eJournals Kodikas/Code 32/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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Goodmans Symbol- und Erkenntnistheorie beschäftigt sich mit grundlegenden Aspekten menschlichen Verstehens und Handelns. Es wird argumentiert, dass seine subtil aufeinander bezogenen Konzeptionen von Exemplifikation, Induktion und Welterzeugung ein tieferes Verständnis von Zusammenhängen zwischen Wahrnehmung, Kreativität, Jugendkultur und Bildung ermöglichen. Aufgezeigt wird, dass Jugendkultur ein besonderes Potenzial für ästhetisches und kreatives Handeln in sich birgt, dessen kognitive Aspekte von der Forschung ernst genommen werden sollten. Dieses kreative Potenzial bedarf umfassender und elementarer Förderung in unserem Bildungssystem. Es benötigt des Weiteren umfassenden Schutz vor der Abwertung durch konservative (Bildungs-)Politik und der Ausbeutung durch die Unterhaltungsindustrie.
2009
321-2

"Possession plus reference" - Nelson Goodmans Begriff der Exemplifikation

2009
Nicolas Romanacci
Text - Bild - Körper 31 den Empfang von Botschaften ermöglichen, sind “Medien”; sie stehen auf der Grenze zwischen Innen und Außen (Flusser 2002b: 117). Daher auch die Relevanz der Haut: Sie ist “die Grenze zwischen mir und der Welt” (Flusser 2006: 1). Und sie wird zu den - zweidimensionalen - Oberflächen gerechnet (Flusser 2006: 10), denen Flusser besondere Aufmerksamkeit zuwandte (Flusser 1993a). Warum aber, so fragt Flusser, sollen überhaupt alternative Körper entworfen werden? Weil der gegebene Körper als Resultat eines Jahrmillionen währenden Würfelspiels nicht überzeugend ausfällt. Die funktionelle Armut der Organe war dem Menschen immer bewusst, weshalb die ganze materielle Kultur als der Entwurf eines künstlichen Körpers angesehen werden kann, der sich dem natürlichen aufsetzt (Flusser 1994: 91). Weil die Reichweite der Körpersinne als unbefriedigend, die Wahrnehmung als auf zu enge Ausschnitte der Umgebung beschränkt empfunden wurde, die Ausweitung der Raum- und Zeitkategorien über das sinnlich direkt Wahrnehmbare hinaus für das Überleben aber essenziell war, hat sich der Mensch mit der Körperarmut nie abgefunden und Körperfunktionen durch andere überholt (so wurde die Hebelaus der Armfunktion abstrahiert und effizienter gemacht). Der Übergang vom natürlichen zum künstlichen Körper korrespondiert also mit dem vom Tierischen zum spezifisch Humanen (Flusser 1994: 92), und weil das Engagement für Informationserweiterung typisch für den Menschen ist, wird er auch künftig in die Evolution eingreifen, um die “Menschwerdung” zu konkretisieren (Flusser 1994: 95). 6 Aktuelle Beispiele Flusser erwartet von der nahen Zukunft eine mit der industriellen vergleichbare neurologische Revolution und fragt, warum wir nicht das Feld unseres Sehsinns erweitern sollten, schließlich seien dem Projektionsfeld neuer Sinnesorgane keine ersichtlichen Grenzen gezogen (Flusser 1994: 99f.). Er selbst hält seine Ausführungen für ‘äußerst unbefriedigend’, weil das Entwerfen als solches notwendigerweise ergebnisoffen sei; bei seinen Überlegungen handele es sich - da wir an einer Schwelle stehen - um ‘das vorwegnehmende Bedenken einiger sich nunmehr eröffnender Möglichkeiten’. Viele davon waren zu Flussers Zeit, der 1991 verstarb, natürlich nicht absehbar. Gleichwohl zeigt er sich in einem Interview (zwischen 1986 und 1989) gut informiert über aktuelle technische Entwicklungen und entsprechende künftig zu erwartende Tendenzen: Ich möchte jetzt einen Sprung in die Futurologie machen. Was mich kolossal fasziniert […], ist die Entwicklung der Hologramme. […] Es beginnen jetzt Techniken ausgearbeitet zu werden, in der [sic] MIT soweit ich informiert bin aber auch in Los Angeles, welche gestatten, direkt aus dem Computer in die Holographie hineinzugehen und infolgedessen dreidimensionale und vierdimensionale Volumina aus dem Computer herauszuspucken. Wenn das wahr sein sollte, und wenn sich diese Technik weiter entwickeln sollte, dann werden wir in Zukunft von Gegenständen umgeben, die völlig aus der reinen Vernunft [der Computersynthese] entstammen. Wir werden dann nicht nur Bilder der reinen Vernunft haben, sondern eine gegenständliche Welt, die von der reinen Vernunft erzeugt wurde. Und wenn die Technik perfekter wird, wird es mit der Zeit ein Unsinn werden zwischen den Gegenständen an die wir gewohnt sind und diesen holographischen Gegenständen unterscheiden zu wollen (Flusser 2003). Ein aktuelles Beispiel hierfür liefert ein Bericht mit dem Titel Ein Herz aus dem Tintenstrahldrucker über das sogenannte ‘Organ Printing’ (im Internet unter: http: / / www.spiegel.de/ wissenschaft/ natur/ 0,1518,druck-590280,00.html [14.11.2008]). Ein speziell hierfür ent- Michael Hanke 32 wickelter 3-D-Drucker schleudert (Flusser sagte: spuckt) statt der mikroskopisch kleinen Tintentröpfchen tausende menschlicher Zellen pro Sekunde aus dem Druckkopf und setzt sie zu einem dreidimensionalen Organ zusammen. Bis zur beabsichtigten Entwicklung eines Herzens ist es zwar noch nicht gekommen, aber 2003 immerhin zur Herstellung einer 3-D- Struktur aus realen, lebenden Zellen. Weniger spektakulär, aber bereits einsatzfähig ist eine neue Generation von 3-D-Druckern, die Alltagsgegenstände herstellen. Ein so genannter ‘Fabber’ (‘Digital’ oder ‘Personal Fabricator’) ermöglicht die Herstellung dreidimensionaler Gegenstände aus digitalen Dateien (‘Fabbing’). Die zunächst am Bildschirm projizierten Produkte werden anschließend vom Fabricator moduliert, etwa durch schichtweises Auftragen von Kunststoff; mit Produkten wie künstlichen Zähnen, Knochen und Hautgewebe ist das Digitale auf diesem Wege bereits in den Körper vorgedrungen. 4 Ein weiteres Beispiel für die von Flusser prognostizierte Entwicklung stammt aus der Photographie und ist das so genannte High Dynamic Range (HDR)-Verfahren, bei dem ein digitales Softwareprogramm aus einer Reihe unterschiedlich belichteter Bilder ein einziges neues entwickelt, wobei die jeweiligen Kontrastschärfen beibehalten werden, womit diese eine ungewohnte Qualität erreichen und ein ‘hyperrealistischer’ Effekt erzielt wird. Diese Technik wird auch dazu verwendet, die Bildqualität künstlicher Netzhäute für Blinde zu verbessern, ist also ein Beispiel dafür, wie digitale Technik in den Körper eindringt. Andere Beispiele dieser Art bietet die aktuell entwickelte Ausrüstung für künftige Soldaten. Infrarotbilder können direkt auf die Netzhaut projiziert und auch mit anderen computerfähigen Daten kombiniert werden (Bilder von Landschaften und Strassenzügen, GPS etc.). Der Kampfeinsatz wird so zu einer Art Videospiel. Zahlreiche Beispiele für die Gestaltung auf der Ebene der Nulldimensionalität und ihrer Projektion in die dreidimensionale Ebene ist die Gentechnologie, d.h. die Genanalyse bzw. die gezielte Manipulation des Genoms. Im ‘Zeitalter biologischer Kontrolle’, das mit der Geburt des geklonten Schafes ‘Dolly’ 1996 eingeleitet wurde, verfügt der Mensch über die Gene eines Lebewesens und über die Möglichkeit, diese umzuprogrammieren, womit das genetische Lebensprogramm labortechnisch steuerbar wird. Einen speziellen Fall gentechnologischer Verfahren liefert die Präimplantationsdiagnostik. Hierbei werden Zellen eines im Reagenzglas gezeugten Embryos auf, anhand bestimmter Gene, feststellbare Erkrankungen untersucht. Ursprünglich sollte dieses Screening der genetischen Information dazu dienen, Familien, die von definierten Erbkrankheiten betroffen waren, zu einem gesunden Kind zu verhelfen. Die Zielsetzung erweiterte sich jedoch bald zu einem Testen der genetischen Information von nicht belasteten Paaren, die eine Reagenzglasbefruchtung durchführten, so dass Präimplantationsdiagnostik und Reagenzglasbefruchtung jetzt eine neue Wechselbeziehung mit eigener Dynamik stiften. So hat sich herausgestellt, dass abnorme Zellen gleichsam selbstheilend vom Organismus eliminiert werden; wenn also zufällig bei einem Test eine kranke Variante zutage tritt, wird auf der Basis dieses Wissens ein durchaus lebensfähiger Embryo ‘verworfen’, der eigentlich das Potenzial zu einem gesunden Kind hat. Geschlechtsselektion ist eine andere Folge dieses genetischen Screenings: Eltern können entscheiden, ob sie von den gesunden Embryonen nur die männlichen oder die weiblichen für die weitere Prozedur heranzuziehen wünschen und so das Geschlecht bestimmen. Ethisch bedenklich (oder noch bedenklicher) sind Fälle, in denen die Merkmale des Retortenkindes so gewählt werden, dass es einem bereits lebenden, aber kranken Kind genetisch möglichst ähnelt, um so die Option für eine Knochenmarkspende zu eröffnen. Text - Bild - Körper 33 Eine weitere Variante hiervon ist die bewusste Auswahl eines Embryos mit speziellem Gendefekt, z.B. eine angeborene Schwerhörigkeit oder Blindheit. Dem Wunsch der Eltern liegt das Motiv zugrunde, dass das Kind diese Eigenschaft, die sie nicht als Krankheit definiert sehen wollen, mit ihnen teilt. Das Entwerfen von Körpern, dessen Bedeutung Flusser schon früh aufgrund theoretischer Reflexion als Konsequenz der medialen Evolution prognostizierte, ist erst dabei, die Aktualität zu erlangen, die Flusser schon früh erkannte. Literatur Breuer, Ingeborg, Peter Leusch & Dieter Mersch 1996: Welten im Kopf. Profile der Gegenwartsphilosophie, Hamburg: Rotbuch Fahle, Oliver, Michael Hanke & Andreas Ziemann (eds.) 2009: Technobilder und Kommunikologie. Die Medientheorie Vilém Flussers, Berlin: Parerga Flusser, Vilém 1966: Filosofia da Linguagem. Instituto Técnologica Aeronautico, S-o José dos Campos: ITA - Humanidades Flusser, Vilém 1983: Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen: European Photography Flusser, Vilém 1985: Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen: European Photography Flusser, Vilém 1989: Vom Unterworfenen zum Entwerfer von Gewohntem, Referat zum Symposium Intelligent Building, Karlsruhe, Oktober 1989. Symposium Intelligent Building, Karlsruhe: 2-10 Flusser, Vilém 1991: Bochumer Vorlesungen, im Internet unter: http: / / www.flusser-archive.org/ publications/ bochumervorlesungen Flusser, Vilém 1993a: Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien, Bensheim: Bollmann Flusser, Vilém 1993b: Nachgeschichte. Eine korrigierte Geschichtsschreibung, Bensheim: Bollmann Flusser, Vilém 1994: Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung, Bensheim: Bollmann Flusser, Vilém 1997: Medienkultur, Frankfurt a.M.: Fischer Flusser, Vilém 1998a: Kommunikologie, Frankfurt a.M.: Fischer Flusser, Vilém 1998b: “Text und Bild”, in: Flusser, Vilém 1998: Standpunkte, Göttingen: European Photography, 73-96 Flusser, Vilém 2000: Jude sein. Essays, Briefe, Fiktionen, Berlin: Philo Flusser, Vilém 2002a: “In Search of Meaning (Philosophical Self-portrait)”, in: Flusser, Vilém 2002: Writings, Minneapolis: University of Minnesota Press, 197-208 Flusser, Vilém 2002b: “Von den Möglichkeiten einer Leibkarte”, in: Lab. Jahrbuch 2000 für Künste und Apparate, hrsg. von der Kunsthochschule für Medien Köln, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 115-24 Flusser, Vilém 2003: “Interview mit Gerhard Johann Lischka”, DVD. ZKM - Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe & Gerhard Johann Lischka (eds.): Am Nerv der Zeit. Interviews zur Kunst, Kultur und Theorie 1974-1990, Ostfildern: Hatje Cantz Flusser, Vilém 2006: “Haut”, in: Flusser Studies 2 (2006): 1-11 Grube, Gernot 2004: “Vilém Flusser”, in: Lagaay, A. & Lauer, D. (eds.) 2004: Medientheorien. Eine philosophische Einführung, Frankfurt a.M.: Campus, 173-199 Luhmann, Niklas 2008: Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? , 5. Auflage, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften Leschke, Rainer 2003: Einführung in die Medientheorie, München: UTB Mersch, Dieter 2006: Medientheorien zur Einführung, Hamburg: Junius Pias, Claus et al. (eds.) 2004: Kursbuch Medien. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart: DVA Rosner, Bernd 1997: “Vilém Flusser”, in: Kloock D. & Spahr, A. (eds.) 1997: Medientheorien. Eine Einführung, München: UTB, 77-98 Wagnermaier, Silvia 2002: “Zuführung zum Text Vilém Flussers”, in: Flusser, Vilém 2002: Von den Möglichkeiten einer Leibkarte, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 113-114 Michael Hanke 34 Anmerkungen 1 Alle diese Einordnungen können jeweils gute Gründe ins Feld führen. In den Profilen deutscher Gegenwartsphilosophie von Breuer et al. wird Flussers Medien- und Kulturphilosophie der Rang eines eigenen Kapitels eingeräumt (S. 79-90), und die Aufnahme damit begründet, dass “sich sein Philosophieren ganz im Umkreis deutscher Philosophie definierte” (Breuer et al. 1996: 7). Das philosophische Selbstporträt In Search of Meaning (Philosophical Self-portrait), 1969 auf englisch und portugiesisch geschrieben, erschien 1976 in dem Band Rumos da Filosofia atual no Brasil em auto-retratos (Wege der brasilianischen Gegenwartsphilosophie in Selbstdarstellungen, Ü. MH), präsentiert Flusser also als brasilianischen Philosophen. Hier - wie auch an zahlreichen anderen Stellen - verortet er sich zudem als Prager Philosoph, der verwurzelt ist sowohl in der deutschen wie auch der tschechischen Kultur und der jüdischen Tradition (Flusser 2002a: 198), s. auch den Band von Flusser: Jude sein (Flusser 2000). 2 Flusser (2003) stellt sich im Zusammenhang mit seiner Fototheorie selbst in die Tradition von Roland Barthes, Susan Sontag und insbesondere Walter Benjamin. 3 Demnach geht es der neuzeitlichen Wissenschaft im Kern “um eine Steigerung des Auflöse- und Rekombinationsvermögens, um eine Neuformierung des Wissens als Produkt von Analyse und Synthese”; dabei betreibe die Analyse “eine weitere Auflösung der sichtbaren Welt” in kleinere Einheiten (Atome, Gene, Handlungskomponenten etc.), was dann die Aufdeckung eines ungeheuren Rekombinationspotentials zur Folge habe (Luhmann 2008: 102). Es handele sich um die “Auflösung und Rekombination von Realität” (Luhmann 2008: 104), und dieses nahezu unendliche Auflösevermögen führe “unabsehbare Möglichkeitsräume vor Augen” (Luhmann 2008: 107). Im Ergebnis werde an der Welt alles Haltbare hiervon erfasst, so dass das wissenschaftliche Weltbild die Funktion gesellschaftlicher Orientierung verliert (Luhmann 2008: 107). 4 Auch mit seinem Hinweis auf das MIT zeigt sich Flusser auf der Höhe der Zeit: Der Autor eines der Referenzwerke dieser Technologie, Neil Gershenfeld (FAB: The Coming Revolution on Your Desktop, Cambridge 2005), leitet gegenwärtig am MIT das Center for Atoms and Bits. »Possession plus reference« Nelson Goodmans Begriff der Exemplifikation Angewandt auf eine Untersuchung von Beziehungen zwischen Kognition, Kreativität, Jugendkultur und Bildung 1 Nicolas Romanacci Goodman’s creative symbol-constructional philosophy concerns fundamental aspects of human cognition and practice. It is argued that especially his deeply interrelated conceptions of exemplification, induction and worldmaking provide us with a subtle understanding of the connections between cognition, creativity, youth-culture and education. I will try to show that youth-culture contains a fundamental potential for aesthetic and creative practice with an immense cognitive value that should be taken seriously by the cognitive sciences. This potential should be encouraged from scratch within our educational system and needs to be protected comprehensively from depreciation through narrow-minded (education-)policy and exploitation through the entertainment industries. Goodmans Symbol- und Erkenntnistheorie beschäftigt sich mit grundlegenden Aspekten menschlichen Verstehens und Handelns. Es wird argumentiert, dass seine subtil aufeinander bezogenen Konzeptionen von Exemplifikation, Induktion und Welterzeugung ein tieferes Verständnis von Zusammenhängen zwischen Wahrnehmung, Kreativität, Jugendkultur und Bildung ermöglichen. Aufgezeigt wird, dass Jugendkultur ein besonderes Potenzial für ästhetisches und kreatives Handeln in sich birgt, dessen kognitive Aspekte von der Forschung ernst genommen werden sollten. Dieses kreative Potenzial bedarf umfassender und elementarer Förderung in unserem Bildungssystem. Es benötigt des Weiteren umfassenden Schutz vor der Abwertung durch konservative (Bildungs-)Politik und der Ausbeutung durch die Unterhaltungsindustrie. 1 Einleitung: Forschungshaltung und Ziele dieser Untersuchung 1.1 Ästhetik, Jugendkultur und Erkenntnistheorie Die lange im Reich der Werttheorie ansässige Ästhetik wandert, auf Nelson Goodmans Einladung hin, in die Erkenntnistheorie aus. Goodman macht geltend, dass die Künste eine kognitive Funktion haben. Die Aufgabe der Ästhetik ist es, diese zu erklären. Eine solche Behauptung wäre eigenwillig, würde man die Erkenntnistheorie als die Theorie des Wissens auffassen. Die Künste sind gewöhnlich keine Vorratslager für gerechtfertigte, wahre Meinungen. Aber Wissen ist, wie Goodman und ich behaupten, ein unwürdiges kognitives Ziel. Viel besser ist es, unser Augenmerk auf das Verstehen zu richten (Elgin 2005: 43). K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Nicolas Romanacci 36 Ästhetik in die Erkenntnistheorie auswandern zu lassen, mag womöglich vergleichbar eigenwillig erscheinen, wie einem Beitrag über Jugendkultur ein Zitat über die kognitive Funktion der Künste voranzustellen. Aber ist man, wie Goodman, “weniger daran interessiert […], die Grenzen des Ästhetischen gegen Eindringlinge zu schließen, als daran, epistemisch bedeutsame, bereichsübergreifende Affinitäten zu entdecken” (Elgin 2005: 58), dann ergibt ein solcher Einstieg Sinn. Die diesem Artikel zugrunde liegende Forschungshaltung möchte ich als kognitivistische Ästhetik bezeichnen (cf. Gerhard Ernst 2000, Oliver Scholz 2001 oder Jakob Steinbrenner 1996). Kognitivistische Ästhetik bedient sich einer erweiterten Auffassung von Erkenntnis, die “sich nicht in einer Theorie des propositionalen Wissens erschöpf(t), sondern alle kognitiven Ziele, Fähigkeiten und Leistungen berücksichtig(t) […] im Zusammenhang untersuch(t)” (Scholz 2001: 36) und in besonderer Weise nicht-propositionale Erkenntnisformen zum Gegenstand hat. Wichtiges Werkzeug ist hierbei eine allgemeine Symboltheorie, wie sie Nelson Goodman etwa in Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie (Goodman 1968) exemplarisch entwickelt hat. Den Begriff Symbol verwendet Goodman dabei sehr weit und allgemein: Er “umfaßt Buchstaben, Wörter, Texte, Bilder, Diagramme, Karten, Modelle und mehr, aber er hat nichts Gewundenes oder Geheimnisvolles an sich” (Goodman 1968: 9). Für diese Untersuchung soll entsprechend auch der Begriff ästhetisch nichts Gewundenes oder Geheimnisvolles an sich haben. Ästhetisches Handeln soll vielmehr anhand bestimmter Symptome - wie etwa der Bezugnahme über die Exemplifikation - festgemacht werden. Ästhetische Praxis wird dabei nicht mit künstlerischer einfach gleichgesetzt, aber es sollen durchaus grundlegende Gemeinsamkeiten und für eine Abgrenzung dem Wesen nach nur graduelle Unterscheidungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Dabei wäre jede künstlerische Praxis ein ästhetisches Handeln, aber nicht jedes ästhetische Handeln gleich Kunst. Ästhetisches Handeln würde also schon bei weniger komplexen Handlungen stattfinden, gemeinsames Merkmal wäre für die vorliegende Untersuchung etwa die Bezugnahme über die Exemplifikation und der Ausdruck über die metaphorische Exemplifikation. Ästhetisches Handeln kann nach entsprechender Auffassung schon bei Jugendkultur beobachtet werden, nur in der Komplexität der Bezugnahmeformen und dem möglichen Auftreten weiterer “Symptome des Ästhetischen” (Goodman nennt: syntaktische und semantische Dichte, relative Fülle, Exemplifikation, mehrfache und komplexe Bezugnahme, siehe Goodman 1968: 252ff.; 1978: 67-68; 1984: 135ff.) liegt der Unterschied zu künstlerischen Formen. Eine Wertung ist mit dieser Unterscheidung nicht beabsichtigt, nur ein besseres Verständnis intendiert anhand der Analyse von Gemeinsamkeiten und spezifischen Unterschieden. Ein solches, verbindendes Fortschreiten vom Einfachen zum Komplexen gilt in vielen anderen Bereichen als selbstverständlich, unverständlicherweise aber oftmals nicht bei ästhetischen Fragen. 1.2 Ein Exkurs über fiktive und reale Absurditäten Ein Beispiel mag dies verdeutlichen. Gibt man etwa einem Grundschüler die Aufgabe 2+2=x vor und dieser schreibt als Lösung 2+2=4, würde wohl niemand abstreiten, dass der Schüler eine mathematische Aktion durchgeführt hat. Als absurd würde die Aussage gelten, dass die Mathematik erst ab z.B. dem Komplexitätsgrad von Binomischen Formeln beginnt. Genauso würde niemand anzweifeln, dass ein Erlernen der Mathematik mit einfachen, grundlegenden Schritten beginnen sollte. Grundlegende Kenntnisse in Mathematik werden von jedem Possession plus reference 37 gefordert, bzw. wird jedem das Recht zugestanden, mindestens mathematische Grundlagen vermittelt zu bekommen. Aber niemand erwartet, dass aus jedem Schüler ein Mathematikgenie wird. Bei ästhetischen Handlungen ist die Sichtweise seltsamerweise oftmals völlig anders. Das Erlernen von ästhetischem Handeln oder Denken wird nach wie vor kaum gleichwertig als Recht oder Pflicht angesehen wie etwa naturwissenschaftliches Denken. Bei ästhetischen Fragen scheint ein Beschreiben in Abstufungen als nicht angebracht. Hier geht es oftmals eher darum, müßige, von der Auffassung her essentialistische Debatten zu führen, die sich zwangsläufig vergeblich darin verfangen, kategorisch zwischen Kunst und Nicht- Kunst unterscheiden zu wollen - Bemühungen, die sich in der Fragestellung “Was ist Kunst? ” bündeln lassen. Goodman steuert zu dieser Frage - wie in vielen anderen Fällen (siehe Goodman und Elgin 1988) - eine Neuformulierung bei, indem er sie als falsch gestellt zurückweist: “If attempts to answer the question: What is Art? characteristically end in frustration and confusion, - as so often in philosophy - the question is the wrong one” (Goodman 1978: 57). Goodman zeigt, dass in Hinblick auf Weisen und Praxis der Bezugnahme von Symbolsystemen die Frage eher: “When is Art? ” lauten sollte (Goodman 1978: 67; siehe dazu auch eine kritische Diskussion essentialistischer Positionen in Steinbrenner 1996 und Lüdeking 1988). Im Gegensatz zu Goodman wird des weiteren argumentiert, dass ästhetisches Handeln weniger erlernbar wie etwa die Mathematik, eher angeboren und nach extremer Auffassung in ihrer Ausprägung als Kunst letztlich nur dem Genie vorbehalten sei. Alle kreativen Formen vor einer wie auch immer definierten künstlerischen Ausprägung seien dann primär und nur wichtig als Ausgleich, weil irgendwie harmloser und entspannender Zeitvertreib, aber ohne wirkliche kognitive Funktion und Wert, wie eben etwa im Gegensatz zu den Naturwissenschaften. Wie absurd diese Auffassung und leider auch die aktuelle bildungspolitische Realität sich darstellt, zeigt Goodman mit ironischer Schärfe in seinem Aufsatz Message from Mars (Goodman 1987: 239ff.) auf, der, 1975 verfasst, leider auch 33 Jahre später noch seine Gültigkeit als Persiflage auf unser Bildungssystem behalten hat. Erzählt wird die fiktive Geschichte von “Professor Hans Trubelmacher”, der als Spezialist für naturwissenschaftliche Ausbildung auf Ersuchen von Marsianern auf den Mars berufen wird, die in Sorge sind über den Stand der Naturwissenschaften an der führenden Universität. Der Professor stellt schnell fest, “dass sich die offiziellen Kurse an der Universität hier fast ausschließlich auf die Künste konzentrieren und alle ihre Aspekte abdecken” (Goodman 1987: 239), bei gleichzeitiger sträflicher Vernachlässigung der Naturwissenschaften, also in genauer Umkehrung zur Situation auf der Erde. Detailliert wird die fiktive Situation auf dem Mars geschildert, und den Verantwortlichen für die reale Situation auf der Erde wird so fiktiv der Spiegel vorgehalten. Am Ende der Geschichte berichtet Professor Trubelmacher von seinem letzten Gespräch: Zuletzt sprach ich mit Professor Lawrence Vincent, einem Fakultätsmitglied, das lange Zeit auf die Entwicklung und Leitung der naturwissenschaftlichen Aktivitäten an der Universität großen Einfluss hatte. Er hob die Tatsache hervor, dass die Universität ständig unter finanziellem Druck stand und nicht alles in Angriff nehmen konnte. Die wahre Aufgabe der Universität war die Ausbildung in allen Bereichen der Künste. Naturwissenschaftliche Ausbildung war für ihn in erster Linie eine Frage der Neigung; man sollte sie besser den Handelsschulen überlassen. Außerdem war die Naturwissenschaft, insoweit sie keine Technologie war, eine etwas brotlose Beschäftigung, die nur Unterhaltungswert besaß; und naturwissenschaftliche Aktivitäten sollten wie die sportlichen Aktivitäten nicht in das reguläre Curriculum aufgenommen werden. […] Der Freund, der mich als Berater eingeladen hatte, fragte mich auf der Fahrt zum Raumhafen nach meinen Eindrücken und Empfehlungen. Ich musste ihm sagen, daß meines Erachtens solange Nicolas Romanacci 38 wenig getan werden kann, als das grundlegende Bedürfnis nach einer Veränderung der Einstellung keine größere Anerkennung erfährt, und daß neue Ideen dringender, oder zumindest eher, gebraucht werden als neue Gelder (Goodman 1987: 243). Ich möchte mich Goodman bzw. “Professor Trubelmachers” Auffassung anschließen, dass sich wenig Essentielles in unserem Bildungssystem ändern wird, solange es kein grundlegendes Umdenken gibt, welches erst ein Bewusstsein und Bedürfnis nach - dringend benötigten - erweiterten Bildungskonzepten mit sich bringen würde. Ein Ziel dieser Untersuchung ist es, aufzuzeigen, dass es für ein grundlegendes Umdenken unter anderem unumgänglich ist, ästhetische Handlungen und deren kognitive Aspekte über eine Analyse der Bezugnahmeweisen von Symbolen zu erklären. Somit steht man zum einen nicht mehr vor dem (Schein-)Problem, Kunst von Nicht-Kunst unterscheiden zu müssen, sondern kann ästhetische Praxis über den Grad ihrer Komplexität erforschen. Eine ernsthafte Untersuchung sollte nicht erst bei den vermeintlich höheren Sphären künstlerischer Praxis einsetzen, sondern sollte auch eine Untersuchung ästhetischen Ausdrucks bei Jugendlichen beinhalten. Ästhetisches Handeln von Jugendlichen muss und soll somit nicht einfach mit Kunst gleichgesetzt werden, aber die kognitiven und kreativen Aspekte können sinnvoll und gewinnbringend verglichen werden, um etwa in Bildungsfragen besser argumentieren und handeln zu können. Goodman untersucht Symbole bzw. Symbolsysteme und ihre Weisen der Bezugnahme. Als grundlegende Formen beschreibt Goodman dabei die Denotation und die Exemplifikation (Goodman 1968). Diese wird sich aus mehreren Gründen als zentral für die vorliegende Untersuchung erweisen. Über die Exemplifikation kann ein (Jugend-)spezifischer Zeichengebrauch erklärt werden, der über Symbolsysteme wie etwa Gestik, Körperhaltung, Kleidung, bis hin zu bevorzugtem Musikstil und allgemein allen visuellen Ausdrucksformen nichtsprachliche und nicht-propositionale Symbolisierungsformen generiert. Wie in diesem Zusammenhang Kognition und Kreativität verstanden werden können, soll anhand Goodmans Theorie der Induktion näher erklärt und präzisiert werden. Über die metaphorische Exemplifikation (Goodman 1968: 85-95) beschreibt Goodman das Phänomen des Ausdrucks. Über die metaphorische Exemplifikation kann auch ein Lebensgefühl zum Ausdruck gebracht werden, über dieses kann - gerade bei Jugendlichen - (sub-)kulturelle Identität ihre Form finden. 2 Exemplifikation, Kognition und Kreativität Nelson Goodman unterscheidet zwei grundlegende Weisen der Bezugnahme von Symbolen: Denotation und Exemplifikation. Bei der Denotation verläuft die Richtung der Bezugnahme vom Symbol zu den bezeichneten Gegenständen oder Ereignissen. Die Exemplifikation erfolgt gewissermaßen in umgekehrter Richtung. Ein Gegenstand fungiert als Muster (sample), als exemplifizierendes Symbol, wenn er auf einen Teil der Prädikate, die er aufweist, zudem Bezug nimmt. Exemplifikation ist somit nach Nelson Goodman “possession plus reference” (Goodman 1968: 53). Ein wichtiger Aspekt der Exemplifikation ist, dass sie über das konkrete Beispiel in besonderer Weise nichtsprachliche Label bereitstellen kann und epistemischen Zugang zu diesen ermöglicht - und dadurch zu anderen Bereichen, auf welche diese Label entsprechend Anwendung finden können. Derlei wird im Alltag, im Handel, in den Wissenschaften und in besonderem Maße in den Künsten praktiziert. So exemplifiziert das Stoffmuster eines Schneiders etwa seine Farbe, seine Materialqualität, seine Textur - Possession plus reference 39 jedoch nicht seine Größe oder das Datum seiner Herstellung. Um die Pointe dieses Gedankenganges herauszuarbeiten, bedient sich Goodman in seinem Buch Weisen der Welterzeugung (Goodman 1978) zweier humorvoller Geschichten, die ich dem Leser hier nicht vorenthalten möchte. Ausgangspunkt ist in Goodmans Text die Frage danach, welche Eigenschaften bei nicht-darstellenden und nicht-expressiven Kunstwerken wichtige, welche unwichtige sind und wie diese voneinander unterschieden werden können. Ich glaube, daß es eine Antwort auf die Frage gibt, aber um uns ihr zu nähern, werden wir das ganze hochtönende Gerede über Kunst und Philosophie preisgeben und uns ganz unsanft auf nüchternen Boden begeben müssen. Betrachten wir nochmals ein gewöhnliches Stoffmuster im Musterbuch eines Schneiders oder Polsterers. Es wird wohl kaum ein Kunstwerk sein oder irgendetwas abbilden oder ausdrücken. Es ist einfach eine Probe - eine einfache Probe. Wovon aber ist es eine Probe? Von der Oberfläche, Farbe, Webart, Stärke und Beschaffenheit der Faser […], die ganze Pointe dieser Probe, so sind wir zu sagen versucht, ist die, daß sie von einem Stoffballen abgeschnitten wurde und genau dieselben Eigenschaften hat wie der Rest des Materials. Doch das wäre übereilt. Lassen sie mich zwei Geschichten erzählen - oder vielmehr eine Geschichte, die aus zwei Teilen besteht. Frau Mary Tricias (ein Wortspiel mit meretricious, von lat. meretrix. A.d.Ü.) studierte ein solches Musterbuch, traf ihre Wahl und bestellte in ihrem bevorzugtem Stoffladen genügend Material für ihre Polsterstühle und das Sofa - wobei sie betonte, es müsse genau so sein wie die Probe. Als das Paket eintraf, öffnete sie es begierig und war entsetzt, als einige Hundert Stücke von 6 x 10 cm mit Zickzackrand, genau wie das Muster, zu Boden flatterten. Als sie im Geschäft anrief und laut protestierte, antwortete der Besitzer gekränkt und mißmutig: ‘Aber, Frau Tricias, Sie sagen doch, das Material müsse genau so sein wie die Probe. Als es gestern aus der Fabrik kam, habe ich meine Verkäuferinnen die halbe Nacht hier behalten, damit sie es so zuschneiden, daß es der Probe entspricht.’ Dieser Vorfall war einige Monate später schon beinahe vergessen, als Frau Tricias, nachdem sie die Stücke zusammengenäht und ihre Möbel damit überzogen hatte, sich entschloß, eine Party zu geben. Sie ging in ihre Bäckerei, wählte unter den Kuchen, die zur Auswahl standen, einen Schokoladennapfkuchen und bestellte davon soviel, daß es für fünfzig Personen reichen sollte, Lieferung zwei Wochen später. Als die ersten Gäste eintrafen, fuhr ein Lastwagen mit einem einzigen riesigen Kuchen vor. Die Dame, die die Bäckerei leitete, war über die Beschwerde völlig ratlos: ‘Aber, Frau Tricias, Sie haben ja keine Ahnung, welche Schwierigkeiten wir damit hatten. Mein Mann führt das Stoffgeschäft, und er hat mich ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß ihre Bestellung in einem Stück sein müsse.’ Die Moral dieser Geschichte ist nicht einfach: ‘Wie man’s macht, ist es falsch’, sondern ‘daß eine Probe eine Probe nur von einigen ihrer Eigenschaften, nicht aber von anderen ist’ (Goodman 1987: 83). Entsprechend der Stoffprobe können natürlich auch ganze Kleidungsstücke über die Exemplifikation Bezug nehmen und in einem weiten Sinn alles, was man als konkret bezeichnen kann. Das gilt für einfache Beispiele wie unserer Stoffprobe, lässt sich fortführen über komplexere Fragestellungen, wie zum Phänomen des Stils etwa in der Architektur oder anderen Ausdrucksformen, und auch ganz allgemein anwenden für alle visuellen Ausdrucksformen (wenn sie nicht denotativ Bezug nehmen), die Musik und die so genannte abstrakte Kunst, deren alternative Bezeichnung als konkrete Kunst auch in diesem Zusammenhang viel mehr Sinn ergibt. In unserer Untersuchung zur Jugendkultur interessiert Bezugnahme über die Exemplifikation etwa auch über einen bestimmten Sprachstil oder Gestik (cf. Thürnau 2005). Wie über die Exemplifikation etwas zum Ausdruck gebracht werden kann, bis hin zu einem Nicolas Romanacci 40 Lebensstil, also auch (Jugend-)Kultur in einem weiten Sinn, soll später anhand Goodmans Theorie der metaphorischen Exemplifikation gezeigt werden. Vorher müssen wir uns aber noch einem anderen Problem zuwenden, dessen Analyse dann einen längeren Ausflug in die Erkenntnistheorie erfordern wird, ein Ausflug, der manchem auf den ersten Blick als etwas abwegig erscheinen mag, sich aber für die vorliegende Untersuchung als grundlegend erweisen wird. Goodman zeigt anhand seines Beispiels der Stoffprobe einen relativ einfach verständlichen Fall der Exemplifikation auf. Exemplifikation in den Künsten ist in der Regel komplexer und schwieriger zu erfassen. Ein zentrales Problem ist es aber in jedem Fall, herauszufinden, welche Eigenschaften das Muster oder das Kunstwerk exemplifiziert und welche Eigenschaften es lediglich besitzt und welchen somit keine symbolische Funktion zukommt. Goodman nähert sich diesem Problembereich indirekt über seine Theorie der Induktion. Verkürzt dargestellt kommt er zu der Annahme, dass lediglich vorangegangene Praxis Hinweise auf eine Fortsetzbarkeit von Hypothesen oder parallel im Falle der Exemplifikation auf eine sinnvolle Anwendung von Labels bieten kann. Er spricht in diesem Fall von “entrenchment”, was üblicherweise mit Verankerung übersetzt wird. Besondere Schwierigkeit für eine Einordnung, aber eben auch besonderen kognitiven Wert bietet die Bereitstellung neuartiger Label - in den Wissenschaften wie in den Künsten. Die Generierung neuer Label durch den Wissenschaftler oder den Künstler, aber auch das Erfassen und die Einordnung jener durch den Rezipienten, stellen komplexe kognitive und kreative Leistungen dar, worauf ich später noch einmal zurückkommen werde. 3 Exemplifikation, Induktion und Welterzeugung “If I am at all correct, then, the roots of inductive validity are to be found in our use of language” (Goodman 1954: 120). “Thus here as well as in ordinary induction entrenchmentnovelty is a major factor, entering into the determination what is exemplified” (Goodman 1978: 136). Um die Zusammenhänge zwischen Kognition und Kreativität noch präziser benennen zu können, soll nun ein zentraler Gedanke in Goodmans Philosophie untersucht werden. Es ist notwendig, dabei zuerst näher auf Goodmans Theorie der Induktion einzugehen, um dann parallele Gedankengänge zur Exemplifikation und Goodmans Theorie der Welterzeugung herauszuarbeiten. Mit Gerhard Ernst teile ich dabei die Auffassung, dass Goodmans Theorie der Induktion “Grundlage für seine späteren Theorien ist” (Ernst 2005: 99). Für ein klärendes Beispiel zur Exemplifikation war es angebracht, “das ganze hochtönende Gerede über Kunst und Philosophie” preiszugeben und “uns ganz unsanft auf nüchternen Boden zu begeben”. Nun ist ebenso nüchterner Boden zu erkunden, diesmal jener erkenntnistheoretischer Grundlagen zur Induktion. Nüchternheit in der Philosophie bedeutet aber zum Glück nicht automatisch, dass es weniger spannend zugeht. Meinem Eindruck nach wird gerade Goodman oftmals immer einfallsreicher, anregender, eleganter und überraschender, je nüchterner er argumentiert, wobei die Konsequenzen seiner Argumentation genau so oft grundlegend und weit reichend sind. So würdigt auch Hilary Putnam im Vorwort zur vierten Auflage von Fact, Fiction, and Forecast Goodmans Gedanken zur Induktion: Goodmans berühmtes Argument, das er verwendet, um zu zeigen, daß alle Prädikate nicht in gleichem Maße projizierbar sind, hängt von seiner Erfindung des sonderbaren Prädikats glau ab. Er definiert etwas als glau, wenn es entweder vor einem bestimmten Zeitpunkt beobachtet wurde und grün ist, oder nicht vor diesem Zeitpunkt beobachtet wurde und blau ist. Diese philoso- Possession plus reference 41 phische Erfindung hat in manchem sehr viel Ähnlichkeit mit einem Kunstwerk, aber warum? Sie besteht nicht nur darin, daß sie die ästhetischen Qualitäten der Eleganz, Neuheit und Einfachheit besitzt. Was das Argument so überwältigend macht, ist die Seltenheit, mit der Beweise, die wirkliche Beweise sind, in der Philosophie vorkommen. Goodman führt sein Argument jedoch nicht als Beweis, sondern vielmehr als Rätsel ein (Goodman 1988). Besagtes Rätsel ist in die Geschichte der Philosophie als “das neue Rätsel der Induktion” eingegangen. “Neu”, da es auf eine ältere Diskussion und Theorie der Bestätigung kritisch Bezug nimmt, wie sie vor allem C.G. Hempel entwickelt hat. Diese versucht die Frage zu beantworten, durch welche positiven Beispielfälle eine allgemeine Hypothese bestätigt wird, wobei ihre hervorstechendste Eigenschaft ist, dass sie dies mit rein syntaktischen Mitteln anstrebt (Hempel 1943). […]. Goodman zeigt durch die Erfindung eines neuen Prädikats, dass dieses Problem mit rein syntaktischen Mitteln nicht zu lösen ist (Ernst 2005: 100). Was sich hier auf den ersten Blick vielleicht so harmlos anhören mag, hat grundlegende und weit reichende erkenntnistheoretische Konsequenzen, die eindeutig über den engeren Bereich der Induktion hinausgehen. “They concern fundamental aspects of human cognition and practice” (Abel 1991: 311). Goodmans Rätsel stellt Gerhard Ernst folgendermaßen dar: Angenommen man beobachtet vor einem bestimmten Zeitpunkt t verschiedene Smaragde. Sie bilden die sogenannte Datenklasse und sie sind alle grün, so dass die Hypothese bestätigt wird, dass alle Smaragde grün sind. Nun führt Goodman das Prädikat grue ein. ‘It is the predicate grue and it applies to all things examined before t just in the case they are green but to other things just in the case they are blue’ (Goodman 1954: 74; cf. Goodman 1972: 363). Damit bestätigen unsere Beobachtungen auch die Hypothese, dass alle Smaragde grue sind. Genauer gesagt: Alle Beobachtungen, welche die Hypothese mit ›grün‹ bestätigen, bestätigen auch die mit grue und umgekehrt, wenn man den Zeitpunkt t entsprechend wählt. […] Für die Zeit nach dem Zeitpunkt t kommt man zu widersprüchlichen Vorhersagen für die Farbe der beobachteten Smaragde. […] Wir kommen also zu dem Problem, dass alle Datenaussagen alle Voraussagen bestätigen. Der entscheiden Punkt ist, dass eben nur gesetzesartige Hypothesen durch ihre Anwendungen bestätigt werden, wir aber kein Kriterium haben, wann eine Hypothese gesetzesartig ist (Ernst 2005: 100). Goodmans ‘Lösung’ dieses Dilemmas besteht darin, offen zu legen, dass lediglich vorangegangene Praxis Hinweise auf eine Fortsetzbarkeit von Prädikaten geben kann. The answer, I think, is that we must consult the record of past projections of the two predicates. Plainly ‘green’ as a veteran of earlier and many more projections than grue, has the more impressive biography. The predicate ‘green’, we may say, is much better entrenched than the predicate grue (Goodman 1954: 94). Diese Einsicht lässt sich nun parallel auf eine Untersuchung der Exemplifikation übertragen. Welche Eigenschaften einer Probe, sei es ein Stück Stoff, ein angesagtes Outfit oder ein Kunstwerk über die Exemplifikation Bezug nehmen und welche Eigenschaften die Probe lediglich besitzt, ist genauso eine Frage vorangegangener Praxis. Dabei ist es nicht nur eine kognitive Leistung, wenn wir einen Gegenstand unter eine Eigenschaft subsumieren, sondern auch, wenn wir interessante Eigenschaften finden. Dabei spielt unsere Praxis im Umgang mit Beispielen eine entscheidende Rolle. Das Erkennen kognitiv relevanter Eigenschaften ist eine Frage der Vertrautheit mit den entsprechenden Gegenständen. Wir wissen, welche Eigenschaften relevant sind, wenn wir in der Lage sind, Zusammenhänge mit anderen Nicolas Romanacci 42 Gegenständen zu sehen, und die Eigenschaften sind kognitiv relevant, weil sie die Zusammenhänge erzeugen. Im Unterschied zu wissenschaftlichen Induktionen sind künstlerische Induktionen allerdings nicht auf begrifflich fassbare Hypothesen beschränkt, sondern eröffnen einen Bereich nicht-propositionaler Erkenntnis (Ernst 2000: 324-325). Zu erkennen, was eine Probe exemplifiziert bzw. welche Label generiert werden, ist immer ein kognitiver Akt. Und neue Label zu generieren, ist wiederum eine genuin kreative Leistung, sei es in der Kunst, in der Wissenschaft oder eben bei Jugendlichen durch den kreativen Zeichengebrauch durch Kleidung, Gestik oder Sprachstil. In Goodmans Terminologie bedeutet hier Kreativität das Generieren neuer Verankerungen: “Thus here as well as in ordinary induction entrenchment-novelty is a major factor, entering into the determination what is exemplified” (Goodman 1978: 136). 3.1 Worldmaking Das oft gehörte Klagen darüber, Jugendliche würden teilweise in ihrer eigenen, dem Erwachsenen unzugänglichen Welt leben, sollte nicht als harmloses Wortspiel abgetan und als weit weniger harmlose Konsequenz eine resignierte und passive Haltung im Sinne eines »da kann man halt nichts machen« angenommen werden. Vor dem Hintergrund der Auffassung einer allgemeinen Symboltheorie, dass der Mensch keine anderen Möglichkeiten hat, außer sich seine Welten durch den kreativen Einsatz von Symbolen förmlich zu erschaffen, sollte über diese Aussage ernsthaft nachgedacht werden, um die Wirklichkeiten von Jugendlichen besser verstehen zu können. Denn nach Goodman können wir nicht auf eine ready-madeworld zurückgreifen, sondern sind auf unsere Beschreibungen angewiesen. “We are confined to ways of describing whatever is described. Our universe, so to speak, consists of these ways rather than of a world or worlds” (Goodman 1978: 3). Wir erzeugen mit unseren Symbolsystemen, sowohl mit wissenschaftlichen als auch mit künstlerischen, Weltversionen und wenn diese Versionen richtig erzeugt sind, dann entsprechen sie einer wirklichen Welt. Eine davon unabhängige Welt gibt es nicht. Es kann nach Goodman sogar Versionen geben, die sich widersprechen, die jedoch gleichermaßen richtig erzeugt sind. Da solche Versionen nicht in derselben Welt wahr sein können, nimmt Goodman eine Pluralität von Welten an. Ein solcher Pluralismus kann jedoch leicht als extremer Relativismus verstanden werden. Kann jeder sich die Welt zusammenzimmern, die ihm passt? Goodman vertritt nach eigener Aussage einen “radical relativism under rigorous restraints” (Goodman 1978: X). Diese strengen Einschränkungen findet Goodman nach bewährter Methode: 1. Es gibt keine versionsunabhängige Welt. 2. Richtige Versionen können nur im Ausgang unserer bisherigen Versionen gefunden werden. 3. Bisherige Versionen richten sich nicht nach einer unabhängigen Welt (Ernst 2005: 107f.). Goodman verfolgt diese Strategie, wenn er darauf hinweist, dass wir neue Welten immer nur aus alten erzeugen: “Worldmaking as we know it always starts from worlds already at hand; the making is a remaking” (Goodman 1978: 6). 2