eJournals Kodikas/Code 32/1-2

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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War es lange ein Gemeinplatz, Kultur unter zeichentheoretischen Prämissen zu analysieren, macht sich seit einigen Jahren besonders in der Ästhetik großes Unbehagen über das semiotische Paradigma bemerkbar. Immer drängender und lauter wird der Semiotik vorgeworfen, durch ihr beständiges Streben nach symbolischer Ordnung und ihre unentwegte Suche nach Sinnstrukturen all jene nicht-diskursiven, nicht-semiotischen Aspekte aus dem Auge zu verlieren, die die ästhetische Erfahrung besonders auszeichnen. Vor allem in Arbeit, die für eine performative Ästhetik werben, wird mit der Fokussierung auf Aspekte der Materialität, Präsenz, (hermeneutischen) Widerständigkeit und Ereignishaftigkeit von ästhetischen Artefakten und Erfahrungen zumeist auch explizit eine Kritik der Semiotik bezweckt. Eine der pointiertesten Semiotikkritiken wurde von Dieter Mersch formuliert, der im Rahmen einer aisthetischen Wahrnehmungstheorie die Geschichte der Semiotik insgesamt als ereignisvergessen charakterisiert. In Auseinandersetzung mit der Semiotik Charles Sanders Peirces möchte ich die These aufstellen, dass eben jener Vorwurf der Ereignisvergessenheit – so berechtigt er mit Blick auf Autoren wie etwa Jacques Derrida auch ist – nicht in Gänze auf die Geschichte der Semiotik vorgebracht werden kann. So soll zum einen gezeigt werden, dass sämtliche Aspekte, die in einer Ästhetik des Performativen von Bedeutung sind (Materialität, Präsenz, Ereignis, Widerständigkeit), in Peirces Kategorienlehre bereits mitgedacht sind. Zum anderen soll belegt werden, dass Peirce besonders in seinen wahrnehmungstheoretischen Überlegungen Facetten des Widerständigen und Ereignishaften eben nicht in einem Hegelschen Sinne durch den Begriff aufhob, sondern diese ganz im Gegenteil als kategorial gleichwertige, notwendige und gar konstitutive Elemente des Zeichenprozesses erachtete. Der Quellpunkt der Semiosis liegt demnach im Widerständigen, welches immer auch ein Unvordenkliches ist.
2009
321-2

Widerständigkeit als Quellpunkt der Semiose

2009
Mark A. Halawa
Einleitung 7 Widerstand”. Er verweist auf die Nähe der Slam-Poetry zum Dichterwettstreit. Es handelt sich um eine inszenierte Performance von Bühnenpoesie. Slam-Poetry steht der Theaterimprovisation nahe und zeichnet sich inhaltlich aus durch intertextuelle Bezüge zu literarischen Vorbildern wie auch zur Performance des Vorredners. Ein wesentliches Element der Slam-Poetry sei die ‘Verkörperung’ des eigenen Textes in der Improvisation. Die Interaktion mit dem Publikum und den anderen Slammers wird von den Autorinnen als konstitutives Element des Slam hervorgehoben. Sie unterscheiden drei Performance- und Interaktionsstile, die sie als “Ich und der Text”, “Ich, der Text und das Publikum” und als “Ich und Publikum” beschreiben. Das “Ich” des Slammers ist in allen drei Stilen ein zentrales Element und verweist auf seine Selbstdarstellung und Selbstpositionierung. Diese wird mit dem Begriff des Ethos beschrieben, der die bewußte Positionierung des Slammers und die Wahl seiner spezifischen Kommunikationskomponenten (Textsorte, Körpersprache, Kleidung) umgreift. Dabei ist thematisch die Referenz auf sozialkritische und politische Themen ein wesentlicher Bestandteil der Inszenierung. Im Gegensatz zu den politischen Statements der Slammer sind die Videoloops, die M ATHIAS S POHR in seinem Text “Videoloops - Zeichen ohne Aura? ” beschreibt, ein “Zeigen ohne Sagen”. Ihre Sprach- und Wortlosigkeit scheint ein typisches Merkmal der Videoloops zu sein. Hierbei soll die Möglichkeit, nicht verstehen und interpretieren zu müssen, im Zusammenhang mit der Technomusik, die diese Loops begleiten, zu Entspannung und Trance führen. Die Videoloops, meint Spohr, dienten in ihrer ständigen Reproduktion als ein Beispiel für den Verlust der ‘Aura’. Er vergleicht diesen Auraverlust in den Loops mit demjenigen des Kinos. Die Wiederholung führe zu einem Nachlassen der Aufmerksamkeit und hebe die technische Bedingtheit des Loops hervor. Wie das Kino, das Benjamin in den 1930er Jahren beschreibt, sind Techno-Events (wie Love Parade und andere) Massenveranstaltungen. Sie stellen eine Gegenwelt zum Alltag dar, die zwar hochtechnisiert ist, aber zugleich von Zwängen befreit. Eine andere Form des Videos behandelt der Beitrag von K ARIN W ENZ mit dem Titel “Machinima: Zwischen Dokumentation, Performanz und Abstraktion”. Machinima oder Game-Videos nutzen Spielsequenzen eines Computerspiels als ‘real-time Video’, auf dessen Basis dann durch Nachbearbeitung in einer Gemeinschaft von Mitspielern und für sie neue Videos produziert werden. Die unterschiedlichen Funktionen dieser Videos werden dabei auf einer Skala von konkret zu abstrakt unter den folgenden Aspekten erörtert: (1) Datenbank/ Archiv, (2) Prinzipien der Modularität, (3) numerische Repräsentation und (4) Transcodierung als abstrakte Repräsentation. Über die Nutzung des Mediums zur Archivierung und Dokumentation hinaus kann es aufgrund seiner Modularität verschiedene Quellen zu neuen Ausdrucksformen zusammenführen oder Modifikationen auf unterschiedlichen Ebenen vornehmen (Textrepräsentation, Programmcode, Interface). Zum Schluß werden Antworten auf Fragen gesucht wie “Wer produziert Machinima? ” und “was ist die Funktion der Communities, in denen Machinima produziert werden? ”. Der dritte Teil des Bandes wendet sich der bildlichen und sprachlichen Performanz im ‘Web 2.0’ zu. Zunächst behandelt J ULIUS E RDMANN das Thema “My body style(s) - Formen der bildlichen Identität im StudiVZ”. Auf der Grundlage der Peirceschen Semiotik und der Betrachtungen zur Photographie von Roland Barthes untersucht Erdmann die Selbstdarstellung von Nutzern des StudiVZ anhand ihrer Photoalben und vor allem ihrer Portraits. Gegenstand der Untersuchung ist die Konstruktion einer Identität durch die Auswahl der Photos und die in den Profilen gebotenen Informationen. Der Körper wird von den Nutzern bewußt als Zeichen und Gestaltungsoberfläche eingesetzt. Durch Tattoos, Piercing, Schminke Ernest W.B. Hess-Lüttich, Eva Kimminich, Klaus Sachs-Hombach und Karin Wenz 8 und die Auswahl der Kleidung und Frisuren schaffen sich die Nutzer ihr Selbstbild. Die digitale Nachbearbeitung modifiziert das ursprüngliche Bild, wobei viele Nutzer Original und Modifikation in ihrem Photoalbum online nebeneinander stehen lassen. Durch das Sampling und das Spiel mit verschiedenen Perspektiven und Teilkörperausschnitten spielen sie mit verschiedenen Identitätskonstruktionen. Die Photos dienen den Jugendlichen als Symbole für die spezifischen Subkulturen, denen sie sich jeweils zurechnen. Identitätskonstruktion durch Photografie ist auch das Thema von S TEFAN M EIER : “Pimp your profile - Fotografie als Mittel visueller Imagekonstruktion im Web 2.0”. Sein Ziel ist es, durch einen Vergleich der unterschiedlichen social networks - wie StudiVZ, Facebook oder Myspace einerseits und Flickr andererseits - unterschiedliche Stilkonventionen herauszuarbeiten. Das Problem, valide Aussagen über die verschiedenen Stile zu machen, liegt in der Hybridität der social networks begründet. Nutzer verlinken Photos und Videos von einem Netzwerk zum anderen, was eine Aussage über spezifische Stile erschwert. Ein Schwerpunkt des Beitrags ist die Untersuchung der Photographien auf Flickr, einem Netzwerk, das dazu dient, Photos und Photoalben ins Netz zu stellen. Nutzer geben eine Bewertung der Photos ab, die unter unterschiedlichen Kategorien sortiert werden können. Es wird deutlich, daß Photos, die visuelle Artefakte in einem bestimmten Stil als fachliche Genrephotographie zeigen, bevorzugt positiv bewertet werden. Die Nutzer teilen also nicht nur ein Netzwerk, sie sind eine Art Wertegemeinschaft, die Ansichten zu Stilgebung und kultureller Funktion von Photographie teilen. Anerkennung und damit Status der Nutzer hängt von ihrer Professionalität und künstlerischen Ausdrucksform ab. Während bei Flickr die Photographie im Zentrum steht, hat sie in anderen social networks einen anderen Stellenwert. Photographie wird zur Selbstdarstellung der Nutzer eingesetzt (cf. auch den Beitrag von Julius Erdmann). Die unterschiedlichen Funktionen haben Auswirkungen auf die Auswahl der Photos als “visuelle Stellvertreter eines Images mit bildkommunikativer Kommentarfunktion”. D ANIEL H. R ELLSTAB s Beitrag beschäftigt sich ebenfalls mit der Selbstdarstellung in Profilen von Nutzern. “‘Aus Liebe zu dir’: Selbst- und Fremdrepräsentationen in Profilen von Schweizer online-Partnerbörsen” untersucht hingegen nicht nur Photos, sondern auch den Gebrauch von Screennames oder Nicknames und die von den Nutzern in diesen social networks verwandten Selbstbeschreibungen. Historisch und textsortentypologisch schließen die Online-Partnerbörsen an die in Printmedien bewährte ‘Kontaktanzeige’ an, bieten aber mehr Flexibilität und einen größeren Gestaltungsrahmen an. Die neuen Möglichkeiten bei der Partnersuche online gehen allerdings Hand in Hand mit neuen Anforderungen, die an die Nutzer gestellt werden. Während Printanzeigen auf standardisierte Textmuster zurückgreifen, besteht größere Freiheit bei der eigenen Gestaltung des Profils, allerdings fallen damit auch die Hilfestellungen bei der Erstellung weg. Die Analyse der unterschiedlichen Netzwerke berücksichtigt die multimodalen Bedingungen. Die strukturelle Architektur der jeweiligen Website begründet und leitet die Gestaltung des Profils. Die Nutzer sind freier in der Selbstbeschreibung. Die Wirkung ihres Profils hängt jedoch von der kompetenten Nutzung des Systems ab. Zeichenverwendung, allerdings im Sinne von Lakoff und Johnsons Metaphernkonzept, ist der Ausgangspunkt des Beitrags von F RANC W AGNER . Unter dem Titel “Emoticons als metaphorische Basiskonzepte” untersucht er die Funktionen von Emoticons im Schreiben Jugendlicher. Dabei berücksichtigt er vor allem die körperbasierten Bildschemata der Jugendlichen in ihren im Kontext des Projektes “Schreibkompetenz und neue Medien” geschriebenen Texten. Das Ziel des Projektes ist es, Veränderungen der Schreibkompetenz Jugendlicher zu erforschen, die durch Schreiben in neuen Medien in Gang gesetzt worden sind. Dabei Einleitung 9 werden Kommunikationsformen wie E-Mail, Chat, Instant Messaging oder Social- Networking-Sites wie Facebook oder StudiVZ berücksichtigt. Für Jugendliche hat die Kommunikation von Emotionen einen hohen Stellenwert. Das Interesse gilt daher den verschiedenen sprachlichen Mitteln, um Emotionen zu kommunizieren und den Funktionen, die sie in Texten Jugendlicher haben. Emoticons werden dabei als körperbasierte Bildschemata verstanden, insofern sie auf schematisierten Darstellungen von Gesichtern und Gesichtsausdrücken basieren. Dabei zeigt sich, daß Jugendliche Emoticons als Ad-hoc-Metaphern verwenden, die nicht nur als körperbasierte Bildschemata, sondern auch als metaphorische Basiskonzepte interpretiert werden können. Während besonders der erste Teil dieses Bandes zu theoretischen Überlegungen eine große Bandbreite von Themen und theoretischen Ansätzen vorstellt, widmet sich der zweite Teil den visuellen Ausdrucksformen und Körperbildern. Diese Ausdrucksformen werden dann im dritten Teil zugespitzt als Möglichkeit der Selbstdarstellung im Chat und in sozialen Netzwerken behandelt. Bern und Stellenbosch / Potsdam / Chemnitz / Maastricht, im Dezember 2009 Ernest W.B. Hess-Lüttich Eva Kimminich Klaus Sachs-Hombach Karin Wenz Widerständigkeit als Quellpunkt der Semiose Materialität, Präsenz und Ereignis in der Semiotik von C.S. Peirce Mark A. Halawa For a large part of the 20 th century, it has almost been a scholarly commonplace to analyze many (if not all) aspects of culture from a semiotic perspective. In recent years, however, considerable discomfort towards this extensive semiotic approach has emerged, especially within contemporary aesthetics. A growing number of scholars accuse semiotics of losing sight of the nondiscursive and non-semiotic aspects, which are claimed to be particularly characteristic of aesthetic experience. As a consequence, a fundamental critique of the semiotic paradigm is expressed in a considerable number of recent studies, which aim to promote a performative aesthetics by focusing on aspects of materiality, presence, (hermeneutic) resistibility, and eventfulness. One of the most trenchant criticisms was formulated by philosopher Dieter Mersch, who, in the course of an aisthetic philosophy of perception, argues that the history of semiotics clearly proves oblivion for the essential eventful - and therefore non-semiotic - character of all aesthetic experience. This criticism of semiotics may indeed be justifiable if semiotics is narrowed down to a structural semiology or to the works of authors such as Jacques Derrida. On the basis of Charles Sanders Peirce’s theory of signs, the present essay, however, attempts to prove that the reproach of a total oblivion towards any material (and, therefore, eventful) aspects of aesthetic experience cannot be brought forward towards semiotics in general. It shall be shown that, on the one hand, all aspects that are central to a performative aesthetics (viz. materiality, presence, eventfulness, resistibility) can already be found in Peirce’s list of categories. On the other hand, the essay tries to prove that Peirce - especially in the context of his studies in abductive inference and perception - did not sublate (aufheben) resistant and eventful facets altogether (as opposed to Hegel). On the contrary, he regarded these aspects as equivalent, indispensable, irreducible, and even constitutive elements of semiosis. Therefore, the origin of semiosis can actually be found within the very phenomena that, according to the critics, are claimed to be entirely non-semiotic. War es lange ein Gemeinplatz, Kultur unter zeichentheoretischen Prämissen zu analysieren, macht sich seit einigen Jahren besonders in der Ästhetik großes Unbehagen über das semiotische Paradigma bemerkbar. Immer drängender und lauter wird der Semiotik vorgeworfen, durch ihr beständiges Streben nach symbolischer Ordnung und ihre unentwegte Suche nach Sinnstrukturen all jene nicht-diskursiven, nicht-semiotischen Aspekte aus dem Auge zu verlieren, die die ästhetische Erfahrung besonders auszeichnen. Vor allem in Arbeiten, die für eine performative Ästhetik werben, wird mit der Fokussierung auf Aspekte der Materialität, Präsenz, (hermeneutischen) Widerständigkeit und Ereignishaftigkeit von ästhetischen Artefakten und Erfahrungen zumeist auch explizit eine Kritik der Semiotik bezweckt. Eine der pointiertesten Semiotikkritiken wurde von Dieter Mersch formuliert, der im Rahmen einer aisthetischen Wahrnehmungstheorie die Geschichte der Semiotik insgesamt als ereignisvergessen charakterisiert. In Auseinandersetzung mit der Semiotik Charles Sanders Peirces möchte ich die These aufstellen, K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Mark A. Halawa 12 dass eben jener Vorwurf der Ereignisvergessenheit - so berechtigt er mit Blick auf Autoren wie etwa Jacques Derrida auch ist - nicht in Gänze auf die Geschichte der Semiotik vorgebracht werden kann. So soll zum einen gezeigt werden, dass sämtliche Aspekte, die in einer Ästhetik des Performativen von Bedeutung sind (Materialität, Präsenz, Ereignis, Widerständigkeit), in Peirces Kategorienlehre bereits mitgedacht sind. Zum anderen soll belegt werden, dass Peirce besonders in seinen wahrnehmungstheoretischen Überlegungen Facetten des Widerständigen und Ereignishaften eben nicht in einem Hegelschen Sinne durch den Begriff aufhob, sondern diese ganz im Gegenteil als kategorial gleichwertige, notwendige und gar konstitutive Elemente des Zeichenprozesses erachtete. Der Quellpunkt der Semiosis liegt demnach im Widerständigen, welches immer auch ein Unvordenkliches ist. 1 Das Unbehagen an der Semiotik Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Beobachtung, dass sich der Stellenwert der Semiotik innerhalb der sich mit ästhetischen Objekten befassenden Disziplinen in den vergangenen knapp 15 Jahren entscheidend gewandelt hat. Konnte Elmar Holenstein vor einiger Zeit noch selbstbewusst schreiben, dass die Semiotik als “der genuine Beitrag des 20. Jahrhunderts zur allgemeinen Ästhetik” (Holenstein 1992: 30; Hervorhebung im Original) anzusehen ist, zeigt die aktuelle ästhetische Debatte, dass sich diesbezüglich das Blatt deutlich gewendet hat. Obgleich Persönlichkeiten wie Roland Barthes, Christian Metz, Roman Jakobson, Julia Kristeva oder Charles William Morris zweifellos das ästhetische Denken des 20. Jahrhunderts enorm prägten, scheint für die prominentesten Vertreter der zeitgenössischen Ästhetik vor allem ein Gedanke ausgemacht zu sein: Um die Ästhetik zu ihrer eigentlichen Bestimmung gelangen zu lassen, gilt es, sie von der Semiotik regelrecht zu reinigen. Schließlich, so heißt es auf vielen Seiten, stehe die Semiotik schon auf einer grundlagentheoretischen Ebene dem Geist der Ästhetik fundamental entgegen. Nicht Sinn und Bedeutung hätten im Zentrum einer allgemeinen ästhetischen Theorie zu stehen, sondern das Nachdenken über das Phänomen der spezifischästhetischen Erfahrung - und über diese, so wird versichert, vermöge die Semiotik nichts zu sagen, ist sie doch, wie etwa der Kunsthistoriker Horst Bredekamp kritisiert, aufgrund ihrer eigentümlichen Begriffsversessenheit per se blind für den die ästhetische Erfahrung kennzeichnenden Aspekt der Anschauung: “[…] Kants Doppelbestimmung, daß es keine Anschauung ohne Begriff, aber auch keinen Begriff ohne Anschauung geben könne”, sei, so schreibt Bredekamp, im Kontext des durch die strukturalistische Semiologie fortgesetzten logozentrischrationalistischen Diskurses “nach der zweiten Seite hin so oft zitiert wie beiseite geschoben worden” (Bredekamp 2007: 9). 1 Neben dem Vorwurf der “Anschauungsvergessenheit” sind es, grob gefasst, noch mindestens zwei weitere Gründe, die das zu verzeichnende Unbehagen an der Semiotik motivieren. So legitimieren viele Kritiker ihre ablehnende Haltung damit, dass die Semiotik, wie beispielsweise der Philosoph Gernot Böhme behauptet, “ihren Ursprung in der Analyse der Sprache” (Böhme 1999: 27) habe und sie sich daher “als eine Art erweiterte Linguistik” (ebd.) begreifen lasse. Als eine Wissenschaft, die zunächst allgemeine Aussagen über das Wesen der Sprache treffe und diese ihren ästhetischen Untersuchungen unkritisch zugrundelege, unterdrücke die Semiotik von Grund auf mit der spezifisch-ästhetischen Erfahrung exakt das, womit sich aus Sicht von Böhme und vielen anderen Theoretikern eine ästhetische Theorie in erster Linie zu befassen habe. 2 In engem Zusammenhang mit Böhmes kritischen Anmerkungen steht ein weiterer Vorwurf - der Vorwurf der “Körpervergessenheit” -, der offenbar für eine Ästhetik abseits der Semiotik Widerständigkeit als Quellpunkt der Semiose 13 zu sprechen scheint. Vorgebracht wird er vom Kunsthistoriker Hans Belting, der sich selbst als einen “dezidierte[n] Antisemiotiker” (Belting 2004: 120) bezeichnet und im Kontext der aktuellen bildtheoretischen Diskussionen davon überzeugt ist, dass eine semiotische Bildtheorie den Bildern unweigerlich “ihre physische, ihre mediale Leiblichkeit [nimmt]” (ebd.); schließlich, so Belting, “[knüpft] sie die Verständigung über Bilder an die Verständigung über Sprache” (ebd.). Belting argumentiert damit ähnlich wie sein Kunsthistorikerkollege Gottfried Boehm. “Bilder”, schreibt dieser, “[explizieren] ihren Sinn anders als Sprache”, sie gehören “zur Sphäre des Nicht-Propositionalen” und schöpfen ihre Kraft durch ein “das Gewebe des Sinns” zerreißendes “deiktisches Potential”, durch eine “Macht des Zeigens”, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie sich grundlegend von der Struktur der Sprache unterscheidet (Boehm 2007: 14 f., sämtliche Hervorhebungen im Original). Ob wir es nun mit der allgemeinen Ästhetik oder dem ästhetischen Sonderfall des Bildes zu tun haben, stets erscheint die Semiotik per se als unbrauchbar, weil mit ihr eine auf das Bestimmte abzielende Sinnästhetik einherzugehen scheint. Diese stehe im Gegensatz zu dem, was sich mit Martin Seel oder Hans Ulrich Gumbrecht als Präsenzästhetik bezeichnen lässt - d.h.: eine Ästhetik, die sich um eine Rehabilitierung der Momente der Unbestimmtheit bemüht, welche die ästhetische Erfahrung als das Erleben einer besonderen, singulären, konkreten und vor allem: begrifflich unfassbaren Erscheinung charakterisieren (cf. Seel 2003 sowie Gumbrecht 2004). 3 Gewiss widerspricht ein präsenzorientierter Ansatz grundlegend den Bemühungen, die sich Autoren wie z.B. Roman Jakobson oder Roland Barthes gemacht haben, als sie die unterschiedlichsten künstlerischen Artefakte hinsichtlich ihrer strukturellen Verfasstheit semiotisch zu kategorisieren versuchten, um den sich in ihnen manifestierenden Botschaften auf die Spur zu kommen und damit ein Verstehen des Kunstwerkes zu erreichen (cf. Jakobson 1992, 2005 sowie Barthes 1990). Vor allem im Werk von Roland Barthes erschienen Gemälde, Fotografien, Filme, Designobjekte, Romane, etc. vornehmlich als “Mythen des Alltags”, die es anhand der “semiologischen Methode” (die für ihn mit einer “wissenschaftlichen Methode” gleichbedeutend war) zu “entziffern” und “zum Sprechen zu bringen” gilt. Für Barthes hieß dies immer auch: sie zu “rationalisieren” und der (semiologischen) “Wissenschaft” zugänglich zu machen (cf. Barthes 1964). Wie sehr sich das Blatt in der ästhetischen Theorie gewendet hat, ersieht sich vor allem daran, dass die Mehrzahl der wortführenden Ästhetiker von einer solchen Art und Weise, Ästhetik zu betreiben, (freilich nicht zu Unrecht) nichts mehr wissen will. Doch so sehr nicht von der Hand zu weisen ist, dass vor allem innerhalb der strukturalistischen Semiologie tatsächlich Ästhetik unter dem Primat von Sinn und Bedeutung betrieben worden ist, so sehr soll im Folgenden in Frage gestellt werden, dass die Semiotik quasi en gros blind für sämtliche der hier genannten Facetten ist. Ästhetik unter semiotischen Vorzeichen zu betreiben muss nämlich gerade nicht bedeuten, ästhetische Objekte quasi instinktiv und damit unkritisch als kommunikative Phänomene zu begreifen, die sich mit Hilfe von Begriffen wie “Denotation”, “Konnotation”, “Code”, “Sinn” und “Bedeutung” beschreiben und verstehen lassen. Ganz im Gegenteil: Auch eine semiotische Ästhetik zeigt sich dazu in der Lage, das Phänomen der spezifisch-ästhetischen Erfahrung in eben dem Maße zu würdigen, wie es vielerorts angemahnt wird. Es soll nun im Folgenden gezeigt werden, dass insbesondere die Semiotik Charles Sanders Peirces geeignet ist, eben diese Leistung zu erbringen. Um diese These näher auszubreiten, erweist es sich aus meiner Sicht als sinnvoll, sich näher mit den Ausführungen des Philosophen Dieter Mersch auseinanderzusetzen. In ihnen findet sich nicht nur ein weiterer Mark A. Halawa 14 Vorwurf - der der “Ereignisvergessenheit” -, dem es sich zu stellen gilt, sondern zugleich einer der bedeutendsten jüngeren Beiträge für die Ästhetik und die Semiotik. Zunächst werde ich Merschs Vorwurf der “Ereignisvergessenheit” skizzieren, um diesen anschließend in Rekurs auf die Peircesche Semiotik einer kritischen Prüfung zu unterziehen. 2 Der Vorwurf der Ereignisvergessenheit Im Jahr 2002 veröffentlichte Dieter Mersch mit Was sich zeigt (2002 a) und Ereignis und Aura (2002 b) gleich zwei Monographien zur allgemeinen Ästhetik, in denen die Semiotik einer fundamentalen Kritik unterzogen wird. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist das “Verschwinden von Materialität” (Mersch 2002 b: 42, Hervorhebungen im Original); dieses gründe, so Mersch, in einer “rückhaltlose[n] Totalisierung von Signifikation” (ebd.), welche ihren Höhepunkt mit dem Siegeszug des das 20. Jahrhundert dominierenden linguistic turn erreicht habe. Dieser “Triumph einer Immaterialisierung” (ebd.), der von Mersch mit einem “Fundamentalismus des Semiotischen” (Mersch 2002 a: 21) assoziiert wird, erweise sich insofern als problematisch, als sich mit ihm unweigerlich eine “Ereignisvergessenheit” (ebd.: 392) einstelle, die sowohl in fundamentalphilosophischer als auch in ästhetischer Hinsicht zu schweren Versäumnissen geführt habe. Nicht der Begriff des Zeichens ist es, von dem sich Mersch in Bezug auf erkenntnistheoretische und ästhetische Fragen befriedigende Antworten erhofft; sondern es sind grundlegend asemiotische Kategorien, die helfen sollen, dem Rätsel der Erkenntnis und des Ästhetischen auf den Grund zu kommen. So sei es die Konfrontation mit etwas Widerständigem, etwas (begrifflich) Unverfügbarem und damit der Semiotik nicht Zugänglichem, das die Erfahrung im allgemeinen wie im ästhetischen Sinne auszeichne. Mersch zieht daraus den für seine philosophischen Betrachtungen so wichtigen Schluss, dass es eine “Nichtsignifizierbarkeit” ist, die sich, wie er schreibt, “[…] am Grund (arché) der Signifikation [befindet]. Sie nennt den Ort, von dem her die Zeichen überhaupt sprechen oder ihre Bedeutungseffekte erzielen” (ebd.: 19). Die Quelle von Sinn und Bedeutung bzw. der Beginn des Zeichens entspringt folglich dem, “was sich nicht ausdrücken oder sagen läßt”, dem, “was sich der Bezeichenbarkeit sperrt” (ebd., Hervorhebung im Original). Nicht der Begriff markiert dieser Konzeption zufolge den Anfang einer jeden Erkenntnis, sondern stattdessen ein “elementare[r] Entzug” (Mersch 2002 b: 9), die Instanz eines “Zuvorkommenden, das sich dem Sinn, dem Verstehen gleichwie den Prozeduren der Signifikation, der Schrift und der Differenz verweigert” (ebd., Hervorhebung im Original). Angesprochen und in Frage gestellt sind damit Konzepte, die in der Geschichte der Semiotik, insbesondere im Werk von Jacques Derrida (cf. etwa Derrida 1983, 1976), auf den sich Mersch immer wieder kritisch bezieht (cf. Mersch 2002 a: 211-235, 327-351, 357-381), eine zentrale Stelle einnehmen. Dieses dem Zeichenprozess Vorgängige und durch diesen nicht Einholbare fasst Mersch unter den Begriff des “Ereignisses”. Es ist dies ein Begriff, der, so ist Mersch überzeugt, in der Geschichte der Philosophie mit dem cartesianischen Rationalismus zu Unrecht an den Rand gedrängt worden ist. 4 Um das Ereignis - sprich: das, was sich über die Instanz der Materialität als Widerständiges zeigt und sich in diesem Modus des Sichzeigens ausschließlich in Form einer Präsenz offenbart (nicht in Form einer Repräsentation) - für fundamentalphilosophische wie ästhetische Fragen zu restituieren und zu rehabilitieren, unterzieht Mersch neben der strukturalistischen Semiologie auch die pragmatistische Semiotik einer grundlegenden Kritik. Diese resultiert in der Ausarbeitung einer “Ereignisästhetik” (Mersch 2002 b: 9), Widerständigkeit als Quellpunkt der Semiose 15 die sich nicht an die Bedingungen und Möglichkeiten des Sagbaren, an die Ordnung(en) des Diskurses gebunden fühlt; 5 ganz im Gegenteil gelte es, so Mersch, sich entgegen des “Primat[s] des Hermeneutischen” (Mersch 2002 a: 16) “am Rande des Sagbaren” (ebd.: 9) aufzuhalten. Im Zentrum dieser Überlegungen steht der Modus des “Dass” (quod), der aus Sicht von Mersch in der Philosophie- und Semiotikgeschichte zugunsten einer Privilegierung des Modus des “Was” (quid) weggekürzt oder gar gänzlich ignoriert worden sei (cf. Mersch 2002 b: 32). Intendiert ist damit die Forderung, “jenen Augenblick des Auftauchens festzuhalten, in dem nicht “etwas” geschieht, sondern das Geschehen selbst aufbricht” (Mersch 2002 a: 98, Hervorhebungen im Original). Das soll heißen: Noch bevor einem interpretierenden Bewusstsein irgendetwas als ein bestimmtes Objekt erscheinen kann, gilt es sich darüber bewusst zu werden, dass jeder Geste der Objektbestimmung ein Moment des “Dass” (quod) zuvorkommt: Wir spüren, dass (quod) “geschieht”, noch ehe wir uns darüber bewusst werden, dass etwas geschieht, geschweige denn was (quid) geschieht. Nicht die Bestimmung eines etwas als etwas (= “Was” [quid]) gilt es daher aus Merschs Sicht nachzuzeichnen; vielmehr gehe es darum, den mit dem Modus des “Dass” (quod) einhergehenden “Schock des Ungemachten, des Unverfügbaren” (Mersch 2002 b: 33) - kurz: das Moment des Widerständigen (= Ereignishaften) - im Rahmen von ästhetischen und erkenntnistheoretischen Überlegungen ausreichend zu würdigen. Gerierte sich die Semiotik bei Elmar Holenstein, wie wir eingangs sahen, als “der genuine Beitrag des 20. Jahrhunderts zur allgemeinen Ästhetik”, ist es für Mersch zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine “performative Ästhetik” , eine “Grundlegung der Ästhetik aus der Aisthesis” (ebd.: 17, Hervorhebung im Original), die das Fundament zu bilden hat für Ästhetik, Erkenntnistheorie und Semiotik. 6 Zweifelsohne zeichnet sich Merschs Arbeit dadurch aus, dass sie der geschilderten ablehnenden Haltung gegenüber der Semiotik ein argumentativ stringentes theoretisches Fundament verleiht, was in der aktuellen ästhetischen Debatte keineswegs selbstverständlich ist. So sehr allerdings das in den ästhetischen Disziplinen zu verzeichnende Unbehagen an der Semiotik vor dem Hintergrund einer langwierigen Dominanz des sprachlogischen Zeichenparadigmas überwiegend (wenn auch nicht absolut) 7 nachzuvollziehen und zu unterstützen ist, so sehr muss aus meiner Sicht die Frage gestellt werden, ob der auch von Dieter Mersch vorgebrachte Vorwurf, die Semiotik sei ob ihres konstatierten fundamentalistischen Gebarens von Grund auf blind für Aspekte des Besonderen, Materiellen, Ereignishaften, Unbestimmten, Konkreten, etc., sowohl semiotikhistorisch als auch sachlich begründet ist. Ist die Semiotik tatsächlich per definitionem eine körperwie ereignisvergessene Disziplin? Der Sprachwissenschaftler Ludwig Jäger hat gezeigt, dass diese Frage selbst in Bezug auf die Semiologie Ferdinand de Saussures verneint werden kann (cf. Jäger 2004). 8 Ich bin der Meinung, dass sich Gleiches über die Semiotik Charles Sanders Peirces sagen lässt. Sämtliche Vorbehalte, die in der Kritik von Gelehrten wie Gottfried Boehm, Hans Belting, Hans Ulrich Gumbrecht, Gernot Böhme, Horst Bredekamp und eben Dieter Mersch geäußert werden, sind, so behaupte ich, in der Peirceschen Zeichenlehre stets mitgedacht oder fungieren in eben dem Maße als irreduzible Grundlage eines jeden Zeichenprozesses, wie es besonders von Dieter Mersch gefordert wird. Kurz, für Peirce ist eine Semiose undenkbar, die nicht durch den Anstoß eines Widerständigen, eines dem Begriff Vorgängigen animiert worden ist. Das Moment der dem Erkenntnisprozess notwendig zuvorkommenden Aisthesis wird in der Peirceschen Semiotik daher immer schon vorausgesetzt, denn ohne es wäre die Notwendigkeit für die Inauguration einer jeden Semiose schlicht nicht gegeben. Sollten sich diese Thesen als stichhaltig erweisen, so würde daraus unter anderem folgen, dass nicht die Semiotik im Allgemeinen einer aisthetischen Korrektur bedarf, sondern Mark A. Halawa 16 umgekehrt die von semiotikkritischen Seiten hervorgebrachten Begründungen nicht nur zu einem großen Teil auf fragwürdigen Prämissen beruhen, sondern sie in ihren Grundzügen semiotischer sind, als es so manchem “dezidierten Antisemiotiker” unter Umständen lieb ist. 3 Die Einheit der semiotischen Kategorien Nun gehört Charles Sanders Peirce ebenfalls zu den zahlreichen Semiotikern, mit denen sich Dieter Mersch intensiv und kritisch auseinandergesetzt hat. Auch er bleibt vom Vorwurf der Ereignisvergessenheit nicht verschont, zeichnet sich sein Zeichenbegriff doch durch eine, wie Mersch es nennt, “Entfesselung des Interpretanten” (Mersch 2002 a: 225) aus. Mersch spielt damit auf das Konzept der prinzipiell unabschließbaren Semiose an - eine der wichtigsten und bekanntesten Ideen Peirces. Ihr zufolge ist “ein Zeichen kein Zeichen, es sei denn, es läßt sich in ein anderes Zeichen übersetzen, in welchem es weiter entwickelt ist” (Peirce 1903 a: 423). Jedem Zeichen ist es inhärent, aus einem vorherigen Zeichen hervorgegangen zu sein und - ad infinitum - zum Anknüpfungspunkt für ein weiteres Zeichen zu werden. Mersch meint nun hier eine Idee des Zeichens auszumachen, die “kein Ereignis darstellt” (Mersch 2002 a: 227), sondern lediglich auf eine “Stelle innerhalb eines kontinuierlichen Prozesses” (ebd.) der Signifikation verweist. Je weiter sich ein Zeichen entwickelt, so scheint es, umso weiter entfernt es sich auch von den Dingen, sodass letztlich in einem ausschließlich immateriellen Zeichengeflecht eine Interpretation an die andere rückt. Es überrascht nicht, dass sich aus dieser Sicht unmittelbar der Eindruck der Körper- und Ereignisvergessenheit einstellt. In einer Theorie, in der “das Denken […] an sich wesentlich von der Art eines Zeichens [ist]” (Peirce 1903 a: 423) und der Akt des Denkens als grundlegend für jegliche Erkenntnisprozesse erachtet wird, 9 scheint kein Platz zu sein für die von Hans Belting privilegierte Leiblichkeit und die von Dieter Mersch für fundamental befundenen Kategorien “Materialität”, “Präsenz” und “Ereignis”. Nicht minder überraschend ist es daher, dass neben Peirce auch der Begründer der Dekonstruktion, Jacques Derrida, von Kritik nicht verschont bleibt, knüpfen dessen zeichentheoretischen Überlegungen doch an die “Entfesselung” der prinzipiell nicht abschließbaren Interpretation an. In Rekurs auf Peirces Prinzip der unendlichen Semiose und de Saussures Prinzip der oppositionalen Wertigkeit des (sprachlichen) Zeichens (cf. Saussure 3 2001: 93 ff.), spinnt Derrida den Grundsatz der “Iterabilität”, demzufolge sich ein jedes Zeichen durch eine “originär wiederholende […] Struktur” (Derrida 2003: 70) auszeichne, die einen bestimmten Signifikanten dazu in die Lage versetze, “trotz der Verschiedenartigkeit der empirischen Merkmale, die ihn modifizieren können, und durch sie hindurch, in seiner Gestalt erkennbar [zu] sein” (ebd.: 69) bzw. zu bleiben. Ein Zeichen zeichnet sich demnach dadurch aus, dass es zum einen (in einem Peirceschen Sinne) stets in ein anderes Zeichen überführbar ist und zum anderen - trotz der sich unweigerlich einstellenden Übersetzungsprozesse - (in einem Saussureschen Sinne) eine strukturelle Identität beibehält. Ein Signifikant kann somit durch die mit dem fortlaufenden Signifikationsgeschehen einhergehenden nicht vermeidbaren “Verzerrungen” (ebd.) hindurch “derselbe bleiben und als solcher [im Rahmen von weiteren Signifikationsschritten; M.A.H.] wiederholt werden […]” (ebd., Hervorhebung im Original). Zweifellos stand Derrida Peirce insofern nahe, als sich sein Denken ähnlich stark um die Idee der unendlichen Semiose drehte. Allein, der Eindruck, hinter dem Prinzip des nicht abschließbaren Zeichenprozesses selbst stünde eine grundlegende Vernachlässigung oder gar eine vollkommene Nichtberücksichtigung von Körperwie Ereignisfragen, lässt sich, anders Widerständigkeit als Quellpunkt der Semiose 17 als bei Derrida, im Falle Peirces klar entkräften, sofern denn ein Aspekt berücksichtigt wird, der in den meisten (vor allem kritischen) Auseinandersetzungen mit der Semiotik (auch bei Dieter Mersch) kaum bis überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wird, nämlich: die Peircesche Kategorienlehre. Sie ist es, die meines Erachtens geeignet ist darzulegen, dass eine semiotische Herangehensweise durchaus offen ist für all die Aspekte, die sie laut Böhme, Bredekamp, Belting, Mersch und vielen anderen angeblich aus dem Blick verliert. Werfen wir dazu einen Blick auf die Kategorientafel, die Peirce in einem Brief vom 12. Oktober 1904 an Victoria Lady Welby folgendermaßen erläutert: Firstness [Erstheit; M.A.H.] is the mode of being of that which is such as it is, positively and without reference to anything else. Secondness [Zweitheit; M.A.H.] is the mode of being of that which is such as it is, with respect to a second but regardless of any third. Thirdness [Drittheit; M.A.H.] is the mode of being of that which is such as it is, in bringing a second and third into relation to each other (Peirce 1904: 24). Peirce wies immer wieder darauf hin, dass die Kategorien Erstheit, Zweitheit und Drittheit irreduzibel 10 sind und sich damit eine Verabsolutierung oder Aufhebung einer oder mehrerer der drei Kategorien prinzipiell verbietet. In der Kategorie der Zweitheit lässt sich unter keinen Umständen von der Kategorie der Erstheit abstrahieren, und auf der Ebene der Drittheit lässt sich in gleicher Weise nicht von der Zweitheit und der Erstheit absehen. Dieses Postulat der irreduziblen Einheit der Kategorien hängt damit zusammen, dass, so erläutert es Helmut Pape, die jeweils nächste Kategorie […] als ein Begriff eingeführt [wird], […] um die Funktion des jeweils vorausgehenden zu beschreiben: Den Begriff der Relation [Zweitheit; M.A.H.] muß ich einführen, um zu beschreiben, was es heißt, daß einem Objekt eine Qualität [Erstheit; M.A.H.] zukommt; den Begriff der Darstellung [Drittheit; M.A.H.] benötige ich, um sagen zu können, in welchem Verhältnis Relation und Qualität zueinander stehen (Pape 2000: 25). Aus diesem notwendigen Begründungszusammenhang folgt, dass - obgleich Peirce den Akt des Denkens (und mit ihm den Begriff des Zeichens) an die Drittheit knüpft 11 - ein jeder Zeichenprozess stets an ein Erstes und ein Zweites gebunden ist. Das heißt: Obwohl in der Semiose ein immaterielles Zeichen auf das andere folgt, bedeutet dies nicht, dass der Anstoß, der die fortlaufende Übersetzungsleistung verursacht, ebenfalls rein immaterieller Natur ist - dies bedeutete eine Hypostasierung der Drittheit, die Peirce spätestens 12 seit seinen Pragmatismus-Vorlesungen kategorisch ausschloss (cf. Peirce 1991: 52-63, CP 5.82-5.92 13 sowie Spielmann 2002: 119-169). Deutlich wird dies etwa in der Haltung, die Peirce gegenüber Georg W.F. Hegel einnimmt: Wird Peirce einerseits nicht müde zu betonen, dass die drei Kategorien im Wesentlichen bereits von Hegel “als richtige Liste der universalen Kategorien” (Peirce 1991: 24, CP 5.43) gedacht worden sind, bemängelt er am “Hegelschen System”, dass in ihm die Kategorien Erstheit und Zweitheit “nur eingeführt [sind], um [im Begriff und damit in der Drittheit; M.A.H.] aufgehoben zu werden” (ebd.: 51, CP 5.79, Hervorhebung im Original). Weiter kritisiert Peirce: Hegel ist besessen von der Idee, daß das Absolute Eines ist. Drei Absoluta würde er als eine lächerliche contradictio in adjecto betrachten. Folglich möchte er beweisen, daß die drei Kategorien nicht ihre verschiedenen unabhängigen und unwiderlegbaren Stellungen im Denken haben. Erstheit und Zweitheit müssen irgendwie aufgehoben sein. Aber es ist nicht wahr. Sie sind keineswegs widerlegt oder widerlegbar. Es ist wahr, daß Drittheit in gewissem Sinn Zweitheit und Erstheit involviert. Das heißt, wenn Sie die Idee von Drittheit haben, müssen Sie Mark A. Halawa 18 die Ideen von Zweitheit und Erstheit gehabt haben, um darauf aufzubauen (Peirce 1991: 63, CP 5.91, Hervorhebungen im Original) 14 . Vor dem Hintergrund der uns interessierenden ästhetischen Streitpunkte ist nun folgender Aspekt von entscheidender Relevanz: Man beachte, dass Peirce in der vorgestellten Kategorientafel von drei Modi des Seins - drei “modes of being” - sprach und der Begriff des Seins daher gerade nicht - wie oft behauptet wird - ausschließlich auf das Reich der Zeichen (das der Drittheit also) beschränkt wird. Postuliert Peirce etwa, dass “Erkennbarkeit […] und Sein […] synonyme Begriffe [sind]” (Peirce 1868 a: 177, CP 5.257, Hervorhebungen im Original), so rekurriert er folglich auf einem von insgesamt drei realen Modi des Seins. Diesen möchte ich aufgrund seiner Verbundenheit mit der Fähigkeit zu kontrolliertem und kritischem Denken bzw. Schließen 15 als den Modus des intelligiblen Seins bezeichnen. Während nun im Seinsmodus der Erstheit das Moment einer unmittelbaren, unartikulierbaren und damit nicht näher bestimm- und kategorisierbaren “Gefühlsqualität” (Peirce 1983: 57) im Vordergrund steht und so der Modus eines phänomenalen Seins angesprochen wird, kommt im Modus der Zweitheit eine “Erfahrung des Widerstandes” (Orig.: “experience of resistance”) (Peirce 1904: 26, Hervorhebung von mir, M.A.H.) bzw. ein “Gefühl der Reaktion” (Peirce 1983: 55) ins Spiel - sprich: der Modus des widerfahrenden bzw. widerständigen Seins. Der Grund für die prinzipiell unendliche Fortsetzung des Zeichenprozesses liegt demnach nicht in einer vermeintlichen Allmacht der Drittheit begründet; es sind vielmehr die Kategorien der Erstheit und Zweitheit, die Momente des Phänomenalen und Widerständigen, die den Quellpunkt der Semiose bezeichnen. Nur in der Drittheit haben wir es mit Denkprozessen zu tun, die kontrollier- und kritisierbar sind (cf. Peirce 1991: 34, CP 5.55 sowie unten Anm. 15). Demgegenüber zeichnen sich die Kategorien Erstheit und Zweitheit unter anderem dadurch aus, dass sie den Gang des kontrollierten und kritisierbaren Schließens stören. Wird also, wie die Kategorienlehre Peirces es nahelegt, die Erfahrung des Widerstandes als grundlegend (weil nährend) für den Zeichenprozess erachtet, öffnet sich der Raum für all die Aspekte, die im Zentrum des Merschschen Denkens stehen, d.h. das Unvorhersehbare, das Zufällige, das sich der Interpretation Entgegenstellende, kurz: das Ereignishafte (cf. Mersch 2002 a: 197). Wie wichtig Peirce neben einer Sondierung der Idee einer kritischen Semiosis gerade auch eine Erörterung derjenigen Zusammenhänge gewesen ist, die dieser vor-kritisch vorausgehen, ersieht sich aus seiner Auseinandersetzung mit dem Wesen des Denkens und der Abduktion. Denken, schreibt Peirce, hat eine “einzige Funktion”, nämlich die, die “Herstellung” einer “Überzeugung” zu gewährleisten (Peirce 1878: 331, CP 5.394). Die Notwendigkeit der Überzeugungsbildung (was bei Peirce immer auch heißt: die Notwendigkeit, Denk- und damit Zeichenaufwand zu betreiben) hängt dem Peirceschen Konzept zufolge mit dem Faktor eines bestehende Denk- und Handlungsgewohnheiten durchbrechenden “Zweifels” zusammen. Er ist es, der in Form eines Widerständigen bzw. in Form einer, wie Peirce es fasst, “überraschende[n] Tatsache” (Peirce 1991: 129, CP 5.189) einen “unangenehme[n] und unbefriedigende[n] Zustand” (Peirce 1877: 300, CP 5.372) verursacht, den es im Rahmen der Semiose zu beenden gilt. In diesem Zusammenhang spielt die Abduktion - d.h. “der Prozeß, eine erklärende Hypothese zu bilden” (Peirce 1991: 115, CP 5.171) - eine bedeutende Rolle. Angestoßen durch den Stachel des Zweifels, ist sie das Instrument, um zur “Vermeidung aller Überraschung” die “Festsetzung einer Gewohnheit positiver Erwartung” zu gewährleisten, “die nicht enttäuscht werden soll” (ebd.: 135, CP 5.197). Gewiss: In diesem Kontext geht es um den Versuch, ein Widerständiges und Zweifel schürendes Etwas als etwas Bestimmtes erklärend zu bändigen. Doch auch wenn sich ein Widerständigkeit als Quellpunkt der Semiose 19 jedes Zeichen auf das Moment des “Was” (quid) zubewegt, wird es immerwährend durch ein die Zeichenbildung erst provozierendes Moment des “Dass” (quod) angestoßen. Die “Entfesselung” der Interpretation - die nicht zu verwechseln ist mit der von Mersch kritisierten Entfesselung des Interpretanten, da eine solche die mit ihm inhärierende Kategorie der Drittheit hypostasieren würde - fußt keinesfalls auf einer (durchaus im materiellen Sinne zu verstehenden) Grund-losen Verabsolutierung des Zeichens. Sie gründet vielmehr auf dem Umstand, dass im Rahmen der Abduktion erklärende Hypothesen gebildet werden, die - auch wenn sie explizit an der Herleitung der “erste[n] Prämisse[n] allen kritischen und kontrollierten Denkens” (Peirce 1991: 122, CP 5.181) beteiligt sind - einen “Akt […] extrem fehlbarer Einsicht” (Peirce 1903 b: 366, CP 5.181, Hervorhebung von mir, M.A.H.) umschreiben. 16 Zwar mag sich der Geist den Dingen Stück für Stück nähern. Doch zurück bleibt mit jedem Interpretationsschritt eine Distanz, durch die sich das Objekt der Erkenntnis stetig entzieht. Man sieht: Das die Ästhetik Walter Benjamins charakterisierende und von Dieter Mersch als Leitbegriff seiner performativen Ästhetik herangezogene Motiv der Aura (cf. Benjamin 2007, 1963) muss nicht, wie Merschs Ausführungen nahelegen, der Semiotik quasi en gros als Korrektiv hinzugefügt werden - vielmehr ist es in ihr bereits enthalten. Denn strebt die Semiose auf der einen Seite nach Sicherheit, Kontinuität und Gesetzmäßigkeit (Peirce fasst dies unter den Begriff des “Synechismus”), unterwandern dem Prinzip des “Zufalls” bzw. der “Spontaneität” unterworfene “überraschende Tatsachen” den die Semiose nährenden Drang, Zustände des Zweifels in solche der Überzeugung zu überführen (diesen Aspekt der Spontaneität fasst Peirce als “Tychismus”). 17 Die den Synechismus “störende” Tyche gewährleistet, dass - obgleich das Ziel der Semiose, wie Peirce betont, in der Schaffung klarer Gedanken besteht - mit jedem neuen Zeichen nicht nur ein weiteres Fünkchen Klarheit geschaffen wird, sondern immer auch ein Schatten des Rätselhaften übrigbleibt. In Bezug auf die Benjaminsche Differenzierung zwischen der “Spur” einerseits und der “Aura” andererseits, die unter anderem von Dieter Mersch für eine ihr analoge Trennung von Semiotik (Spur) und Aisthetik (Aura) verwendet wird, 18 heißt dies: Der Peirceschen Semiotik geht es nicht allein um die “Spur”, verstanden als “Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ” (Benjamin 2007: 343), durch die “wir der Sache habhaft [werden]” (ebd.). Auch die “Aura”, verstanden als “Erscheinung der Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft” (ebd.), findet in ihr insoweit Berücksichtigung, als es bei aller fortgeschrittenen Bestimmtheit immer auch den Faktor eines “Sichentziehenden” anzuerkennen gilt, durch den der Prozess der Bestimmungsbildung herausgefordert wird und niemals zu einem Ende kommen kann. Dies umschreibt einen äußerst bedeutsamen Aspekt, da sich daraus ersieht, warum Peirce, der zeitlebens einen strengen Realismus verteidigte und im Rahmen seiner Erkenntnistheorie an die prinzipielle Möglichkeit der Erlangung einer “final opinion” glaubte, nicht minder streng betonte, dass hinter der Idee des “finalen Interpretanten” stets ein “Prinzip Hoffnung” und damit also ein erkenntnisleitendes Ideal (sprich: nicht eine jemals erreichbare faktische Begebenheit) steht (cf. Apel 1975: 105). Damit angesprochen ist ein Aspekt, der sich unter anderem aus dem grundlegend konditionalen (und daher für das Moment der Fallibilität offenen) Charakter des Peirceschen Pragmatismus herleitet (cf. ebd.: 113). Auf diesen Punkt, der in der Peirce-Rezeption leider allzu oft unberücksichtigt gelassen wird, machte Peirce selbst mit folgender Bemerkung aufmerksam: “Das Gesetz, daß jedes Gedankenzeichen in einem anderen, das auf es folgt, übersetzt oder interpretiert wird, hat daher keine Ausnahme, es sei denn die, daß alles Denken überhaupt durch den Tod zu einem abrupten und endgültigen Ende kommt” (Peirce 1868 a: 199, CP 5.284). Kurz: “Daß das Leben ein Gedankenstrom ist” (Peirce 1868 b: 223, CP 5.314), hängt damit zusammen, dass Mark A. Halawa 20 - auch wenn es (durch die Intention der lückenlosen Bestimmung) auf ein jeglichen Zweifel ausräumendes Ende jeden weiteren Denkens abzielt - “zu leben” immer auch einschließt, “mit Widerständigkeiten bzw. überraschenden Tatsachen konfrontiert und damit zum Denken gezwungen zu sein”. Der Grundstein für die Notwendigkeit fortlaufender Zeichenbildungsprozesse ist damit gelegt. 4 Fazit Berücksichtigt man diese aus dem Postulat der Einheit der semiotischen Kategorien folgenden Einsichten, erscheint der Stellenwert der Semiotik für Fragen der allgemeinen Ästhetik in einem anderen Licht. Nicht nur lassen sich Materialität, Ereignis und Präsenz in der Kategorienlehre Peirces verorten; auch verbergen sich in ihr diejenigen Grundzüge der Responsivität (cf. Waldenfels 2007: 320-336) und des Auratischen, die aus Sicht vieler Semiotik-Kritiker die ästhetische Erfahrung auszeichnen. Wer sich als Semiotiker für Probleme der allgemeinen Ästhetik interessiert, muss gerade nicht zurückschrecken, wenn, wie bei Theodor W. Adorno (2003: 51), von der Unmöglichkeit die Rede ist, ein Kunstwerk in Gänze zu rationalisieren. Er würde auch nicht resignieren, wenn es um die Anerkennung des immanenten Rätselcharakters von ästhetischen Objekten geht. Die Adornosche Faustregel, derzufolge “Kunstwerke, die der Betrachtung und dem Gedanken ohne Rest aufgehen, […] keine [Kunstwerke sind]” (ebd.: 184), lässt sich von einer Peirceschen Semiotik problemlos akzeptieren. Nicht akzeptieren würde sie den Schluss, den in Rekurs auf Adorno viele Ästhetiker aus der prinzipiellen Rätselhaftigkeit der Kunst ziehen. Dieser besteht darin, aus der konstitutiven “Unbegreiflichkeit” (ebd.: 179) eines jeden Kunstwerkes eine allgemeine Unbrauchbarkeit der Semiotik abzuleiten. Denn gerade weil ästhetische Artefakte aufgrund verschiedenster Maßnahmen irritieren und sich widerständig zeigen, animieren sie Prozesse abduktiven Schlussfolgerns - und damit Zeichenprozesse. Schreibt Mersch, dass “[d]er Angriff auf die Sinne, ihre Aussetzung ins Unbekannte, die leibliche Irritation […] unerläßlich [scheinen], um immer wieder neu sehen, hören und erleben zu lernen” (Mersch 2001: 282), so drückt er damit nichts aus, dem nicht auch Peirce absolut zustimmen würde. So betrachtet, erscheint die von Dieter Mersch als Exempel für die Notwendigkeit einer Ereignisästhetik herangezogene Kunst der Avantgarde (cf. Mersch 2002 b: Kap. III, IV sowie in diesem Zusammenhang auch Fischer-Lichte 2004) als regelrechte semiotische Spielwiese. Steht auf der einen Seite die (synechistische) Neigung, etwas als etwas (“Was” [quid]) begreiflich zu machen, stellt sich diesem Bestimmungsbestreben das Moment des (tychistischen) “Dass” (quod) entgegen. Die avantgardistische Kunst erhält ihre Kraft somit aus der Provokation von Zeichenprozessen, die durch den gezielten Einsatz von Widerständigkeiten eben jene nicht zu einem Ende kommen lässt. Sie lässt sich daher als ein Paradebeispiel dafür deuten, dass der Quellpunkt der Semiose in einer Sphäre zu finden ist, für die die Semiotik aus Sicht der hier vorgestellten Autoren von Grund auf blind ist. Daraus folgt, dass die in der gegenwärtigen Ästhetik oftmals vorgenommene Verabschiedung von semiotischen und/ oder hermeneutischen Theorieansätzen 19 - um mit Martin Seel (2002) zu argumentieren - möglichst zu vermeiden ist. Weder sollte man, wie Elmar Holenstein, die Semiotik einseitig als den genuinen Beitrag für die allgemeine Ästhetik fassen, noch empfiehlt sich in Bezug auf allgemeine Fragen der Ästhetik eine prinzipielle Zurückweisung jeglichen semiotischen Denkens. Lässt sich auf der einen Seite, wie der Kunsthistoriker und Bildwissenschaftler Marcel Finke (2007) nahelegt, Semiosis nicht ohne Aisthesis denken, kann es sich auf der