eJournals Kodikas/Code 32/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2009
323-4

Die ganz normale Gewalt

2009
Michael Müller
Die ganz normale Gewalt Zur De-Semiotisierung von Gewalt in Cormack McCarthy’s Roman No Country for Old Men Michael Müller Der Aufsatz beschreibt, wie in Cormac McCarthys Roman No Country for Old Men mit semiotischen Mitteln die De-Semiotisierung und damit scheinbare “Konkretisierung” von Gewalt betrieben wird. The article points out that Cormac McCarthys novel No Country for Old Men uses semiotic processes to dissolve meaning constitution. It will be shown that in the novel this process installs a concreteness of violence on its surface. 1. Vorbemerkungen Am Beispiel des 2005 im amerikanischen Original (McCarthy 2005; im Folgenden im Fließtext zitiert als No Country) und 2008 unter dem Titel Kein Land für alte Männer in der deutschen Übersetzung erschienen Romans No Country for Old Men des amerikanischen Autors Cormac McCarthy (*1933) werde ich mich mit der Frage beschäftigen, wie Literatur die Übergänge zwischen “konkreten” Entitäten und ihrer Semiotisierung thematisieren kann; im speziellen werde ich ausführen, wie hier über den Umweg einer (Um-)Semantisierung des Konkretums “Gewalt” seine Ent-Semiotisierung vorgeführt wird. Ich stütze mich in meinen Ausführungen vor allem auf den Roman; die 2007 in die amerikanischen Kinos gekommene Verfilmung durch die Coen-Brüder (Coen 2007) werde ich ab und zu als Beispiel heranziehen, ohne auf Unterschiede zwischen Text und Film einzugehen. Im Großen und Ganzen hält sich der Film relativ genau an die narrativen Strukturen der Histoire und die Erzählsituation im Discours des Textes; alle meine interpretatorischen Beobachtungen und Folgerungen treffen daher aus meiner Perspektive auf die Diegese und die narrattiven Strukturen sowohl auf das Buch als auch auf den Film zu. Für die Frage nach der Semiotisierung von Gewalt können auch viele andere Bücher von Cormac McCarthy als Textgrundlage herangezogen werden, da in ihnen allen die Frage nach dem ontologischen und semiotischen Status von Gewalt in ähnlicher Weise gestellt und beantwortet wird: McCarthys Romane kreisen um die Frage, ob Gewalt ein Ausnahmefall ist, ein Betriebsunfall, der semiotisch darauf hinweist, dass irgend etwas in der Welt “nicht in Ordnung” sei, und der - wie es der klassische Krimi vorführt - möglichst schnell getilgt werden muss, oder ob Gewalt der Normalfall ist, ein nicht weg zu denkender oder weg zu diskutierender Bestandteil der Welt. Wer Cormac McCarthy kennt, ahnt, dass der Autor zur letzteren Antwort tendiert: Er ist bekannt für Geschichten eher düsterer Natur, und in vielen K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Michael Müller 346 seiner Texte ist Gewalt ein bestimmendes Merkmal der dargestellten Welt; am deutlichsten vielleicht in seinem Roman Blood Meridian (McCarthy 1985). 2. Plotstruktur In No Country for Old Men erzählt McCarthy die Geschichte von Llewelyn Moss. Dieser, ein Vietnamveteran, lebt 1980 (erzählte Zeit) in einem Trailerpark im Süden von Texas zusammen mit seiner jungen Frau Carla Jean. Bei einem Jagdausflug in die Wüste entdeckt er drei schwere Geländewagen, umgeben von mehreren Leichen. Einer der Pickups ist mit einer großen Menge Heroin beladen. In diesem Wagen sitzt ein überlebender Mexikaner, der Llewelyn um Wasser bittet, was ihm dieser abschlägigt. Llewelyn rechnet sich aus, dass es noch einen weiteren Mann geben muss, der das Geld aus diesem missglückten Drogendeal bei sich hat. Tatsächlich findet er diesen Mann ein Stück entfernt tot unter einem Baum, neben ihm einen Koffer mit mehreren Millionen Dollar. Llewelyn nimmt den Koffer an sich. In der Nacht beschließt er aus einem, wie sich zeigen soll, völlig unangebrachten Anfall von Nächstenliebe, dem angeschossenen Mexikaner Wasser zu bringen. Dabei wird er von Männern entdeckt, die offenbar zur amerikanischen Seite der Drogenkäufer gehören. Llewelyn kann gerade noch entkommen, muss aber seinen Pickup zurücklassen. Er weiß, dass nun die Uhr tickt: Spätestens am Montag früh, wenn das Zulassungsamt öffnet, werden die Drogenhändler über das Nummernschild seine Adresse herausbekommen. Er schickt seine Frau zu ihrer Mutter nach Odessa in Texas und begibt sich selbst auf die Flucht. Nun kommen die beiden anderen Hauptfiguren des Textes ins Spiel: Anton Chigurh, ein Killer, der von den amerikanischen Drogenkäufern beauftragt wird, das Geld wiederzufinden, aber als erstes die Abgesandten seines Auftraggebers erschießt und sich selbständig macht, nachdem er von ihnen einen elektronischen Empfänger bekommen hat, mit dem ein Sender im Geldkoffer geortet werden kann. Und Ed Tom Bell, der örtliche Sheriff, der in der Folge immer zu spät kommen wird. Die einzelnen Stationen der Verfolgung von Moss durch Chigurh seien hier übersprungen; irgendwann ist dann Llewelyn Moss nach einer Schießerei mit Chigurh verletzt in einer Klinik einer mexikanischen Grenzstadt. In einem Telefongespräch droht ihm Chigurh: Wenn er ihm das Geld nicht bringe, werde er seine Frau töten; er wisse, wo sie sei. Nach seiner Genesung versucht Moss, sich mit seiner Frau in einer anderen Stadt zu treffen; auf dem Weg dorthin wird er in einem Motel von Mexikanern erschossen. Wenig später kommt Chigurh, der ihm auf der Ferse geblieben ist, an den Tatort und holt das Geld, das Moss im Lüftungsschacht versteckt hat. Später taucht der Killer bei Moss’ Frau auf und erschießt sie mit der Begründung, er habe Moss sein Wort gegeben, sie zu erschießen, falls dieser ihm nicht das Geld aushändige. Als er mit dem Auto diesen Tatort verlässt, fährt ihm eine anderer Wagen in die Seite; er kann jedoch schwer verletzt fliehen. Alle Ermittlungen von Sheriff Ed Tom Bell führen ins Leere. 3. Der Diskurs über Gewalt Schon aus der Plotstruktur wird erkennbar, dass die Frage nach dem Status von Gewalt einen zentralen Diskurs des Textes formiert. Explizit geführt wird dieser in Monologen und Dialogen des alternden Sheriffs Ed Tom Bell in Ich-Form, implizit durch die narrative Struktur des Die ganz normale Gewalt 347 Abb. 1: Diskursthemen “Gewalt” in No Country for Old Men 1 Textes, der außerhalb der Sheriff-Monologe auktorial erzählt wird. Die Monologe des Sheriffs sind im Text deutlich durch Kursivdruck als innere Gedankenrede abgesetzt; im Film sind sie als Äußerungen anderer Gattung dadurch charakterisiert, dass sie aus dem Off kommen. Sowohl Film als auch Buch beginnen mit einem Monolog Bells, der die wichtigsten Themen dieses Diskurses beinhaltet: I sent one boy to the gaschamber at Huntsville. (…) He’d killed a fourteen year old girl (…). The papers said it was a crime of passion and he told me there wasnt no passion to it. He’d been datin this girl, young as she was. He was nineteen. And he told me that he had been plannin to kill somebody for about as long as he could remember. Said that if they turned him out he’d do it again. Said he knew he was goin to hell. Told it to me out of his own mouth. I dont know what to make of that. I surely dont. I thought I’d never seen a person like that and it got me to wonderin if maybe he was some new kind. (…) They say the eyes are the windows to the soul. I dont know what them eyes was the windows to and I guess I’d as soon not know. But there is another view of the world out there and other eyes to see it and that’s where this is goin.(…) Somewhere out there is a true and living prophet of destruction and I dont want to confront him. I know he’s real. I have seen his work. (…) I wont push my chips forward and stand up and go out to meet him. It aint just bein older. I wish that it was. (McCarthy 2005: 3f; Abweichungen vom Standard-Englisch im Original). Bereits in diesem Eingangsmonolog sind die zentralen Themen des Textes präsent: 1. Die Frage nach Sinn und Zweck von Gewalt bzw. der Einbindung von Gewalt in Zusammenhänge: Bell thematisiert dies am Beispiel des Mörders, den er einmal festgesetzt hat, der seine eigene Freundin umgebracht hat. 2. Die Frage nach einer temporalen Veränderung von Gewalt: Hat sich etwas verändert? Gibt es heute mehr Gewalt als früher oder ist dieser Eindruck nur dem eigenen Älterwerden zuzuschreiben? Oder gibt es heute andere Qualitäten von Gewalt, die es früher nicht gegeben hat? 3. Die Frage, ob Gewalt zeichenhaft für irgend etwas anderes steht, für eine Art Religion oder Ideologie der Gewalt: Bell spricht von einem “Propheten der Vernichtung”, der “da draußen” sei, und dessen Werke er gesehen habe. Die Gewalttaten sind es in diesem Kontext, die auf etwas anderes verweisen, eine Schrift an der Wand, die offenbar einer nicht weiter spezifizierten Zeitenwende vorangehen. Getragen wird der explizite Diskurs im Wesentlichen vom Sheriff Ed Tom Bell, der eine Art Kommentatoren- oder Chronistenfunktion einnimmt. Tatsächlich ist der Sheriff auch vom Michael Müller 348 Abb. 2: Histoire und Discours: Umkehrung von Theorie und Praxis Gang der Ereignisse dazu verurteilt, sich auf die Rolle des Chronisten und Kommentators zu beschränken: Er kommt immer zu spät, ihm gelingt es weder, einen Mord zu verhindern, noch ihn aufzuklären. Er ist also der ohnmächtige Beobachter der Geschehnisse. Und das, obwohl er als “Sheriff” sowohl nach der kulturellen Klassifikation als auch nach den genretypischen Regeln des Thrillers derjenige sein sollte, der Normverstöße verhindert, Verbrechen aufklärt und durch das Ausschalten von Tätern Ordnungsstörungen tilgt. Diese drei Fragenkomplexe zur “Gewalt” ziehen sich durch den gesamten Text: explizit innerhalb der Monologe des Sheriffs, implizit durch die Ereignisse. Am Ende werden die mehr oder weniger explizit gestellten Fragen mehr oder weniger implizit beantwortet sein. Durch mehrere Merkmale macht der Text klar, dass die Monologe des Sheriffs erst nach dem Ende der erzählten Zeit entstanden sind: Sie sind der hilflose Versuch, den Geschehnissen nachträglich einen Sinn zu geben, sie einzuordnen. Im Discours präsentiert werden sie jedoch stückweise immer wieder als Einschub. Und da der Text mit einem Monolog des Sheriffs beginnt, funktionalisiert er letztlich die Ereignisse der Histoire als Kommentare zu den Monologen des Sheriffs. Histoire und Discours verhalten sich also wie Theorie und Praxis im Sinne einer Datengewinnung bzw. -messung: Während der Sheriff seine Theorie nach Beendigung der Datensammlung - also nach Ende der Ereignisse der Histoire - produziert, wird diese Theorie im Discours gewissermaßen wie im Prozess des Entstehens präsentiert: Theorem - Datenmessung - Theorem - Datenmessung etc. Man könnte also sagen, dass das spezifische Verhältnis von Discours und Histoire hier vorführt, wie “Abstraktes” - die Theorie - und “Konkretes” - die Ereignisse - in Relation gesetzt werden. Durch die Syntagmatik - sowohl Buch als auch Film beginnen mit einem Sheriff-Monolog - wird die ursprüngliche Reihenfolge von Faktum und Kommentar gewissermaßen umgekehrt: Jetzt kommentiert nicht mehr die Theorie die Ereignisse, sondern die Ereignisse die Theorie. Wie unten gezeigt wird, falsifizieren in einigen zentralen Punkten die Ereignisse zumindest potenzielle Theoreme des Sheriffs. Diese sind immerhin die Theoreme derjenigen Figur, die im Text qua Amt das gesellschaftliche System repräsentiert. Die ganz normale Gewalt 349 Abb. 3: Jäger vs. Schlächter 4. Die Darstellung von Gewalt “Gewalt”, insofern sie in No country dargestellt wird, ist im Wesentlichen extensional gleichbedeutend mit “Töten”: Alle Akte von Gewalt, die im Text vorkommen, haben das Ziel zu töten; wenn Menschen durch Gewalteinwirkung “nur” verletzt werden, sind das missglückte Morde. Diese Maximalvariante der Gewalt wird von Figuren wie Chigurh auch immer dann angewendet, wenn sie faktisch gar nicht nötig wäre: Als er von einem Deputy verhaftet wird, befreit er sich, indem er den Deputy mit den Handschellen erwürgt, obwohl es genügt hätte, ihn etwa bewusstlos zu schlagen (McCarthy 2005: 5f). Der Text thematisiert damit Gewalt immer in ihrer Maximalvariante und signalisiert damit, dass es ihm in diesem Diskurs um die grundsätzliche Frage nach dem Stellenwert von Gewalt geht und nicht um eine Diskussion über Entstehung oder Eskalation von Gewalt. Gewalt ist in der Textlogik also nicht skalierbar, sondern in einer gegebenen Situation entweder in ihrer Maximalform oder gar nicht präsent. Gewalt entsteht nicht, sondern sie ist plötzlich da: Es gibt gewissermaßen in diesem Text nur eine binäre Entscheidung für Gewalt oder Nicht-Gewalt und damit für Töten oder Nicht-Töten. Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen qualitativen Varianten des Tötens im Text ist der zwischen dem Vorgehen des Jäger und dem des Schlächters, eine Opposition, die ziemlich früh im Text eingeführt wird. Diese Varianten des Tötens sind zwei Hauptfiguren zugeordnet: Moss wird bei seinem ersten Auftritt als Jäger eingeführt (er ist auf der Antilopenjagd), Anton Chigurh mordet, ebenfalls bei einem seiner ersten Auftritte, mithilfe eines Schlagbolzen-Apparats, wie er zum Töten von Schlachtvieh verwendet wird; diese spezielle Art des Tötens charakterisiert ihn als Schlächter. Da das “System Chigurh”, wie noch näher ausgeführt wird, das in der dargestellten Welt erfolgreiche System ist, wird die “Welt” - zumindest was die Art des Sterbens in ihr betrifft - als “Schlachthaus” semantisiert und nicht als “Jagdgrund”, was ja im Westen der USA - dem Schauplatz des Romans - eine historisch gängige Semantisierung wäre. Michael Müller 350 Eine weitere Implikation dieser Opposition ist: Bei der Jagd hat das Opfer potenziell eine Chance - auch Moss schießt eine Antilope nur an, sie kann verletzt fliehen -, im Schlachthaus dagegen nicht. Genau das führt die Histoire vor: Wer einmal als Opfer gekennzeichnet ist, hat keine Chance. Er wird sterben. Während Moss noch glaubt, in einer “Jagd” auf der Flucht zu sein, ist er in Wirklichkeit längst als Opfer im Visier des Schlächters Chigurh und hat keine Chance. Chigurh als Schlächter negiert sogar die Ökonomie: Auch wenn es ökonomisch sinnvoller für ihn wäre nicht zu töten, tötet er. Nur der Schlächter selbst kann eine Überlebenschance einräumen, er tut dies jedoch nur als sinnfreies Spiel: In einer Szene, die ansonsten keine Funktion für die Geschichte hat, zwingt Chigurh einen alten Tankstellenbesitzer, per Münzwurf um sein Leben zu spielen. Der Tankstellenbesitzer gewinnt und kommt mit dem Leben davon. Der Text macht unmissverständlich klar, dass Chigurh ihn bei einem anderen Ausgang des Spiels getötet hätte; gegen Ende des Textes spielt der das gleiche Spiel mit Llewelyns Frau, und diese verliert. Es ist der Zufall, eine Laune, die über Leben und Tod entscheidet. 5. Die Ethik der Gewalt Die Betonung des “sinnlosen” Zufall stellt einen weiteren wichtigen Aspekt des Eingangsmonologs des Sheriffs dar, nämlich die Frage nach dem “Sinn” von Gewalt bzw. die Frage nach der Einbindung von Gewalttaten in kausale Zusammenhänge. Hat Gewalt einen Zweck und ist einem Kausalzusammenhang untergeordnet oder ist sie vielmehr Selbstzweck? Sheriff Bell hatte bereits in dem oben zitierten Eingangsmonolog (McCarthy 2005: 3) von dem Mord an einem vierzehnjährigen Mädchen berichtet, der offenkundig nicht aus einem bestimmten Grund begangen wurde, außer eben dem, einen Mord zu begehen. Dies widerspricht dem gängigen Interpretationsrahmen, nach dem Morde bzw. Gewalt stets zweckgebunden sind und kausal durch ein Motiv des Täters begründet werden. Beispielhaft zeigt dieses gängige Interpretationsschema der im Text präsentierte öffentliche Diskurs mittels der Zeitung, die über die Ursachen des Verbrechens spekuliert. Die angebliche Leidenschaft als Tatmotiv ist dabei eher ein Verlegenheitsmotiv der Öffentlichkeit; Gewalt um ihrer selbst willen ist zunächst undenkbar (“The papers said it was a crime of passion”; McCarthy 2005: 3). Auch für Chigurh haben “Gewalt” bzw. Mord ihren Zweck allein in sich Er tötet zwar auch zielgerichtet, etwa um sich aus dem Gefängnis zu befreien oder um an ein Auto zu kommen. In anderen Fällen, und das sind die für den Text entscheidenden, tötet er jedoch, ohne einen objektivierbaren Nutzen daraus zu ziehen: In der beschriebenen Szene mit dem Tankstellenbesitzer hätte er getötet, wenn die Münze anders gefallen wäre, und er hätte damit jemanden getötet, der überhaupt nichts mit den eigenen Zielen zu tun hat. Wie bereits angedeutet, ist diese Szene für die eigentliche Histoire vollständig irrelevant; sie trägt nichts zum Fortgang der Handlung bei der Suche nach dem Drogengeld bei. Die Existenz dieser Szene weist damit auf eine andere Funktion hin: Sie dient im Discours der frühzeitigen Charakterisierung der Gewalt-Konzeption Chigurhs: Gewalt erhält ihre Legitimation allein als Selbstzweck. Besonders deutlich wird diese Konzeption in einer signifikanten Szene gegen Ende der Histoire: Chigurh hat Moss damit gedroht, dessen Frau umzubringen, wenn er ihm das Drogengeld nicht übergebe, was Moss bis zuletzt nicht tut. Die Geschichte ist eigentlich zu Ende, Moss ist tot und Chigurh hat das Geld längst in seinen Händen, als er Moss Witwe einen Besuch abstattet. Er erläutert ihr, warum er sie erschießen müsse, obwohl er dadurch nichts mehr zu gewinnen oder zu verlieren hat: Er habe Moss sein Wort gegeben: Die ganz normale Gewalt 351 You give your word to my husband to kill me? Yes. He’s dead. My husband is dead. […] Yes. But my word is not dead. Nothing can change that. You can change it. I don’t think so. Even a nonbeliever might find it useful to model himself after God. Very useful, in fact. […] She looked at him a final time. You dont have to, she said. You dont. You dont. He shook his head. You’re asking that I make myself vulnerable and that I can never do. I have only one way to live. It doesnt allow for special cases. A coin toss perhaps. […] You are asking that I second say the world. Do you see? Yes, she said, sobbing. I do. I truly do. Good, he said. That’s good. Then he shot her. (McCarthy 2005: 257 ff). Deutlich wird hier noch einmal: Der Mord an Carla Jean ist nach der gängigen Rationalität des Mordens, nach der Morde einen bestimmte Zweck erfüllen oder in die Kausalität eines Handlungszusammenhangs eingebunden sein müssen, völlig sinnlos. Das Geld hat Chigurh längst, alle anderen Beteiligten sind tot und Carla Jean ist keine Mitwisserin oder Rivalin, die Chigurh in irgendeiner Form gefährlich werden könnte. Dementsprechend tötet Chigurh auch nicht aus Leidenschaft oder sonst einer emotionalen Aufwallung. Für den Mord an Carla Jean gibt es also im gängigen kulturellen Kontext keinen Grund, was Chigurh im Gespräch mit ihr auch durchaus zugibt. Als Grund für den Mord gibt er an, er habe Moss sein Wort gegeben. Auch dies ist im gängigen kulturellen Wertsystem kein hinreichender Grund: Den Normverstoß des Wortbruchs durch den sehr viel gravierenderen des Mordens vermeiden zu wollen, ist in der normalen Ökonomie der Werte nicht nachvollziehbar. Daraus ergeben sich zwei Folgerungen: a) Im Wertsystem Chigurhs ist Mord kein oder aber ein sehr viel geringerer Normverstoß als das Brechen eines Versprechens. b) Für Chigurh ist Mord niemals nur Mittel, sondern immer auch Zweck: Er verfolgt damit gewissermaßen eine pervertierte Form einer kantischen Ethik des Mordens. Die letztere Folgerung wird durch zahlreiche andere Szenen gestützt, in denen Chigurh immer auch den Mord als Selbstzweck einplant: In der Szene mit dem Tankstellenbesitzer zum Beispiel oder noch in einer weiteren Szene, in der einem Mord eine Diskussion zwischen Opfer und Täter vorangeht. Hier ist der Hintergrund, dass die amerikanischen Drogenkäufer, die zunächst Chigurh engagiert hatten, diesen wieder loswerden wollen und deshalb einen Ex- Army-Colonel namens Wells auf ihn ansetzen, der zugleich das Geld wiederbeschaffen soll. Dieser tappt aber Chigurh in die Falle; zwischen den beiden entspinnt sich ebenfalls ein Gespräch über den Sinn des Mordens. Wells bietet Chigurh Geld an, wenn er ihn laufen lasse, doch auch ökonomische Motive treiben ihn nicht an, wie aus seiner Ablehnung hervorgeht. Wie schon Carla Jean plädiert auch Carson Wells, dass es Alternativen zum Mord gäbe (McCarthy (2005: 175): “you must not do this”) und wie Carla Jean bezeichnet er Chigurh als “verrückt”, weil er ganz offensichtlich mit seinem Wertsystem dem allgemein üblichen widerspreche. In dieser Szene versteht Chigurh diesen Vorwurf auch genau in diesem Sinne. Er antwortet: “If the rule you followed led you to this of what use was the rule? ” (McCarthy 2005: 175). Chigurh weiß also, dass er ein anderes Modell von Realität (eine andere “Regel”) hat als Wells (und alle anderen Figuren), hält diese aber für zutreffender - realitätsadäquater - und erfolgreicher: Schließlich hat er die Waffe in der Hand und der andere ist das Opfer in Michael Müller 352 Abb. 4: Diskursthemen “Gewalt” in No Country for Old Men 2 spe. Die Histoire gibt Chigurh dabei Recht: Er ist - mit Ausnahme des zur Einflusslosigkeit verurteilten Sheriff - derjenige, der überlebt; alle anderen, die ein von seinem abweichendes Realitätskonzept haben, sind entweder tot oder resignieren. Das heißt, der Text setzt implizit Chigurhs Realitätskonzeption als die überlegene. Was bedeutet dies nun? Um dies zu beantworten müssen wir auf den expliziten Diskurs über Gewalt zurückkommen, der im Text geführt wird. Wie eingangs schon bemerkt, hat dieser neben der Frage nach dem Status von Gewalt zwei weitere Dimensionen: a) Die erste Dimension ist die Frage nach der Temporalisierung von Qualitäten oder Quantitäten von Gewalt: Ist die Gewalt heute anders als früher? Gibt es heute mehr Gewalt als früher? b) Die zweite Dimension ist die Frage nach der Semiotik von “Gewalt”: Hat die Gewalt, die erlebt wird, eine Bedeutung? Ist sie selbst oder ihre qualitative oder quantitative Zunahme ein Zeichen für irgendetwas? Die Frage nach der quantitativen Zunahme von Gewalt beantwortet der Text implizit negativ. Es gibt grundsätzlich keine Zunahme von Gewalt; Gewalt war immer gleich präsent. Dies wird vor allem auch durch mehrere eingeflochtene, parallele Geschichten verdeutlicht, die die ständige Präsenz von Gewalt auch in früheren Zeiten belegen und die der Sheriff mit einem alten Verwandten austauscht. Die Frage, ob sich die Qualität von Gewalt geändert hat, wird durch mehrere Textelemente ebenfalls negativ beantwortet. Allein schon die Geschichte, die der Sheriff selbst über den Jungen erzählt, den er auf den elektrischen Stuhl gebracht hat, zeigt, dass es Mörder, für die der Mord Zweck und nicht nur Mittel ist, also Mörder vom Schlage Chigurhs, auch schon früher gegeben hat. Bells alter Verwandter erzählt die Geschichte, wie einer seiner Vorfahren 1879 von einer Bande auf seiner Veranda zusammengeschossen wurde, ohne dass es einen Grund dafür gab (vgl. McCarthy 2005: 269f.). Der zweite Fragenkomplex, ob Gewalt zeichenhaft für etwas anderes stehe, wird offen mit negativer Tendenz beantwortet: Es könnte zwar sein, dass, falls es eine Zunahme an Gewalt gäbe, diese zeichenhaft für den soziokulturllen Niedergang und sogar Untergang stehen könnte, doch genau wissen kann man das nicht. Niemand, inklusive des Sheriffs, kennt das Signifikat des Signifikanten “Gewalt”, und damit ist “Gewalt” entweder kein Zeichen, oder es ist eines in einem Kode, der unbekannt ist. Die Diskursentscheidungen, die in Abb. 1 an der Oberfläche der Histoire als Alternativen dargestellt wurden, lassen sich also in der Tiefenstruktur der Diegese folgendermaßen präzisieren: Die ganz normale Gewalt 353 Abb. 5: De-Semiotisierung von “Gewalt” 5. Semiotisierung und De-Semiotisierung von Gewalt Die Versuchanordnung des Textes, in der die Ereignisse der Histoire gewissermaßen als faktische Kommentare zu den Diskursthemen des Sheriffs fungieren, erbringt also als Ergebnis die Falsifikation bestimmter Theoreme des Sheriffs, andere erweisen sich als kontingent und nicht entscheidbar. Das Modell von “Gewalt”, das sich im Text durchsetzt und das als das am meisten “realistische” gesetzt wird, ist das von Chigurh vorgelebte, das sich folgendermaßen zusammenfassen lässt: Gewalt/ Mord kann als Mittel zum Erreichen bestimmter Zwecke eingesetzt werden, ebenso aber auch als Zweck an sich. Letztlich ist Gewalt niemals nur Mittel, sondern immer auch Zweck. Gewalt hat keine Bedeutung, die über sie hinausweist. Sie ist ein konkreter, integraler Bestandteil der Welt und nicht aus ihr weginterpretierbar. Die Welt ist ein Schlachthaus, war immer ein Schlachthaus und wenn man Gewalt und Mord mit Euphemismen wie “Jagd” und “Krieg” versucht, semiotisch in den Griff zu bekommen, wird man der Realität nicht gerecht. Zusammenfassend kann man also sagen: Der Text betreibt systematisch, in der Relation von Kommentar (des Sheriffs) und Ereignissen der Histoire eine Um-Semantisierung von Gewalt, gefolgt von ihrer De-Semiotisierung. Das ursprünglich konkrete Faktum Gewalt steht am Ende, wenn es im Lauf der Erzählung von allen seinen kulturellen Semantisierungen und Merkmalszuschreibungen entkleidet wird, wieder als rein Konkretes da. Dieser Prozess der De-Semiotisierung lässt sich am besten in der Trennung unterschiedlicher Ebenen erläutern. Michael Müller 354 Auf einer angenommenen Ebene der außertextuellen Realität gilt die normale kulturelle Kodierung des konkreten Faktums Gewalt in derjenigen Kultur, der der Text angehört. Ein Phänomen wie “Gewalt” ist in den meisten Kulturen massiv mit semantischen Merkmalen, Konnotaten etc. aufgeladen, je nach Kultur oder Form der Gewalt mit positiven oder negativen. Solche kulturellen Kodierungen variieren von eher martialischen Systemen, die ein Ethos des Kriegers konstruieren, bis hin zu extrem pazifistischen Systemen, die Gewalt in jeder Form mit negativen Merkmalen belegen. In der Herkunftskultur von No Country ist jedenfalls Gewalt in der Form, wie sie im Text auftritt, extrem negativ bewertet und im literarischen Gewaltdiskurs auch massiv semiotisiert, was sich beispielhaft in den Monologen des Sheriffs widerspiegelt. Gewalt gilt Bell möglicherweise als Zeichen für die Zunahme des Bösen, für soziale Verwahrlosung, für Veränderungen in der Mentalität, etc. Auf der zweiten Ebene, der der dargestellten Welt des Textes, kommt “Gewalt” via Sprache als Zeichen vor. Innerhalb der erzählten Geschichte wird Gewalt jedoch als ein konkretes Faktum gesetzt, indem konkrete Morde an konkreten Menschen geschehen. Insgesamt bildet die dargestellte Welt in ihrem Nebeneinander von Sheriff-Diskurs und den Ereignissen der Histoire dabei die extratextuell-kulturelle Semiotisierung von Gewalt ab: Der Sheriff stellt angesichts von Gewalt genau diejenigen Fragen, die sich die Kultur auch außerhalb des Textes stellt, bzw. stellen könnte. Auf einer dritten Ebene, der des sekundären Kodes im Lotmanschen Sinn (Lotman 1972), wird “Gewalt” zu einem potenziellen sekundären Zeichen, also einem Zeichen, dem über die allgemeine kulturelle Kodierung noch weitere, textspezifische semantische Merkmale zugeschrieben werden. Der Roman nutzt die Möglichkeit der Bildung sekundärer Signifikate nicht dahingehend, zusätzliche Signifikatsmerkmale/ Konnotate mit Gewalt zu verknüpfen, sondern er negiert, bzw. löscht auch noch die im kulturellen Diskurs mit “Gewalt” verknüpften Konnotate bzw. Signifikatsmerkmale. Auf der Ebene des sekundären Kodes wird also in der oben beschriebenen “Versuchsanordnung” des Textes die De-Semiotisierung von “Gewalt” betrieben: Gewalt bleibt als konkretes Faktum und grundsätzliches Paradigma von Welt bestehen, das nicht durch Semiotisierung über sich hinausweist. Auf einer vierten Ebene, der der Relation zwischen Text und extratextueller Realität, fungiert der Text in seiner Herkunftskultur als ein Diskursbeitrag unter vielen. Der Beitrag, den No Country zu diesem Diskurs liefert, ist der der De-Semiotisierung von Gewalt. Der Text sagt damit aus, dass Gewalt letztlich ein konkretes Faktum sei, das in der Welt existiert, nicht für etwas anderes steht, sondern das nur auf sich selbst verweist. “Gewalt” ist nicht ein Zeichen für etwas anderes und ist daher auch nicht, etwa durch Beseitigung dieses “anderen” (z.B. sozialer Verwahrlosung, schlechter Erziehung, Armut, etc.) aus der Welt eliminierbar: Gewalt ist Gewalt, sie war immer da und wird immer da sein. Der Text ist also im außertextuellen kulturellen System ein Diskursbeitrag, der den Appell darstellt, Gewalt als das zu sehen, was sie (nach der Ideologie des Textes) ist: Ein konkreter Bestandteil der Welt, den man nicht durch Semantisierung und theoretische Einbindung in den Griff bekommen kann. Gewalt ist - so die These des Textes und auch des Films - kein Zeichen, sondern ein Konkretum. Die ganz normale Gewalt 355 Literaturverzeichnis Lotman, Jurij M. 1972: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink (= UTB 103). McCarthy, Cormac 1985: Blood Meridian Or The Evening Redness in the West, New York: Alfred A. Knopf. McCarthy, Cormac 2005: No Country for Old Men, New York: Vintage Books. [deutsch unter dem Titel Kein Land für alte Männer. Reinbek: Rowohlt 2008] Filmographie N O C OUNTRY FOR O LD M EN (USA 2007, Ethan und Joel Coen)