehen, bei dem der Rezipient aus den Eindrücken, die ihm die Mise-en-Scène, Montage usw. bieten, eine homogene Repräsentation der diegetischen Welt synthetisiert. Siehe dazu (Wulff 2007: 39-51) und (Fuxjäger 2007: 17-37). 3 Anstelle der Begriffe Kontext und Kotext könnte man auch die Begriffe Hintergrundbild und Vordergrundbild einführen. Das Hintergrundbild wäre demnach alles, was kein direktes bedeutungsbildendes bzw. empathisches Potential hat und das Vordergrundbild stünde für die Objekte oder Räume, die sich durch ihre Verweisstruktur auf eine Figur beziehen. 4 Dazu auch Max Schelers Begriff der “Weltoffenheit” in: (Scheler 1947: 36f.). 5 Hier werden Parallelen zwischen Psychonautik und Psychoanalyse greifbar. 6 Zu nennen wäre hier Starghers Dioramen seiner Opfer, die die ermordeten Frauen in absurden Situationen zeigen, z.B. vor einen Karren gespannt oder als Puppen hergerichtet. Dieses mechanische Figurenkabinett symbolisiert Starghers Macht- und Kontrolldrang, den er an seinen weiblichen Opfern auslebt - über ihren Tod hinaus, idealisiert in seiner Erinnerung. 7 Die empathische Strukturierung Carl Starghers vollzieht sich zwar auch durch direktes Empathisieren, z.B. wenn man es mit seiner Figur vor dem Koma oder seinen Repräsentationen seiner Innenwelt zu tun hat, dennoch Lars Grabbe und Patrick Kruse 298 werden für ein tieferes Empathisieren wichtige Informationen zu einem großen Teil durch die Konstitution der Diegese vermittelt. 8 Dieses Diegetisieren geschieht innerhalb eines stark symbolischen Kontextes - der Prozess rückt damit in die Nähe der Psychoanalyse. Dazu Christian Metz: “Die Linguistik und die Psychoanalyse sind die beiden “Hauptquellen” der Semiologie, die beiden einzigen Disziplinen, die durch und durch semiotisch sind” (Metz 2000: 24). Literaturverzeichnis Bense, Max 1965: Aesthetica. Einführung in die neue Aesthetik, Baden-Baden: Agis-Verlag Cohen, Annabel. J. & Marshall, Sandra K. 1988: “Effects of Musical Soundtracks on Attitude toward Animated Geometric Figures.”, in: Music Perception Vol 6 No. 1 (1988): 95-112 Dennett, Daniel C. 1981: “Bedingungen der Personalität”, in: Bieri, Peter (ed.) 1981: Analytische Philosophie des Geistes, Königstein/ Ts. : Beltz Athenäum: 303-324 Fuxjäger, Anton 2007: “Diegese, Diegesis, diegetisch. Versuch einer Begriffsentwirrung”, in: Montage AV 16/ 2 (2007), Marburg: Schüren Verlag GmbH: 17-37 Gordon, Robert M. 1987: The structure of emotions: investigations in cognitive philosophy, Cambridge: Cambridge studies in philosophy Kurt, Ronald 2004: Hermeneutik. Eine sozialwissenschaftliche Einführung, Konstanz: UVK Verlag GmbH Latour, Bruno 2001: Das Parlament der Dinge: Für eine politische Ökologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp Metz, Christian 2000: Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino, Münster: Nodus Publikatione Scheler, Max 1947: Die Stellung des Menschen im Kosmos, München: Nymphenburger Verl.-Buchhandl. Schmidt, Hans-Christian (ed.) 1976: Musik in den Massenmedien Rundfunk und Fernsehen. Perspektiven und Materialien, Mainz: Schott Song, Sok-Rok 2001: Empathie und Gewalt. Studie zur Bedeutung von Empathiefähigkeit für Gewaltprävention. Diss. Ruhr-Universität Bochum, Berlin: Logos Verlag Spoto, Donald 1984: Alfred Hitchcock. Die dunkle Seite des Genies, Hamburg: Kabel. Stockmeyer, Anne-Christin 2004: Identität und Körper in der (post)modernen Gesellschaft. Zum Stellenwert der Körper/ Leib-Thematik in Identitätstheorien, Marburg: Tectum Verlag. Wirth, Uwe (ed.) 2000: Die Welt als Zeichen und Hypothese. Perspektiven des semiotischen Pragmatismus von Charles S. Peirce, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag Wulff, Hans J. 2002: “Das empathische Feld”, in: Sellmer, Jan und Wulff, Hans J. (eds.) (2002): Film und Psychologie - nach der kognitiven Phase? , Marburg: Schüren Verlag GmbH: 109-121 (= Schriftenreihe der Gesellschaft für Medienwissenschaft) Wulff, Hans J. 2003: “Empathie als Dimension des Filmverstehens: Ein Thesenpapier”, in: Montage/ AV, 12/ 1(2003), Marburg: Schüren Verlag GmbH: 136-161 Wulff, Hans J. 2007: “Schichtenbau und Prozesshaftigkeit des Diegetischen: Zwei Anmerkungen”, in: Montage AV 16/ 2 (2007). Marburg: Schüren Verlag GmbH: 39-51 Filmographie DIE NACHT DER ABENTEUER (ADVENTURES IN BABYSITTING, USA 1987, Chris Columbus) ONE HOUR PHOTO (ONE HOUR PHOTO, USA 2002, Mark Romanek) REQUIEM FOR A DREAM (REQUIEM FOR A DREAM, USA 2000, Darren Aronofski). THE CELL (THE CELL, USA 2000, Tarsem Singh)