eJournals Kodikas/Code 32/3-4

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
Der Beitrag fasst das 'Konkrete' relational, als Resultante textinterner Prozesse von Bedeutungserzeugung. In Lenz' Komödie "Der Hofmeister" ist es in ein dramenspezifisches Spektrum an Referenzerzeugungen eingebettet, die sich aus den unterschiedlichen Bezügen zwischen Haupt- und Nebentext, zwischen Reden und Handeln der Dramenfiguren und zwischen auktorialer und figuraler Perspektive ergeben. Hier lassen sich – weitgehend unabhängig von Figuren und Themen – Inkonsistenzen im Sprachgebrauch ('authentische' vs. 'konventionalisierte' Rede). Probleme in der Deutung von 'Realität' (Wissen vs. Nichtwissen) und im Handeln in ihr (reden vs. handeln) beobachten. Diese Referenzpluralisierung wird einzig in der Liebeskommunikation der Kindergeneration (Läuffer/Gustchen, Läuffer/Lise) im wechselseitigen schweigenden Anschauen still gestellt. Das ermöglicht eine Umstellung des Verhaltens von Selbst- auf Fremdreferenz, die schließlich auch zum Handlungsmodell für die Elterngeneration wird. Gezeigt wird, dass diese Form der 'Konkretisierung' keine Sprach- oder Zeichenkritik übt, sondern dass sie in kontingente Ereignisfolgen und pluralisierten Zeichenprozesse involviert bleibt, für die das Drama insgesamt kein Erzählmodell zur Verfügung stellen kann.
2009
323-4

Sexualität und Gewalt im Spiegel von 'Reden' und 'Handeln': Textuelle Konkretisierungsverfahren zwischen Zeichendeutung und Referenzialisierung in der Komödie Der Hofmeister von J.M.R. Lenz

2009
Andreas Blödorn
Madleen Podewski
Sexualität und Gewalt im Spiegel von ‘Reden’ und ‘Handeln’: Textuelle Konkretisierungsverfahren zwischen Zeichendeutung und Referenzialisierung in der Komödie Der Hofmeister von J.M.R. Lenz Andreas Blödorn & Madleen Podewski Der Beitrag fasst das ‘Konkrete’ relational, als Resultante textinterner Prozesse von Bedeutungserzeugung. In Lenz’ Komödie Der Hofmeister ist es in ein dramenspezifisches Spektrum an Referenzerzeugungen eingebettet, die sich aus den unterschiedlichen Bezügen zwischen Haupt- und Nebentext, zwischen Reden und Handeln der Dramenfiguren und zwischen auktorialer und figuraler Perspektive ergeben. Hier lassen sich - weitgehend unabhängig von Figuren und Themen - Inkonsistenzen im Sprachgebrauch (‘authentische’ vs. ‘konventionalisierte’ Rede), Probleme in der Deutung von ‘Realität’ (Wissen vs. Nichtwissen) und im Handeln in ihr (reden vs. handeln) beobachten. Diese Referenzpluralisierung wird einzig in der Liebeskommunikation der Kindergeneration (Läuffer/ Gustchen, Läuffer/ Lise) im wechselseitigen schweigenden Anschauen still gestellt. Das ermöglicht eine Umstellung des Verhaltens von Selbstauf Fremdreferenz, die schließlich auch zum Handlungsmodell für die Elterngeneration wird. Gezeigt wird, dass diese Form der ‘Konkretisierung’ keine Sprach- oder Zeichenkritik übt, sondern dass sie in kontingente Ereignisfolgen und pluralisierte Zeichenprozesse involviert bleibt, für die das Drama insgesamt kein Erzählmodell zur Verfügung stellen kann. In this article, the ‘concrete’ is understood as a relational category, as the result of intratextual processes of meaning constitution. In Lenz’ comedy Der Hofmeister it stands in relation to various modes of reference constitution which are specific to drama, such as the relationship between primary text and stage directions, between speech and action, and between authorial and figural perspectives. In this play, inconsistencies in the use of language (‘authentic’ vs. ‘conventionalised’), difficulties in interpreting reality (‘knowledge’ vs. ‘ignorance’), and contrasting ways of relating to reality (‘talking’ vs. ‘acting’) can be observed - irrespective of themes and figures. It is only the second generation (Läuffer/ Gustchen, Läuffer/ Lise) who interrupt the resulting diversification of references in their erotic dialogues through their mutual and silent gazes. Thus, a switch from self-reference to external reference is made possible, which eventually becomes a behavioural model for the parents as well. It is argued, that this sort of ‘concreteness’ is no means of a fundamental language scepticism but that it remains embedded in a chain of accidents and in multiplied processes of signification for which this play does not provide a narrative model. Fritz und Gustchen, Cousin und Cousine, schwören sich allzu früh ewige Treue; der Hofmeister Läuffer verführt das ihm anbefohlene Gustchen; der wütende Vater schießt auf den Verführer seiner Tochter; die stürzt sich nach der Geburt ihres Kindes aus Verzweiflung in einen Teich; ihr Vater kommt ihr in letzter Sekunde zu Hilfe; Cousin und Cousine finden so K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Andreas Blödorn & Madleen Podewski 312 schließlich doch noch zueinander; der Verführer Läuffer aber kastriert sich selbst und findet dennoch seine große Liebe in der Dorfschönen Lise, die ohnehin auf Sexualität verzichten und keine Kinder haben möchte, weil sie genug “Enten und Hühner” 1 (89) zu füttern hat. Damit nicht genug: in Jakob Michael Reinhold Lenz’ im Untertitel als “Komödie” 2 bezeichnetem Drama Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung (1774) droht der Vater zudem seinem ungelehrigen Sohn, “ich will dich peitschen, dass dir die Eingeweide krachen sollen” (10), “ich zerbrech dir dein Rückenbein in tausend Millionen Stücken” (10) und “Ich will dich zu Tode hauen” (11). Gewalt und Sexualität werden im Hofmeister mithin nachdrücklich präsent gehalten. Doch bei Lenz wird von all dem (beinahe) nichts gezeigt, besprochen dafür umso mehr. Einzig der Schuss auf den Verführer Läuffer wird handelnd auf der Bühne vollzogen und findet seinen Niederschlag in Haupt- und Nebentext: “MAJOR (mit gezogenem Pistol). Dass dich das Wetter! […] (Schießt und trifft Läuffern in Arm, der vom Stuhl fällt.)” (59). Die Androhung von Gewalt gegen den Sohn aber bleibt bloße Rede, und die (für die verhandelte Moral zentrale) Kastrationsszene wird lediglich nachträglich berichtet. Die sprachliche ‘Entdeckung’ der Kastrationshandlung ersetzt hier die körperlichreale ‘Ent-Deckung’ der Kastration, die auf der Handlungsebene verweigert wird, wenn der geständige Läuffer die Laken nicht aufdecken will: “Liegt Euch was auf dem Gewissen? Sagt mir’s, entdeckt mir’s unverhohlen. […] Was verzerrt Ihr denn die Lineamenten so -“ (73). Und als Läuffer seiner geliebten Lise verrät “ich kann bei dir nicht schlafen” (89), da antwortet diese nur: “So kann Er doch wachen bei mir, […] - Denn bei Gott! ich hab ihn gern.” (89). Sexuelle und gewalttätige Handlungen (bzw. deren Unterlassung) stehen in Lenz’ Hofmeister also im Mittelpunkt der Rede - im eigentlichen Sinne gehandelt wird davon jedoch wenig. Vor diesem Hintergrund wollen wir die Frage nach der ‘Konkretisierung’ im semiotischen Sinne präzisieren und dabei auf doppelte Weise fassen: 1. Zum einen formulieren wir mit Blick auf Gattungsspezifika die Frage nach der textinternen Produktion von ‘Konkretem’ als Frage nach gattungsspezifischen Erzeugungsformen von Referenz. Dramentexte präsentieren Figurenrede in den meisten Fällen direkt und ohne den Filter einer vermittelnden Kommunikationsinstanz; der Nebentext kann außerdem Informationen liefern, die nicht zum Sprachkode der Dramenfiguren gehören (zu Mimik, Gestik, Proxemik, Kleidung, Raum, Zeit). Mit der Kombination dieser beiden funktional aufeinander bezogenen Textsorten verfügen dramatische Texte über die Möglichkeit, Signifikationen über das Zusammenspiel von figuraler und auktorialer Ebene zu gestalten, d.h. über die Relationierung unterschiedlicher, hinsichtlich Fiktionalität und Geltungsanspruch zu trennender Sprecherpositionen im äußeren (Nebentext) und inneren Kommunikationssystem (Figurenrede) des Dramas. Das wiederum eröffnet Möglichkeiten zu breit gestreuten Formen drameninterner Referenz: Die Reichweite bewegt sich hier von einer handlungsbegleitenden Referenzialisierung durch den Nebentext, die im direkten Bezug auf die gerade stattfindende Aktion gewissermaßen vorgeführt (und dann beglaubigt, komplettiert oder kontrastiert) wird, bis hin zur narrativen und figurengebundenen Vermitteltheit von ansonsten nicht präsentem Geschehen (z.B. via Botenbericht oder Teichoskopie; vgl. Pfister 1988: 73ff.). Hier lässt sich zunächst einmal festhalten, dass Nebentext im Hofmeister nur sehr sparsam eingesetzt wird und die Informationsvergabe über die drameninterne Welt also hauptsächlich der Figurenrede anvertraut ist. Der Nebentext beschränkt sich zudem fast ausschließlich auf gestische und proxemische Anweisungen; Zeit und Raum, Kleidung und Mimik bleiben ebenso unspezifisch wie Angaben über den emotionalen Zustand der Figuren fast völlig Sexualität und Gewalt im Spiegel von ‘Reden’ und ‘Handeln’ 313 fehlen (vgl. dazu auch Schulz 1994: 193ff.). Dies bedeutet insbesondere, dass auch eine ganze Reihe von zentralen, den Geschehensverlauf bestimmenden Handlungen nicht direkt in der dramatischen Aktion, sondern über Figurenrede vermittelt, nicht aber als Handlung gezeigt und durch Regieanweisungen auktorial präzisiert werden. Das betrifft auch den Komplex ‘Sexualität’: Von der Kastration erzählt Läuffer beispielsweise nachträglich: “Ich habe mich kastriert …” (73); gleiches gilt für das eheliche Paarungsverhalten des Majors, über das dem Grafen Wermuth von der Majorin berichtet wird: Neulich hatt er wieder einmal den Einfall bei mir zu schlafen, und da ist er mitten in der Nacht aus dem Bett aufgesprungen und hat sich - He he, ich sollt's Ihnen nicht erzählen, […] Auf die Knie niedergeworfen und an die Brust geschlagen und geschluchzt und geheult, dass mir zu grauen anfing (36). Ebenso erfährt man von Pätus’ nächtlichem Überfall auf die Musikertochter erst in der Auseinandersetzung zwischen Fritz und Rehaar, auch Gustchens ‘Schändung’ ist nur in der abgebrochenen und ausgedeuteten Rede zwischen Majorin und Major präsent: “MAJORIN. Deine Dochter - Der Hofmeister. - Lauf! […] MAJOR. Hat er sie zur Hure gemacht? ” (44). Das mag noch als Rücksichtnahme auf zeitgenössische Darstellungstabus verrechnet werden, diese Art der Geschehensvermittlung gilt gleichwohl auch für andere, nicht mit solchen Tabus belegte Bereiche, so dass hier von einem texttypischen (und von der Thematik emanzipierten) Verfahren ausgegangen werden kann: Über den von Hunden verfolgten Pätus im Wolfspelz etwa wird in II, 4 von Jungfer Knicks berichtet und über Fritzens studentische Ausschweifungen wird der Vater in einem vorgelesenen Professorenbrief informiert (IV, 1). Ähnliches gilt für Läuffers Dasein als Hauslehrer (II, 1) sowie für Gustchens Selbstmordversuch inklusive Rettung. Dementsprechend wird das Rettungsgeschehen ganz hinter die Szene verlagert, ein Augenzeugenbericht wird nur vermittelt wiedergegeben (und dies ausgerechnet durch eine blinde Alte), und die Verleumdung Fritzens erfolgt durch einen nur vorgelesenen Brief Seiffenblases. Auffällig ist ebenso, dass über Aussehen, Emotionen und Verhalten von Figuren nicht im Nebentext informiert wird, sondern wiederum durch die Figurenrede (vgl. dazu auch Schulz 1994: 195). So ‘beredet’ der Major die Wirkungen seiner brachialen Erziehungsmethoden (“Seht da zieht er das Maul schon wieder. Bist empfindlich, wenn Dir Dein Vater was sagt? ”; 10) und der Graf Wermuth das veränderte Aussehen des Majors (“In der Tat, Herr Major, Sie haben noch nie so übel ausgesehen, blass, hager”; 37). Eine solche Organisation der Informationsvergabe führt im ersten Fall, d.h. im von den Figuren nachträglich erzählten Geschehen, zu einer sprachlichen ‘Überdeckung’ der Handlung, die nicht aus übergeordneter auktorialer Sicht, quasi a-perspektivisch (‘nullfokalisiert’) und nicht als direktes und innerhalb der dramatischen Welt unmittelbar präsentes Geschehen konkretisiert, sondern vielmehr figurenperspektivisch eingebunden und verbal vermittelt wird. Im zweiten Fall, der Begleitung von Handlungen durch Figurenrede, ergeben sich durch die Parallelisierung von Sprache und Physiognomie Redundanzen, die wiederum auf die unverzichtbare Relevanz einer verbalen Sprache verweisen, in welche die Körperzeichen erst einmal übersetzt werden müssen. Komplementär dazu verweist der Nebentext - und mit ihm eine Instanz, die innerhalb der drameninternen Kommunikation auf einer höheren Ebene angesiedelt sein muss - aber auch auf die Absenz von Sprache und damit auf deren Grenzen. So heißt es in der fünften Szene des zweiten Aktes - Gustchen und Läuffer befinden sich am und auf dem Bett in Gustchens Zimmer -: “GUSTCHEN: Grausamer, und was werd ich denn anfangen? (Nachdem beide eine Zeitlang sich schweigend angesehen.)” (34). Das wortlose Anschauen wiederholt sich darauf: “LÄUFFER (küsst ihre Hand lange wieder und sieht sie Andreas Blödorn & Madleen Podewski 314 eine Weile stumm an)” (35). Ähnliches findet sich in der Konstellation Läuffer/ Lise, hier bleibt Läuffer “in tiefen Gedanken sitzen” und sieht Lise “eine Weile verwirrt an” (85), während sie ihm zuvor “lang stillschweigend” zugesehen hat (85). 2. Zum zweiten betrachten wir hinsichtlich der Ausgangsfrage nach ‘Konkretisierungsverfahren’ auf der Handlungsebene des Stückes auch das Verhältnis zwischen Sprache und Handlung als Vorgabe für Möglichkeiten der Referenzerzeugung. Auffällig im Hofmeister ist, dass vor allem die im Bereich Erziehung, Gewalt und Sexualität figural explizit verhandelten Werte und Normen im Handlungsverlauf durch das vorgeführte Verhalten der Figuren widerlegt werden. Und das betrifft bemerkenswerter Weise alle Figuren des Textes, so dass es als eine Regularität der dargestellten Welt an sich gelten muss, dass Figurenrede und Figurenhandeln in diesen Bereichen einander nicht nur prinzipiell widersprechen, sondern dass Handlung vielmehr auch als Falsifizierung moralischer Rede etabliert wird. Was von den Figuren als Moral zunächst ideell-theoretisch etabliert und kommuniziert wird, erweist sich folglich im Moment ihrer ‘Übersetzung’ in die Realität der dargestellten Handlungswelt als unhaltbar. Neben den skizzierten verschiedenen Formen sprachlichen Realitätsbezugs wird damit auch der Zeichengebrauch - die Referenzerzeugung im Spannungsfeld von ‘reden’ vs. ‘handeln’ - als eines der Grundprobleme der dargestellten Welt des Hofmeister positioniert. Wie wir unten noch zeigen werden, ist genau an diesen Gegensatz von ‘reden’ vs. ‘handeln’ dann auch die Änderung des Figurenverhaltens am Ende des Dramas gekoppelt; denn die drameninterne, veränderte Realität ‘zwingt’ die Figuren, ihren zentralen Argumentationsmodus von der Selbstreferenz auf Fremdreferenz umzustellen: Nicht länger die eigene Erfahrung und die eigenen Normen und Wertvorstellungen erweisen sich am Ende als maßgeblich, sondern allein die Akzeptanz des davon abweichenden ,Anderen’ ermöglicht den Figuren das Bestehen in einer veränderten Realität (beispielsweise die schließlich freudige Akzeptanz der Heirat von Fritz und Gustchen durch deren Vater). Aus diesen Ausgangsbeobachtungen wird bereits deutlich, dass das Drama ein ganzes Spektrum von Formen, Reichweiten und Problematisierungen sprachlicher Referenzialisierung und damit auch der Kommunikationen und Handlungen zeigt, die an einen solchermaßen vervielfältigten Sprachgebrauch gebunden sind. In solche Referenzpluralisierungen sind die zentralen thematischen Komplexe von Lenz’ Drama - das Dreieck von Erziehung, Gewalt und Liebe/ Sexualität - auf signifikante Weise involviert. Damit verhandelt der Text nicht einfach nur das, worüber auch seine Figuren reden (Gewalt, Sexualität, Familie, Ehe, Erziehung, Moral etc.); mit der Vorführung eines Nebeneinanders verschiedener Formen gelingender und nicht gelingender Referenzerzeugung verhandelt er vor allem und grundsätzlich Zeichenprobleme: Probleme der sprachlichen Repräsentierbarkeit von ‘Realität’, des Wissens über sie und des Handelns in ihr. 3 Was das für die literarische Diskursivierung von Gewalt und Sexualität bedeutet, wollen wir an vier ausgewählten Problemkomplexen genauer zeigen: (I) Zeichendeuten, (II) Wissen vs. Nicht-Wissen, (III) ‘Authentizität’ vs. ‘Konventionalität’, (IV) Reden vs. Handeln. I.) Zeichendeuten Auffällig häufig sind fast alle Figuren des Dramas damit beschäftigt, beobachtete Realität sprachlich zu erfassen und dabei zum Zeichen zu machen, dessen Bedeutung erschlossen werden muss. Wo das gelingt, wird gewissermaßen vorgeführt, wie in einer Art ‘Entdekkungsprozess’ Referenz hergestellt wird: Wenzeslaus etwa ‘beredet’ in V, 3 Läuffers Physiognomie (“Ihr blickt so scheu umher […]. Was verzerrt Ihr denn die Lineamenten so”), die er Sexualität und Gewalt im Spiegel von ‘Reden’ und ‘Handeln’ 315 konjunktivisch selbst deutet (“Als ob er jemand totgeschlagen hätte”), um mit der Bitte um ‘Entdeckung’ (“entdeckt mirs unverhohlen”) von Läuffer das richtige Signifikat benannt zu bekommen: “Ich habe mich kastriert” (73). Die semiotische Arbeit kann aber auch zu unaufgelösten Deutungskonkurrenzen führen, wie etwa die Diskussion um das veränderte Aussehen des Majors in II, 6 zeigt: Graf Wermuth ahnt zwar, dass dessen Körperzeichen auf ein psychisches Signifikat deuten (“Sie haben noch nie so übel ausgesehen, blass, hager. Sie müssen etwas haben, das Ihnen auf dem Gemüt liegt”), fordert aber gleichfalls eine präzisierende Referenzialisierung ein: “was bedeuten die Tränen in Ihren Augen, sobald man Sie aufmerksam ansieht? ” (37). Die gibt sowohl die Majorin (“Geiz, nichts als der leidige Geiz”) als auch der Major selbst: “Ich muss wohl schaffen und scharren, meiner Tochter einen Platz im Hospital auszumachen.” (37) Ebenso (und häufiger) aber können solche Referenzialisierungsversuche scheitern: So nimmt Gustchen zwar bestimmte Veränderungen an Läuffer wahr, versteht sie aber nicht (“Aber was fehlt Ihnen denn? Sagen Sie mir doch! […] Die Augen stehn Ihnen ja immer voll Wasser”; 26), die Majorin kann die Gründe für die Veränderungen im Wesen des Majors nicht angeben (“Weiß es der Himmel”; 36), der Major wiederum nicht für diejenigen Gustchens (“Ihre Gesundheit ist hin, ihre Munterkeit, ihre Lieblichkeit, weiß der Teufel, wie man das Dings all nennen soll”; 43). Der Arzt schließlich, der Läuffers Schussverletzung untersuchen soll, verweigert geradezu die Referenzialisierung der Symptome mit Bezug auf die Gefährlichkeit der Verletzung: “Es ließe sich viel drüber sagen - nun doch wir wollen sehen - am Ende wollen wir schon sehen”, und: “Ja die Wunde ist, nachdem man sie nimmt - Wir wollen sehen, wir wollen sehen.” (61). II.) Wissen vs. Nicht-Wissen Eng damit verbunden wird ein großer Teil der Handlungen, wie wir festgestellt haben, in Figurenrede präsentiert und bleibt damit figurenperspektivisch gebunden. Innerhalb der Logik dramatischer Informationsvergabe und vor der Folie der direkten szenischen Präsentation können solche Reden nur einen reduzierten Wahrheitsanspruch erheben. Der Hofmeister verfügt im Wesentlichen über zwei Optionen, den ‘Realitätsgehalt’ von Figurenaussagen zu überprüfen und damit gesichertes ‘Wissen’ herzustellen: durch die Bestätigung bzw. Falsifizierung innerhalb der Figurenrede sowie in Kombination mit der szenischen Präsentation der fraglichen Handlung. So erweist sich der - doppelt, d.h. durch die Nacherzählung eines Briefinhaltes in V, 4 vermittelte - Bericht Rehaars über die “Höflichkeiten” Seiffenblases seiner Tochter gegenüber als falsch, weil in der folgenden Szene der Geheime Rat von Seiffenblases wahren Absichten erzählt. Gustchens Selbstmordversuch und ihre Rettung werden in IV, 4 und IV, 5 vorgeführt; alle weiteren Informationen erweisen sich auf diese Weise als falsch, so etwa Marthes Aussage: Weil sie tot ist, das gute Weib […]. Ein Arbeitsmann vom Hügel ist mir begegnet, der hat sie sich in Teich stürzen sehen. Ein alter Mann ist hinter ihr drein gewesen und hat sich nachgestürzt; das muss wohl ihr Vater gewest sein (70) und auch der Brief Seiffenblases: so werden Sie auch wohl den Unglücksfall nicht wissen mit dem Hofmeister, welcher aus Ihres gnädigen Onkels Hause gejagt worden, weil er Ihre Kusine genotzüchtigt, worüber sie sich so zu Gemüt gezogen, dass sie in einen Teich gesprungen (77). In beiden Beispielen ergibt sich die Falschheit der erzählten Ereignisse durch den Wissensvorsprung auf der auktorialen Ebene im äußeren Kommunikationssystem. Pätus zweifelt Andreas Blödorn & Madleen Podewski 316 allerdings auch als drameninterne Figur an der Richtigkeit von Seiffenblases Nachricht über Gustchens Tod (“wir müssen mehr Bestätigung haben”; 78) und schlägt als Kontrolltechnik die eigene Besichtigung vor Ort vor. Hier und in zahlreichen weiteren Passagen zeigt sich, dass die oben skizzierten Zeichendeutungsprobleme im Kontext des grundlegenderen Problems von Wissensproduktion stehen, das in auffälliger Rekurrenz auch auf der Figurenebene artikuliert wird: Immer wieder wird von den Figuren auf den Stand des eigenen oder fremden Wissens bzw. Nicht-Wissens hingewiesen, allein 19-mal fällt der Satz “ich weiß nicht”; die Thematisierung positiven Wissens aber erfolgt noch weit häufiger (z.B. “Ich weiß”, “Sie wissen ja”, “ich glaube”, “was wissen die Weiber! ”, “wer weiß”, “Weiß Gott! ”, “Weiß es der Himmel! ”, “weiß der Teufel”, “Gott weiß es”, “was weiß ich? ”, “Weißt du was? ”, “ich weiß schon zuviel”, “die ganze Welt weiß”, “Man weiß ja doch”, “Hätt ich das gewusst”, “aber so viel weiß ich”, “Weißt du noch nichts, oder weißt du alles? ” und öfter). Dabei dominiert insgesamt die optische (ergänzt durch haptische) Kodierung von Erkenntnisprozessen; 4 zugleich wird die Ungewissheit der Deutung des Sichtbaren dabei immer auch als ein an Sprache gekoppeltes Wissensproblem bewusst gehalten. So heißt es gleich zu Beginn in I, 1: Mein Vater sagt: ich sei nicht tauglich zum Adjunkt. Ich glaube, der Fehler liegt in seinem Beutel; er will keinen bezahlen. […] bei der Stadtschule hat mich der Geheime Rat nicht annehmen wollen. […] Er nennt mich immer nur Monsieur Läuffer, und wenn wir von Leipzig sprechen, fragt er nach Händels Kuchengarten und Richters Kaffeehaus, ich weiß nicht: soll das Satire sein, oder - Ich hab ihn doch mit unserm Konrektor bisweilen tiefsinnig genug diskurrieren hören; er sieht mich vermutlich nicht für voll an. - Da kommt er eben mit dem Major; ich weiß nicht, ich scheu ihn ärger als den Teufel. Der Kerl hat etwas in seinem Gesicht, das mir unerträglich ist. (5; Hervorhebungen von uns, AB/ MP) III.) ‘Authentizität’ vs. ‘Konventionalität’ Eine weitere Auffälligkeit des Textes besteht in der Verwendung von Redeformen mit unterschiedlichem Authentizitätsgrad. Fremden, weil hochgradig konventionalisierten Text reden z.B. Läuffer und die Majorin (zum Teil in der Hofsprache Französisch; aber auch als abweichender ‘hoher’ Konversationston: “O … o … verzeihen Sie dem Entzücken, dem Enthusiasmus, der mich hinreißt”; 8) oder der Brief Seiffenblases: “Die Erinnerung so mancher angenehmen Stunden, deren ich mich noch mit Ihnen genossen zu haben erinnere, verpflichtet mich, Ihnen zu schreiben und Sie an diese angenehme Stunden zu erinnern.” (77) Fremden, weil literarisierten, d.h. als intertextuelles Rollenspiel angelegten Text redet Gustchen in einer Szene mit Läuffer: “O Romeo! Wenn dies deine Hand wäre. - Aber so verlässest du mich, unedler Romeo! ” (34). Solche Bezüge zu literarischen Vorlagen, die sowohl der Artikulation von Gefühlen und der Einordnung der Paarkonstellationen dienen, sind wiederum durch ein diffuses Verhältnis zwischen Distanz und Nähe dem Prätext gegenüber gekennzeichnet. Gustchen etwa ‘spielt’ Julia ohne direkt aus Shakespeares Drama zu zitieren, sie übernimmt also nur ein Rollenmuster und nicht auch die fremde Rede der Dramenfigur; sie weiß dabei zugleich um den fiktionalen Charakter der Figur und um ihr eigenes Interesse am Rollenspiel. Diese reflexive Distanz hält sie gleichwohl nicht davon ab, in diesem Spiel fortzufahren, in das sie ihr Gegenüber Läuffer mit einbezieht: “GUSTCHEN: […] O unmenschlicher Romeo! LÄUFFER. (sieht auf). Was schwärmst Du wieder? GUST- CHEN. Es ist ein Monolog aus einem Trauerspiel, den ich gern rezitiere, wenn ich Sorgen habe. (Läuffer fällt wieder in Gedanken, nach einer Pause fängt sie wieder an.) Vielleicht bist Du nicht ganz strafbar […]. (Küsst Läuffers Hand inbrünstig.) O göttlicher Romeo! ” (35). - Am Ende des Gesprächs beteiligt sich auch Läuffer an dieser literarischen Überformung von Sexualität und Gewalt im Spiegel von ‘Reden’ und ‘Handeln’ 317 Realität: Den Status ihrer Beziehung klären die beiden Figuren im schlagwortartigen Rekurs auf literarische Vorbilder - eine prekäre Form der Kommunikation, die nur bei weitgehender Deckungsgleichheit des implizit bleibenden Wissens gelingen kann: “LÄUFFER. (küsst ihre Hand lange wieder und sieht sie eine Weile stumm an). Es könnte mir gehen wie Abälard - GUSTCHEN. […] Hast Du ‘Die neue Heloise’ gelesen? ” (35). - Auch das erste Gespräch zwischen Gustchen und Fritz nutzt literarische Modelle, um die eigene Situation rollenhaft besprechbar zu machen, und das wiederum in verschiedenen Bezugsformen: als bloße Übernahme des Namens, an den implizit Charaktereigenschaften der Figur gekoppelt werden (z.B.: “FRITZ: […] ich versichere Sie, ich werd in allen Stücken Romeo sein, und wenn ich erst einen Degen trage”; “Ja, wenn alle Julietten wären! ”; 14) und als metonymische Ersetzung des Werkes durch den Autor (z.B.: “GUSTCHEN: Gehn Sie doch! Ja Sie werden’s machen, wie im Gellert steht: er besah die Spitz’ und Schneide und steckt’ ihn langsam wieder ein.”; 14). Den Gegenpol bilden stark expressive Redeformen, die weniger vorgeformt und kontrolliert sind und dabei Syntax und - in manchen Fällen - auch den Sinn fragmentieren bzw. verunsichern - also solche Rede, die dem von Katja Mellmann 2006 herausgearbeiteten ‘emotiven Sprechmuster’ in Sturm-und-Drang-Texten entspricht (z.B. die Reaktion der Majorin auf Gustchens Fehltritt: “Deine Dochter - Der Hofmeister. - Lauf! ” (44); oder die Rettung Gustchens: “Hei! hoh! da ging’s in Teich […]. Nach, Berg! ”; 62). Wichtig festzuhalten ist, dass diese verschiedenen Redeformen eben nicht bestimmten Figuren oder Figurengruppen zugeordnet sind, sondern situativ eingesetzt werden. Ein großer Teil der Figuren kann damit in einer gewissen Variationsbreite über verschiedene Redeformen verfügen. So spricht etwa der Adel nicht durchweg ‘konventionalisiert’; der Major zum Beispiel überhaupt nicht, obwohl gerade er als eine Figur herausgestellt wird, die am meisten an Standesgrenzen festhält; die Majorin wird in ‘höfischer’ Konversation eingeführt, verliert aber bei Entdeckung von Gustchens Fehltritt völlig die Contenance; auch der dozierende Wenzeslaus wird von der Kastrationsnachricht erst einmal überwältigt (“Wa - Kastrier -“), bevor er das Ganze dann wortreich in einen spirituellen Zusammenhang einordnet. Die verschiedenen Redeformen sind auch nicht einheitlich bestimmten Themen zugeordnet, wie am Umgang mit Liebe und Sexualität deutlich wird, sondern ihrerseits weiteren Differenzierungen unterworfen: die asexuelle Liebesbeziehung zwischen dem kastrierten Läuffer und Lise bedient sich eigentlicher, ‘unverstellter’ Sprache, die massiv das emotive Sprechmuster bemüht: “Ich komme, weil Sie gesagt haben, es würd morgen keine Kinderlehr - weil Sie - so komm ich - gesagt haben - ich komme, zu fragen, ob morgen Kinderlehre sein wird.” (85) Die Liebe zwischen Fritz und Gustchen hingegen bedient sich uneigentlicher Sprache: die Liebenden ‘verstecken’ sich in einem intertextuellen Rollenspiel hinter literarischen Identifikationsmustern (was sich noch steigert, als der Geliebte absent ist; vgl. II, 5). Der Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und sozialem Status, Redegegenstand und Redeform ist hier offenbar aufgelöst, 5 was allerdings die interpretatorische Zuordnung der jeweiligen Figur verkompliziert: Ob eine Rede ‘authentisch’ ist, ist von der Frage sozialer Zugehörigkeit ebenso entkoppelt wie vom Redegegenstand. Daraus ergeben sich ‘Unsicherheiten’ in der Erkennbarkeit des Wahrheitsgehaltes einer Rede; das Drama thematisiert das Verhältnis von Sagen und Meinen schließlich selbst, was den Grad an Selbstreflexivität und vor allem Selbstreferenzialität zunächst einmal steigert: Es wird nicht nur über ein Thema geredet, sondern immer wieder auch darüber, wie darüber geredet wird. Dies wird z.B. deutlich, als sich der Pastor vom Geheimen Rat beleidigt fühlt und gehen will: Der Geheime Andreas Blödorn & Madleen Podewski 318 Rat nimmt darauf seine Aussage (zum Thema Hauslehrerstand) in der Form, nicht aber im Inhalt zurück: Ich habe Sie nicht beleidigen wollen und wenn’s wider meinen Willen geschehen ist, so bitt ich Sie tausendmal um Verzeihung. Es ist einmal meine üble Gewohnheit, dass ich gleich in Feuer gerate, wenn mir ein Gespräch interessant wird: alles Übrige verschwind’t mir denn aus dem Gesicht und ich sehe nur den Gegenstand, von dem ich spreche. (22) IV.) Reden vs. Handeln Auf den letzten auffälligen Befund haben wir eingangs bereits hingewiesen: auf die Diskrepanz zwischen wortreich verkündeten Lebenszielen und Verhaltensnormen und den tatsächlichen Handlungen der Figuren. Exemplarisch vorgeführt wird das Scheitern von Vorstellungen an der Realität am Beispiel der Hofmeister-Frage gleich zu Beginn des Textes. Zunächst werden die grundsätzlichen Standpunkte abgesteckt: Auf die Fragen des Geheimen Rates “Sag mir, […] was foderst du […] von deinem Hofmeister? ”, “Was soll dein Sohn werden, sag mir einmal? ” (6) gesteht sein Bruder, der Major: “Soldat soll er werden; ein Kerl, wie ich gewesen bin.” (6). Der Geheime Rat gibt sich dem gegenüber als progressiver Aufklärer: Das Letzte lass nur weg, lieber Bruder; unsere Kinder sollen und müssen das nicht werden, was wir waren: die Zeiten ändern sich, Sitten, Umstände, alles, und wenn du nichts mehr und nichts weniger geworden wärst, als das leibhafte Kontrefei deines Eltervaters - - (6). Als sich der Geheime Rat jedoch im zweiten Akt mit Pastor Läuffer über dieselben Fragen unterhält und gegen den Hofmeisterstand Partei ergreift (“Ich behaupt: es müssen keine Hauslehrer in der Welt sein! ”; 22), da sieht er sich zur Verteidigung seiner Position zuletzt gezwungen, alle theoretisch-ideellen Positionen fallen zu lassen und mit der eigenen Erfahrung zu argumentieren: “Ich bin von meinem Vater zur öffentlichen Schul gehalten worden, und segne seine Asche dafür, [und habe es selbst auch so gehalten, wäre hier zu ergänzen AB/ MP] und so hoff ich, wird mein Sohn Fritz auch dereinst tun.” (23) Wo es um den Sohn seines Bruders ging, war der Geheime Rat aufklärerisch; wo es um den eigenen Sohn geht, verfällt er ins selbe, zuvor kritisierte Argumentationsmuster wie sein Bruder. Dieser eklatante Selbstwiderspruch bei einer Figur, die sich gleich zu Beginn des Textes als souveräne, progressive Normen- und Werteinstanz ausgibt, 6 zeigt exemplarisch, was alle Figuren des Dramas zunächst tun: Sie sind selbstbezogen und referieren, was ihr Verhalten und Handeln angeht, stets auf die eigene Erfahrung. Vor allem den Bereich Liebe und Sexualität betreffend, ist damit ein Sturm-und-Drang-typischer Generationenkonflikt verbunden: Die Kinder verhalten sich anders, als von ihnen erwartet wird. So möchte der Major sein Gustchen zunächst nur “mit einem General oder Staatsminister vom ersten Range versorgt” sehen, “denn keinen andern soll sie sein Lebtage bekommen” (13); am Ende aber ergibt er sich umstandslos in die von seiner Tochter selbstgewählte Liebe zwischen Gustchen und ihrem Cousin Fritz. Ebenso verhält es sich auch mit den anderen Konflikten im Hofmeister: Nach einer Zeit der Krise und Trennung finden Eltern und Kinder sowie Liebende (wieder) zusammen - und lassen ihre Idealvorstellungen hinter sich zurück. Was der Text dabei nicht vorführt, ist der Prozess der Wandlung; die verbal postulierten und die schließlich gelebten Normen und Werte sind nicht miteinander vermittelt. Der aufs Gegenteil ausgehende Gesinnungswandel bleibt innerhalb der Figurenpsychologie unmotiviert. Einzig beim Major führt die Konkurrenz der Gegensätze anfangs in wahnsinnsähnliche Zustände, etwa, wenn es widersprüchlich aus ihm hervorbricht: “O du mein einzig teurester Sexualität und Gewalt im Spiegel von ‘Reden’ und ‘Handeln’ 319 Schatz! Dass ich dich wieder in meinen Armen tragen kann, gottlose Kanaille! ” (64); oder aber, wenn er selbst an der neuen Realität zu zerbrechen droht: “O sie sollte die erste Partie im Königreich werden. Das ist ein vermaledeiter Gedanke! wenn ich doch den erst fort hätte; er wird mich noch ins Irrhaus bringen.” (94) Gesinnungsänderungen werden damit ausschließlich über die Handlungen der anderen plausibilisiert. Das irreversible Handeln Gustchens hat die hochfliegenden Heiratspläne des Majors überholt und verunmöglicht: mit einem unehelichen Kind ist seine Tochter nicht nur keine “erste Partie” mehr, sondern eigentlich ‘unveräußerbar’, und er muss - seiner eigenen Handlungsrationalität nach - froh sein, um jeden, der sie überhaupt noch nimmt. Als ihm daher Fritz als der Freier seines Gustchens präsentiert wird, nimmt er ihn nicht nur freudig, sondern beinahe unterwürfig an: “Willst du meine Tochter heiraten? - Gott segne dich. Weißt du noch nichts, oder weißt du alles? […] Kannst alles vergessen? Ist Gustchen dir noch schön genug? […] Dass du so großmütig bist, dass du so edel denkst - dass du - - mein Junge bist -“ (94). Keinen Zweifel lässt der Text hier, dass es sich bei allen Figuren, die am Ende in einem ‘Schlussreigen’ ihre Versöhnungen feiern, um dieselbe Veränderung handelt: die freudige Akzeptanz der neu eingetretenen Realität. Sie ist möglich, weil die Figuren im Handlungsverlauf von Krisen, Trennungen und Verlusterfahrungen gezwungen werden, ihre Wertmaßstäbe und Handlungsgrundlagen von der ursprünglichen Selbstreferenz auf Fremdreferenz umzustellen. Lautete die Argumentation zunächst pointiert gefasst, ‘so wie ich, so soll mein Sohn sein’, so lautet die Erkenntnis am Ende, ‘so wie mein Sohn, so bin ich’; nicht das eigene Selbst, sondern die Akzeptanz der geänderten Umstände wird hier zum Maßstab erhoben und ermöglicht damit den komödiantischen Schluss eines an sich tragischen Handlungsverlaufs. Damit einher geht auch die nachträgliche Erkenntnis, dass als oberste Wert- und Entscheidungsgrundlage nicht länger das Reden, sondern das Handeln zu positionieren ist, wenn der Major hofft, dass es wahr ist, dass die Gerechten nicht allein hineinkommen [in den Himmel, AB/ MP], sondern auch die Sünder, die Buße tun. Meine Tochter hat Buße getan und ich hab für meine Torheiten und dass ich einem Bruder nicht folgen wollte, der das Ding besser verstund, auch Buße getan; ihr zur Gesellschaft: und darum macht mich der liebe Gott auch ihr zur Gesellschaft mit glücklich. (95) Wie verhält sich nun aber die Kindergeneration im Umfeld dieser Umstellung? Sie verhält sich zu den an sie gestellten Erwartungen zunächst einmal ironisch, indem sie sich ihnen entzieht. Dies lässt sich am rekurrenten Schweigen, das der Nebentext in den Liebesszenen um Läuffer auffällig vermerkt, explizieren. Jedesmal, wenn sich hier eine Liebe, beziehungsweise eine erotische Situation anbahnt, wird zunächst geschwiegen. Das deutet nicht einfach nur auf ein Sprachproblem hin, das traditionell mit Erotik korreliert ist. Vielmehr erweist sich dieses Schweigen hier als Bedingung der Möglichkeit von erfolgreicher Liebeskommunikation überhaupt. Zentral ist wiederum die Umstellung von Selbstauf Fremdreferenz, hier des egoistischen Selbstbezugs auf die Orientierung am Liebespartner. In diesem Sinne beispielsweise in II, 5, als Läuffer seinem Gustchen mitteilt, dass er den Dienst bei ihrer Familie quittieren müsse: “Du siehst, dass dein Vater mir das Leben immer saurer macht” (33). Gustchen denkt hier zunächst an sich (“und was werd ich denn anfangen? ”), um sich dann nach einem Augenblick des Schweigens - “(Nachdem beide eine Zeitlang sich schweigend angesehen.)” - argumentativ ebenfalls in die Perspektive des anderen zu begeben: “Du siehst: ich bin schwach, und krank” (34). Verknüpft mit dem ‘Anschauen’ wird so durch das Schweigen eine Beziehung zwischen den Figuren gestiftet, die sich auf sprachlichem Wege offenbar nicht herstellen lässt, die aber dann gleichwohl in sprachliche Kommunikation mündet. Andreas Blödorn & Madleen Podewski 320 Während Fritz und Gustchen zu literarisiertem Rollenspiel greifen, verschlägt es Lise und Läuffer zunächst die Sprache, bevor sie schließlich offen über Läuffers Impotenz reden. Ihr Schweigen wird dabei vom Text als eine Handlung funktionalisiert, die in der Unterlassung einer sprachlichen Handlung besteht. Unterbrochen wird dabei zugleich die Selbstreferenz: Man schweigt nicht nur, sondern man sieht den anderen an, weil man nicht (wie die Eltern! ) von sich selbst und der eigenen Erfahrung ausgehen will oder kann, sondern probeweise versucht, sprachlich handelnd Gewissheit über den anderen herzustellen. 7 Mit dieser Negation ist aber noch nicht in positiver Weise Authentizität herstellbar, denn die darauf hin wieder einsetzende Sprachhandlung kehrt zu den auch ansonsten im Drama genutzten Sprachmustern zurück. Dennoch aber, so führt der Text vor, sind Schweigen und Selbstreferenzunterbrechung notwendig, um stillschweigend Einvernehmen und sicheres Wissen über den anderen herzustellen. Eben dies wird bei Läuffer und Lise sprachlich explizit thematisiert: L ÄUFFER . Würdest du - O ich weiß nicht, was ich rede - Würdest du wohl - Ich Elender! L ISE . O ja, von ganzem Herzen. L ÄUFFER . Bezaubernde! - (Will ihr die Hand küssen.) Du weißt ja noch nicht, was ich fragen wollte. (86) Aber Lise, so zeigt sich, weiß bereits, was Läuffer sagen wollte, und antwortet so, als ob er es gesagt hätte: “Sehen Sie, einen geistlichen Herrn hätt ich allewege gern” (86). Die explizite sprachliche Bezugnahme auf den anderen und das konkrete Anschauen des anderen ermöglichen hier gemeinsam, dass gerade elliptische Rede die Kommunikation in der Weise funktionieren lässt, dass die Liebenden sich ihrer authentischen Zuneigung gewiss sein können. Im Rahmen der verschiedenen Formen, die das Drama als gelingende und als misslingende Erzeugung von Referenzen und Realitätsbezügen nebeneinander präsentiert, erscheint dieses Schweigen nun als punktuelle Vermeidung eben dieser ansonsten möglichen Pluralität und Ungewissheit, als temporärer Verzicht auf sprachliche Referenzerzeugung in einer Dramenwelt, in der die Beziehungen zwischen Signifikat und Signifikant nicht mehr eindeutig bestimmt werden können, weil es mehrere davon gibt. Die Figuren selbst ‘wissen’ davon nichts - sie praktizieren diese Pluralisierung, durchschauen sie aber nicht, so dass sie ihnen auch nicht problematisch werden kann - als Leiden an Eindeutigkeits- oder Authentizitätsverlust etwa. Dass sich aber ein solches ‘Aussetzen’ der Sprache nur bei den Figuren der Kindergeneration findet und dass es in Läuffers Liebesbeziehungen zu Gustchen und Lise eingebaut ist, lässt den Schluss zu, dass das Drama auf der auktorialen Ebene einen punktuellen Ausweg aus den unentschiedenen Referenzialisierungen genau hier sieht: In den erotischen Interessen der jungen Generation, die eben genau dann zum authentischen und sicheren Ziel geführt werden, wenn die mögliche Unsicherheit und Ungewissheit der Rede im Schweigen ausgeschaltet sind. Resümee Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die dramatische Welt im Hofmeister hauptsächlich sprachlich strukturiert ist und dabei auf verschiedenen Ebenen verschiedene Formen von Referenz präsentiert. Implizit diskutiert werden hier also Reichweiten und Relevanzen von Sprache, und zwar vor allem im Kontext der Epistemologie (Wissen/ Nichtwissen) und der Anthropologie, im Kontext der Normen und Werte im Bereich Bildung/ Erziehung und Sexualität und Gewalt im Spiegel von ‘Reden’ und ‘Handeln’ 321 Familien- und Paarbeziehungen. Die Komplexe ‘Gewalt’ und ‘Sexualität’ nehmen dabei keinen auffällig exklusiven Status in dem Sinne ein, dass ihnen dabei eine besondere Redeform zukäme. Über sie wird ebenso in verschiedenen Registern geredet und ebenso viel oder ebenso wenig gewusst wie über anderes im Drama auch, spezielle Formen der Referenzerzeugung lassen sich hier nicht ausmachen. Einzig die beiden erotisch funktionalisierten Schweigeszenen scheren aus: Nur hier wird der heterogene Sprachgebrauch des Dramas punktuell unterbrochen und eine Art ‘blinder Bedeutungsfleck’ erzeugt. Dessen Konturen ergeben sich differenzlogisch ex negativo - nicht als Verweigerung von Sprache und Kommunikation überhaupt, sondern nur als temporäre Suspendierung der im Drama ansonsten praktizierten Formen des Sprachgebrauchs. Damit etabliert das Drama eine Zone, die zwar nicht gänzlich jenseits von Zeichenprozessen liegt, in der sie aber vorübergehend still gestellt sind. Für die Dramenfiguren ist diese Sprachgrenze gleichwohl ebenso unproblematisch wie das Nebeneinander von Wissen und Nichtwissen und von Deutungskonkurrenzen oder wie das Auseinanderdriften von Reden und Handeln. 8 Das Krisenpotenzial, das mit der Diversifizierung sprachlicher Referenz ins Spiel kommt, bleibt somit implizit; stattdessen endet das Stück in einer allgemeinen Versöhnung, die im Kontext des zu Beginn eingeführten Werte- und Normensystems ausgesprochen unwahrscheinlich wirkt (Schulz 2001: 79). Diese erstaunliche Krisenresistenz sichert das Drama einerseits mit ‘naiven’ Figuren ab, denen weder ihr wechselnder Sprachgebrauch noch ihre sich ändernden Normen und Werte problematisch sind und die kaum psychische Kohärenz aufweisen, und andererseits mit der Einbindung des Zufallsprinzips in den Handlungsverlauf (vor allem mit dem hierfür exemplarischen Lottogewinn). Die Veränderungen, die die Figuren am Ende des Textes zeigen, sind also nicht vollständig auch ihr eigenes Werk. Sie sind rational und kausal nicht stringent motiviert und gelten überdies nur situativ und partiell. 9 Damit konterkarieren sie jedes aufklärerisch optimistische Postulat von konstanter Bildung und Entwicklung zum Besseren im Text, 10 das dem Stück als Titelthema doch eingeschrieben ist. Die “Vorteile der Privaterziehung” sind daher gerade solche, die nicht individuell planbar sind und die allein aus der Negation von den mit Erziehung korrelierten Wertvorstellungen - und somit nicht aus Figurensicht, sondern allein aus auktorialer ‘Übersicht’ - eine ironische Geltung beanspruchen können (vgl. Schulz 2001: 71), der daher auch von den “Nachteile[n] der Privaterziehung” spricht). Und doch wird durch Verlauf und Schluss des Dramas die Umstellung von Selbstauf Fremdreferenz prämiert, wie sie die Kindergeneration in der Verknüpfung von Anschauen und Schweigen erprobt und wo der sprachlose Blick auf das Gegenüber das Subjekt für dessen Bedürfnisse geöffnet hatte. Wenn Ideale der Aufklärung für den Text relevant sind, dann sind sie es hier, im Aufgeben egoistischer Selbstbezüglichkeit und in der Anerkennung des anderen. Der Stand des Modells ‘Anschauen und Schweigen’ ist im komplexen Dramengefüge freilich äußerst labil. Es gilt nur punktuell und zeitigt auf der Handlungsebene uneinheitliche Folgen: Bei Läuffer und Gustchen bleiben die Konsequenzen solcher Redeunterbrechung offen, bei Läuffer und Lise liegt genau hier der Ausgangspunkt für eine glückliche (aber pikanterweise ohne Nachkommenschaft bleibende) Liebesehe. Zentrale Relevanz aber gewinnt das Prinzip einer Umstellung auf Fremdreferenz in der modifizierten Adaption durch die Elterngeneration, die sich zum Ende des Stückes hin diesem Handlungsmuster anschließt und so dessen tragisches Ende (mit) verhindert. Das Ansehen und Anfassen seiner wieder gefundenen Tochter und seines Enkelkindes veranlasst den Major, seine hochfliegenden Pläne mit der Tochter fallen zu lassen, Fritz wird als Schwiegersohn akzeptiert, die Töchter und Söhne werden trotz ihrer Verfehlungen wieder geliebt und in die Familien integriert. Doch Andreas Blödorn & Madleen Podewski 322 auch diese Veränderung in den Normen und Werten der Elternfiguren wird, wie oben bereits vermerkt, nicht konsequent und widerspruchsfrei als Entwicklungsprozess oder gar als Bildungsgeschichte dargestellt (etwa der Art, dass hier eine angemessene Angleichung individueller Normen und Wünsche an die ‘Realität’ erlernt würde). Denn die Umstellung auf Fremdreferenz, die Anpassung der eigenen Normen an die von den Kindern vorgegebenen Tatsachen steht im Kontext aller der Veränderungen, die insgesamt zum komödiantisch glückhaften Ende des Textes führen und ist damit in ein komplexes Bezugsgeflecht eingebunden, welches um die Probleme von Realitätswahrnehmung, Zeichen-Erkennen und Zeichen- Deuten sowie um die Probleme der Realitätsbeschreibung kreist - ohne jedoch am Schluss eindeutige, kausalmotivierte Erklärungsmuster für ‘Realität’ und das Handeln in ihr zu geben. 11 Und so führt die Umstellung von Selbstauf Fremdreferenz im Drama zwar zur finalen Gemeinschaftsbildung, doch bleibt die Anwendung dieser Referenzumstellung dabei in ansonsten kontingente Geschehensabläufe und in die eingangs benannten verschiedenen Formen der Referenzerzeugung auf auktorialer und figurativer Ebene eingebunden. Fremdreferenz wird nicht zum auf der Figurenebene bewusst formulierten, von allen erlernten und propagierten Handlungsmuster, sondern bleibt ein situatives und ‘unbewusstes’ Figurenverhalten, für das auch der Gesamttext kein passendes Erzählmodell findet und das gleichwohl zum dominanten Faktor der Herstellung eines happy ending wird. Damit zeigt das Drama zwar eine Welt, in der Eltern und Kinder unterschiedliche Interessen verfolgen und in der bei der Bewältigung dieses Konfliktes die Regeln der Bedeutung ihre Eindeutigkeit verloren haben, in der all das aber trotzdem zu einem guten Ende führt. Warum genau das möglich ist, kann das Drama nicht gänzlich klären - nicht auf figuraler und nur eingeschränkt auf auktorialer Ebene. Auf letzterer kritisiert das Drama zunächst das Bildungs- und Erziehungskonzept der Figuren, wie die ironisch pointierte Schlusswendung zeigt, welche ausgerechnet die Position des aufklärerischen Geheimrates stärkt. Wenn Fritz schwört, er werde seinen “süße[n] Junge[n]” “nie durch Hofmeister erziehen lassen” (96), dann zwar nicht, weil er wissend der einstigen Position seines Vaters folgt, sondern, so impliziert die Logik des Textes, weil auch er durch Beobachtung der anderen ‘gelernt’ hat, zu welchen häuslichen (und d.h. erotischen) Verwicklungen und Handlungsfolgen die Beschäftigung eines Hofmeisters führen kann. Der ‘sanften’, gleichwohl nicht kausal motivierten ‘Revolution’ im privaten Bereich, so wäre daraus zum einen zu folgern, korreliert trotz allem kein Fortschritt im gesellschaftlich-öffentlichen Bereich: Die Adligen bleiben unter sich, der Hofmeister begnügt sich mit seiner Dorfschönen. 12 Und Fritz, so zeigt sich zum anderen nach kontingenter Handlungsfolge ironisch, setzt letzten Endes die Erziehungsideale seines Vaters eben doch in die Tat um - so, wie dieser es sich von seinem Sohn einst erhofft hatte. Und indem er dies tut, basiert letztlich seine finale, im Schlusssatz des Dramas geäußerte Erkenntnis wiederum auf dem Prinzip der - noch einmal ironisch gebrochenen - Restituierung der Selbstreferenz. Denn indem sich Fritz auf die Beobachtung anderer (Läuffers und Gustchens) beruft, beruft er sich zugleich auch auf das eigene, ihm widerfahrene Geschehen (als gehörnter Liebhaber). Jene vom Drama nicht gelösten, aber umschriebenen Zeichen- und Kommunikationsprobleme finden sich in dieser ironisch paradoxalen Schlussfigur des Textes noch einmal abgebildet; die ironische Distanzierung am Schluss aber gilt nur für den Redeinhalt, nicht für die Redeform. So registriert das Drama zwar gewissermaßen ‘unbewusst’ die Zeichen- und Kommunikationskrisen, die das späte 18. Jahrhundert prägen (Koschorke 1999, Schäffner 2000), es wird durch sie aber geradezu bis an den Rand der Überforderung getrieben, so dass deutlich wird, dass hier noch keine adäquaten Erzähl- und Erklärungsmuster zur Verfügung stehen. 13 In der Funktionalisierung des temporären Schweigens umschreibt das Drama diesen blinden Sexualität und Gewalt im Spiegel von ‘Reden’ und ‘Handeln’ 323 Bedeutungsfleck: In ihm findet der Text eine Möglichkeit, ‘konkrete’ Referenzialisierung zu unterbrechen und die Wirkungen dieser Unterbrechung zu beobachten, ohne dafür selbst schon eine über Kontingenz hinausgehende Struktur zur Verfügung stellen zu können. Literaturverzeichnis Primärliteratur Lenz, Jakob Michael Reinhold 2001: Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung. Eine Komödie. Anmerkungen von Friedrich Voit. Nachwort von Karl S. Guthke, durchgesehene Ausg. Stuttgart: Reclam. Sekundärliteratur Alt, Peter-André u.a. (eds.) 2002: Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Festschrift für Hans-Jürgen Schings, Würzburg: Königshausen & Neumann. Baxmann, Inge & Michael Franz & Wolfgang Schäffner (eds.) 2000: Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert, Berlin: Akademie-Verlag. Durzak, Manfred 1994: “Lenz’ Der Hofmeister oder Die Selbstkasteiung des bürgerlichen Intellektuellen. Lenz’ Stück im Kontext des bürgerlichen Trauerspiels”, in: Hill (ed.) 1994: 110-119. Elm, Theo 2002: “Der Mensch als Nase. Ästhetik der Karikatur in J.M.R. Lenz: Der Hofmeister”, in: Koopmann & Misch (eds.) 2002: 9-24. Hill, David (ed.) 1994: Jakob Michael Reinhold Lenz. Studien zum Gesamtwerk, Opladen: Westdeutscher Verlag. Hinck, Walter (ed.) 1977: Die deutsche Komödie. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Düsseldorf: Bagel. Hinderer, Walter 1977: “Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Hofmeister”, in: Hinck (ed.) 1977: 66-88. Käser, Rudolf 2006: “Onanie und Selbstkastration. J.M.R. Lenz’ Hofmeister am Schnittpunkt von Medizin- und Literaturgeschichte”, in: Triangulum 11 (2006): 7-30. Karthaus, Ulrich 2007: Sturm und Drang: Epoche - Werke - Wirkung, 2. Aufl. München: Beck. Koopmann, Helmut & Manfred Misch (eds.) 2002: Grenzgänge. Studien zur Literatur der Moderne. Festschrift für Hans-Jörg Knobloch, Paderborn: mentis. Koschorke, Albrecht 1999: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München: Fink. Koschorke, Albrecht 2002: “Der prägnante Moment fand nicht statt. Vaterlosigkeit und Heilige Familie in Lenz’ Hofmeister”, in: Alt u.a. (eds.) 2002: 91-103. Landwehr, Jürgen 1996: “Das suspendierte Formurteil. Versuch der Grundlegung einer Gattungslogik anläßlich von Lenz’ sogenannten Tragikomödien Der Hofmeister und Die Soldaten”, in: Lenz-Jahrbuch 6 (1996): 7-61. Lappe, Claus O. 1980: “Wer hat Gustchens Kind gezeugt? Zeitstruktur und Rollenspiel in Lenz’ Hofmeister”, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 54 (1980): 14-46. Link, Jürgen &Wulf Wülfing (eds.) 1984: Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert, Stuttgart: Klett-Cotta. Madland, Helga Stipa 1984: “Gesture as Evidence of Language Skepticism in Lenz’s Der Hofmeister and Die Soldaten”, in: The German Quarterly 57 (1984): 546-557. Mellmann, Katja 2006: Emotionalisierung. Von der Nebenstundenpoesie zum Buch als Freund. Eine emotionspsychologische Analyse der Literatur der Aufklärungsepoche, Paderborn: Mentis. Nies, Martin 2005: “,Die innere Sicherheit’: Gattungsselbstreflexion und Gesellschaftskritik in der Komödie Die Soldaten von J.M.R. Lenz”, in: Zeitschrift für Semiotik 27, H. 1-2 (2005): 23-44. Pfister, Manfred 2001: Das Drama. Theorie und Analyse, 11. Aufl. München: Fink. Schäffner, Wolfgang 2000: “Die Zeichen des Unsichtbaren. Der ärztliche Blick und die Semiotik im 18. und im frühen 19. Jahrhundert”, in: Baxmann & Franz & Schäffner (eds.) 2000: 480-510. Schmitt, Axel 1994: “Die ‘Ohn-Macht der Marionette’. Rollenbedingtheit, Selbstentäußerung und Spiel-im-Spiel- Strukturen in Lenz’ Komödien”, in: Hill (ed.) 1994: 67-80. Schulz, Georg-Michael 1994: “,Läuffer läuft fort.’ Lenz und die Bühnenanweisung im Drama des 18. Jahrhunderts”, in: Hill (ed.) 1994: 190-201. Schulz, Georg-Michael 2001: Jakob Michael Reinhold Lenz, Stuttgart: Reclam. Titzmann, Michael 1984: “Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit (1770-1830). Mit dem Beispiel der optischen Kodierung von Erkenntnisprozessen”, in: Link & Wülfing (eds.) 1984: 100-120. Andreas Blödorn & Madleen Podewski 324 Anmerkung 1 Zitiert wird Lenz’ Drama nachfolgend unter Angabe der Seitenzahl im laufenden Text, und zwar nach der in Reclams Universal-Bibliothek wiedergegebenen Fassung des Erstdrucks (1774): Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung. Eine Komödie. Anmerkungen von Friedrich Voit. Nachwort von Karl S. Guthke, durchgesehene Ausg. Stuttgart: Reclam 2001. 2 Zur Gattungsfrage des Stückes vgl. allgemein Karthaus (2007: 98ff.); vgl. zur von Lenz auch theoretisch reflektierten (und in seiner Komödie Die Soldaten auch poetologisch relevanten) Gattungsneukonzeption der Komödie Nies 2005. 3 Mit diesem Blick auf den discours des Dramas sind wir also nicht daran interessiert, die Kohärenz der allgemein als inkohärent angesehenen drameninternen Realität (wieder) herzustellen, etwa in der Auffüllung von Leerstellen (vgl. die von Lappe 1980 angestoßene Debatte um Läuffers Vaterschaft); auch der - sei es sozial-, kultur- oder diskursgeschichtlich orientierte - Rekurs auf Epochenbedingungen (z.B. Familien- und Ehemodelle (etwa bei Koschorke 2002), auf die Onaniedebatte (vgl. Käser 2006) oder auf Aufklärungs-, Bildungs- und Erziehungskonzepte (vgl. Elm 2002) ‘normalisiert’ den Text durch Außenkorrelationen, hinter der oft die interne Bedeutungsproduktion des Dramas selbst schnell aus dem Blick gerät (vgl. dazu schon die Kritik von Landwehr 1996: 19ff.). Dass der discours des Textes selbst dann wiederum (literar-)historisch zu verorten ist, steht dabei außer Frage. 4 Sehen, anfassen und (im doppelten Wortsinne) ‘begreifen’ gelten den Figuren des Textes als dominante Formen der Wissensgenerierung und -überprüfung, wie der Major zu Beginn des dritten Aktes auch explizit ausführt: “Ihre Gesundheit ist hin, ihre Munterkeit, ihre Lieblichkeit, weiß der Teufel, wie man das Dings all nennen soll; aber obschon ich’s nicht nennen kann, so kann ich’s doch sehen, so kann ich’s doch fühlen und begreifen, und du weißt, dass ich aus dem Mädchen meinen Abgott gemacht habe.” (III, 1) - Zur optischen Kodierung von Erkenntnisprozessen in der Goethezeit vgl. grundlegend Titzmann 1984. 5 Unsere Textbeobachtungen können also die in der Forschung verbreitete These nicht bestätigen, Lenz markiere auf eine ‘realistische’ Weise (Karthaus 2007: 102) Individualität und Sozialstatus der Figuren über deren Sprache. 6 Eine Selbstinszenierung, die von der Forschung zumindest partiell auch geglaubt wird, wenn der Geheime Rat als Moralinstanz und Repräsentant der Aufklärung im Drama verbucht wird - v.a., wo es um die Kritik am Hofmeister-Wesen und um adelskritische Äußerungen geht. So spricht Schulz (2001: 83) davon, dass eben diese Kritikpunkte im Text “zweifellos” “[e]rnst gemeint” seien. Auf die nur scheinbar aufgeklärte Position des Geheimen Rats weist dagegen Durzak (1994: 114) hin. 7 Für Lenz Soldaten kommt Nies (2005: 33) partiell zu einem ähnlichen Befund; auch dort erweist sich (in der Konstellation von Marie und ihrem Vater) Sprache zunächst als Medium sozialer Abhängigkeit der Kindervon der Elterngeneration. 8 Von ‘Sprachkritik’ kann deshalb im eigentlichen, resp. modernen Sinne nicht gesprochen werden; vgl. dagegen die, bereits bei Schulz (2001: 88) relativierte, Analyse von Helga Madland 1984, die die Gestik im Drama als Moment eines “language scepticism” positioniert, welcher der gestischen Sprache stellenweise mehr Zuverlässigkeit als den ausgesprochenen Worten zuspricht. 9 Karthaus (2007: 102) weist in diesem Zusammenhang allerdings darauf hin, dass mit der poetologischen Konzeption des Stückes und seiner Abkehr von der Regelpoetik allerdings auch eine geringere Relevanz der Stringenz bei der Motivation und Folgerichtigkeit von Handlungselementen verbunden sei. 10 Womit der Dramentext auch Charakterisierungsversuche wie denjenigen Durzaks (1994: 113) widerlegt, nach dem hier “so etwas wie eine rudimentäre Menschlichkeit […] das Verhalten des Majors zu verändern” beginne. Richtiger scheint vielmehr Durzaks Feststellung, dass “Lenz […] die Aufspaltung des Hausvaters in liebenden Vater und Familiendespot” radikalisiert, “indem er zeigt, daß der Major von Berg beides gleichzeitig ist, ohne daß er die beiden gegensätzlichen Haltungen harmonisieren könnte” (ebd., 113f.). Das Textende allerdings, so wäre dem hinzuzufügen, führt dann nach einem letzten Zweifel (94) eben nur noch den liebenden Familienvater vor. 11 Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt - unter freilich anderen Voraussetzungen und Fragestellungen - Axel Schmitt (1994: 77), wenn er nachweist, dass im Hofmeister kein “tragfähiges Deutungsmodell der Wirklichkeit” etabliert zu werden vermag. 12 Am Beispiel der Soldaten hat Nies (2005: 26) diese “werkimmanente Ambivalenz von Rebellion gegen ‘das Alte’ und seiner gleichzeitigen Konsolidierung […] als Bemühung um letztliche Integration ‘des Neuen’” treffend als Strukturmuster der Lenzschen Komödien herausgearbeitet, und zwar “sowohl im Gattungsdiskurs Sexualität und Gewalt im Spiegel von ‘Reden’ und ‘Handeln’ 325 als auch in den Lösungsvorschlägen für soziale Konflikte”. Dabei kommt auch Nies zu dem Ergebnis, dass “Lenz hier keine politische Position bezieht, obwohl die Intention des Textes als eines Gesellschaftsbildes eine politische ist” (ebd.). 13 Auch eine literaturgeschichtliche und textgenetische Begründung wie diejenige bei Karthaus (2007: 103), wonach das Drama in seiner Stilmischung auch als eine Mischform der Gattungen des Lustspiels und Trauerspiels zu verstehen sei (worauf u.a. der Untertitel in Lenz’ Handschriftfassung verweist), löst dieses Problem der Textlogik nicht.