eJournals Kodikas/Code 32/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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Detlev Bucks Romanverfilmung KNALLHART (D 2006) schildert die Erlebnisse des 15jährigen Schülers Michael, der an einer Realschule in die Fänge einer brutalen Schulhofgang gerät. Ausgehend von einer knappen Skizze des filmischen Raumsystems, das die Berliner Stadtteile Zehlendorf und Neukölln in Opposition zueinander setzt, thematisiert der Artikel die spezifischen Rituale der Gewaltausübung unter den Jugendlichen und den Drogendealern. Signifikant ist auf der Handlungsebene die Funktionalisierung der Überführung konkreter Gewalt in mediatisierte Gewaltdarstellungen zum Zweck der Einschüchterung der so genannten 'Opfer'. Die Argumentation soll dabei zeigen, dass die Jugendlichen der dargestellten Wirklichkeit in einer gewalthaltigen Umwelt leben, in der ihren eigenen Gewalttaten immer schon mediale Abbilder von Gewalt vorausgehen, wodurch sich ein endloser Zirkel der Gewaltwiederholungen ergibt. Die Durchbrechung dieses Kreislaufs erfordert eine Zeichenlektüre, die die kursierenden Gewaltzeichen nicht einzig als Machtinstrumente wahrnimmt, sondern gleichsam naiv auf die Relevanz und 'Realität' der Zeichenreferenten schließt.
2009
323-4

Im Reich von Handycam und Baseballkeule. Gewaltausübung und ihre Mediatisierung in Detlev Bucks KNALLHART

2009
Eckhard Pabst
Im Reich von Handycam und Baseballkeule. Gewaltausübung und ihre Mediatisierung in Detlev Bucks K NALLHART Eckhard Pabst Detlev Bucks Romanverfilmung K NALLHART (D 2006) schildert die Erlebnisse des 15jährigen Schülers Michael, der an einer Realschule in die Fänge einer brutalen Schulhofgang gerät. Ausgehend von einer knappen Skizze des filmischen Raumsystems, das die Berliner Stadtteile Zehlendorf und Neukölln in Opposition zueinander setzt, thematisiert der Artikel die spezifischen Rituale der Gewaltausübung unter den Jugendlichen und den Drogendealern. Signifikant ist auf der Handlungsebene die Funktionalisierung der Überführung konkreter Gewalt in mediatisierte Gewaltdarstellungen zum Zweck der Einschüchterung der so genannten ‘Opfer’. Die Argumentation soll dabei zeigen, dass die Jugendlichen der dargestellten Wirklichkeit in einer gewalthaltigen Umwelt leben, in der ihren eigenen Gewalttaten immer schon mediale Abbilder von Gewalt vorausgehen, wodurch sich ein endloser Zirkel der Gewaltwiederholungen ergibt. Die Durchbrechung dieses Kreislaufs erfordert eine Zeichenlektüre, die die kursierenden Gewaltzeichen nicht einzig als Machtinstrumente wahrnimmt, sondern gleichsam naiv auf die Relevanz und ‘Realität’ der Zeichenreferenten schließt. Detlev Bucks feature film T OUGH E NOUGH (D 2006) deals with the 15 years old Michael who is tormented by a brutal school yard gang lead by the Turkish Erroll. Starting with a brief discussion of the spatial system that divides Berlin into Zehlendorf and Neukölln this article describes the specific rituals of violance and power between gang members, their victims, and drug dealers and directs attention to the functualization of video representations of the acts of violance (via cell phone cameras). The film switches the order of acts of violance and their video representations. The result is a continuous cycle of violance. Einleitung Als Detlev Bucks Spielfilm K NALLHART 1 am 9. März 2006 in die deutschen Kinos kam, flankierte er eine Debatte zur Jugendgewalt, die seit einigen Monaten in den Medien geführt wurde. In Frankreich eskalierten seit Monaten Krawalle von Jugendlichen, die in mehreren Großstädten gegen Perspektivlosigkeit und die Lebensbedingungen minderprivilegierter sozialer Schichten protestierten; und nur wenige Wochen zuvor hatte sich die Schulleitung einer Berliner Oberschule, der Rütli-Schule aus Neukölln, mit einem offenen Brief an den Senat gewandt. Darin beschrieb sie die dramatischen Zustände, die von eskalierender Gewalt gegen Personen und Gegenstände in der Schule, von der Angst der Lehrerkollegen und der Schüler und von einem Anteil von Schülern nicht deutscher Herkunft von über 80% geprägt sind. Detlev Bucks Spielfilm scheint die gewaltgeladene Situation an sozialen Brennpunkten K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Eckhard Pabst 376 mit einigen ihrer schlimmstmöglichen Folgeerscheinungen exemplarisch zu illustrieren, wobei er den Blick freilich über den begrenzten Rahmen des Schulkomplexes hinaus in eine weiter gefasste soziale Wirklichkeit richtet. Besonders auffällig ist hierbei, dass der Film für Buck - eigentlich ein Spezialist im Komödienfach - ungewohnt drastisch Gewalt darstellt und Vorurteile zu bedienen scheint: Es gibt kein versöhnliches Ende; es gibt kaum dialektische Ansätze zur Differenzierung von Ursache und Wirkung der Jugendgewalt. So eröffnet der Film also einen scheinbar ungefilterten Blick auf die Erscheinungsweise einer bestimmten sozialen Realität, die einem Teil der Öffentlichkeit so nicht bekannt gewesen sein mag. 2 Plausibilisiert wird das tragische und konfliktreiche Geschehen u.a. durch die filmische Konstituierung eines begrenzten Raumsystems, das hier durch die städtischen Teilräume Zehlendorf und Neukölln oppositionsreich konturiert ist: 3 In diesem Neukölln herrschen spezifische gewalthaltige Verhältnisse, und indem die Narration konsequent der Erlebnisperspektive des 15-jährigen Helden folgt, werden diese Verhältnisse als ‘gegeben’ und ‘unhintergehbar’ inszeniert. 4 Zentrale Requisiten der hier etablierten Regeln im Umgang der Jugendlichen miteinander sind Baseballkeule und Handycam - beide Objekte stehen für unterschiedliche Strategien der Gewaltanwendung - der unmittelbar physischen und einer medial transponierten. Dieses Nebeneinander von konkreter und mediatisierter Gewalt führt den Protagonisten schließlich in die finale Katastrophe und zwar deshalb, so die hier zu verhandelnde These, weil der konkreten Gewalt immer schon ein mediatisiertes Gewaltzeichen vorausgeht, das gleichsam seine Einlösung erfordert. 1. Narrative Grundordnung Nach der kurzen Etablierung eines Erzählrahmens, der das Nachfolgende als retrospektives Geständnis des Protagonisten im Polizeirevier ausweist, beginnt der Film damit, den Eintritt des Protagonisten in den für ihn fremden Raum Neukölln zu motivieren. Der fünfzehnjährige Michael Polischka lebte die letzten Jahre mit seiner Mutter bei deren Lebensgefährten Dr. Peters in einer großzügigen Villa in Zehlendorf. Nun müssen sie dieses Domizil verlassen, da Dr. Peters sich eine neue Erotikpartnerin zu suchen beabsichtigt. Als sie ihre schäbige Zweizimmerwohnung in Neukölln erreichen, könnte der Kontrast zu ihrem vorherigen Luxusdomizil kaum radikaler ausfallen: Die Wohnung ist klein, düster und hellhörig, der Hinterhof gleicht einer Müllkippe. Dass Michael mit seinem Eintritt in diese Welt ein gefährliches Terrain betreten hat, wird in der sich anschließenden Sequenzfolge deutlich, die seinen ersten Tag in der neuen Schule beschreibt. Nach einer etwas chaotischen Mathestunde und einem ersten Kennenlernen mit seinem Klassenkameraden Crille und dessen jüngerem Bruder Matze auf dem Schulhof rempelt Michael beim Verlassen der Schule aus Versehen den Türken Erroll an, der mit seiner Clique auf der Treppe steht. Auf dem Nachhauseweg wird Michael von Erroll abgefangen, brutal geschlagen und “abgezogen”, wie man sagt. Mit der Aufforderung, ihm am Folgetag 50 Euro zu bezahlen, lässt Erroll sein Opfer zurück. Um diese nun täglich fälligen Gelder bezahlen zu können, bricht Michael mit Crille und Matze bei Dr. Peters ein; sie erbeuten u.a. ein teures Handy, das sie an den Dealer Hamal verkaufen, der damit auf Michael aufmerksam wird. Abermals lauert Errolls Bande Michael auf, um ein grausames Spiel mit ihm zu spielen: Man setzt ihm einen Blecheimer auf den Kopf, um ihm dann diesen Eimer mit einer Baseballkeule vom Kopf zu schlagen. Im Reich von Handycam und Baseballkeule 377 Abb. 1: Michael auf dem Weg zur Polizeistation Von schweren Blessuren gezeichnet, kehrt Michael nach Hause zurück, wo ihn der Hausmeister beiseite nimmt und ihm einen Tipp gibt: Michael solle ein kleines Metallrohr in die Faust nehmen und damit Erroll ins Gesicht schlagen. Bald darauf trifft Michael im Humboldthain auf Errolls Bande. Erroll setzt bereits zur nächsten Drangsalierung an, als ihn unvorbereitet Michaels Schlag auf die Nase trifft. Erroll zieht ein Messer, doch bevor er Michael verletzen kann, erscheint Barut, Hamals Handlanger, mit einigen Helfern wie aus dem Nichts, nimmt Michael zu sich und macht Errolls Bande eindrucksvoll verständlich, dass Michael von nun an unter Hamals Schutz stünde. Michael versteht das Angebot, das Hamal ihm macht: Michael arbeitet als Drogenkurier und erhält dafür Personenschutz. Das geht eine Weile gut, bis Errolls Bande Michael auf dem Rückweg von einem Kokainkunden auflauert. Sie treiben ein im Grunde harmloses Spiel mit Michael, werfen aber seinen Rucksack mit 80.000 Euro auf das Dach eines S-Bahnzuges. Das Geld ist weg. Hamals Schergen treiben Erroll auf und Michael muss seine Loyalität beweisen, indem er den wehrlosen Erroll unter einer Autobahnbrücke mit einem Kopfschuss hinrichten soll. Ohne eine wirkliche Wahl zu haben, erschießt er Erroll, weigert sich aber, anschließend in Hamals Wagen zu steigen. Er geht zur Polizei, sein folgendes Geständnis ist die Rückblende der Filmhandlung. 2. Raumordnung und Bewegung Bereits die erste Einstellung des Films zeigt Michael auf dem Mittelstreifen einer mehrspurigen Straße gehend (vgl. Abb. 1, 0: 00: 43), ohne Ausgangspunkt, ohne Ziel - ein unpassender Ort für einen Fußgänger zwischen den geregelten Bewegungsrichtungen der Autos. Im Prinzip wird Michael diesen Bewegungsmodus die Filmhandlung über beibehalten. Eckhard Pabst 378 Abb. 2: Michael und seine Mutter vor der Villa Dr. Peters in Zehlendorf Sein Verbleib im jeweiligen Raum hat stets etwas transitorisches, vorläufiges. Und im Grunde stellt die Filmhandlung Michaels Versuch dar, innerhalb des filmischen Raumsystems 5 seine Bewegung auf ein Ziel hinzusteuern, an dem die Bedingungen seines Herkunftsraumes wieder hergestellt sind. Dieser Herkunftsraum, gleichsam die Außenseite Neuköllns, ist im filmisch konstituierten Raumsystem Zehlendorf. Von dort werden Mutter und Sohn eingangs der Binnenhandlung vertrieben: aus einem Refugium der Sicherheit und des Luxus, um nicht zu sagen aus einem Paradies. Dr. Peters’ Villa trägt Züge einer unzugänglichen Festung, die ihre Bewohner von allen Einflüssen der Außenwelt schützt (vgl. Abb. 2, 0: 04: 31). Folgerichtig heißt es dazu, dass Michael nicht Dr. Peters vermissen wird, sondern dessen PC und DVD-Anlage (0: 04: 00). Michael hat sich während seiner Zeit hier in einer virtuellen Realität eingerichtet, um dabei durch einen Zaun und fensterlose Wände vom Außenraum isoliert zu sein. Steht der Stadtteil Zehlendorf in der filmischen Logik also für einen gewissen sozialen und ökonomischen Wohlstand, so tritt für den Extremraum Villa Dr. Peters diesen Attributen besonders das Merkmal der Abschirmung von der außersprachlichen Realität hinzu. Dies heißt auch, dass Michael in der Zehlendorfer Villa mediatisierte (Alltags-) Erfahrungen konkreten vorgezogen hat. Bereits auf der Taxifahrt zur neuen Wohnung zeigt sich dann, dass der Übertritt in den Raum Neukölln den Verlust von Bindungen an (schützende) Innenräume bedeutet: Der launische Taxifahrer setzt Michael und seine Mutter mitsamt ihrem Gepäck mitten auf der Hermannstraße aus (0: 05: 00). Bevor die unvollständige Familie also ihre neue Bleibe in Neukölln beziehen kann, macht sie einen Zwischenstopp im ungeschützten, öffentlichen Raum, was als Hinweis auf die Relevanz dieser Sphäre für das Leben in diesem Stadtteil gelesen werden kann: Wer sich nach Neukölln begibt, muss sich im Außenraum, auf der Straße, behaupten. Das Subjekt ist damit in viel stärkerem Maße, als es in Zehlendorf der Fall war, den Einflüssen und Bedingungen eines großstädtischen Horizontes ausgesetzt. Folglich spielt der Film dann auch zu großen Teilen draußen: auf den Straßen, in Im Reich von Handycam und Baseballkeule 379 Parkanlagen, auf trostlosen Parkdecks zwischen Plattenbauten und in verlassen wirkenden Passagen. Im Fortgang der Handlung wird dann immer wieder deutlich, dass Michael danach strebt, ruhige und sichere Räume zu finden, in die er sich vor den gewalttätigen Einflüssen der Außenwelt zurückziehen kann: Die Wohnung von Crille und Matze, in denen die Brüder während der Abwesenheit ihres Vaters (eines gewalttätigen Fernfahrers) wochenlang auf sich gestellt und unkontrolliert ihre Freiräume genießen können, ist ein solches Ersatzrefugium (zumindest solange, bis der Vater von einer Tour zurückkehrt); der türkische Friseursalon, in dem Michael zum ersten Mal Hamal trifft und Wasserpfeife raucht (0: 33: 40), ein anderes. Michaels neue Wohnung bietet diesen Schutz nur unzulänglich - so dauert es nicht lange, bis einer der neuen Partner seiner Mutter Michaels Geld stiehlt. Die Schutzräume im Einflussbereich Hamals, die Michael erreicht - die großen Sportlimousinen oder die elegant-orientalisch eingerichtete Wohnung des Dealers - nehmen ihn nur zeitweise auf; Michael ist hier jeweils nur Gast, der für seine Anwesenheit hier einen hohen Preis zu zahlen hat. Immerhin verweigert Michael am Ende der Binnenhandlung, erneut zu Hamal ins Auto zu steigen (und damit also seine unheilvolle Bewegung buchstäblich fortzusetzen). Seine Verweigerungshaltung ist der Ausstieg aus der Gewaltspirale und der Suche nach einem eigenen Raum; gerade dadurch erlangt er nach abgelegtem Geständnis in der Untersuchungshaftzelle auf dem Polizeirevier einen Augenblick der Ruhe und Sicherheit. Die letzte Einstellung, in der ihn seine Mutter vom Revier abholt, deutet allerdings an, dass seine Bewegung doch noch nicht an ihr Ende gekommen ist. 3. Körperzeichen: “Opfer” und “Nicht-Opfer” Schon die narrative Grundordnung und die Raumordnung und die Figurenbewegungen machen deutlich, welchen Rang Gewalt im Handlungsgeschehen einnimmt: Durch Gewaltandrohung und -ausübung beanspruchen und stabilisieren Errolls Gang wie diejenige des Dealers Hamal ihre Macht. Das Subjekt findet sich in einem Systemkreislauf von Gewaltandrohungen wieder, die ihm von Beginn an, also von der Vertreibung aus seinem Zehlendorfer Paradies, keine Wahl der Entscheidung lassen. Michael ist nicht in der Lage, sich in einem Raum außerhalb erlittener Gewalt einzurichten, sondern muss sich einer der beiden Seiten unterwerfen. Sein Freund Crille erklärt ihm Errolls Seite: “Is ganz simpel: Entweder Du kriegst so viel Kohle ran oder die hau’n Dir so oft aufs Maul, bis denen langweilig wird, Mann. Such’s Dir aus” (0: 25: 03). Hamal wird ihn aus dieser Zwangslage befreien, aber nur um ihn einem neuen Zwang zu unterwerfen. Michael ist durchaus nicht feige - das zeigt sein selbstbewusstes Auftreten gegenüber Hamal, als er diesem das gestohlene Handy zum Kauf anbietet und das zeigt auch sein entschlossener Schlag ins Gesicht seines Peinigers Erroll. Aber er ist als Einzelgänger in einem System, dessen Macht ausübende Parteien immer in Form von Bündnissen und Gangs auftreten, prinzipiell unterlegen. Michael hat keine Eingewöhnungszeit, sondern er wird von Errolls Gang umstandslos zum Opfer gemacht und erklärt. “Opfer” ist im Kiezslang ein Zentralbegriff, dessen besondere Bedeutung offensichtlich in seiner Umdeutung liegt. Der Begriff “Opfer” löst offenbar nicht mehr selbstverständlich Empfindungen aus, die von Empathie gekennzeichnet sind, sondern er wird benutzt, um sich der eigenen Identität zu versichern und alles abzuwehren, was mit dem Opfersein verbunden wird: Schwäche, Verluste, Ängste, Versagen, eben “looser” [sic! ] zu sein oder zu werden. Die Benutzung des Wortes Eckhard Pabst 380 “Opfer” als Schimpfwort ist Ausdruck einer enormen und unbewussten Angst vor der Opferrolle und des unbewussten Zwanges, alles, was mit ihr zu tun hat, aus der Entwicklung männlicher Identität zu verbannen. […] der Versuch, männliche Identität auf diese Weise herzustellen und zu bewahren, stärkt nicht nur die Aufrechterhaltung des Systems männlicher Herrschaft, sondern impliziert langfristig eine weitere Schwächung der Position von Opfern: Nicht Empathie ist gefragt, sondern Abgrenzung vor dem Hintergrund der Angst, selbst zum Opfer zu werden. (Voß 2008: 58) Die in diesem Zitat enthaltenen psychologischen und sozial-psychiatrischen Befunde sollen hier nicht näher diskutiert werden; aus semiotischer Perspektive erscheint mir hier vor allem das differenzlogische Kalkül der Begriffsbildung relevant, das dem Terminus “Opfer” seine Funktion zuweist: Sein Gegenüber als “Opfer” zu bezeichnen, heißt also, sich selbst zum “Nicht-Opfer” zu erklären. Michaels Status als Unterworfener ist systemisch notwendig, insofern er die Gegenseite von Errolls eigenem Status repräsentiert. Der Überfall auf Michael weist in diesem Sinne mehrere Ebenen auf: Eine erste der unmittelbaren physischen Gewaltanwendung, die einer ganz konkreten Unterwerfung entspricht; eine zweite der Signifizierung als “Opfer”, die ihn klassifiziert, damit entindividualisiert und also ins Symbolsystem des Raumes einträgt; eine dritte Ebene ist die der Mediatisierung dieses Überfalls zum Zwecke einer dann sekundären Auswertung (vgl. unten Kap. 5.). Durch die erlittene Gewalt ist Michael nun bezeichnet: Ohne Schuhe, mit lädierter Nase und vollgeblutetem T-Shirt geht er durch die Straßen. Damit trägt er ähnliche Male des Misshandelt- und Unterworfenseins wie z.B. die Mitschülerin, die in der Klasse neben ihm sitzt. Die Welt der Jugendlichen ist in diesem Film strukturiert durch auffällige Signifikanzen: Die Opfer tragen Zeichen erlittener Gewalt, die Nicht-Opfer zeichnen sich durch ihr mehr oder minder dominantes Auftreten als die Machthaber aus. Der Körper ist Zeichenträger, die Blessur bzw. die ausgestellte Unverwundetheit wenn nicht gar Unverwundbarkeit bezeichnen den Status der Person. 4. Machtstrategien 1: Raumkontrolle Im Folgenden ist auf zwei Aspekte einzugehen, durch die sich Errolls Machtgebaren auszeichnet: Zum ersten ist dies eine besondere Raummacht, die Erroll und seine Gang einnehmen. Diese Kontrolle des Raumes verdankt sich einer gezielten Mise-en-Scène der filmischen Vermittlung, die dem Rezipienten zwar Überblicke über den Bildraum gewährt, gleichwohl aber die Sphäre unmittelbar außerhalb des aktuell präsentierten Bildraumes zur Quelle der Gefahr für Michael werden lässt. Dies wird deutlich im ersten Angriff von Errolls Gang auf Michael (0: 10: 20): Während Michael die Hermannstraße entlanggeht, dringen seine Angreifer ohne Vorankündigung aus dem Off ins Bild und stoßen ihn in eine Tordurchfahrt, wo sie ihn verprügeln und demütigen. Damit ist der unmittelbar erfahrbare Bildraum hochgradig destabilisiert: Der Blick in den städtischen Außenraum garantiert keinen Überblick, das Gesichtsfeld erfasst nicht die Quellen der Bedrohung, die Gefährdung wird dieserart allgegenwärtig. Eben hierin liegt ein besonderes Merkmal der Straße, das bereits oben angedeutet wurde und hierin liegt für Michael das fortwährende Risiko begründet, Erroll in die Fänge zu laufen. Erroll und seine Schergen sind überall und jeder öffentliche Raum bietet genügend Hinterhalte, aus denen heraus Erroll hervortreten und in die man umgekehrt Michael hineintreiben kann, um ihm ungestört Gewalt anzutun. Diese Strategie wendet der Film auch im zweiten Überfall Errolls auf Michael an (0: 46: 20): Michael kommt soeben vom Polizeirevier zurück. Da die Polizei inzwischen in Im Reich von Handycam und Baseballkeule 381 Abb. 5: Errolls Bande überfällt Michael das zweite Mal; rechts im Hintergrund hält jemand ein Handy und filmt die Szene. Sachen Einbruch bei Dr. Peters ermittelt, musste er als ehemaliger Mitbewohner der Villa seine Fingerabdrücke abgeben. Auf dem Heimweg fangen ihn Erroll und seine Schläger ab. Auch in dieser Sequenz herrscht ein Inszenierungsprinzip, das den Hinterhalt, aus dem Errolls Überfall erfolgt, nicht mit den Bedingungen der Architektur begründet, sondern Erroll gleichsam eine Omnipräsenz im Off zugesteht, aus dem heraus er jederzeit angreifen kann. Wie schon in der ersten Beispielsequenz ist Erroll also wieder mal zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Zur Raumbeherrschung Errolls trägt dann weiterhin bei, dass er und seine Gang sich geschickt an Schlüsselpositionen postieren - in der Schule etwa auf einem Wendepodest der Treppe oder im Verbindungsflur zwischen zwei Korridoren. Hier muss jeder vorbei, hier kann er jeden abfangen. Als Michael, der Empfehlung des Hausmeisters folgend, der nächsten Konfrontation nicht ausweicht, sondern sich ihr stellt, um Erroll mit einem gezielten Schlag auszuschalten - “Schnapp dir gleich den Anführer (…), und ich schwör Dir, der kippt um wie ? n Baum und Du hast ein Problem weniger” (0: 46: 20) -, in dieser Sequenz nun, die auf den Aussichtsplattformen auf dem Flakturm im Humboldthain angesiedelt ist, scheint Errolls Raummacht tatsächlich gebrochen. Er erscheint nicht plötzlich und unvorbereitet aus dem Off heraus, sondern biegt in weiter Distanz um die Ecke (0: 48: 05); im Aufeinanderzugehen hat Michael genügend Zeit, seinen Faustschlag vorzubereiten, und tatsächlich kann er seinen Kontrahenten durch einen beherzten Schlag auf die Nase niederstrecken. Dieser Startvorteil aber ist schnell verspielt; nun scheint er nicht “ein Problem weniger” zu haben, sondern eines mehr. Hysterisch schreiend, gibt Erroll seinen Helfern Anweisung, Michael zu halten, während er selbst ein Messer zieht; in diesem Moment betreten Hamals Schergen die Szene, in Deus-exmachina-Manier von oben kommend. 6 Jetzt sind sie es, die absolute Raummacht besitzen, die plötzlich aus dem Hintergrund auftauchen - als ob sie, die einen neuen Drogenkurier brauchen und Michael bereits in die engere Wahl gezogen haben, nur auf diese Gelegenheit gewartet hätten, die sie dann dazu nutzen können, Michael in ihre Abhängigkeit zu bringen. 5. Machtstrategien 2: Mediatisierung der Gewalt Der zweite Aspekt in Errolls Machtgebaren ist die bereits eingangs angesprochene Mediatisierung seiner Handlungen. Es fällt auf, dass bei jedem der überlegt durchgeführten Angriffe Errolls irgendjemand aus seiner Gang die Aktionen mit dem Handy filmt (vgl. Abb. 5). Diese Filme erfüllen im Handlungsgeschehen klare Funktionen: Als Michael wenige Tage nach dem ersten Überfall Erroll die geforderten 50 Euro zahlen will, erklärt dieser ihm, dass er aufgrund der Verspätung Zinsen erheben müsste. Michael hat einen neuen Betrag zu entrichten und um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, zeigt er Michael eines seiner Eckhard Pabst 382 Abb. 6a: Erroll zeigt Michael ein Handyvideo. Abb. 6b: Detail aus Abb. 6a: Handyvideo Videos (vgl. Abb. 6a) und verleiht diesem Gewaltzeichen mit der entsprechenden Drohung Nachdruck: “Man, guck hin! Das passiert auch mit Dir, wenn Du nicht morgen 50 Euro bringst, verstehst Du? Morgen 50 Euro, du Penner! ” (0: 24: 30) Das Video vergegenwärtigt demjenigen, dem man es zeigt, die Folgen, die es haben wird, wenn er den gestellten Forderungen nicht nachkommt. Die konservierte Gewalttat an einem Opfer wird zum Zeichen für Kommendes, sie weist damit über sich als Einzeltat hinaus auf weitere Tatoptionen und repräsentiert paradigmatisch Gewalt. Das Opfer, dessen Peinigung der Film festhält, wird zur Platzhalterfigur für künftige Opfer, zum Signifikanten also nicht bloß eines Individuums, sondern einer Klasse von Individuen, nämlich aller potenziellen Opfer. Dazu trägt bei, dass das aktuelle, individuelle Opfer auf dem Film, das von Errolls Gang zusammengeschlagen wird, nicht eindeutig zu erkennen ist. Die Gesichtszüge verschwimmen aufgrund der Bewegungsunschärfe und der geringen Auflösung. Mehr, als dass ein Mensch geschlagen wird, ist im Grunde nicht zu erkennen (vgl. Abb. 6b). Dem Subjekt ist im Abbildungsprozess seine Individualität genommen. Sie ist durch diese Form der Mediatisierung gleichsam zur Verfügungsmasse der Peiniger geworden, die ja noch wissen, wen sie da auf dem Video verprügeln. Für den einzuschüchternden Beobachter ist bloß die Tat als solche und damit eben die Bereitschaft zu weiteren Nachfolgetaten zu erkennen. Zwar muss dieser mediatisierten Form von Gewalt eine konkret erfolgte Gewalt vorausgegangen sein - man kann nur filmen, was sich in einer vorfilmischen Realität zuträgt (Die Möglichkeit, dass diese Filme auf der Handlungsebene bloß inszeniert sind, wird durch die innerfilmischen Umgangsweisen mit den Handyfilmen ausgeschlossen). Der Spielfilm K NALLHART jedoch kehrt diese Systematik auf seiner Discoursebene um. Denn bevor es zur ersten physischen Gewalttat kommt, präsentiert der Film bereits eine mediatisierte Gewalttat. Dies ist der erste Auftritt Errolls im Film: Die Szene spielt auf dem Wendepodest der Schultreppe, wo sich Erroll und seine Gang postiert haben; während sie das Video auf dem Handy ansehen, beobachten (um nicht zu sagen: kontrollieren) sie gleichzeitig die vorbeiströmenden Schüler (0: 09: 31). Aus der Art und Weise, wie der Spielfilm diesen ersten Handyfilm inszeniert, lassen sich zwei Schlüsse ziehen: Einerseits ist der Handyfilm integrierendes Kernelement der Gang. Die Jungs stehen um den winzigen Bildschirm des Handys herum und starren mit dem Ausdruck Im Reich von Handycam und Baseballkeule 383 Abb. 3: Erroll (2. von links) und seine Gang auf der Treppe im Schulgebäude beim Betrachten eines Handyvideos Abb. 4: Michael wird in die Mitte von Errolls Bande gestoßen der Gebanntheit, des Amüsements und der Zustimmung auf die repräsentierten Ereignisse, deren Urheber und Akteure sie sind (vgl. Abb. 3). Die entindividualisierte Repräsentation wird zur abstrakten Formel des Gruppensinns, der mittels des jederzeit verfügbaren Handyfilms wie eine symbolische Kernhandlung, über die sich die Gruppe definiert, kollektiv vollzogen werden kann. Wenn aber die symbolisch-integrierende Kernhandlung der Gruppe mittels eines mediatisierten Gewaltaktes vollzogen wird, deren Ergebnis auch immer die Anonymisierung und Entindividualisierung des Opfers ist, dann liegt die Annahme nahe, dass das abstrakte Bild mit einer neuen leidenden Individualität aufgefüllt werden muss, um die Aktualität der Bedeutung zu gewährleisten. Diesem bloß abstrakten, zeichenhaften Akt wird also wieder ein physisch-konkreter folgen müssen, womit dann ein sich stets fortsetzender Kreislauf konkreter Gewaltakte und seiner medialen Abbilder in Gang gesetzt wird. Aus dieser Sequenz wird dann auch zweitens deutlich, warum sich die Gruppe gerade Michael aussucht: Wenn auf der Handlungsebene seine augenscheinliche Harmlosigkeit, sein gepflegtes Äußeres, sein braves Gesicht und sein vermeintlicher ökonomischer Wohlstand hinreichend Gründe für Gewalttaten geben mögen, wird auf der Discoursebene diese Wahl delegiert, weil Michael durch die unglückliche Rempelei genau an die Stelle des anonymen Abbildes gestoßen wird (vgl. Abb. 4). 7 Michael gerät damit nicht nur räumlich in die Nähe der Gang, indem er ihren privilegierten Platz an der strategisch wichtigen Stelle auf der Treppe betritt, er betritt auch ihr symbolisches Refugium. Michael stört die Rezeptionsgemeinschaft, er verdrängt geradezu - wenn auch unfreiwillig - ihr zentrales Konstitutions-Objekt und setzt sich an dessen Stelle. Insofern scheint es dann nur konsequent, wenn die Gruppe alle Anstalten trifft, den Störer in einem ersten Schritt in den Status des Opfers und simultan dazu für die Sekundärverwertung in den Status eines abstrakten, entindividualisierten Zeichens zu überführen. Damit korrespondiert dann im weiteren Fortgang der Handlung, dass Erroll ihm im Zuge des zweiten Überfalls einen Eimer über den Kopf stülpen lässt (0: 43: 42) - diese Geste beinhaltet nichts anderes als eben die Tilgung des Gesichtes des Opfers und damit die erste, radikalste Tilgung der Individualität. Der Film führt damit vor, dass die zeichenhafte Gewaltrepräsentation eine Konkretisierung der Gewalt nach sich zieht, die dann ihrerseits wieder in zeichenhaft-abstrakte Konstruktionen transformiert wird. Eckhard Pabst 384 Abb. 9: Crille demonstriert an seinem Bruder Matze Fernfahreralltag in Russland Abb. 8: Kleinkind mit Spielzeuggewehr Das zeigt sich in der schlimmstmöglichen Wendung des Films, nämlich der erzwungenen Ermordung Errolls mit Michael als Vollstrecker. Dieser Tötungsakt ist auf der Handlungsebene eine konkrete Tat - ein Kopfschuss aus nächster Nähe mit Todesfolge. Was für Erroll also eine unmittelbar physische Konsequenz hat, ist für den Dealer Hamal und seine Entourage jedoch nur ein symbolischer Akt, mit dem Michael seine Loyalität beweist: “Es geht hier um eine Geste” (1: 21: 38), sagt er zu Michael. Irgendwo fährt jetzt ein S-Bahn-Zug durch die Stadt mit einem Schülerrucksack auf dem Dach, in dem sich 80.000 Euro Drogengeld und Hinweise auf den Besitzer des Rucksackes finden. Dadurch dass er ihn zur Ermordung Errolls erpresst, glaubt Hamal sich für den Fall abzusichern, dass der Rucksack gefunden wird und somit eine Beweisspur zu seiner Organisation gelegt sein könnte. Der Todesschuss ist also nicht der Vollzug einer Unterwelt-internen Gerichtsbarkeit an dem Störenfried Erroll, sondern vielmehr ein Initiationsritus des Neuzuganges Michael. So erklärt Hamal dem um Gnade flehenden Erroll denn auch: “Du denkst, es geht um Geld, hm? Geld hat damit nichts zu tun. Du bist eine Schande. Und um Dich geht es hier schon lange nicht mehr. Du kannst nur noch beten” (1: 23: 35). Damit wohnt der Erschießung Errolls ein ähnliches Moment inne wie Errolls Opfermisshandlungen, nämlich eine deutliche Entindividualisierung des Betroffenen, eine Entkopplung von Zeichenbedeutung und Zeichenträger. Interessanter Weise geht diesem auf der Handlungsebene konkreten Tötungstakt ein mediatisierter Tötungsakt voraus, und zwar in Form eines Aufklärungsposters im Klassenraum: Dort hängen hinter den davon sichtlich nicht beeindruckten Schülern Plakate, die mit als Zitaten gekennzeichneten Aussagen offensichtlich Involvierter über Zusammenhänge von Gewaltanwendung aufklären wollen. “Ich musste töten…” (Abb. 7, 0: 07: 29), lautet eine dieser Bildunterschriften. In diesem Fall sorgt eine Umgebung, in der mediatisierte Gewaltdarstellungen kursieren, jedoch nicht dafür, Gegenentwürfe zu Gewalt zu entwickeln, sondern nur zu ihrer Konkretisierung. Und es finden sich in dem Film viele weitere Formen medial vorgestellter Formen von Gewaltanwendung, die - vor dem Hintergrund der hier verhandelten These - ihrer eigenen konkreten Selbsterfüllung vorausgehen: Erwähnt seien hier nur der spielerische Umgang mit Schusswaffen (vgl. Abb. 8 und 9), der offenbar früh eingeübt wird, oder die drogenabhängige Mutter eines Kleinkindes, die von ihren Dealern abgewiesen wird, da sie den aktuellen Tagespreis für ihren täglichen Drogenbedarf nicht zahlen kann. Im Reich von Handycam und Baseballkeule 385 Abb. 10: drogenabhängige Mutter mit Tätowierung Mit ihrer an ein Skelett erinnernden Ganzkörpertätowierung (vgl. Abb. 10) erscheint sie wie ein Todesengel oder gar der Tod selbst, der hier bereits sein nächstes Opfer, nämlich das ihrer Obhut anvertraute Baby, im Kinderwagen vor sich herschiebt. 8 6. Mediatisierte Gewalt, konkrete Gewalt - ein Kreislauf Wenn sich nun die Handlungen Errolls und seiner Gang einerseits und andererseits die Ermordung Errolls in genau dem einen Punkt ähneln, dass es sich um Gewalttaten handelt, die medial vorgeprägt waren und denen nun ihre konkretisierende Realisierung nachfolgt, dann setzt der Film diese Struktur offensichtlich als universell, womit sich dann ein ebenso universeller, medienkritischer Ansatz ergibt: Medien generieren Wirklichkeit, indem der Konsum medialer Produkte zu einer außerhalb von Medien realisierten Kopie der bloß medial zeichenhaft dargestellten Wirklichkeit anregt. Eine Begründung, warum mediatisierte Gewalt immer ihre Konkretisierung nach sich zieht, liefert der Film nicht. Dass die agierenden Jugendlichen durch unkritischen Konsum von Gewaltdarstellungen in diversen Medien an Gewalt gewöhnt sind und sie gleichsam notwendig als alternativlose soziale Praxis verinnerlicht haben, mag eine mögliche Schlussfolgerung sein, die der Film aber nicht grundsätzlich privilegiert: K NALLHART lässt sich kaum als Plädoyer gegen Medienkonsum lesen, dazu ist das hier eröffnete Feld sozialer Konfliktlagen zu offen und zu komplex, dazu artikuliert der Film für die konkreten Gewalttaten zu viele Begleitumstände sozialer Verwahrlosung und Verelendung. In diesem Sinne liegt seine Überzeugungskraft vielleicht gerade darin, bloß einen nach vielen Seiten offenen Ausschnitt einer sozialen Realität größeren Maßstabes zu zeigen. Als Unterbrechungsmöglichkeit der fatalen Kreisläufe von mediatisierter und konkreter Gewalt setzt der Film ein - wenn auch zu spät einsetzendes - Verantwortungsgefühl. Das aber heißt, dass das Subjekt zu einer gleichsam naiven Haltung den medialen Zeichen Eckhard Pabst 386 gegenüber zurückkehrt, indem das Subjekt die ursprünglichen Bedeutungen - und vor allem Referenzialisierungen - der Zeichen wieder anerkennt: Die gepeinigte Kreatur ist nicht bloß Zeichen für die Macht des Peinigers, sondern eben auch ein konkretes gequältes Individuum. So zumindest könnte man die Schlussszene der Binnenhandlung lesen: Michael steht nach dem abgegebenen Todesschuss nicht bloß vor dem leblosen Beweis seiner Treue zu seinem Dienstherren, sondern vor einem toten Menschen, den er, nachdem der Dealertrupp ohne ihn abgefahren ist, mit seiner Jacke zur letzten Ruhe bettet. Wenn Hamal den noch lebenden Erroll zum bloßen Objekt in einem Machtspiel erklärte, versetzt Michael den Erschossenen jetzt mit dieser um Würde bemühten Geste rückwirkend in den Status einer Person (1: 29: 06). Im 5. Abschnitt dieser Ausführungen wurde dargelegt, dass der Film auf der Discoursebene die handlungslogische Reihenfolge von konkreter Gewalt und ihrer Mediatisierung umkehrt. Im großen Bogen der Filmdramaturgie ist diese Systematik allerdings gebrochen, um nicht zu sagen: Die Anordnung von konkretisierter und mediatisierter Gewalt entspricht wieder ihrer originären Reihenfolge. Denn in der Erzählgegenwart - dem Geständnis, das Michael auf der Polizeiwache ablegt - sind die geschilderten Gewalttaten bereits vollzogen. Michaels Geständnis, also die Mediatisierung des Films, folgt den konkreten Ereignissen nach. Seine Bewertung der Erlebnisse als etwas im justiziablen Rahmen Mitzuteilendes führen überhaupt erst dazu, dass er die Ereignisse erzählt, also mediatisiert. Der Bericht über Gewalt ist funktionalisiert zu einem Diskurs über Gewalt zum Zwecke ihrer Sanktionierung; die Mediatisierung dient hier erstmalig im Film nicht mehr einer auf Machterhaltung abzielenden Herrschaftsstrategie, sondern gerade deren Überwindung. Die Rahmenstruktur der filmischen Narration bedient einerseits fatalistische Implikationen, weil Michael auf der Discoursebene bereits zum geständigen Täter geworden ist, bevor er überhaupt aus seinem Zehlendorfer Kokon vertrieben wurde; der katastrophale Endpunkt von Michaels Bewegung erscheint determiniert. Andererseits aber überwindet das Subjekt das im Raum Neukölln herrschende Regelsystem, indem es sich schließlich einer übergeordneten Norminstanz unterwirft. Ein Teilschritt auf diesem Weg ist die Etablierung einer Umgangsweise mit Zeichen der Gewalt, die den Rang der Taten als Verstöße gegen Würde und Normen (wieder) anerkennen. Literaturverzeichnis Balci, Güner Yasemin 2008: Arabboy. Eine Jugend in Deutschland oder Das kurze Leben des Rashid A., Frankfurt a.M.: Fischer. Hannemann, Uli 2008: Neulich in Neukölln. Notizen von der Talsohle des Lebens, Berlin: Ullstein. Kanzog, Klaus 1991: Einführung in die Filmphilologie. Mit Beiträgen von Kirsten Burghardt, Ludwig Bauer und Michael Schaudig, München: Schaudig, Bauer, Ledig (= diskurs film, Münchner Beiträge zur Filmphilologie Bd. 4). Krah, Hans 2006: Einführung in die Literaturwissenschaft/ Textanalyse, Kiel: Ludwig (= LIMES - Literatur- und medienwissenschaftliche Studien - Kiel 6). Lotman, Jurij M. 1972: Die Struktur literarischer Texte, München: UTB. Pabst, Eckhard 2009: “Raumzeichen und zeichenhafte Räume: Bedeutungskonstitution durch Raum und Architektur im Film”, in: Jan-Oliver Decker & Hans Krah: Zeichen(-Systeme) im Film. Zeitschrift für Semiotik (ZfS), Bd. 30, Heft 3-4 (2008): 355-390. Renner, Karl N. 1983: Der Findling. Eine Erzählung von Heinrich von Kleist und ein Film von George Moorse. 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Gedreht wurde K NALLHART an Berliner Originalschauplätzen in Zehlendorf, Neukölln, Kreuzberg und Wedding. 2 Ungefiltert insofern, als der Film ungewöhnlich stark ausgeprägte Klischeevorstellungen (z.B. hinsichtlich der Involviertheit von Türken und Arabern in Drogen- und Gewaltdelikte) bedient und diese nicht durch dramaturgische Kunstgriffe (Stichwort ‘Happy End’) zu überwinden versucht. 3 Der Film wird auf Filmplakaten und DVD-Covers als “Großstadtfilm” lanciert. 4 Mittlerweile ist Berlin-Neukölln im ästhetischen Diskurs zur vielbemühten Projektionsfläche für Narrationen geworden, die sich mit eskalierender Jugendgewalt und Integrationsproblematiken befassen. Genannt seien hier neben K NALLHART (Roman 2004, Film 2006) der Spielfilm J ARGO (D 2004, Maria Solrun) und die Texte Arabboy (2008), Nord Neukölln. Frontbericht aus dem Klassenzimmer (2008), Der große Bruder von Neukölln (2008) und die Glossensammlung Neulich in Neukölln (2008). Der im Zusammenhang mit K NALLHART oft zum Vergleich herangezogene TV-Film W UT (WDR 2007, Züli Aldað) spielt übrigens in Neuköllns Nachbarbezirk Berlin-Tempelhof. 5 Auf die Einführung zentraler Begriffe zur semantischen Raumordnung wird hier verzichtet. Siehe dazu grundlegend Krah (2006: 292f.) mit Bezug auf Lotman 1972 und Renner 1983 u. 1987. Zur Anwendung der Begriffe in filmanalytischen Zusammenhängen siehe Kanzog (1991: 28f.) und Pabst 2009. 6 Für diejenigen Rezipienten, die in dem Handlungsschauplatz den Flakturm im Berliner Humboldthain als Drehort wiedererkennen, ist die Lesart der aus dem Himmel niedersteigenden Retter besonders einsichtig, kommen Barut und seine Kumpane doch von der höchsten Plattform des Bunkers herunter - über ihnen ist buchstäblich nur noch der Himmel. Auf der Handlungsebene ist die Wahl des Schauplatzes dagegen wenig einleuchtend, weil nicht klar wird, warum Michael, Crille und Matze im einigermaßen weit von Neukölln entfernten Wedding auf Erroll treffen und warum nun auch noch Barut und sein Trupp sich hier aufhalten. Diese Fragestellung allerdings ist unzulässig, da sie den filmischen Raum mit dem realen Berlin gleichsetzt. 7 Genau genommen wird Michael von Tiger, einem Gangmitglied, angerempelt. Damit wird der Anlass dafür, dass Michael in Errolls Aufmerksamkeit gerät, letztlich von der Gang selbst gestiftet. So zeichnet sich ein Szenario ab, in dem Errolls Bande die ‘Provokationen’, auf die sie dann reagieren, selbst inszeniert. Dass man sich Michael aber gezielt aussucht, lässt sich nicht belegen. Am wahrscheinlichsten ist die Annahme, dass Tiger, der etwas verspätet zu seiner Gruppe eilt, gleichgültig in Kauf nimmt, ob und wen er auf seinem Weg zum Treffpunkt anrempelt. Dass sich dieserart neue ‘Opfer’ produzieren lassen, ist möglicherweise ein intendierter Nebeneffekt seiner insgesamt aggressiv-raumgreifenden Attitüde. 8 Hier ist auch an den im 2. Kapitel erwähnten Umstand zu erinnern, dass Michael sich in Dr. Peters Villa vornehmlich mit Produkten der Unterhaltungselektronik beschäftigt hat; wenn hier die Vorstellung nahe liegt, dass dazu auch ein wie auch immer zu quantifizierendes Maß an Computerspielen gewalthaltigen Inhalts zählte, strebt also auch diese zunächst nur medial präsentierte Gewalt ihrer Konkretisierung im Alltag zu. Seite 388 vakat